Das Seebachtal weckt tote Geister

18 Transorient
15. November 2015
Ostschweiz am Sonntag
Rondom
Die Zimtsterne
müssen
noch warten
CHRISTINA WEDER
Redaktorin Stadt St. Gallen
W
ann backen wir wieder
Zimtsterne?», fragt der
sechsjährige Sohn.
Und er fragt nicht
ohne Grund. Wohin man blickt, es
weihnachtet. Im Supermarkt stehen
Samichläuse aus Schoggi längst zuvorderst im Regal. Geschenkpapier,
Backzubehör und Lichterketten warten auf Abnehmer. Auch in den Gassen der Stadt hat sich einiges getan.
Die 700 Sterne der Weihnachtsbeleuchtung sind montiert. Seit fünf
Tagen steht eine riesige Tanne auf
dem Klosterplatz. Wie jedes Jahr
wurde sie per Helikopter geliefert
und schwebte über den Dächern der
Stadt. Manch ein Passant blieb stehen und traute seinen Augen kaum:
«Kommt da wirklich schon der
Christbaum geflogen?» Schliesslich
ist gerade einmal die Hälfte des
Novembers vorüber. Während in
anderen Jahren der Helikopterflug
wegen Nebel oder Wind mehrfach
verschoben werden musste, klappte
es dieses Jahr auf Anhieb.
Doch so reibungslos die Weihnachtsvorbereitungen laufen, die
Stimmung vermag nicht mitzuhalten. Der ganz normale Alltag nimmt
uns in Beschlag. Gefühlsmässig
dominiert der überaus milde Herbst
– auch wenn uns Werbeprospekte
schon seit Wochen mit Ideen beliefern, wie wir stressfrei Guezli backen,
den Baum «richtig» schmücken oder
den «persönlichen Stil für die Festtage» finden. Es gebe gute Gründe,
sich schon jetzt mit diesen Themen
zu befassen und «mit Vorsprung in
eine wundervolle Weihnachtszeit» zu
starten, wie uns ein Einrichtungskonzern wissen lässt: «Denn für
Dinge, die man liebt, ist es doch nie
zu früh, oder?»
Und doch muss die Zeit erst reif
sein – auch für die Zimtsterne. Wir
brauchen da keinen Vorsprung.
Sonst sind sie bis Weihnachten nur
staubtrocken oder steinhart.
christina.wederytagblatt.ch
Bild: Reto Martin
Ein Bewohner von Schloss Herdern hat ein «Gläreli» gebunden. Im Kreativatelier der Einrichtung wird mit den Strohpuppen ein ausgestorbener Brauch wieder mit Leben gefüllt.
Das Projekt «Mythische Orte im Seebachtal» hat die Bräuche der Region erforscht. Manche gibt es heute
noch. Andere, wie das «Gläreli» und «Schometgretli», sind ausgestorben. Schloss Herdern belebt sie neu.
Das Seebachtal weckt tote Geister
KATHARINA BRENNER
HERDERN. In den Flammen knackt das
Holz. Der meterhohe Turm aus Holzscheiten und Reisig brennt lichterloh.
Rauch steigt in den dunklen Winterhimmel. Doch bald ist der Winter vorbei – das Funkenfeuer treibt ihn aus.
Diesen Brauch pflegen heute noch
drei Gemeinden im Zürcher Stammertal: Guntalingen-Waltalingen, Unter- und Oberstammheim. Auch im
benachbarten Seebachtal, nördlich
von Frauenfeld, kennt man ihn.
Urs Hähni aus Warth-Weiningen
wollte mehr über die Traditionen seiner Heimat wissen. Der Architekt bezeichnet sich als Hobby-LandschaftsMythologen. Vor gut zwei Jahren
nahm er Kontakt auf mit dem Kulturanthropologen Kurt Derungs aus Solothurn. Derungs hat bereits in meh-
reren Gegenden das Kulturerbe der
Das zweite Ziel ist es, lokale ProLandschaft erforscht. Dazu zählt er
dukte zu entwickeln. Zwei gibt es bedie Bräuche, Sagen, Traditionen und
reits: Seit August ist Schloss Herdern,
Ortsnamen einer Region.
eine soziale Einrichtung nördlich
Derungs und Hähni initiierten das
von Frauenfeld, Lizenznehmer der
Projekt «Mythische Orte im SeebachMarkennamen «Gläreli» und «Schotal». Zwei Jahre haben sie
metgretli». Das «Gläreli» ist
die Bräuche in der Region
eine Strohpuppe, die dem
Bräuche stiften
aufgearbeitet. Im Fokus
Brauch nach einen Toteneiner Region
stand der Feuerkult. Jetzt
geist darstellt. Früher wurimmer auch
möchten sie einige der ausde sie bei einem grossen
Identität.
gestorbenen Bräuche mit
Fest am Ende des Winters
Urs Hähni
neuem Leben füllen.
über ein Hausdach geworArchitekt
fen: so hoch sollte das Korn
Den Tourismus fördern
auf den Feldern im FrühDas Projekt hat zwei Ziele: einerjahr und Sommer wachsen. Zum Abseits will es den naturnahen Tourisschluss des Fests wurde die Puppe in
mus fördern. In Zusammenarbeit mit
der Erde vergraben, damit der Geist
Thurgau Tourismus soll es ab dem
in die Unterwelt zurückkehrte. Man
kommenden Jahr einen Rundweg genimmt an, dass es sich beim «Schoben, der über die Traditionen und
metgretli» um das weibliche Pendant
Bräuche in der Region informiert.
zum «Gläreli» handelt.
Bewohner von Schloss Herdern erwecken den alten Brauch jetzt wieder
zum Leben. Mit einer Arbeitsagogin
binden sie die 40 Zentimeter grossen Puppen. Am Weihnachtsmarkt
im Schlosshof werden die Puppen
erstmals verkauft.
Eng mit der Natur verbunden
Mit der Entwicklung von lokalen
Produkten und der Tourismusförderung scheint das Projekt vor allem
wirtschaftliche Interesse zu verfolgen. Steckt noch mehr dahinter? «Die
Strohpuppen und das Funkenfeuer
stehen für eine starke Naturverbundenheit», sagt der Kulturanthropologe Derungs. Dadurch habe das Projekt einen nachhaltigen Aspekt. Und
Derungs und Hähni heben beide hervor, dass Bräuche für eine Region
immer auch identitätsstiftend seien.
Ostschweiz im Buch
Ein Buch für Schweizverbesserer
Eine Beerdigung im Städtchen Goldhausen in der Schweiz. Familie und
Freunde von Tobias versammeln sich
auf dem Friedhof. Der erfolgreiche
Geschäftsmann war von einer Wanderung nicht zurückgekehrt. Niemand kann den plötzlichen Tod des
passionierten Berggängers verstehen.
Die Gedanken der Anwesenden kreisen. War es ein Unfall? Selbstmord?
Oder doch eher Mord? Tobias’ Bruder
Martin geht dieser Frage auf den
Grund. Der Leser wird in der Folge
mitgenommen zu Gesprächen mit
Wegbegleitern von Tobias. Dabei
stösst der Arzt auf immer mehr Ungereimtheiten. Was wusste Tobias über
die teils heiklen Machenschaften von
Politik und Wirtschaft? Waren seine
Enthüllungen der Grund für seinen
Tod?
Auf den 180 Seiten fühlt sich der
Leser zuweilen wie in einem Krimi.
Wobei der Protagonist lediglich dazu
dient, das Buch auch zu vermarkten:
Autor Hans-Ulrich Regius hätte ebenso gut eine Biographie oder ein Sachbuch veröffentlichen können. Die
beschriebenen Ereignisse sind ihm
teils im richtigen Leben widerfahren.
«Würde das Buch nur wirtschaftliche
Fakten beschreiben, würde es kaum
jemand lesen», sagt Regius. Herausgekommen ist deshalb ein Wirtschaftsroman. «Einer, der die Gesellschaft zum Nachdenken anregen soll,
der eine Diskussion auslösen soll.»
Düsteres Zukunftsbild
Das Bild, das «Tobias – das unerwünschte Buch» von der Schweiz
zeichnet, kann Unbehagen, fast
schon Angst bereiten. Die Politik als
übergeordnete Macht wird als Institution dargestellt, die aus Angst vor
Konsequenzen handlungsunfähig ist.
Als eine Politik, die sich mehr auf Personen denn auf sachliche Problemlösungen konzentriert, die Mitmenschen diffamiert und bestenfalls reagiert, statt Rahmenbedingungen für
eine gut funktionierende Wirtschaft
zu schaffen. Als eine Politik, die mit
der Fixierung auf die Problematik der
Frankenstärke die Fehlentwicklungen missachtet und nur Symptombekämpfung betreibt. Mehr noch: Ihr
wird vorgeworfen, bei Absprachen
zwischen der Finanzwirtschaft, der
Nationalbank und der Finanzaufsicht
die Augen zu schliessen. Die Nationalbank ihrerseits wird beschuldigt,
eine einseitige Geldpolitik zu betreiben, welche auf Absprachen mit den
Grossbanken und der Finanzmarktaufsicht beruhe. Als wären der Anschuldigungen nicht genug, nimmt
der Autor auch die Medien ins Visier:
Aufgrund ihrer Abhängigkeiten stellten sie diesbezüglich kaum kritische
Fragen und liessen heikle Themen
ganz ausser Acht. Kurzum: «Tobias –
das unerwünschte Buch» ist eine Ansammlung von Vorwürfen an Politik,
Medien und Wirtschaft.
Verbittert oder ehrlich?
Vordergründig liesse sich das Buch
als unglaubliches und unglaubwürdiges Pamphlet gegen ein an sich gutes
und funktionierendes Polit- und
Wirtschaftssystem bezeichnen. Das
wäre in diesem Fall aber zu einfach.
Der Autor ist nicht irgendwer. Er
kennt die Zusammenhänge der Wirtschaft und hat sich über Jahrzehnte
mit der Politik auseinandergesetzt.
Hans-Ulrich Regius ist langjähriger
erfolgreicher Manager. Anfang der
1990er-Jahre führte der Stadtsanktgaller vier serbelnde Versicherungsanstalten zur Swica zusammen. In
der Folge war er auch über viele Jahre
deren CEO und Verwaltungsratspräsident.
Vor vier Jahren hat er diese Position aufgegeben. Nun führt er in
Guarda im Unterengadin ein Hotel.
Ausserdem ist er in Finanzfragen sowie im Gesundheitswesen als Berater
tätig. Regius besitzt das Insiderwissen
und die Erfahrung, um Wirtschaftsprobleme in seinem Erstling glaubhaft darzustellen. Er betont, dass es
sich dabei nicht um eine persönliche
Abrechnung handelt, sondern um die
Sorgen eines Bürgers, der über das
nötige Wissen verfügt, wirtschaftspolitische Aspekte zu durchleuchten
und zu interpretieren.
Hans-Ulrich Regius versteht sich
als Macher. Als jemanden, der aufgedeckte Missstände anprangert und –
was wichtiger ist – zu beheben versucht. Dass es ihm in seiner Berufskarriere oft wie seinem Hauptdarsteller erging und er öfter auf verschlossene Türen als auf offene Ohren
stiess, verschweigt Regius nicht. Parallelen zwischen der Buchfigur Tobias
und dem realen Hans-Ulrich Regius
sind in vielen Passagen augenscheinlich. Weil Regius der Autor ist, ist der
Leser versucht, ihm zu glauben. (pag)
Hans-Ulrich Regius: «Tobias –
das unerwünschte Buch»; 180 Seiten,
Verlag Tredition GmbH, Hamburg,
ISBN 978-3-7323-6787-0
Vernissage und Lesung: Dienstag,
17. November, 20 Uhr, im Rösslitor St. Gallen