kinderleichter

Lewin L+S, Vortragstext Soff, 2015.docx Bearbeitungsstand: 26.06.2015 Motivationspsychologische Grundlagen – ein „kinderleichter“ Einstieg in die Feldtheorie Kurt Lewins Input-­‐Lecture zur Lernphase 1 der 16. DGGO-­‐Fachtagung „Feldkräfte“ Berlin, 18.06.2015 Marianne Soff PPP 1: (Titelfolie) Begrüßung und Dank für die Einladung, zur DGGO-­‐Tagung etwas beizutragen! Ich will mit Ihnen eine Reise durch einen Grundlagentext unternehmen, über den ich fast jedes Semester mit Lehramts-­‐Studierenden an der PH-­‐
Karlsruhe spreche, und mehrfach schon gab es anschließend die Reaktion „Jetzt hab ich endlich mal was kapiert von Psychologie“ oder von „Motivationspsychologie“... – und das, obwohl das Wort „Motivation“ in dieser frühen Arbeit selbst gar nicht auftaucht! Allerdings handelt der Text von einem Gebiet, das künftige Lehrer natürlich besonders interessiert... PPP2 (mit Lewin-­‐Abbildung und Titel, Kontext, Topologie) Es ist die klassische Arbeit Die psychologische Situation bei Lohn und Strafe (1931)1. Darin erklärt nämlich Lewin anhand von Erziehungsbeispielen, welche Feldkräfte in der psychologischen Situation von Kindern wirken und welche Konflikte und Handlungsmöglichkeiten sich daraus ergeben. Nebenbei werden hier aber Grundbegriffe der Feldtheorie anschaulich eingeführt. Deswegen kann man hier einen Einstieg in Lewins Denken gewinnen – und das über das enge inhaltliche Thema hinaus. Ob der Einstieg wirklich „kinderleicht“ wird, mögen anschließend Sie entscheiden. Und: inwiefern die hier angestellten Überlegungen tatsächlich auch in Ihren beruflichen Zusammenhängen „fruchtbar“ sind, könnte in 1 im folgenden gelegentlich abgekürzt als „L+S“, mit Seitenzahlen (113-­‐167) aus „KLW 6“ = Kurt-­‐Lewin-­‐Werkausgabe, Bd. 6, „Psychologie der Entwicklung und Erziehung“, 1982, hsrg. von Weinert & Gundlach, erschienen bei Hans Huber Bern & Klett-­‐Cotta Stuttgart. 1 Ihren Lerngruppen anschließend Thema werden... Ideen zum Transfer werde ich im Vortrag mit erwähnen – und bin neugierig, später von Ihnen weitere Anwendungsbeispiele aus Ihren Kontexten zu erfahren. Was ich in diesem Input-­‐Vortrag auch beabsichtige, ist, Sie mit einigen grundlegenden Begriffen und Konzepten Lewins vertraut zu machen. Auch diese werden danach in Ihrer Kleingruppen-­‐Phase wieder auftauchen und können Ihnen evtl. behilflich sein, Ihre „Lewin-­‐Erkenntnis-­‐Struktur“ (wieder) zu aktivieren. Ich werde Ihnen übrigens nicht alle Kapitel des Textes vorstellen, dazu reicht die Vortragszeit nicht. Es gibt neben den Fällen, mit denen wir uns hier beschäftigen, noch andere „Situationen bei Lohn und Strafe“. Lewin berücksichtigt sie auch ganz systematisch. Aber im Vortrag sollte Prägnanz vor Vollständigkeit gehen, daher habe ich eine Reduktion der „Fälle“ vorgenommen... (die „Verbots-­‐Situationen“ fallen weg) Zur Einordnung des Grundlagen-­‐Textes: Die Arbeit ist zuerst 1931 bei Hirzel in Leipzig erschienen, also noch in Lewins Berliner Zeit entstanden, erkennbar im Kontext zu seinem Experimentalprogramm zur Handlungs-­‐ und Affektpsychologie, und nach seiner eigenen Aussage (1935) besonders angeregt von der Arbeit seiner Doktorandin und späteren Kollegin Tamara Dembo über „Ärger als dynamisches Problem“: „...Dembo verfolgt im Detail den Prozess der Destrukturierung und Homogenisierung des Feldes, der typisch für die Dynamik des Ärgers ist. Die experimentellen Ergebnisse dieser Untersuchung bilden die maßgebliche Grundlage für meine eigene Analyse der Situation bei Lohn und Strafe.“ (Hervorhebung MS, vgl. Lewin, 1935, übersetzt von Sterneck, in: Phänomenal 2/2014, S. 51) Auch Dembo hat in ihrer Dissertation die topologische Veranschaulichungs-­‐
form gewählt, die ein „Markenzeichen“ feldtheoretischer Psychologie wurde. „Die psychologische Situation bei Lohn und Strafe“ wurde dann 1935, übersetzt, als Kap. IV in „A Dynamic Theory of Personality“ bei McGraw-­‐Hill in New York, aufgenommen, erschien 1964 erneut in Deutsch bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt und 1974 bei Hirzel, Stuttgart. Schließlich fand er Aufnahme als 4. Kap. (S.113-­‐168) in Bd. 6 der Kurt-­‐Lewin-­‐Werkausgabe (KLW 6, „Psychologie der Entwicklung und Erziehung“), herausgegeben von Franz E. Weinert u. Horst Gundlach, erschienen bei Huber, Bern & Klett-­‐Cotta, Stuttgart. Man kann diese frühe Arbeit auch durchaus bereits als wegweisend für die später (1937f) in den USA gemeinsam mit den Kollegen Ronald Lippitt & 2 Ralph White durchgeführten Experimente zu Führungsstil und Gruppenatmosphäre ansehen. Zwar beschäftigt sich Lewin hier „nur“ mit der Situation des einzelnen Kindes. Die Schlussfolgerungen zur Atmosphäre und zur Weckung des Interesses, die hier gezogen werden, weisen aber konsequent in die Richtung, die in der Gruppen-­‐Situation bei demokratischem Führungsstil am besten verwirklicht werden kann. Zum Grundprogramm des Aufsatzes: (vgl. L+S, 115): Lewin will mit seiner Feldtheorie die Dynamik von Verhalten und Erleben aus der Gesamtstruktur der jeweiligen Situation heraus erklären. „Ursachen“ des Verhaltens können für ihn nicht isoliert herausgegriffene Reize sein, sondern immer die gesamte Situation, in der ein Mensch sich befindet. (vgl. auch V = f (P,U) !) Dazu setzt Lewin möglichst „präzise topologische Abbildungen der Gesamtstruktur der psychologischen Situation“ ein, und zwar vor allem die Abbildungen derjenigen Faktoren, die für die Dynamik der jeweiligen Situation entscheidend sind. PPP 3 (Abb. 1, L+S, 116) Wir sehen in hier gleich ein erstes Beispiel für Lewins Idee, eine psychologische Situation topologisch „abzubilden“ und zwar so, wie sie die betroffene Person, die in der Situation steht, erlebt... hier Abb. 1: Die Situation bei Interesse an der Sache... Bevor ich inhaltlich auf diese spezielle Situation eingehe, ein paar Worte zur Methode der Topologie (aus L+S, 116): Lewin nennt die Topologie, eine mathematische Disziplin, „eine nicht-­‐
metrische, qualitative Zusammenhangslehre sehr allgemeiner Natur“, und er betont, „daß es sich nicht etwa darum handelt, die physikalisch-­‐
geographische Situation abzubilden, auch nicht die „objektive“ soziologische Situation, sondern die Struktur der für das Kind jeweils bestehenden psychologischen Situation.“ Die im Folgenden benutzten Vektoren stellen also „keine physikalischen Kräfte“ dar, sondern psychologische Kräfte, sie zeigen, wie das Kind die Situation erlebt. 3 Zunächst also (Abb.1) die Situation des „natürlichen“ Interesses, bei der Belohnung oder Bestrafung unnötig sind: Die Situation ist „in dynamischer Hinsicht relativ einfach ...(sie) wird beherrscht von einer Lockung, oder (...) von einem positiven Aufforderungscharakter“, Eine Puppe P besitzt momentan einen positiven Aufforderungscharakter (+) für das Kind K, das sich davon angezogen fühlt: „es besteht eine psychische Feldkraft (ein Vektor v) vom Kind in Richtung auf das Puppenspiel“ (116). Die Feldkräfte, die wirken, werden als Vektoren (Pfeile à) dargestellt, hier vom Kind in Richtung auf das Ziel Puppe +. Man kann sagen, „Vorsatz, Wille und Bedürfnis“ gehen hier in eine Richtung... es herrscht, wie Lewin es formuliert, eine „natürliche Teleologie“, eine besondere Zielstrebigkeit der Person. Es gibt also eine Tendenz zur Lokomotion, zur Bewegung, zum Durchschreiten des momentanen Lebensraums, um das Ziel zu erreichen, das mit einem positiven Aufforderungscharakter / einer positiven Valenz verbunden ist. PPP 4: Situation bei Interesse an der Sache: Annäherung (Lokomotion zum Ziel) trotz Barriere, (Abb. 2 und 3, S.117) ... und wenn es Hindernisse gibt (Barrieren B, Schwierigkeiten, die das Kind vom Erreichen des Ziels abdrängen), wirken die Feldkräfte, die vom positiven Aufforderungscharakter ausgehen, trotzdem anziehend. (Zug des Ziels) Das Kind versucht, die Schwierigkeiten zu überwinden, um das Ziel zu erreichen. •
Hindernisse können physikalischer Art sein: eine Bank erschwert Zugang, das Kind wird versuchen, um die Bank herumzugehen. •
oder sozialer Art: Verbot eines Erwachsenen, Puppe in der Machtsphäre eines anderen Kindes. à Kind wird versuchen, den Erwachsenen umzustimmen oder die Puppe vom anderen Kind „wenigstens für eine Weile zu borgen“ •
„Eine solche Barriere wird die Aktion des Kindes auf das Ziel hin erschweren; sie wird sie aber in der Regel nicht ganz zum Stehen bringen, sondern zunächst aus der ursprünglichen Richtung abdrängen“ (117) Die Verhältnisse sind in dynamischer Hinsicht noch ziemlich einfach... 4 PPP 5 (Situation mit negativem Aufforderungscharakter, beide Abb. aus L+S, 119) Ganz anders sieht die Situation aus, wenn ... (Abb. 4) Ein Kind nicht will, was es soll... wenn also das Kind sich mit einem negativen Aufforderungscharakter A -­‐ , der z.B. von momentan ungeliebter Aufgabe ausgeht, konfrontiert sieht und daher eine möglichst große Entfernung zu A – anstrebt... und wenn Abb 5: ... der Erzieher daraufhin mit einer Strafandrohung (St -­‐) reagiert, („Wenn Du die Aufgabe nicht machst, bekommst Du Schläge, kriegst Du schlechte Noten etc“), die topologisch „hinter“ dem Kind zu platzieren ist, sodass man hofft, „...eine Feldkraft zu schaffen, die dem vom ersten negativen Aufforderungscharakter ausgehenden Vektor entgegengesetzt gerichtet ist“ (119)... dann entsteht ein sog. Vermeidungs-­‐Vermeidungs-­‐Konflikt mit einer typischen Dynamik... die wollen wir gleich näher anschauen, aber vorher kommen wir zu einem sehr wichtigen Exkurs über den Konflikt: PPP 6 grundlegender Exkurs über den Konflikt (L+S, 120): Es gibt nämlich nach Lewin 3 Grundsituationen eines Konflikts: 1) zunächst den Anziehungs-­‐Anziehungs-­‐Konflikt, später auch Appetenz-­‐Appetenz-­‐Konflikt genannt: „Das Individuum steht zwischen zwei positiven Aufforderungscharakteren von annähernd gleicher Stärke (Abb.7). Es ist der Fall von Buridans Esel, der zwischen zwei Heuhaufen verhungert“ (120). Dafür findet sich meist „relativ leicht eine Lösung. Es handelt sich nämlich in der Regel um ein labiles Gleichgewicht: Eine Annäherung an die eine Lockung gibt dieser häufig bereits das Übergewicht vor der anderen“ – es sei denn, dass „es sich dabei um Fragen handelt, die sehr tief in das Leben des Individuums einschneiden“. Das gibt es auch in jedem Erwachsenenleben: Hin-­‐ und Hergerissensein, z.B. zwischen zwei gleich interessanten beruflichen Aufgaben oder gar zwischen zwei beruflichen Projekt-­‐ oder Stellenangeboten, von denen man ganz sicher nur eines in der zur Verfügung stehenden Zeit annehmen und realisieren kann... 2) In der zweiten Grundsituation eines Konfliktes befindet sich das Individuum hingegen nicht zwischen zwei Annehmlichkeiten, sondern 5 „zwischen zwei ungefähr gleich starken negativen Aufforderungs-­‐
charakteren. Die eben besprochene Strafsituation (Abb 5) ist dafür ein charakteristisches Bsp. ...“(121): es handelt sich hier um den Vermeidungs-­‐
Vermeidungs-­‐Konflikt, auch Aversions-­‐Aversions-­‐Konflikt genannt, und dieser führt zu einer typischen Dynamik, die Lewin Aus-­‐dem-­‐Felde-­‐Gehen nennt. (dazu gleich noch mehr) 3) Schließlich gibt es noch eine dritte konflikthafte Grundsituation, den Ambivalenz-­‐Konflikt, auch als Appetenz-­‐Aversions-­‐Konflikt bezeichnet. In diesem Fall gibt es zwei entgegengesetzte Feldvektoren, entstehend aus einem positiven (+) und einem negativen (-­‐) Aufforderungscharakter, die von derselben Seite her auf die Person wirken (Abb. 8): „Ein Kind möchte zum Beispiel einen Hund streicheln, vor dem es zugleich Angst hat; es möchte eine Torte essen, die ihm verboten ist“ (121) – auch auf diesen Fall geht Lewin später ein. PPP 7 zurück zum Vermeidungs-­‐Vermeidungs-­‐Konflikt: à Aus dem Felde gehen Diese Situation wird beherrscht von zwei negativen Aufforderungscharakteren: Das Kind sieht sich mit ungeliebter Aufgabe und Strafandrohung, also 2 negativen Aufforderungscharakteren, konfrontiert, und es entsteht ein Vermeidungs-­‐Vermeidungs-­‐Konflikt mit einer typischen Dynamik, die Lewin Aus-­‐dem-­‐Felde-­‐Gehen nennt. Das Kind / der Mensch... wird sich nach Möglichkeit aus der gesamten Situation entfernen, „aus dem Felde gehen“: es entsteht eine starke seitlich gerichtete Resultante vR in Richtung der Vermeidung beider negativer Aufforderungscharaktere. Man will raus aus der Situation, mit beidem nichts mehr zu tun haben..., wenn man kann... aber PPP 8 (L+S, Abb.13, 132) es kommt nun in der Pädagogischen Situation zur Errichtung einer Außenbarriere, wodurch eine Situation mit Zwangscharakter entsteht...: „Will der Erwachsene das Kind trotz des negativen Aufforderungscharakters der Aufgabe zu dieser Beschäftigung bewegen, so genügt also nicht die Strafandrohung, sondern man muß überdies dafür sorgen, daß es dem Kinde unmöglich ist, aus dem Felde zu gehen“ (123). „Er wird eine Barriere (B) so um das Kind zu legen haben, daß der Weg ins 6 Freie nur durch die Erledigung der Aufgabe oder aber durch die Strafe hindurch möglich ist“ (Abb. 10). Und: die Barriere muss lückenlos eingerichtet werden, so dass das Kind nicht hindurch schlüpfen kann... Diese Außenbarrieren kommen durch den Einsatz von Machtmitteln zustande: •
physikalischer Art (Einsperren) oder •
„soziologischer Natur“ (soziale Barrieren) einsetzen, also solche, die der Erwachsene „kraft seiner sozialen Stellung in der inneren Beziehung zwischen ihm und dem Kinde besitzt“ (124) Bsp. für solche sozialen Barrieren: (von Lewin + Ergänzung) • Beschränkung des Raums freier Bewegung auf die Stube (Verbot, das Zimmer zu verlassen), bis die Aufgabe erledigt ist • das Kind in dauernder Überwachung halten, es nicht aus den Augen lassen (Bsp.: Helikopter-­‐Eltern, „fürsorgliche Belagerung“, unselbständig halten...) • sich das magische Weltbild zunutze machen: „der liebe Gott sieht alles“, Angst machen, mit dem „schwarzen Mann“ drohen • (vgl. dazu auch den „harmlosen“ US-­‐amerikanischen Weihnachtshit aus dem 1950er Jahren : „Santa Claus is coming to town“: „...He sees you, when you‘re sleeping, he knows, when you‘re awake. He knows, if you‘ve been good or bad, so be good for goodness sake!... You better watch out, you better not cry...“ ) • Bsp. aus dem Arbeitsbereich, engmaschige Aufsicht über Produktion am Band. Das war eher früher der Fall, oder? Aber: das gibt’s auch in Büros, oder denken wir an die Überwachung der Computer... • Bsp.: Soziale Barrieren können auch gebildet werden durch die Normen einer Gruppe, zu der man gehört, und die man nicht verletzen darf • „Man wird zunächst betonen müssen, daß die Strafandrohung immer den Aufbau einer Zwangssituation notwendig macht“ (126) , also zugleich den Raum freier Bewegung einschränkt. • „Der Zwangscharakter dieser Situation tritt um so stärker hervor, je schärfer der Druck ist, den der Erwachsene ausüben muß, um das Kind zur Ausführung der Aufgabe zu bewegen. 7 PPP 9 Die Spannungslage im gesamten Feld erhöht sich... (Abb 14) Was passiert nun mit unserem eingesperrten Kind? Das Kind ist einer erhöhten Spannungslage ausgesetzt: •
Sie rührt zunächst vom Gegeneinander der beiden negativen Aufforderungscharaktere her. „...die Vektoren vA und vS (ergeben) eine starke seitlich gerichteten Resultante (vR) in Richtung auf die Außenbarriere “ à aus-­‐dem-­‐Felde-­‐Gehen, aber: •
das Kind stößt nun auf die Außenbarriere... Falls die Außenbarriere stand hält, bekommt sie selbst einen negativen Aufforderungscharakter... „Von der Barriere geht ein Vektor (vB) aus, der der Resultante (vR) entgegengesetzt ist“.(131) o es kann sich körperlich weh tun, vor allem aber o es kann seine eigene Ohnmacht erleben •
Bsp: Diese sehr unangenehme, kränkende, Situation gibt es auch im Erwachsenenleben, wenn man plötzlich und vor allem wiederholt feststellt, dass die Möglichkeiten, sich einer Situation zu entziehen oder sie zu bewältigen, tatsächlich nicht bestehen... das kann zu Angst, Wut, Ärger, u.U. zu Verzweiflung und zu Auswirkungen auf das Selbstwertgefühl / Gefühl der Selbstwirksamkeit, letztlich zu einer Burnout-­‐Dynamik, (vgl. Soff, 2011 und 2015) führen... man kann sagen: Die Gesamtdynamik dieser Situation ist bestimmt von der erhöhten Spannungslage, vom Zwang, etwas zu tun, was man nicht will. Der Raum freier Bewegung ist eingeschränkt, die Situation hat insgesamt einen Zwangscharakter. Welche Möglichkeiten bestehen nun? PPP 10 a) Ausführen des Gebotes (Abb 15, L+S,132): doch tun, was man nicht will? Das Kind begibt sich ins Feld der Aufgabe: Es kann sein, dass es nun feststellt, dass es dort doch „gar nicht so schlimm“ ist, wie die Sache zuerst aussah (ungeliebte Speise schmeckt evtl. gar nicht so schlecht). Aber: der Umstand, dass man durch Strafandrohung / unter Zwang hineingeführt wurde, ist nach Lewin für dieses „Umschlagen zur Annehmlichkeit“ nicht günstig! (es bleibt „ein Beigeschmack“) oder andere Möglichkeit 8 PPP 11 b) Annahme der Strafe (Abb 16): sich „unempfindlich“ machen?... / das „kleinere Übel“ wählen? Der negative Vektor, der von der Aufgabe ausgeht, ist womöglich stärker als der von der Strafe ausgehende (z.B. weil man die negative Konsequenz der Strafe noch gar nicht kennt in ihren Auswirkungen): Das Kind nimmt die Strafe auf sich. Wiederum kommt es mit Eintritt ins Feld der Strafe zum Kippen: vielleicht ist auch das Aushalten der Strafe „im Grund gar nicht so schlimm“ wie vom Erwachsenen angedroht – dann kann das Kind „abgebrüht“ werden und unempfindlicher gegen Strafandrohungen. Es „macht ihm weniger aus“ gestraft zu werden, und diese veränderte Einstellung zur Strafe (Änderung der Moral!) ist zugleich Ausdruck des beginnenden Kampfes gegen den Erwachsenen... (dessen Macht ist geschwächt, wenn das eintritt). Lewin nennt das „Revolutionierung der Ideologie des Kindes“ (vgl. S.135) PPP 12 (L+S, Abb. 17, 136) Aber: Die Annahme der Strafe führt nicht ins Freie... „Für das Kind bedeutet die Annahme der Strafe also tatsächlich keinen Weg ins Freie. Es befindet sich hinterher (Abb. 17) noch in der gleichen Zwangssituation und sieht sich einem Verfahren steigender Strafen gegenüber, die es schließlich „mürbe“ zu machen pflegen.“ (S.136) PPP 13: (L+S, Abb. 12, 129) Es kommt folgendes hinzu: Das Kind lebt insgesamt im Machtbereich des Erwachsenen „Schon die Beherrschung der physiologischen Lebensbedingungen (Nahrung, Wohnung) des Kindes durch den Erwachsenen bringt es mit sich, daß der Bewegungsraum des Kindes in der Regel „im“ Machtbereich des Erwachsenen liegt. (127) „Ob darüber hinaus eine Strafandrohung besondere (Außen-­‐) Barrieren notwendig macht, ist eine Frage des jeweiligen Falles. (...) Oft bekommen die Verhaltensweisen der Erwachsenen, der häusliche Zustand und der häusliche Lebensstil, die zunächst nicht als Beschränkungen empfunden werden, erst durch (...) eine Strafandrohung für das Kind den Charakter einer Bewegungsfreiheit begrenzenden „Barriere“.(127) 9 PPP 14 (L+S, Abb. 18, 138) Das Kind ist also zugleich in einer Strafsituation und im Machtbereich des Erwachsenen „Alle die Situation bestimmenden Aufforderungscharaktere leiten sich dynamisch (...) daraus ab, daß es sich um ein Feld handelt, das vom Erwachsenen beherrscht wird.“ (S.138) Weitere Möglichkeiten des Kindes in dieser Situation: Aktionen gegen die Barriere, Durchbruchsversuch (S.137), durch Schmeicheln, durch Trotz (S.141), sogar durch Selbstmordtendenzen als letzte Möglichkeit, aus dem Feld zu gehen (S.137). Insgesamt sind alle Aktionen, die das Kind gegen die vom Erwachsenen errichtete Barriere unternimmt, zugleich Kampf-­‐Aktionen des Kindes gegen den Erwachsenen selbst! PPP 15 (L+S, Abb. 18b, 145) Evtl. bleibt dann nur die Flucht in die Irrealität: Hier ein Bsp. aus der Literatur, das Lewin mit aufgreift (der Fall Nikolaj, aus Leo Tolstois Werk „Lebensstufen“ von 1903) und das er topologisch darstellt: •
unten sehen wir die Realitätsschicht des Lebensraumes eines Jungen namens Nikolaj: o Sie wird bestimmt von den Tatsachen einer Zwangssituation, o er wird, weil er in verschiedener Hinsicht unartig war, von der Familiensituation ausgeschlossen und in eine Besenkammer eingesperrt.... o und er befindet sich, das sehen wir, im Überschneidungsbereich der Macht mehrerer erwachsener Personen, die er alle als feindlich und überlegen erlebt... o dies veranlasst eine Flucht in die Irrealität: er träumt sich weg, geht innerlich aus dem Felde, also •
in der Darstellung nach oben in die Irrealitätsschicht seines Lebensraums in der gleichen Situation: o in der Irrealitätsschicht „kann man, was man will“, o Nikolaj erträumt sich eine Situation, die mit der Umkehrung der Verhältnisse in der Realitätsschicht und mit Ersatzbefriedigung für seine Rachewünsche verbunden ist: 10 o er steht jetzt frei in der Mitte eines eigenen Machtbereiches, und bedroht ist statt seiner nun der ungeliebte Erzieher, der ihn in der Realität eingesperrt hat... Was hat das mit Situationen in der Arbeitswelt und mit der Lebenswelt von Erwachsenen zu tun? In sehr spannungsgeladenen Situationen, vor allem wenn Kampfaktionen gegen die wahrgenommenen Mächtigen sinnlos oder zu gefährlich erscheinen, kann eine Flucht in die Irrealität eine sehr gesunde Möglichkeit sein, den eigenen Innenraum zu schützen... Ein besonders bewegendes Bsp. habe ich neulich im Vortrag von Michael Kubovy bei der GTA-­‐Tagung in Parma gehört: KZ-­‐Häftlinge, die abends zusammen eine Fantasie von Freiheit, gemeinsamen Gesprächen und Genuss von gutem Essen und köstlichem Wein in gepflegter Kleidung in einer anregenden Gesamtatmosphäre pflegten – eine Ersatzbefriedigung und ein zeitweiliger Ausstieg aus einer grausamen und bedrohlichen Zwangssituation... Aber auch jede Form von „Unterhaltung“ unter Zuhilfenahme von Medien wie Büchern, Filmen oder Internet-­‐Games („Second Life“) bietet die Möglichkeit einer solchen Flucht aus den Anspannungen des Tages.... auch mit bekannten Gefahren, u.U. Suchtentwicklungen. Spätestens hier endet jedenfalls (zeitweilig?) die Macht von erwachsenen Erziehern, auch von Chefs, die einen veranlassen wollen, zu tun, wozu es einen nicht drängt... PPP 16 (Gebot mit Aussicht auf Belohnung, Abb.19 und 20, L+S, 150) Nur kurz kann ich mit Ihnen noch die Topologie der scheinbar gegensätzlichen Situation besprechen, in der statt einer Strafe oder negativen Konsequenz bei Nicht-­‐Erledigung einer Aufgabe eine Belohnung winkt, sofern die ungeliebte Aufgabe gemacht wird. Lewin nennt diesen Fall „Gebot mit Aussicht auf Belohnung“ und zeigt gleich die Problematik der Situation: Es handelt sich nun nämlich um einen Ambivalenzkonflikt, da der neue positive Aufforderungscharakter der Belohnung hinter die Aufgabe mit der negativen Valenz zu platzieren ist. Es besteht hier die Gefahr, dass das Kind die Belohnung unter Umgehung der Aufgabe ansteuert, deshalb sollte man den... 11 PPP 17 Zugang zum Lohn nur durch das Feld der Aufgabe... ermöglichen: Wiederum ist Errichtung einer (festen!) Außenbarriere erforderlich, die Aufgabe und Belohnung umschließt. Diese Situation lässt dem Kind insgesamt mehr Bewegungsfreiheit als die Strafandrohung, der Zwangscharakter der Situation ist geringer, das Kind kann ja (theoretisch!) auch auf die Belohnung verzichten... , aber wenn es der (relativ zur Aufgabe stärkeren) Lockung durch die Belohnung folgt, dann... PPP 18 „schielt“ das Kind während der Aufgabe nach dem Lohn... (Abb.23, L+S 152): „Es wird die Aufgabe möglichst rasch, eventuell vorzeitig abbrechen, sobald es nur an die Belohnung heran kann“ (152). Hier behandelt Lewin die Problematik, die später „extrinsische Motivation“ genannt wird. Bsp.: Und auch diese Situation gibt es nicht nur in Schule und Erziehung: wie viele „Dokumentationen“ und „Evaluationen“ in Institutionen des Gesundheits-­‐ oder Sozialsystems und in Unternehmen werden nur oberflächlich durchgeführt, damit man nachweisen kann, „dass man was gemacht“ hat und dafür anerkannt wird?! Dass also nur geringes Interesse daran besteht, die Arbeit selbst gut zu machen... PPP 19 „Zuckerbrot und Peitsche“ (Kombination von Lohn und Strafe) (Abb.24, L+S, 153) Schließlich noch: Diese Kombination der Erziehungsmittel Belohnung und Bestrafung ist nach Lewin charakteristisch für viele Situationen. Unter anderem ist unser ganzes Notensystem so aufgebaut: „Sieht sich ein Kind einer unangenehmen Schulaufgabe gegenüber, so geht die Tendenz, die Aufgabe möglichst gut zu lösen, zugleich auf einen negativen Aufforderungscharakter einer schlechten Zensur und auf den positiven Aufforderungscharakter einer guten Zensur zurück“. (154) Dabei werden durch In-­‐Aussicht-­‐Stellen von Belohnung und / oder Bestrafung positive und negative Aufforderungscharaktere erzeugt, die für die Person nicht aus der Sache selbst entstehen, sondern zusätzlich 12 hinzugefügt werden. Das erzeugt Konflikte wie die geschilderten und damit – vor allem in Situationen, aus denen man wegen einer festen Außenbarriere (Schulpflicht!) nicht „aus dem Felde gehen“ kann – führt es zu hoher Gesamtspannung im Feld. Ich komme zum... Fazit: Mit Lewin kann man sagen PPP 20: Fazit: Zwangssituationen behindern die Lösung intellektueller Aufgaben (vgl. L+S, S.148) • Die Konfliktspannung (zu hohe Spannung) in Zwangssituationen behindert den Überblick über die Gesamtsituation, der erst entsteht, wenn man etwas Distanz von der Aufgabe gewinnen kann. • Zu hohe Spannung fördert blindes Hantieren mit Kleindetails, das höchstens zufällig zur richtigen Lösung führt (Trial-­‐and-­‐Error) • Die zu hohe Gesamt-­‐Spannung behindert damit das Kippen „der Gestaltzusammenhänge im Problemgebiet, die damit eine Umwandlung erfahren“, m.a.W. eine Umstrukturierung, den Perspektivenwechsel, die Lewin – ganz im Sinn der Gestalttheorie – als konstitutiv für die Lösung von Problemen und den Umgang mit intellektuellen Aufgaben ansieht. PPP 21 Was bleibt? (vgl. L+S, S.161-­‐163) Einer „Interessenpädagogik“ ist im Sinn Lewins der Vorrang einzuräumen, d.h. es bleibt die Wandlung des Aufforderungscharakters der Sache selbst!, d.h. die Weckung des „natürlichen Interesses an der Sache, (m.a.W. der Neugiermotivation, intrinsischen Motivation!). Das wichtigste Mittel dafür ist die Einbettung der Aufgabe oder des Verhaltens in andere / größere Zusammenhänge. So ändert sich der Sinn der Aufgabe, sie wird „unselbständiger Teil eines größeren Handlungsganzen“, und damit kann sich auch der Aufforderungscharakter einer zunächst Aufgabe verändern. Ein neuer Zug des Ziels entsteht. Aber diese Herbeiführung des Wandels ist pädagogisch und auch in anderen beruflichen Zusammenhängen eben kein „Kinderspiel“! 13 Die Wandlung des Aufforderungscharakters der Sache selbst gelingt (vor allem bei älteren Kindern und Erwachsenen) nur, wenn die für den neuen Gesamtzusammenhang gegebene Begründung als „sachlich berechtigt“, als wertvoll angesehen wird und damit der neue Gesamtzusammenhang als Ganzes lockt. Lewin verweist darauf, dass die Gesamtatmosphäre einer Situation für die Dynamik dieser Wandlung konstitutiv ist – in diesem Zusammenhang können auch entsprechende Vorbilder eine Rolle spielen, (ermutigende Lehrer, überzeugende Führungskräfte, vor allem: kein Eindruck von Willkür)... Dann kann ein Interesse an der Sache selbst entstehen. Wir kehren zurück zur Ausgangs-­‐Situation... PPP 22 bei Interesse an der Sache: Lokomotion zum Ziel trotz Barriere •
Wie stark die Feldkräfte zur Überwindung von Hindernissen bei positivem Aufforderungscharakter sein können, •
zeigt abschließend ein Ausschnitt aus Lewins fast gleichzeitig in Berlin gedrehtem Film „Das Kind und die Welt“... PPP 23 Karin und der Ball (Filmausschnitt aus Kurt Lewins Film „Das Kind und die Welt“, 1931, Quelle: Lück, 2007) à in der pdf-­‐Fassung stattdessen: Literatur PPP 24: Danke für Ihre Aufmerksamkeit! Literaturhinweise: •
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Lewin, K. (1931): Die psychologische Situation bei Lohn und Strafe. In: KLW 6, 113-­‐167, hrsg. von Weinert & Gundlach, 1982, Bern, Stuttgart: Huber, Klett-­‐
Cotta Soff, M. (2011a): Von der psychischen Sättigung zur Erschöpfung des Berufswillens. Kurt Lewin und Anitra Karsten als Pioniere der Burnout-­‐
Forschung. In: Gestalt Theory, Vol 33/Heft 2, 183-­‐200. http://gth.krammerbuch.at/content/vol-­‐33-­‐issueheft-­‐2 Soff, M. (2011b): Vorsatz, Wille, Bedürfnis – Schlussfolgerungen zur Nachhaltigkeit aus Kurt Lewins Motivationspsychologie. In: D. Korczak (Hrsg.) Die emotionale Seite der Nachhaltigkeit. (85-­‐104). Kröning: Asanger Soff, M. (2015): Psychische Sättigung. Ein feldtheoretischer Ansatz zum Verständnis von Burnout. In: K. Antons & M. Stützle-­‐Hebel (Hrsg.) Feldkräfte im Hier und Jetzt. Antworten von Kurt Lewins Feldtheorie auf aktuelle 14 •
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Fragestellungen in Führung, Beratung und Therapie. (183-­‐207). Heidelberg: Carl Auer Soff, M. & Stützle-­‐Hebel, M. (2015): Die Feldtheorie. Einblick und Überblick. In: K. Antons & M. Stützle-­‐Hebel (Hrsg.) Feldkräfte im Hier und Jetzt. Antworten von Kurt Lewins Feldtheorie auf aktuelle Fragestellungen in Führung, Beratung und Therapie. (65-­‐95). Heidelberg: Carl Auer Sterneck, K. (2014): Tamara Dembo (1902-­‐1993) – ein Leben für die Emotionsforschung und die Rehabilitationspsychologie. In: Phänomenal. Zeitschrift für Gestalttheoretische Psychotherapie. Jahrgang 6, Heft 2/2014, 49-­‐
58. © Dr. Marianne Soff Pädagogische Hochschule Karlsruhe Bismarckstr. 10 76133 Karlsruhe soff@ph-­‐karlsruhe.de 15