Buchtipp Vadim Belotserkovsky / Friedrich Hitzer: Was geschieht mit

Buchtipp
Vadim Belotserkovsky / Friedrich Hitzer: Was geschieht mit Rußland?
Zwei Bücher beschäftigen sich mit Russland. Das eine mit der russischen
Geschichte – ein Thema, auf dem anerkannte Standardwerke bereits vorliegen.
Schwierig also, sich hier zu behaupten - dennoch lesenswert. Das andere Buch
fragt nach der russischen Zukunft – und ist nicht empfehlenswert.
Wenn jemand im deutschsprachigen Raum eine "Geschichte Rußlands" verfasst, dann
ist ihm die Aufmerksamkeit der meisten Ostexperten - ob nun Wissenschaftler oder
Journalisten - gewiss. Der Autor eines solchen Werkes muss sich dann auch
Vergleiche mit Standardwerken gefallen lassen, etwa mit der "Russischen Geschichte"
von Prof. Günther Stöckl.
Hier zu bestehen, ist schwer. Heiko Haumann, Professor für Osteuropäische
Geschichte an der Universität Basel, hat jetzt im angesehenen Piper-Verlag eine 736seitige "Geschichte Rußlands" vorgelegt. Um es gleich vorweg zu sagen:
Begeisterungsstürme hat dieses Buch bei den deutschen Ostexperten nicht
hervorgerufen. Im Gegenteil. Dietrich Geyer schreibt in der Wochenzeitschrift "Die Zeit"
lapidar:
"Um der Reputation der osteuropäischen Geschichte willen, einer Fachdisziplin, der
man im Kalten Krieg das 'Privileg der Rückständigkeit' zugute halten möchte, wäre zu
wünschen gewesen, der Basler Kollege hätte dem Publikum ein solches Buch nicht
zugemutet." Dieses vernichtende Urteil mag etwas zu streng ausgefallen sein.
Mangelhafte Gewichtung
Geyer hat jedoch recht, wenn er darauf aufmerksam macht, dass Haumanns Buch
zahlreiche Mängel aufweist. Das beginnt schon bei der Gewichtung des historischen
Materials. So werden die ersten Jahre der bolschewistischen Gewaltherrschaft sehr
ausführlich dargestellt. Eine Analyse des Stalinismus fällt hingegen knapp aus.
Fast schon unter den Tisch fällt das traurigste Kapitel der jüngeren russischen
Geschichte, der millionenfache Tod jener Menschen, die Stalin und seine Schergen
einfach verhungern ließen.
"Das Ziel, durch die Kollektivierung (der Landwirtschaft; d.Red.) Mittel für die
Industrialisierung zu erhalten, ja Störungen des Industrieaufbaus ein für allemal
auszuschalten, wurde gänzlich verfehlt. Mehr noch: Da die staatlichen Organe auch bei
schlechten Ernten unter Einsatz aller Mittel das Getreidebeschaffungsergebnis zu
erhöhen suchten, kam es 1932 zu einer Hungersnot auf dem Land, die Millionen Opfer
forderte. Während sich die Sowjetregierung 1921 noch um internationale Hilfe bemüht
hatte, verschwieg sie jetzt die Katastrophe."
Insgesamt lesenswert
Auf Dauer war die "Katastrophe" nicht zu verschweigen - auch damals in den 30er
Jahren nicht. Angehörige westlicher Botschaften in Moskau erfuhren von dem
Massensterben in der Ukraine und berichteten ihren Regierungen darüber. Freilich
konnte Professor Haumann nicht in aller Ausführlichkeit auf die "Geschichte Rußlands"
eingehen - das ist auf 730 Seiten nicht zu machen.
Insgesamt gesehen ist diese "Geschichte Rußlands" lesenswert. Ein Standardwerk
wird das vorliegende Buch aufgrund zahlreicher Mängel allerdings wohl kaum werden.
Neue Feindbilder
Auch Russlands jüngste Geschichte und die Frage nach der Rolle von Präsident Boris
Jelzin für das Schicksal dieses Landes beschäftigt mittlerweile etliche Autoren,
darunter russische Emigranten, die unter dem alten sowjetischen Regime gelitten
haben.
Was macht ein alter, antikommunistischer Dissident, wenn ihm der Untergang der
Sowjetunion seine Feindbilder genommen hat? Er sucht sich neue. Für den russischen
Emigranten Vadim Belotserkovsky ist es - wie sein Buch "Was geschieht mit
Rußland?" zeigt - die gesamte Politikerkaste Russlands. Geradezu verhasst ist ihm
Präsident Jelzin, dessen weitere politische Zukunft zur Zeit in den Händen von
Medizinern liegt. Ihn beschreibt er wie folgt:
"Niedriges Bildungsniveau, autoritäres Wesen, Neigung zum großrussischen
Chauvinismus, totale Prinzipienlosigkeit und ... Feigheit." Belotserkovsky, einst
umstrittener Kommentator bei dem ebenfalls umstrittenen amerikanischen Sender
"Radio Liberty", lässt wirklich kein gutes Haar am russischen Präsidenten.
"Prinzipienlosigkeit"
"Jelzins Prinzipienlosigkeit ist auch darin zu erkennen, dass er heute allerlei Symbolik
des zaristischen Russland und der russischen Orthodoxie wieder hoffähig macht, an
kirchlichen Festtagen mit der brennenden Kerze in der Hand vor einem Altar eines
vollen Gotteshauses zu stehen pflegt, für gigantische Summen die Moskauer
Erlöserkirche, die einmal auf Anweisung von Stalin geschleift worden war, wieder
erbauen lässt, während er noch gestern als Parteiboss von Swerdlowsk die Anweisung
des ZK der KPdSU willig vollstreckte und das historische Ipatijew-Haus niederreißen
ließ, das Haus, in dem der letzte russische Zar, Nikolaj II, mit seinen
Familienangehörigen ermordet worden war."
Hätte sich Jelzin damals, als er noch Parteichef von Swerdlowsk war, dem Befehl des
allmächtigen Politbüros widersetzen können? Wohl kaum. Und hat nicht auch ein
ehemaliges Parteimitglied wie Boris Jelzin das Recht, seine Meinung zu ändern, sein
Verhältnis zu Kirche und Glauben?
Fehlende Beweise
Gewiss: Wenn Jelzin sich in einer Kathedrale filmen lässt, ist Populismus im Spiel.
Zugegeben: Jelzin greift in seiner Präsidentschaft auf alte russische Traditionen
zurück. Doch welche Traditionen sollte er sonst wiederbeleben? Boris Jelzin ist
bestimmt kein Präsident ohne Fehl und Tadel. Doch Belotserkovsky geht mit seiner
Kritik zu weit. Er wird unsachlich, nimmt es sogar mit den historischen Fakten nicht so
genau. So schreibt er über das Ende der UdSSR:
"Jelzin löste die UdSSR freilich nicht nur deshalb auf, weil er Gorbatschow loswerden
wollte, sondern er bediente damit die Interessen der Nomenklatura. Andernfalls wäre
Jelzin ... beseitigt worden, vielleicht sogar pysisch."
Den Beweis für solche abstrusen Behauptungen bleibt der Autor dem Leser schuldig.
Jelzin, der im August 1991 der Partei-Nomenklatura die Stirn geboten hat und den
Putsch gegen Gorbatschow vereitelte, soll also - so Belotserkovsky - mit der
Nomenklatura unter einer Decke gesteckt haben? Jelzin, der die Herrschaft der KPdSU
beendete, ein heimliches Werkzeug der Kommunisten? Nein, wer wie Belotserkovsky
solche und ähnliche Anklagen erhebt und keinerlei Beweise liefert, kann nicht ernst
genommen werden.
"Epidemische Verdummung"
Der Autor beschimpft nicht nur Jelzin. Auch Michail Gorbatschow oder der frühere
Ministerpräsident Jegor Gajdar finden vor seinen Augen keine Gnade. Russland, so
schreibt er, habe im letzten Jahrzehnt eine "epidemische Verdummung befallen".
Wie gut, so möchte man ironisch meinen, dass wenigstens der Autor einen klaren Kopf
bewahrt hat. Angeblich weiß er, wie Russlands Probleme gelöst werden können. In der
Wirtschaft etwa ist Belotserkovsky ein Anhänger des sogenannten Dritten Weges,
einer Mischung von Kapitalismus und Sozialismus.
Journalistisch unprofessionell
Die Betriebe sollen die Arbeiter selbst verwalten, so der Autor: "Unternehmen, die den
Belegschaften gehören, sind an einer maximalen Entmonopolisierung interessiert, weil
sie nur für die eigene Arbeit die Verantwortung tragen wollen und die eigene
Produktion ohne viel Mühe kontrollieren können."
Dass das Modell der Arbeiterselbstverwaltung im früheren Jugoslawien kläglich
gescheitert ist, wird in dem vorliegenden Buch nicht erwähnt. Wenn es aber schon im
ehemaligen Jugoslawien trotz Milliardenhilfen des Westens nicht funktionierte, warum
sollte dieses Wirtschaftsmodell in Russland Erfolg haben?
Eine Schwäche des Buches besteht darin, dass der Autor den Leser nicht informieren,
sondern belehren will. Journalistisch unprofessionell sind auch die Interviews in dem
Buch. Die Fragen Belotserkovskys an Gorbatschow sind manchmal länger als die
Antworten des Befragten. Der Eindruck bleibt: Hier will sich jemand nur wichtig
machen.
Miodrag Soric