Du kannst den Wind nicht aufhalten … - Demo - DDR

Impressum
Karina Brauer
Du kannst den Wind nicht aufhalten …
ISBN 978-3-95655-374-5 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien erschien 2009, in der
überarbeiteten Fassung 2014 im Eigenverlag Karina Brauer.
Foto auf der Titelseite: Zach (www.photocase.de)
© 2015 EDITION digital®
Pekrul & Sohn GbR
Godern
Alte Dorfstraße 2 b
19065 Pinnow
Tel.: 03860 505788
E-Mail: [email protected]
Internet: http://www.ddrautoren.de
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1. Teil
Es war kalt, sehr kalt und einsam. Die Kälte kroch an diesem
Abend durch die Küche des alten Bauernhauses wie ein böses
Ungeheuer und war willens, von allem Besitz zu ergreifen, was
sich ihm bot. Durchgefroren erhob sich Chris-Tina, um endlich
den alten Herd zu beheizen. Sie brauchte Wärme, so unendlich
viel Wärme, aber es blieb kalt, sehr kalt und sehr, sehr einsam
um sie herum. Nach einer Weile begann der alte Teekessel
auf dem Propangasherd durch seinen stotternden Pfeifton
anzuzeigen, dass das Wasser für den Tee bereit war. Chris
goss es über die getrockneten Pfefferminzblätter und sogleich
verteilte sich der Duft in der Küche. Die junge Frau rückte den
schweren Stuhl näher an den alten Kohleherd, legte noch ein
paar Holzscheite nach und kuschelte sich dann in die
Wolldecke ein. Sie trank den Tee, der sie nun etwas
aufwärmte.
Ein langer, ein trauriger Tag lag hinter ihr. Jetzt erst konnte sie
alles an sich vorüberziehen lassen. Mitten in der
Pädagogikvorlesung von Professor Niemann wurde sie, ChrisTina Baumgarten, ans Telefon gerufen. Dr. Wigand Brothe,
Chefarzt des Bezirkskrankenhauses und ein alter Freund ihrer
Familie war am Apparat, um ihr mitzuteilen, dass sie so
schnell es ihr möglich sei, kommen müsse. „Deine Großmutter
hat gesagt, dass es Zeit ist. Es geht mit ihr zu Ende. Komm
schnell!“
Seit Wochen war Chris darauf vorbereitet, diese Nachricht zu
erhalten und doch gerade jetzt traf sie sie irgendwie
unverhofft. Sie atmete einmal tief durch, dann war Chris
wieder in die Vorlesung zurück gelaufen. Unter dem strengen
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Blick des Professors ergriff sie ihre Sachen und wollte schon
schnell hinauseilen, als Petra, die Postfrau der
Seminargruppe, ihr noch rasch die heutige Post zuschob. Im
Wohnheim blätterte Chris im Kursbuch der Deutschen
Reichsbahn. Schnell fand sie eine Verbindung in die sechzig
Kilometer entfernte Bezirksstadt. Nun hieß es, flink sein, es
blieben ihr nur fünfundzwanzig Minuten. Den Zug erreichte sie
zwar gerade noch, aber natürlich hatte sie es nicht mehr an
den Fahrkartenschalter geschafft. Nun musste sie den vollen
Fahrpreis zahlen. Der Schaffner war unerbittlich. Sie hätte eine
schöne Ausrede, meinte er und ein hübsches Gesicht, aber er
hätte seine Vorschriften. Chris war sauer. Nicht, dass es ihr
finanziell wehtat, keine Studentenermäßigung gewährt zu
bekommen. Nein, hier ging es ums Prinzip! Da sie aber
sowieso fünfzehn Minuten später in den Schnellzug umsteigen
musste, verspürte sie keine Lust mit dem anzüglichen, sturen
Schaffner zu diskutieren. Der Schnellzug war natürlich nicht
pünktlich. Warum auch ausgerechnet heute? Endlich kam er.
Na, wenigstens war der Zug fast leer, heute am Dienstag. Ein
sehr angenehmer Duft empfing sie, als sie das Abteil betrat. In
der Mitte des Raucherabteils machte sie es sich einigermaßen
bequem. Der Zug fuhr gerade an, da holte Chris die Post aus
ihrer Tasche. Wie sie es vermutet hatte, es war ein Brief von
Thorben. Nun würde sich bestimmt aufklären, warum er nicht
wie vereinbart am vergangenen Freitag zu ihr ins Wohnheim
gekommen war. All ihre Hoffnung legte sie in diesen Brief, und
doch gab es da auch so eine Ahnung. Chris konnte sich diese
aber selbst nicht erklären. Deshalb zögerte sie noch, zündete
sich eine Zigarette an. Den Brief neben sich legend, schloss
sie die Augen und sah sich und Thorben. Ach, Thorben, wie
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schön hatte alles angefangen, seufzte sie leise ...
Chris war damals, vor einem halben Jahr, übers Wochenende
mit zu ihrer Freundin Patricia nach Rostock gefahren. Patricia
hatte sturmfreie Bude. Ihre Eltern waren – wie so oft - verreist
und die Mädels wollten das Wochenende mal so richtig
genießen. Mit ihren achtzehneinhalb Jahren konnten und
durften sie das schließlich. In der „Pinguin“-Eisbar nahm das
Schicksal dann seinen Lauf.
Alle Plätze waren besetzt, ältere Frauen, Soldaten und ihre
Bräute. Gerade als die beiden Mädchen wieder erfolglos
gehen wollten, bezahlten zwei ältere Damen ihren Kaffee.
Patricia und Chris stürmten auf die Plätze zu, als ginge es um
ihr Leben. Erst als sie saßen, die schimpfenden Frauen
gegangen waren und die Soldaten am Tisch undefinierbare
Laute von sich gaben, war den Mädels die Peinlichkeit ihres
Auftritts bewusst. Die Röte in ihren Gesichtern machte es zu
allem Überfluss auch noch sichtbar. Während Chris sich doch
wegen ihres Benehmens schämte, hatte Patricia bereits
begonnen, mit den jungen Männern in Uniform zu flirten.
Endlich blickte Chris auch einmal hoch und sah in zwei
wasserblaue Augen, die ihr etwas schüchtern zuzwinkerten.
Nach etwa einer Stunde hatte Patricia gemeinsam mit den
anderen Jungen entschieden, dass man doch in die nahe
gelegene Diskothek gehen könnte. Chris folgte, weil der
Schüchterne, der Thorben hieß, auch überzeugt worden war.
Trotz lauten Protestes hatte sie dann in der Disco nur mit
Thorben getanzt und natürlich auch nur ihn geküsst. Kurz vor
23 Uhr verschwanden die Soldaten dann gemeinsam, sie
mussten zurück in die zwanzig Kilometer entfernte Kaserne.
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Von nun an schrieben sich Chris und Thorben täglich. Die
Briefe von Thorben waren von einer Tiefe und Ehrlichkeit, so
gefühlvoll, so voller Sehnsucht nach Liebe, nach ihrer Liebe, so
etwas hatte Chris noch nie bei Jungen erlebt. Nicht einmal
Patricia durfte die Post lesen, und das hieß viel, teilten die
Mädchen doch ansonsten alle Geheimnisse miteinander.
Ende August endlich erlebten Chris und Thorben ihr erstes
gemeinsames Wochenende und es war unbeschreiblich schön.
Jetzt drei Monate später wusste sie, dass es nicht ohne
Folgen geblieben war. Am Freitag der vergangenen Woche
war Thorbens anderthalbjährige Armeezeit zu Ende gegangen,
nun sollte ihre gemeinsame Zeit beginnen. Sie hatten doch so
viele wunderbare Pläne geschmiedet ...
Der Zug hielt gerade in Bad Kleinen und eine Schulklasse
stürmte durch das Abteil. Einige Kinder hatten sich bereits
gesetzt, als durch die Lehrerin das Weitergehen in den
Nichtraucherwagen angemahnt wurde. Endlich war wieder
Ruhe eingekehrt. Chris ergriff erneut den Brief, nun wirklich
bereit, ihn zu öffnen und zu lesen. Wieder nahm sie den
angenehmen Duft wahr, der durch den Wagen zog.
Liebe Chris-Tina,
verzeih mir, wenn Du kannst. Ich schäme mich sehr, weil ich
so feige bin. Ich konnte es Dir einfach nicht sagen oder
schreiben. Ich werde im November heiraten. Ich habe es
meiner Familie schwören müssen. Anja, mit der ich im
Pfingsturlaub zusammen war, kurz bevor wir uns
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kennenlernten, ist schwanger. Ich kann nicht anders. Ich darf
die Familienehre nicht beschmutzen. Es tut mir alles so leid.
Ich liebe nur Dich und werde Dich immer lieben. Bitte
entbinde mich von meinem Schwur, den ich Dir in der Kirche
gab.
Liebe Chris, bitte versuche nicht, mich zu finden. Es hat alles
keinen Zweck.
Dein Dich ewig liebender Thorben
Chris liefen die Tränen übers Gesicht. Sie konnte es nicht
fassen! Plötzlich war der Duft ganz nahe bei ihr. „Hallo, junge
Frau, was ist denn los mit Ihnen?“ Erstaunt blickte sie in das
Gesicht des fragenden Mannes, der sich über sie gebeugt
hatte. Erst jetzt begriff Chris-Tina, dass sie ohnmächtig
gewesen sein musste und nun auf dem Waggonboden lag.
Rasch erhob sie sich. Lächelte ein wenig verlegen, klopfte den
Staub von der Hose und sagte: „Entschuldigung, es ist alles in
Ordnung.“ Und dann, etwas leiser, fügte sie hinzu: „Das
Frühstück ist zu lange her.“
Sie spürte sofort, dass der freundliche Mann ihre Lüge
durchschaut hatte. Er gab ihr ein sauberes Taschentuch und
sagte: „Sie brauchen dort,“ er zeigte an ihre Schläfe, „schnell
ein Pflaster“. Chris fasste an die gezeigte Stelle und bemerkte
dann das Blut an ihrer Hand. Mit dem Taschentuch wischte sie
es ab. Die Durchsage „Schwerin Hauptbahnhof ...“ war für sie
wie eine Erlösung. Hastig ergriff Chris Anorak und Tasche und
war mit „Dankeschön! Auf Wiedersehen!“ und dem
Taschentuch des Fremden verschwunden. Auf dem Bahnsteig
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winkte ihr der nette Herr noch nach, sie bemerkte es gar nicht.
Chris-Tina wollte nur noch schnell ins Krankenhaus. Auf der
Station kam ihr Dr. Brothe schon entgegen. „Na, da bist du ja
endlich! Sie fragt ständig nach dir!“ Es klang vorwurfsvoller,
als er es wollte, wusste er doch, alles brauchte seine Zeit.
Hier aber wartete eben einer, der hatte gerade jetzt keine Zeit
mehr - der Gevatter Tod. Brothe begleitete das Mädchen in
das Zimmer, in dem die Großmutter, die Urgroßmutter lag.
„Ich lasse euch nun allein, wenn etwas ist, klingle!“
Leise zog Chris-Tina ihre Jacke aus und ging an das Bett der
sterbenden Ömi, wie sie sie immer liebevoll nannte. Aus
matten Augen blickte die alte Frau ihre Urenkelin an. Chris
wusste, es würde ihr kaum Zeit bleiben, um der geliebten
Großmutter von ihrem größten Glück und ihrem noch größeren
Unglück zu berichten. Gerade als sie beginnen wollte, nahm
die Ömi ihre Hand und flüsterte: „Ward allens gaud, min lütte
Deern. Büst man een Sünndagskind, da hest denn doch 'n
bäten mier Glück! Hei kümmt taurüch. Ick waar von baben von
Himmel öffters na di kieken, wenn ick bi de Engels und min
Hermann bin. Pass man gaud up juch up!“ Ihre Stimme wurde
noch leiser. Chris war ganz dicht am Gesicht ihrer
Großmutter, sie gab ihr einen Kuss auf die Stirn und
versprach, die Tränen unterdrückend, den Rat der Großmutter
zu befolgen. „Grüße alle von mir, Ömi“, bat sie leise, fast zu
sich selbst, als ein kurzer kalter Hauch durch das halbdunkle
Krankenzimmer zog. Der Gevatter hatte scheinbar lange
genug gewartet. Die Großmutter war fort.
Wie lange Chris weinend, den Kopf auf die Hand der toten
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Großmutter gelegt, am Bett saß, wusste sie später nicht
mehr. Dr. Brothe kam, nahm sie in den Arm, drückte sie fest
an sich und übergab Chris zunächst der Schwester, die sie in
das Zimmer des Arztes begleitete. Die Schwester kümmerte
sich nun auch um Chris-Tinas Wunde. Diese war kleiner als sie
aussah, aber mit dem Pflaster ... Egal, Chris wollte heute
ohnehin keinen Schönheitspreis mehr gewinnen.
Nach einer Weile saßen sich der Arzt und das Mädchen
gegenüber. Der Kaffee, den sie nun trank, tat gut. Endlich
brach der Arzt das Schweigen: „Nun hat sie es gut, Chris. Sie
ist ja immerhin 86 Jahre alt geworden“, er blätterte in seinen
Unterlagen und fuhr dann fort: „ach, ich sehe ja, sie ist ja
schon 1893 geboren. Mensch, sie war schon 87! Chris, sie
hatte einen leichten Tod.“
Ernst blickte Chris-Tina ihn an: „Ja, Wigand, ein leichter Tod.
Das hast du auch gesagt, als Mama, Papa und mein Bruder
Michael gestorben sind. Damals, erinnerst du dich! Denkst du,
es hilft mir, zu wissen, dass sie alle einen leichten Tod hatten?
Ich bin jetzt allein. Verstehst du das?“ Chris war laut
geworden, das bemerkte sie nun erschrocken selbst.
„Verzeihe mir, ich wollte ...“ Sie weinte und er ließ sie.
Wigand Brothe fühlte sich sehr unwohl, zumal er es jetzt selbst
ungeheuerlich empfand, dass er sie in dieser schweren Stunde
auch noch an den harten Schicksalsschlag von vor 8 Jahren
erinnern musste.
Dr. Brothe kannte die Familie Baumgarten seit Jahrzehnten.
Gemeinsam mit Jochen Baumgarten, Chris-Tinas Vater, war
er aufgewachsen, sie waren wie Brüder, Blutsbrüder. Was
hatten sie nicht alles gemeinsam erlebt? Unzertrennbar waren
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sie. Nur einmal gab es Streit. Ingrid Papke, die Tochter des
Tischlermeisters aus Schwerin, gefiel ihnen beiden. Fast wäre
ihre Freundschaft daran zerbrochen, aber eben nur fast.
Brothe war dann sogar ihr Trauzeuge gewesen, später wurde
er der Patenonkel von Michael und Chris-Tina. Der Tod des
Freundes hatte ihn damals genauso hart getroffen wie Chris.
Wie selbstverständlich hatte er sich um alles gekümmert.
Nun blickte er Chris voller Mitleid an. Nach einer Weile reichte
er ihr ein Taschentuch, stand auf und blickte aus dem Fenster.
„Chris, ich weiß, dass es dir nicht viel hilft. Aber sie hat nur
noch für dich gelebt und nun war die Kraft am Ende. Gestern
hat sie sogar fürchterlich geweint, weil sie dich jetzt doch
alleine lassen muss. Ich habe ihr gesagt, dass du es schon
schaffst. Da hat sie dann wieder ihr schelmisches Lächeln
gehabt und gemeint: Na, ist ja auch meine Enkeltochter!“ Er
machte eine kurze Pause. „Chris, wenn du Hilfe brauchst, ich
bin für dich da, immer.“
„Ja, ich weiß. Ich werde jetzt gehen. Oder kann, muss ich
noch etwas tun?“
„Nein, Mädchen, ich kümmere mich um alles Weitere, so wie
wir es mit deiner Großmutter und dir an deinem 18.
Geburtstag im letzten Jahr abgesprochen haben.“ Chris nickte
und wollte schon hinausgehen, als er ihr noch einen
Krankenschein in die Hand drückte. „Ich denke, die
Beerdigung wird bereits am Freitag sein. Wenn du dann noch
zu Hause bleiben willst, schreibe ich dich weiter krank.
Tschüss, ich muss mich nun auch mal wieder um die anderen
Patienten kümmern.“ Damit schob er sie sanft zur Tür heraus.
Brothe ging zurück an seinen Schreibtisch, unter den
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Patientenakten lag eine angebrochene Schachtel Zigaretten.
Hastig entnahm er eine Zigarette und zündete sie an. Du
solltest mit dem Rauchen aufhören, dachte er kurz. Der
Gedanke an Chris, die ihrer Mutter Ingrid immer ähnlicher
geworden war, beschäftigte ihn allerdings viel mehr. Mehr als
es gut war für ihn. Brothe schalt sich einen Narren. Er hatte
Ingrid nicht bekommen und auch Chris ...
Auf dem Flur sah Chris-Tina in der Fensterscheibe ihr
Spiegelbild. Sie erschrak. Schnell lief sie zur nächsten Toilette
und ließ kaltes Wasser über das verweinte Gesicht laufen. Als
sie dann nach einer Weile aus dem Krankenhaus ging, schaffte
sie gerade noch den Bus, der sie in das wenige Kilometer
entfernte Dorf brachte, in dem sie seit Jahren wohnte.
Die Wärme des Herdfeuers und der Tee hatten Chris gut
getan. Aus der „guten Stube“, wie die Großmutter das
Wohnzimmer stets genannt hatte, ertönte der Gong der alten
Pendeluhr. Es war bereits nach Mitternacht. Das Mädchen
erhob sich und legte die Wolldecke zusammen. Als sie den
schweren Holzstuhl auch noch an seinen Platz zurückgestellt
hatte, fiel ihr plötzlich Thorbens Brief ein. Ja, den werde ich
noch einmal lesen, vielleicht ... Sie konnte den Gedanken gar
nicht zu Ende denken. Hastig hatte Chris alles aus ihrer
Tasche herausgerissen, Taschentücher, Kleingeld,
Feuerzeuge, Geldbörse, Kugelschreiber lagen auf dem Tisch.
Sie rannte auf den Flur. Nein, auch in der Jacke war er nicht!
Er war ganz einfach verschwunden. Weg! War nicht alles
schon schlimm genug?!
Chris stieg traurig die Treppe zu ihrem Dachstübchen hinauf,
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kuschelte sich in das Federbett ein und weinte sich in den
Schlaf.
„Hi, Chris, du hast Post.“ Petra, die nette SeminargruppenPostfrau, hielt einen großen Briefumschlag in der Hand. „Wenn
du jetzt wenigstens einmal lachst, Chrissi, dann kannst du ihn
noch vor der Vorlesung haben.“ „Ach, Petra, wenn das dein
sehnlichster Wunsch ist, dann will ich ihn dir erfüllen.“ Chris
gab sich nun wirklich Mühe, das Lächeln nicht krampfhaft
aussehen zu lassen. Petra wollte ja wirklich nur nett zu ihr
sein. Ja, Chris wusste, dass sie allen leid tat, aber genau das
wollte sie eben nicht.
Am Sonntagabend gleich nach ihrer Ankunft kamen fast alle
Mädchen der Seminargruppe zu ihr ins Zimmer und wollten sie
trösten. Es war so belastend. Nach einer halben Stunde hatte
Chris-Tina alle hinausgeworfen und gesagt, dass sie kein
Mitleid brauche. Es tat ihr ja auch gleich leid, aber es war
eben leider gesagt. Im ersten Seminar am darauf folgenden
Morgen hatte sie sich vor die Klasse gestellt, sich entschuldigt
und gleichzeitig alle gebeten, sich ihr gegenüber doch bitte
ganz normal zu verhalten. Sie wäre ja schließlich nicht krank
und ihr Kummer würde nicht kleiner, die Großmutter dadurch
auch nicht wieder lebendig werden, wenn alle sie bemitleiden
würden. Damit war die Sache dann auch ausgestanden.
„So, nun gib schon her, es ist Post von meinem Verehrer!“,
sagte Chris. Darauf erwiderte Petra nur schnippisch, als sie
endlich den absenderlosen Brief übergab: „Dann ist das jetzt
aber eine neuer, die Schrift ist anders.“ „Aha, du bist ja gut im
Bilde.“
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Die Pädagogikvorlesung begann und Chris legte den Brief
beiseite. Wer immer ihr heute geschrieben hatte, er musste
warten. Nach einer halben Stunde konnte Chris-Tina sich nicht
mehr beherrschen. Sie musste wissen, wer ihr heute
geschrieben hatte, außer von Thorben hatte sie niemals Post
erhalten. Leise versuchte sie den Brief zu öffnen, aber
natürlich gelang gerade dies nicht.
Der Professor hatte die Störung bemerkt. Nun legte er sogar
seine Unterlagen fort und sah in den Vorlesungssaal,
scheinbar unbeabsichtigt blieb sein Blick auf Chris-Tina
gerichtet. „Meine Damen,“ verkündete er mit seiner tiefen
Stimme, „wenn Sie glauben, Pädagogik ist für zukünftige
Lehrerinnen nicht so wichtig, dann sollten Sie lieber gehen. Im
Übrigen sollte von Ihnen, meine Damen, die eine oder andere
glauben, ich würde nicht bemerken, dass Sie bei mir ihre
Liebesbriefe lesen, dann irren Sie sich gewaltig. Wenn ich
Ihnen Praxisbeispiele liefere und Ihr Blick ist verklärt, was
glauben Sie wohl, was ich mir dabei denke? Ich war, auch
wenn Sie es sich vielleicht nicht vorstellen können, ja auch mal
jung, wie Sie. Ich bitte Sie also nun alle um Ihre geschätzte
Aufmerksamkeit!“ Damit drehte er sich um, ging ans Pult
zurück und fuhr mit der Vorlesung fort.
Chris spürte die Röte in ihrem Gesicht. Dabei ahnte sie jedoch
nicht, dass sie nicht die einzige Studentin war, die sich
angesprochen fühlte. Der Professor hatte die Vorlesung
gerade beendet, da flitzte Chris durch den Hinterausgang des
Saales hinaus ins Wohnheim. Patricia konnte ihr kaum folgen.
„Mann, der war ja heute scharf drauf“, brachte Patricia schwer
atmend heraus. Nach einer kurzen Pause hatte sie sich jedoch
wieder erholt und wollte nun neugierig wissen, von wem denn
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Chris nun Post hätte. „Nun warte es doch ab, ich bin ja noch
nicht zum Lesen gekommen. Koche du uns Kaffee. Ich sage
es dir dann.“
Guten Tag, liebes Fräulein Baumgarten,
vielleicht erinnern Sie sich meiner noch? Wir begegneten uns
am vergangenen Dienstag im D-Zug, den Sie in Schwerin
verließen ...
„Was ist los mit dir?“, fragte Patricia, „Du siehst aus, als wäre
es Post aus einer anderen Welt.“ „Ehrlich, Patricia, ist sie
auch.“ Während Patricia die Freundin neugierig anstarrte, las
Chris unbeeindruckt davon ihren Brief schweigend weiter,
trank ihren Kaffee und rauchte.
... Leider haben Sie auf mein Winken nicht reagiert, ...
Na, das wäre ja noch schöner, wenn ich auf jedes Winken
reagieren würde, dachte Chris nun ein wenig amüsiert.
... dann hätte ich Ihnen den Brief Ihres Freundes, Ihres
ehemaligen Freundes gleich zurückgeben können.
Nun, da Sie – bedingt durch Ihre Ohnmacht - Umschlag und
Brief haben fallen lassen, blieb beides auch nach Ihrem
stürmischen Ausstieg unter der Bank liegen. Ich erlaube, mir
Ihnen dieses Schreiben zurückzugeben. Ich habe die
Hoffnung, dass Sie baldigst einen Mann finden werden, der
Ihrer wert ist.
Mit freundlichen Grüßen
Carl Klammt
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„Na, was ist?“, Patricia platzte jetzt fast vor Neugierde. „Mann,
nun mach es nicht so spannend. „ Ach“, erwiderte Chris,
während sie Thorbens Brief aus dem Umschlag fingerte, „der
Mann aus dem Zug hat das hier“, und als wenn sie etwas ganz
Furchtbares in der Hand hielt, zeigte sie auf Thorbens letzte
Nachricht, „geschickt. Na ja, da werde ich ihm dann heute
Abend wohl antworten und mich bedanken müssen. Ist ja nett,
das er sich die Mühe gemacht hat.“ Damit stand sie auf und
beide gingen, ohne weiter darüber zu reden zum nächsten
Seminar. Chris ließ dieser Brief aber gar keine Ruhe.
Endlich Wochenende.
Chris war seit einigen Stunden damit beschäftigt, die Wäsche
ihrer Großmutter in Säcke zu verstauen. Auf der Beerdigung,
am Freitag vor einer Woche, hatte sie mit der Frau des
Pfarrers auch über die Sachen der Ömi gesprochen. Frau
Rehmer machte ihr dabei den Vorschlag, dass die Pfarrei
diese nehmen und an Bedürftige weitergeben würde. Das
gefiel Chris, denn zum Wegschmeißen war das alles zu
schade und die Großmutter hätte es ganz sicher auch gewollt.
Ja, die Ömi! Diese kleine Frau, die ihr ganzes Leben nur für
andere da war, die wäre jetzt sicher sehr zufrieden mit ihrer
Urenkeltochter. „Geben ist seliger als Nehmen“, hatte sie stets
gesagt und so hatte sie auch immer gelebt. Was spielte es
schon für eine Rolle, dass das Leben mit ihr nicht zimperlich
umgegangen war.
Chris war gerade in die Küche gegangen, um den Eintopf, den
sie sich zum Abendessen kochte, umzurühren, als das Telefon
klingelte. „Guten Abend“, meldete sie sich und war sehr
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überrascht, als am anderen Ende der Leitung eine angenehme
Männerstimme antwortete: „Ja, gleichfalls einen guten Abend,
Fräulein Baumgarten.“ Nach einer kurzen Pause fuhr der Mann
fort: „Ich hoffe, ich störe Sie nicht. Hier ist Carl Klammt, Ihr
Briefefinder.“ Nun war Chris wirklich überrascht. „Hallo,
Fräulein Baumgarten, sind Sie noch dran?“ „Ja, ja, Herr
Klammt. Ich bin nur ein wenig erstaunt, dass Sie mich anrufen.
Ich meine, dass Sie überhaupt meine Nummer haben.“ „Also,
Fräulein Baumgarten, das ist nun wirklich eine ganz leichte
Aufgabe gewesen. Ich habe Ihren Brief erhalten. Vielen Dank
dafür. Das Taschentuch können Sie auch behalten, es ist nicht
mein einziges“, er lachte kurz auf. „Also, wenn Sie mir einen
Brief mit Ihrer Adresse senden, da kann ich doch im
Telefonbuch nachschauen. Ich hatte einfach Glück, dass Sie
einen Telefonanschluss besitzen. Sehen Sie, es ist nicht einmal
ein Zauberkunststück! Aber wie geht es Ihnen?“ „Danke, es
geht mir gut.“ „Schwindeln Sie mich jetzt wieder an?“ „Nein,
aber, ...“, Chris machte eine kurze Pause, dann fuhr sie fort:
„Es ist hier soweit alles in Ordnung. Und wenn Sie auf die
Sache mit meinem Freund, ähm, Exfreund anspielen, das ist
längst vorbei.“ „Na gut, ich wollte ja auch nicht indiskret sein.
Entschuldigen Sie bitte! Was machen Sie denn gerade?“ „Ich
koche Eintopf, Wrukeneintopf.“ „Oh, das hört sich ja gut an.
Eintopf ist mein Lieblingsessen, ehrlich!“ „Tja, leider kann ich
Ihnen keinen Teller durch das Telefon reichen, sonst wären
Sie mein Gast.“
Es klingelte an der Haustür. „Herr Klammt, ich muss jetzt
leider unsere Plauderei beenden. Ich werde nachher auch
einen Teller Eintopf für Sie mitessen. Tschüss.“ Ohne eine
Antwort abzuwarten, legte Sie den Hörer auf und ging zur Tür.
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Da stand Frau Rehmer, die Frau des Pfarrers mit ihrem Sohn
Guido und zwei anderen jungen Männern vor der Tür. Nach
einer kurzen Begrüßung luden sie die Sachen in den alten
Barcas. Zum Abschied sagte der vier Jahre ältere Guido:
„Hey, Chris, wir wollen heute noch übers Land fahren,
irgendwo wird schon Tanz sein. Hast du nicht Lust?“ Sie sah
die Hoffnung in seinen Augen und wusste um die
Enttäuschung, die ihre Antwort für ihn bedeuten würde: „Nee,
lass mal, ich bin nicht in der Stimmung dafür. Vielleicht ein
anderes Mal.“ Wie gut sie ihn kannte! „Kann ich deinen Wagen
trotzdem noch ein paar Tage nutzen? Ich bring ihn auch zur
Durchsicht. Schlüssel und Papiere lege ich wie gehabt in unser
Versteck!“ Chris nickte, während Guido traurig zu den anderen
in den Transporter stieg. Sie winkte noch einmal und dann
kehrte sie schnell ins Haus zurück.
Du hattest einmal deine Chance, Guido, du hast es damals
verpatzt!, dachte sie, bevor sie ins Schlafzimmer der
Großmutter ging. Sie schloss die Schranktüren und setzte sich
auf das uralte Bett. Wie sich das anhört „dein Wagen“ dachte
das Mädchen so bei sich. ‚Jetzt gehört mir alles, aber was soll
ich damit?‘ Langsam wurde sie wieder von einer Art
Verzweiflung erfasst. Knapp neunzehnjährig saß sie hier im
Haus ihrer Vorfahren, allein und einsam.
Das Läuten an der Haustür holte sie aus ihren traurigen
Gedanken. Sie betrat den Flur, der Blick auf die Uhr zeigte ihr
an, dass es bereits nach 19 Uhr war. Wer könnte das jetzt
sein? Ob Guido es noch einmal versuchen wollte?
Chris-Tina öffnete die Tür und war sprachlos. Da stand der
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sympathische Mann aus dem Schnellzug vor ihr mit einer
Flasche Wein und einer Schachtel Pralinen. „Ich dachte, ich
komme zum Eintopfessen doch persönlich vorbei. Ich möchte
doch nicht, dass Sie für mich mitessen und mir dann Vorwürfe
machen, wenn Sie Ihre Figur ...“
Weiter kam er nicht, Chris zog ihn am Ärmel ins Haus hinein.
„Können Sie beim Reden auch Luft holen?“, fragte sie nun.
Statt darauf zu antworten, sagte er: „Nun, ich hoffe, ich störe
nicht. Ich hatte nichts weiter vor, da dachte ich ...“ „Das ist
gut!“ Jetzt war Carl Klammt es, der etwas verwirrt
dreinschaute: „Was“, fragte er, „was ist gut?“ Lachend
antwortete sie: „Na, dass Sie denken. Ich mag denkende
Männer.“
Sie gab ihm nun ein Zeichen, ihr in die Küche zu folgen. ChrisTina holte ein zweites Gedeck aus dem Schrank. Dann aßen
sie schweigend die Teller leer. Der Duft, der ihr damals auch
im Zug aufgefallen war, kroch angenehm in Chris-Tinas Nase.
Chris versuchte ihr Gegenüber so unauffällig wie möglich zu
beobachten. Es gelang ihr anscheinend nicht, denn des
Öfteren trafen sich ihre Blicke.
Wenn Patricia wüsste, dass ich mit so einem gut aussehenden
Mann ausgerechnet Eintopf esse, die würde wahrscheinlich
sofort einen Kochkurs besuchen, um das auch zu schaffen,
dachte Chris bei sich.
„Sind Sie satt?“ Carl nickte. „Wie hieß das Essen noch mal“,
fragte er sie nun. Während Chris das Geschirr abräumte,
antwortete sie ihm, jedes Wort besonders betonend: „Das war
doch Ihr Lieblingsessen, Wruken-, also Steckrübeneintopf.“
Ein wenig verschwörerisch blickte sie dann zu ihm herüber, als
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sie dann zu ihm sagte: „Ich habe es übrigens gleich gemerkt,
dass Sie das nicht kennen. Das kocht Ihre Frau wohl nicht?“
„Nein!“, war seine kurze Antwort. Nun herrschte plötzlich eine
unangenehme Stille. „Entschuldigung, da war ich eben wohl
etwas vorlaut.“
Chris-Tina blieb an der Spüle stehen und wusch das Geschirr
ab. Sie konnte sich jetzt nicht einfach wieder an den Tisch
setzen. Irgendetwas war geschehen, sie konnte es sich nicht
erklären, oder besser, sie wollte es nicht, nicht jetzt. Plötzlich
war er neben ihr und begann abzutrocknen. Wieder nahm
Chris diesen wunderbaren Duft wahr. Ja, sie musste sich
eingestehen, dass dieser Carl ihr gefiel, sehr sogar. Er war so
groß, so schlank und dann die dunklen Haare. Am meisten
gefielen Chris jedoch seine freundlichen braunen Augen. „Ich
kann es gar nicht glauben, dass eine Frau so lange schweigen
kann“, sagte Carl in die Stille hinein und beide lachten nun laut
und herzlich. Der Bann war wieder gebrochen.
„Na ja, so lange war es ja nun auch nicht. Wollen Sie Kaffee
trinken?“, fragte Chris, als sie sich wieder beruhigt hatte.
„Wenn das heißt, dass ich noch etwas bleiben darf, dann
gerne.“ „Sie dürfen.“ „Wo haben Sie eigentlich Ihr Auto
abgestellt“, fragte Chris. „Die Leute hier sind nämlich sehr
neugierig, wissen Sie.“ „An der Kaufhalle. Ist das weit genug
weg“, antwortete er ein wenig schelmisch. „Ach, so meine ich
das doch nicht. Ich denke, Sie sollten hier auf dem Hof parken,
dann passiert dem Wagen auch nichts.“ Er stand auf, griff die
auf dem Tisch liegenden Autoschlüssel und ging mit dem
Worten: „Und mir?“ hinaus. Chris tat, als hätte sie dies nicht
gehört, war sie doch ohnehin vielmehr mit der Frage
beschäftigt, ob er ihr Herzklopfen hören konnte. Nachdem Carl
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seinen dunkelblauen Wartburg auf dem Hof geparkt hatte,
schloss Chris-Tina das Tor ab. „Es wäre schön, wenn wir ins
Haus gehen könnten. Ich friere“, sagte sie, als Carl sich noch
auf dem schwach beleuchteten Grundstück umsah.
Chris hatte die Haustür beinahe erreicht, als er sie einholte,
fast wären sie gemeinsam ins Haus gefallen. Er hielt sie fest
und für einen Atemzug lang schloss sie die Augen. Zu schnell
fand sie, hatte er sie wieder losgelassen. Zu schnell, um es
richtig zu genießen.
Chris öffnete die Tür zur guten Stube, stellte Kerzen und zwei
Gläser auf den Tisch, während er die Flasche Wein öffnete.
Schon beim ersten Glas waren sie zum ‚Du’ übergegangen.
Dann sprachen sie über Gott und die Welt und natürlich auch
über sich. Chris erzählte, dass ihre verstorbene Großmutter
eigentlich schon ihre Urgroßmutter gewesen sei, dass sie seit
dem Tod der Eltern hier bei der alten Frau ein Zuhause
gefunden hatte und ihr damit die zwangsläufige Einweisung ins
Kinderheim erspart geblieben war. Carl wollte mehr wissen,
aber Chris bat ihn zu warten. „Vielleicht ergibt es sich, dann
erzähle ich dir später einmal alles.“
Er streichelte ihre Hand und sie war froh, dass er sie nicht
drängte. Auch er gab nicht viel von sich preis, aber es reichte
Chris zu wissen, dass es keine Frau gab, die auf ihn wartete.
Lange unterhielten sie sich, die Flasche war längst leer, die
Kerzen fast heruntergebrannt, als Chris aufstand und sagte:
„Ich mache dir hier unten im Schlafzimmer von Oma das Bett
zurecht.“ „Und du?“, fragte Carl. „Ich schlafe oben in meiner
Kammer. Wie immer!“, antwortete sie hastig. „Ich hole das
Bettzeug herunter. Mach du doch in der Küche schon das Licht
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aus. Das Schlafzimmer ist auf dem Flur hinten rechts.“ Als sie
die Treppe zu ihrem Reich fast erstiegen hatte, spürte sie,
dass Carl dicht hinter ihr war. „Darf ich mir das Kämmerlein
denn wenigstens ansehen“, hauchte er ihr flüsternd ins Ohr.
Sie spürte seine Erregung. Langsam drehte sie sich um, er
stand zwei Stufen tiefer. Sie sahen sich in die Augen, er nahm
sie in die Arme, küsste zärtlich ihren Mund. Nun trug er Chris
die letzten Stufen hinauf. Sie öffnete mit der freien Hand die
Tür, löschte das Flurlicht. Der Raum war nur durch das
Mondlicht erhellt, das durch das kleine Dachfenster fiel.
Irgendwann waren sie dann erschöpft und sehr glücklich eng
aneinander gekuschelt eingeschlafen. Als Carl jedoch in der
Nacht wach wurde, erschrak er. „Chris-Tina, weinst du?
Mädchen, was ist?“, fragte er, während er mit der linken Hand
nach dem Schalter der Nachttischlampe tastete. Endlich war
der winzige Raum erleuchtet. Carl beugte sich über die
weinende junge Frau. „Es tut mir leid, wenn ich ...“, seine
Stimme zitterte. Endlich drehte Chris sich zu ihm, Tränen liefen
ihr über das Gesicht und schluchzend versuchte sie, ihm zu
erklären, warum sie weinte: „Es ist nicht deinetwegen, ich ...“
Es dauerte, bis sie sich beruhigte, sanft streichelte er die
Tränen fort. „Ich, ich kann nicht. Ich habe dich belogen, es gibt
keinen Grund für dich zu bleiben. Es ist besser, du gehst!“,
sprudelte es nun plötzlich und sehr heftig aus ihr heraus. Sie
sprang aus dem Bett, zog sich ihre Jeans und den Pulli an,
schnappte sich die Wollsocken. Schon war sie an der Tür und
stürmte die Treppe hinunter.
Carl, zunächst von der Wucht ihrer Worte und ihrer plötzlichen
Flucht überrascht, sprang aus dem Bett und folgte ihr. In der
Küche erst konnte er sie einholen. „Liebes, was ist los? Ich
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dachte, du hast es auch gewollt. Ich …“, weiter kam er nicht.
Chris riss sich los und lief ins Badezimmer, das sie hinter sich
verriegelte. Er hörte, dass sie sich übergeben musste. Die
gesamte Situation war für Carl nun doch ein wenig verwirrend,
so etwas war ihm noch nie geschehen. Da stand er nun in
einer fremden, kalten Küche, wartend und frierend. Erst jetzt
wurde ihm bewusst, dass er noch nackt war. Er lief zurück in
die Kammer, zog sich an. Dann machte er sich daran, den
Herd zu beheizen und Tee zu kochen.
Nach etwa einer Viertelstunde kam Chris aus dem Bad. Sie
ging zu Carl, der am Tisch saß. Vor ihm blieb sie stehen und
legte beide Arme auf seine Schultern. Langsam zog er sie auf
seinen Schoß. „Was ist mit dir?“, fragte er wieder leise. Sie
blickte ihm fast ängstlich in die Augen und begann: „Ich hätte
dich gleich wieder fortschicken sollen, als du gestern kamst.
Wir haben keine Zukunft ...“ Carl wollte etwas einwenden,
aber Chris legte ihm den Zeigefinger auf den Mund. „Ich hätte
es dir gleich sagen sollen ...“ Nun unterbrach er sie doch:
„Chris, wenn du wieder mit deinem Freund zusammen ...“
„Ach, Carl“, entgegnete sie ihm nun vorwurfsvoll lächelnd,
„Nein, das ist es nun wirklich nicht. Ich bin schwanger! So, nun
ist es raus.“ Sie blickte ihn erwartungsvoll an, darauf gefasst,
dass er nun doch gehen würde. Aber, was war denn das?
Urplötzlich erhob Carl sich mit Chris im Arm, drehte sich mit ihr
in der Küche, ja, es wirkte, als sollte dies ein Tanz sein.
„Hurra, wir bekommen ein Kind!“ Chris versuchte zaghaft sich
aus dieser Situation zu befreien. Sie hoffte, endlich zum
Stehen zu kommen. Carl ließ sie ungern herunter, aber nur, um
nun um sie herum zu tanzen. Immer wieder rief er: „Wir
kriegen ein Kind. Chrissi, wir kriegen ein Kind!“ Ganz
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unvermittelt blieb er stehen, er trat ganz dicht an sie heran und
umarmte sie. Er beugte sich zu ihr herab und sagte sehr leise:
„Chris, ich liebe dich. Ich wusste es bei unserer ersten
Begegnung. Ich wäre gerne der Vater deines Kindes, wenn du
es willst.“
„Ich will“, war die Antwort, kaum hörbar, aber sehr fest
gesprochen. „Ich denke, wir sollten jetzt noch etwas schlafen,
wir und das Baby wollen ja schließlich ausgeruht sein!“. Mit
diesem Worten ergriff Carl ihre Hand und gemeinsam gingen
sie in die Kammer. An Schlaf war jedoch vorerst nicht zu
denken.
Als Carl am späten Vormittag endlich erwachte, hatte Chris in
der Küche schon das Frühstück vorbereitet. Im Badezimmer
war geheizt, so dass Carl gleich duschen konnte. Chris folgte
ihm nach einer Weile, sie hatte vergessen, Handtücher
bereitzulegen. Da stand sie dann in der Tür und beobachtete
Carl. Ein toller Mann! Chris, ich bin stolz auf dich!, dachte sie
und bemerkte nun, dass sie entdeckt worden war. Sie errötete
und war verschwunden, noch bevor Carl etwas sagen konnte.
Am Abend brachte Carl sie mit dem Auto zum Wohnheim. Zum
Abschied versicherte er ihr, dass er sich auf das Wiedersehen
am kommenden Dienstag freuen würde. Dann stieg Chris-Tina
aus und winkte ihm nach, bis die Rücklichter verschwunden
waren.
Im Wohnheim herrschte reges Treiben. Viele Studenten und
Studentinnen waren übers Wochenende in der kleinen
Studentenstadt geblieben, um die große „11.11.“-Party
mitzufeiern. Patricia empfing Chris schon auf dem Flur. „Hey,
du siehst so verändert aus. Ist dir ein Zauberer begegnet?“,
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fragte sie die Freundin. Chris lachte und antwortet mit einem
kurzen, aber geheimnisvoll klingenden „Ja“. Schnell wurde sie
von Patricia in das gemeinsame Zimmer geschoben. „Los,
erzähle!“, forderte sie Chris auf. Chris-Tina wiederum ließ sich
Zeit. Es machte ihr Freude, die Freundin zappeln zu lassen.
Als sie ihre Sachen in den Schrank gelegt hatte, steckte sie
sich eine Zigarette an und erzählte ein wenig von ihrem
„Zauberer“ und ihrem neuen Glück. „Mann, hast du ein Glück.
Und wie alt ist er? Wo arbeitet er?“, wollte Patricia nun
wissen. „Ehrlich, Trixi, das weiß ich nicht. Es ist mir auch nicht
wichtig. Ich kann es mir selbst nicht erklären. Weißt du, er ist
mir so vertraut, als würde ich ihn schon eine Ewigkeit kennen.“
Einen Augenblick schwieg sie, dann sah sie die Freundin ernst
an. „Patricia, du musst mir versprechen, dass du zu
niemandem ein Wort darüber sagst, dass er nicht der Vater,
ich meine, dass Carl nicht der leibliche Vater ...“ „Mensch,
Chrissi, sind wir Freundinnen oder nicht? Ich schwöre es dir.
Ich hoffe bloß, dass du diesmal wirklich Glück hast. Verdient
hast du es.“
Nun aber erzählte Patricia von der gestrigen Superparty und
von den vielen Verehrern, die sie hatte. Patricia schwärmte
und schwärmte und hätte sicher die ganze Nacht
weitergeprahlt, wenn Chris nicht eingeschlafen wäre. So
herrschte im Wohnheimzimmer 426 schon lange vor
Mitternacht Ruhe.
Als Chris am Montagmorgen erwachte, fühlte sie sich jedoch
müde und zerschlagen. Die Leichtigkeit des Wochenendes war
verschwunden. Froh darüber, dass Patricia grundsätzlich zu so
früher Stunde nicht sprach, verstand Chris-Tina sich selbst
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nicht. Plötzlich kamen ihr Zweifel, ob alles richtig war, ob Carl
es wirklich ernst meinte ... War es richtig, ihm zu vertrauen?
Konnte es wirklich Liebe sein, was sie für einander
empfanden? Wer war er eigentlich? Würde er der Richtige
sein? Kann er überhaupt der Vater ...? Fragen über Fragen ...
Die Stunden bis zum Wiedersehen schienen endlos zu werden.
Endlich Dienstag!
Es hat ganz sicher nichts zu bedeuten, versuchte Chris sich zu
beruhigen, während sie fröstelnd auf dem Rostocker
Hauptbahnhof stand. Er wollte doch pünktlich am Zug sein.
Wer weiß, wo er arbeitet! Es wird sich alles aufklären! Bleib
ruhig, Mädel! Was sollte sie jetzt bloß tun?
Nach einer Weile griff sie in die Manteltasche und holte den
Zettel, auf dem die Wegbeschreibung stand, hervor und
machte sich auf, um Carl in seiner Wohnung anzutreffen.
Langsam wurde sie wieder ruhiger. Endlich hatte sie die
Hausnummer entdeckt, sie überquerte die Straße und stand
vor einer Villa. Aufgeregt öffnete sie die kleine Tür zum
Vorgarten und ging schnellen Schrittes zur Haustür. Sie fragte
sich gerade, wie viele Familien hier wohl leben würden, als sie
nur ein einziges Namensschild entdeckte. Sollte Carl in einem
so großen Haus alleine wohnen?
Es blieb ihr keine Zeit, diese Frage zu beantworten. Noch
bevor sie klingeln konnte, wurde die Tür schon aufgerissen.
Ein kleiner Junge strahlte sie an und rief:„Omaaaa, hier ist
eine Frau. Kommst du mal heeeer!“ Chris hielt sich die Ohren
zu. Kurze Zeit später stand eine Mitvierzigerin, die Hände an
einer Kittelschürze abtrocknend, vor ihr. „Na, was wollen Sie?
25
Haben Sie eine Arbeit nachzureichen? Der Herr Professor ist
nicht da. Na, wo ist Ihre Arbeit?“ Chris sah die Frau
fassungslos an, was diese nun schon ein wenig wütend
machte. „Hören Sie, ich habe einen Braten im Ofen, was
wollen Sie?“ Chris blickte noch einmal die Frau an, drehte sich
um und wollte gerade davonlaufen, da trat Carl plötzlich durch
die Pforte. „Es ist alles in Ordnung, Frau Schöner. Wir
kommen gleich ins Haus!“, rief Carl der noch immer im
Türrahmen stehenden Frau zu. Diese drehte sich jetzt noch
wütender um und lief ins Haus, wahrscheinlich in die Küche.
Nun begrüßte Carl erst einmal Chris: „Entschuldige, ich hatte
etwas sehr Wichtiges zu erledigen, deshalb konnte ich nicht
am Bahnhof sein.“ Er küsste sie und stellte dann ein wenig
entsetzt fest: „Du weinst ja. Was ist denn passiert? Wollte
Frau Schöner dich nicht einlas...“ Er stockte mitten im Wort,
mit der linken Hand hob er ihr Kinn und sah ihr dann fest in die
Augen. „Du hast doch wohl nicht geglaubt ...“ Wieder
beendete er seinen Satz nicht. Chris wischte sich die Tränen
fort und sagte nun leise und sehr verschämt. „Ja, ich dachte ...
Es tut mir leid. Kannst du mir verzeihen?“ Er nickte, drückte
sie ganz fest an sich und bat sie dann endlich ins Haus.
Im Flur wurde er stürmisch vom kleinen Andreas begrüßt. Der
Kleine, so erfuhr Chris nun, begleitete gelegentlich seine Oma,
die beim Herrn Professor Klammt den Haushalt in Ordnung
hielt. Carl mochte diesen kleinen Wirbelwind, der immer
fröhlich war und soviel wissen wollte, das spürte Chris und es
gefiel ihr.
Wenig später trat Frau Schöner aus der Küche, nahm ihren
Verdienst von Carl entgegen und ging ohne ein Wort
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gemeinsam mit ihrem Enkel an Chris vorbei. Als beide das
Haus verließen, spürte Chris, dass nun die andere die
Enttäuschte war und dass diese mit großer Sicherheit nie
mehr in dieses Haus zurückkehren würde. Als sie Carl von
ihrem Gefühl erzählte, lachte er zunächst. „Ist die gute Frau
eigentlich noch verheiratet?“, fragte Chris nun nach. Die
erwartete Antwort war: “Nein, seit Jahren geschieden.“ „Carl,
die Frau Schöner, die hat doch bestimmt immer alles
besonders gut gemacht, nicht wahr? Sicher oft mehr als
nötig?“ Carl nickte stumm. „Ach, Carl, die Gute hatte sich
Hoffnungen bei dir gemacht. Und nun komme ich und sie
merkt, ich bin keine von den Studentinnen, die nur etwas
abgeben wollen. Und dann kommst du und an der Art, wie du
reagierst, als du mich gesehen hast, erkennt sie sofort, ich bin
ihre Konkurrentin. Ich bin die Konkurrentin gegen die sie keine
Chance hat, oder?“ „Ach, Chris-Tina, du hast sicher recht.
Nun, wenn sie nicht mehr kommen will, dann eben nicht.
Hauptsache, du bist da. Was kümmert mich jetzt der Rest der
Welt!“
Nun bot er ihr den Arm und geleitete sie in das Wohnzimmer
zum fürstlich gedeckten Tisch. „Was hast du ihr gesagt, wer
hier kommt? Das ist ja ein Super-Gala-Dinner!“ „Nun, ich
sagte, sie solle für zwei Verliebte kochen und dass der heutige
Abend von ganz entscheidender Bedeutung für mein
zukünftiges Leben sei. Habe ich da übertrieben?“ „Nein, nein.
Ich freue mich riesig. Aber ein bisschen tut sie mir schon leid,
ein bisschen.“ „Ja, mir auch, aber nun lass uns anfangen.“ Carl
goss Wein ein, reichte Chris ihr Glas und sagte: „Ich freue
mich, dass es dich gibt. Ich liebe dich.“
Nach dem reichlichen Mahl trugen sie gemeinsam das
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Geschirr in die Küche. Sie war groß und mit den neuesten
elektrischen Haushaltsgeräten, allesamt westdeutscher
Herkunft, ausgestattet. Als Chris gerade Wasser zum
Abwaschen einlassen wollte, ergriff Carl ihre Hand und sagte:
„Komm, ich zeige dir das Haus. Den Abwasch macht Frau
Schöner morgen.“ „Oh, oh, das glaube ich nicht, dass den
Frau Schöner macht.“ „Na, das ist doch jetzt egal.“
Nun zeigte er ihr alle Räume und erklärte ihr, welche
Umgestaltungspläne er hatte. In seinen Gedanken war schon
alles für ihr gemeinsames Leben umgeräumt. Chris war
begeistert, dennoch kam ihr alles wie im Traum vor. Ging das
nicht alles doch zu schnell? Anfangs ging sie stumm neben ihm
durch das Haus, war wie gebannt von seinen Plänen.
Irgendwann gab sie dann doch zögerlich ihre Kommentare ab.
Durch Carl dazu aufgefordert, ließ Chris etwas später doch
ihre Scheu fallen und sie planten und veränderten gemeinsam
das Haus.
Nach dem Rundgang machten die beiden Verliebten es sich in
der Sitzecke im Wohnzimmer bequem. Kerzenlicht verzauberte
den Raum. Als Carl die zweite Flasche Wein geöffnet und
Chris ihr Glas gereicht hatte, kniete er vor ihr nieder. „Liebling,
ich habe mich heute verspätet, weil ich dich überraschen
wollte. Aber bevor ich dir davon erzähle, möchte ich dich noch
etwas fragen.“ Seine Stimme zitterte leicht, er war so
aufgeregt. Er ergriff ihre Hand und fragte nun feierlich: „ChrisTina Baumgarten, willst du meine Frau werden?“ Chris konnte
die Tränen der Rührung kaum mehr zurückhalten. „Ja, ich will“,
hauchte sie ihm entgegen. Am liebsten hätte sie sich gekniffen,
damit sie auch wirklich sicher sein konnte, dass dies hier nicht
nur ein Traum war. Sie stießen an, dann stellte er die Gläser
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auf den Tisch und sie erhoben sich zeitgleich. Es folgte ein
langer inniger Kuss. Nach einer Weile endlich setzten sie sich
wieder. Nun berichtete Carl, dass er heute bereits auf dem
Standesamt war. Er habe, in der Hoffnung, dass sie
zustimmen würde, einen Termin vorbuchen lassen. Es dauerte
etwas länger, weil die Dame dort auf dem Amt ein wenig
genervt war wegen des Termins, den er sich wünschte. Nach
vielen Komplimenten und Schmeicheleien war es ihm dann
gelungen, für Dienstag, den 2. Dezember um 11.25 Uhr die
Zeremonie zu bestellen. Chris war sprachlos, soviel
Temperament und Enthusiasmus hatte sie diesem Mann gar
nicht zugetraut. Während sie sich nun wieder eine Träne
fortwischte, fragte sie ihn schüchtern: „Warum 11.25 Uhr?“ Er
lachte und erklärte ihr dann, dass sich an jenem 4. November
um eben jene Uhrzeit sein Leben durch ihr Erscheinen völlig
verändert hätte. „Na,“ sagte sie daraufhin, „da wird mich ja
wohl in meinem weiteren Leben noch so manche
Überraschung deinerseits erwarten.“ „Darauf kannst du dich
verlassen. Aber nun will ich dich auf eine schon etwas
bekanntere Art überraschen!“ Er stand auf, nahm sie an die
Hand und zog sie ins Schlafzimmer. Nach dieser gelungenen
„Überraschung“ schliefen beide glücklich ein.
Sanft wurde Chris am nächsten Morgen geweckt. Carl war
bereits angezogen und hatte den Tisch gedeckt, als sie nach
dem Duschen in seinem Bademantel die Küche betrat. „Oh, du
verwöhnst mich ja richtig!“, sagte Chris, „Oder ist das nur
heute so?“, setzte sie schelmisch hinzu. Carl, der gerade die
Frühstückseier unter kaltem Wasser abgeschreckt hatte,
drehte sich langsam zu ihr um. „Na ja, versprechen kann ich es
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dir nicht, aber ich werde mir auf jeden Fall immer Mühe
geben.“ Er stellte die Eier samt Becher nun auf den Tisch,
dann ging er auf sie zu, küsste sie und wie aus Versehen
waren beide Hände unter den Bademantel gerutscht. Er
streichelte ihre festen Brüste, holte tief Luft und flüsterte ihr
ins Ohr: „Wenn du dich jetzt nicht schnell anziehst, dann kann
ich für nichts garantieren.“ „Na, gut, ausnahmsweise, will ich
mal lieb sein, sonst gibt es wohl kein Frühstück mehr“.
Fröhlich lachend verschwand sie im Schlafzimmer.
Wenige Minuten später aßen sie dann gemeinsam. „Wenn ich
geahnt hätte, dass du nur so wenig Zeit zum Anziehen
brauchst, dann ...“ „Aber, aber, Herr Professor, Sie wollten
doch nicht schon am frühen Morgen anzüglich werden,“ gab
Chris mit einem vermeintlich drohenden Zeigefinger als
Antwort. „Ach, Carl, sag mal, bist du wirklich Professor? Ich
meine, als deine zukünftige Frau sollte ich das doch wissen,
nicht wahr?“ „Beide Fragen beantworte ich mit ‚Ja', gnädige
Frau.“ „Upps.“ „Was heißt 'Upps'?“, fragte nun Carl. „Das ist
eine ziemlich lange Geschichte. Ich erzähle sie dir später.
Aber sag mal, brauchst du eigentlich noch etwas für das
Standesamt?“ „“Gut, dass du danach fragst, am besten wäre
es, wenn ich morgen mit deiner Geburtsurkunde und einer
Vollmacht hingehen könnte. Kriegst du das hin? Du hast doch
eine Geburtsurkunde?“
Die letzte Frage stellte er mit einem echten Zweifel in der
Stimme, denn Chris verzog ihr Gesicht äußerst bedenklich.
„Klar doch, es ist nur so, dass ich dann heute nach dem
Seminar erst nach Hause fahren muss. Ist aber nicht weiter
schlimm. Zurück komme ich dann aber mit dem Auto“,
beruhigte sie ihn. „Mit wessen Auto?“ „Mit meinem. Als du das
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erste Mal bei mir warst, hatte ich es einem guten Freund
geborgt. Jetzt steht der alte Trabbi wieder friedlich auf seinem
Platz und wartet auf den nächsten Ausritt!“ „Komm mir hier
aber bitte nicht mit einer Schrottkiste an!“, forderte Carl sie
lachend auf, dann erhob er sich und räumte den Tisch leer.
„Du musst nun gehen, sonst verpasst du deinen Zug!“ „Jawoll,
Professor Liebling, ich eile!“, salutierend lief sie auf den Flur
und stand gleich darauf wieder vor ihm. „Ich liebe dich. Ich
freue mich auf heute Abend.“ Ein langer Kuss folgte, dann
musste sie sich wirklich beeilen.
Als Chris am Abend in der Einfahrt zu Carls Garage parkte,
wartete er schon am Fenster. Er winkte ihr kurz zu, wenige
Augenblicke später stand er dann bereits vor ihr. „Das hätte
ich dir gar nicht zugetraut.“ „Was? Dass ich Auto fahren
kann?“ „Nein, dass du so ein schönes Auto hast.“ Carl ging
schweigend um den Wagen herum, dabei fuhr er mit der
rechten Hand zart über die Karosserie. Ungeduldig und ein
wenig fassungslos beobachtete Chris die Handlung des
Mannes, der ihr Herz gewonnen hatte. „Mensch“, sagte Carl
nun nach einer schier unendlich langen Zeit, „der hat doch
schon ordentlich ein paar Jährchen auf dem Buckel!“ „Ja, Herr
Klammt, hat er. Ich stehe nämlich auf ältere Dinge“,
kommentierte sie seine Bemerkung und fügte hinzu: „Das ist ja
eine tolle Begrüßung! Ich bin übrigens genauso alt wie diese
Kiste und mich beachtest du gar nicht.“ Dann drehte sie sich
um, damit Carl, der nun wirklich glaubte, sie wäre beleidigt,
nicht ihre lachenden Augen sehen konnte. „Es tut mir leid ...“,
begann er seine Entschuldigung, kam aber nicht weit, denn
Chris konnte sich jetzt vor Lachen nicht mehr halten. Da nahm
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er sie in die Arme, kniff sie ein wenig in die Seite, küsste sie
und flüsterte ihr ins Ohr: „Das schreit nach Rache.“ „Oh, oh,
das wird dann ja wieder eine kurze Nacht!“ Lachend gingen sie
ins Haus.
Bei einer Tasse Kaffee berichteten beide kurz von
vergangenen Tag. Chris übergab dann Carl ihre
Geburtsurkunde. „Das gibt es doch gar nicht!“, stieß er nach
dem ersten Blick darauf hervor.“ „Ist irgendetwas nicht in
Ordnung?“, fragte Chris ihn nun ganz besorgt. Mit der Urkunde
in der Hand setzte er sich auf den Sessel, der in seiner Nähe
stand, zog sie auf seinen Schoß und erklärte ihr nun, dass er
sie nicht für so jung gehalten hätte. Noch bevor Chris sich
empören konnte, gestand Carl ihr, dass sie ihm so reif, so
erwachsen erschienen war, mindesten 6 Jahre älter. Aber so
wäre es auch schön“, fügte er lächelnd hinzu.
„Na, du machst mir ja echt super Komplimente! Dann wäre ich
25 Jahre alt. Brr! Das hat ja wohl noch Zeit, nicht wahr! Im
Übrigen ist es doch wohl egal, ob ich 15 oder 20 Jahre jünger
bin als du, oder!?“, gab Chris-Tina nun entrüstet von sich.
Schon wollte sie aufspringen, als er ihr leise ins Ohr flüsterte:
„30!“ Nun herrschte Schweigen. Von der nahen Kirche wurde
die sechste Abendstunde eingeläutet. Chris erhob sich. Kaum
stand sie, da gewahrte sie seinen fragenden traurigen Blick.
„Carl, ich liebe dich. Egal wie alt du bist. Das ist heute so, das
wird morgen und bis in alle Ewigkeit so sein.
Altersunterschiede zwischen zwei Liebenden sind doch nur für
andere wichtig und interessant.“ Nun endlich löste sich Carl
aus dem Sessel. Strahlend ging er auf sie zu, nahm sie auf
seine Arme und trug sie durch das Zimmer. Plötzlich blieb er
stehen und fragte sie, ob sie denn erst essen möchte. Er
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betonte besonders das erst essen, was Chris natürlich nicht
entging. Ihre Arme um seinen Hals geschlungen, hauchte sie,
während sie ihm das rechte Ohr anknabberte: „Ich habe
Appetit auf dich.“
Nachdem sie später auch gegessen hatten, wollte Carl sich
noch einmal ausgiebig Chris-Tinas Trabant ansehen. „Ein
schöner P 50. Wie alt ist er?“ Chris erzählte ihm nun, dass ihr
Vater diesen Trabant P 50 am 26.11.1961 gekauft hatte, an
dem Tag, an dem sie geboren wurde. Der Vater hatte den
Wagen gehegt und gepflegt, auch als er sich längst einen
Wartburg angeschafft hatte. Nach dem Tod der Eltern wollte
die Großmutter nur den Trabant behalten und nun sei er eben
in ihren Besitz übergegangen. „Wenn du willst, machen wir
noch eine kleine Spritztour.“ Natürlich wollte Carl und er war
glücklich wie ein kleiner Junge, als Chris ihm die Schlüssel
hinhielt.
Am nächstem Morgen teilte Carl ihr mit, dass er am
kommenden Freitag nach Berlin fahren würde. Er hätte einen
Termin und außerdem müsse er auch noch etwas Wichtiges
besorgen. Ihre Frage, was er denn in Berlin unbedingt und so
plötzlich kaufen müsse, beantwortete er nur mit dem Wort:
„Geheimnis“. Am Sonnabend, so fuhr er fort, würde er sie
dann gegen Mittag von der Hochschule abholen. „Dann kann
ich mir ja auch mal dein Zimmer im Wohnheim ansehen und
deine Freundin lerne ich auch gleich kennen. Sag mal, sie
wohnt doch auch hier in Rostock. Dann können wir ja alle drei
mit deinem Auto herfahren.“ Die Idee fand Chris gut. Eine
Vorstellung, was sie am Freitagabend ohne Carl tun würde,
hatte sie auch längst. Davon erzählte sie ihm aber nichts. Auch
ein Geheimnis.
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*** Ende der Demo-Version, siehe auch
http://www.ddrautoren.de/Brauer/Wind/wind.htm ***
34
Karina Brauer
Karina Brauer wurde im Dezember 1961 in Schwerin geboren.
Sie ist ein Sonntagskind und seit drei Jahrzehnten verheiratet.
Zwei ihrer Kinder sind verheiratet und haben die Mutter von
drei Töchtern und einem Sohn bereits zur vierfachen
Großmutter gemacht.
Nach dem Schulabschluss studierte sie in Güstrow an der
Pädagogischen Hochschule „Liselotte Herrmann“. Danach
unterrichtete sie einige Jahre als Lehrerin in den Fächern
35
Deutsch und Russisch. Seit 2008 arbeitet Karina Brauer in
einer Beratungsstelle im Landkreis Nordwestmecklenburg.
Lesen und Geschichten ausdenken gehörten seit frühester
Kindheit zu ihrem Leben. Mit dem Romanschreiben begann sie
jedoch erst 2004.
Im Jahre 2009 wurde ihr erster Roman „Du kannst den Wind
nicht aufhalten“ verlegt. 2012 folgten „Der Hühnergott auf der
Fensterbank“ und 2014 „Königs Kind“.
Die Autorin erzählt in ihren Romanen von Frauen, die, wie sie
selbst, in der DDR geboren wurden und ihren Weg ins vereinte
Deutschland gingen. In ihren Büchern greift die Autorin
wichtige Themen auf, z.B. die deutsch-deutsche Geschichte im
Allgemeinen und Besonderen, Liebe und Freundschaft,
Missbrauch und Gewalt …
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E-Books von Karina Brauer
Der Hühnergott auf der Fensterbank
Glück schert sich nicht darum, ob es dem Tüchtigen gehört
oder durch längst verschlossene Türen kommt oder gar mit
Hilfe eines Glücksbringers …
Der Roman „Der Hühnergott auf der Fensterbank“ zeigt genau
das. Die Heldin Valeska muss viel tun für ihr Glück, oft genug
entrinnt es ihr, aber nie gibt sie sich auf.
In ihrem Buch schreibt die Autorin von Freundschaft und Liebe,
von Hass und Enttäuschung, von Vertrauen und Verrat.
Das Glück, das lernt Valeska, kommt eben nicht von alleine,
man muss etwas dafür tun und da ist es gut, wenn man
Freunde und Familie hat, die da sind, wenn man sie braucht …
PS: Den Hühnergott gibt es wirklich!
Du kannst den Wind nicht aufhalten
Chris ist fassungslos – Thorben, ihre erste große Liebe, wird
eine andere heiraten! Mit elf Jahren begann für sie als
Vollwaise eine traurige Jugend und nun, nach dem plötzlichen
Tod ihrer geliebten „Ömi“, trifft sie der Verlust des letzten
Ankers in ihrem Leben besonders schwer. Doch Chris macht
diesen Tiefpunkt zum Beginn einer neuen Ära für sich selbst
und merkt anfangs nicht einmal, dass sie bereits von ihrem
zukünftigen Ehemann gefunden wurde.
Ohne das Leben zu idealisieren, beschreibt Karina Brauer
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ebenso unterhaltsam wie optimistisch die Entwicklung einer
starken jungen Frau, die trotz mehrfacher Schicksalsschläge
nicht verzagt.
Königs Kind
„Ich bin Königs Kind. Peter Königs Kind. Und ich war einmal so
wahnsinnig stolz auf meinen Familiennamen. Überall erzählte
ich nur allzu gerne, dass ich ein Königskind sei. Die
Erwachsenen lachten meist gütig darüber. Kinder sahen mich
zunächst immer erstaunt und manchmal auch neidisch an, dann
zeigten mir die meisten aber einen Vogel. Lange, sehr lange
brauchte ich, um herauszufinden, wer ich wirklich bin und was
es bedeutet, Königs Kind zu sein ...“
In ihrem dritten Roman „Königs Kind“ beschreibt die Autorin
Karina Brauer die Geschichte von Navarana und deren
Familiengeschichte und -geschichten. Schon früh lernt das
Mädchen, das meist nur Nava genannt wird, dass das Leben
der Erwachsenen aus vielen Geheimnissen besteht. Sie ist
anfangs fasziniert davon, dass ihr einige Geheimnisse
anvertraut werden. Bald erkennt es jedoch, dass das
Bewahren eines Geheimnisses auch belastend, sogar
gefährlich sein kann.
Als Navarana selbst einem Geheimnis auf die Spur kommt,
ändert sich ihr Leben dramatisch. Plötzlich wird es für sie
bedrohlich. Wem kann sie da noch (ver-)trauen?
Auch in diesem Roman erzählt die Autorin Geschichten, die
deutsche Geschichte nachvollziehbar machen, die aber auch
zeigen, wie sehr Vergangenheit bis in die Gegenwart wirkt und
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das Leben beeinflusst.
Weitere Informationen unter
http://www.ddrautoren.de/Brauer/brauer.htm
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Inhaltsverzeichnis
Impressum
1. Teil
Karina Brauer
E-Books von Karina Brauer
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2
3
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