280 Ratten und zwei verängstigte Polizisten

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Tages-Anzeiger – Montag, 8. Juni 2015
Zürich
280 Ratten und zwei verängstigte Polizisten
Die Arbeit des Zürcher Veterinäramts drehte sich in den vergangenen 100 Jahren um Tollwut, Rinderwahn und andere Seuchen.
Regula Vogel, oberste Tierärztin des Kantons, hat in den vergangenen 20 Jahren einiges erlebt. Jüngst eine Rattenplage.
Carmen Roshard
Zürich – Um halb zehn abends klingelt
bei Kantonstierärztin Regula Vogel (54)
das Telefon, sie hat Notfalldienst im Veterinäramt. Die Polizei teilt Vogel mit,
sie habe vor zwei Tagen jemanden verhaftet, der Ratten zu Hause habe, die
nicht versorgt würden. Kurz darauf ist
Vogel im Einsatz, verstärkt durch zwei
kräftige junge Polizisten in Vollmontur.
Als einer der beiden die Tür zur Drei­
zimmerwohnung des Inhaftierten aufschliesst, suchen die jungen Männer
Schutz hinter Tierärztin Vogel. Das
Erste, was das Trio sieht, sind Ratten,
und zwar überall.
Im Korridor starrt sie «Bubeli» an, ein
speziell grosses Exemplar. Und in jedem
Zimmer lebt eine ganze Rattenpopulation. Dutzende der Nager bevölkern das
Badezimmer, wo sie aus dem Schrank
kriechen und durch die Toilette in die
Kanalisation schlüpfen. Die Küche ist
unbenutzbar. Die Ratten kommen aus
dem Sofa und schauen aus den Lautsprecherboxen im Wohnzimmer. Ratten,
­wohin man schaut, nur im Schlafzimmer
ist einigermassen Ruhe, da zählt Regula
Vogel nur vier Tiere.
In der Wohnung herrscht dreissig
Grad, die Tiere haben Hunger und
Durst. Vogel stellt eine grosse Schüssel
mit Wasser auf den Boden, und schon
kommen sie gesprungen, bis nur noch
ein Berg aus Ratten zu sehen ist. Die
Polizisten sind froh, als Vogel ihnen
nach dem Füttern der Ratten mitteilt,
ihr Team werde sich am nächsten Morgen der Sache annehmen. Die Tiere werden gefangen und eingeschläfert, da sie
wegen der extremen Dichte bereits voller Krankheitskeime sind. Das Team erwischt 280 Exemplare auf Anhieb. Der
Rest wird mit Fallen gefangen.
Das war vor drei Jahren, «und bei weitem kein Einzelfall», sagt Regula Vogel,
seit 20 Jahren oberste Tierärztin des
Kantons Zürich. «Unsere Tätigkeit ist
sehr viel handfester, als nur das Erteilen
von Bewilligungen.» In ihrer Anfangszeit
bewältigte Vogel den Notfalldienst im
Alleingang, heute beteiligen sich alle
­
15 Tierärztinnen und Tierärzte daran.
100 Jahre Veterinäramt Zürich
Von Baer bis Vogel
Ein schwerer Fall von Räude (die Haut wird rau, derb und dick) bei einer alten Kuh. Foto: Veterinäramt Zürich, ca. 1940
Die wichtigsten Seuchen
Von Hund bis Biene
Hundetollwut: flackert immer wieder auf,
bis 1925 der letzte Hundebann verhängt
wird. Fuchstollwut: zwischen 1967 und
1993. Milzbrand: Fälle bis in die 50er-Jahre.
Zwischen 1978 und 1980 erkrankten 24 Personen in der Bindfadenfabrik Flurlingen.
Infektionsquelle: importierte Ziegenhaare
aus Asien. Maul- und Klauenseuche: Die
schlimmsten Seuchenzüge suchten den
Kanton 1913, 1920 und 1938/39 und 1965
heim. Rindertuberkulose: 1920 war jeder
sechste Stall im Kanton verseucht. 1950
waren 60 Prozent des Zürcher Rindviehs
positiv. Nachdem 25 Prozent der Population
bis 1956 eliminiert waren, galt der Kanton
als Tuberkulosefrei. Brucellose: Ausrottung
1955 durch Untersuchung aller Rinderbestände und das Schlachten kranker Tiere.
Salmonellen: seit 1994 Untersuchung aller
Legehennenbatterien ab 50 Tiere und
Schlachten verseuchter Herden. BSE: 1992
erster von 22 Rinderwahnfällen bis 2004.
Seit Mai 2015 Status «vernachlässigbares
Risiko». Vogelgrippe: 2006 bei Wildvögeln.
Stallpflicht in den über 4000 Geflügelfarmen. Blauzungenkrankheit: Kanton 2007
zur Überwachungszone erklärt. BVD: Ausrottungsprogramm 2008–2012, Kälber
beprobt und positive eingeschläfert. Bruterkrankung bei Bienen: Seit etwa 10 Jahren hoch. (roc)
Polizei zum eigenen Schutz
Rinderwahn, Vogelgrippe und die zunehmenden Risiken von Seucheneinschleppung prägen die Arbeit des Veterinäramts (Veta). Die Bevölkerung erwartet unbedenkliche tierische Lebensmittel, wünscht sich artgerechte Tierhaltung und verlangt Sicherheit bei der Haltung von Hunden. So hält auch nach
20 Jahren im Amt jeder Tag eine neue
Aufgabe für die Kantonstierärztin und
ihr Team parat: Die einen wollen ein geschenktes Kamel aus Afrika einführen,
andere geben an, in einem gewöhnlichen PW einen Geissbock gesichtet zu
haben. Zu Kühen, Schafen und Ziegen
kommen Krokodile, Känguruhs, Hirsche
und Strausse.
Täglich treffen Meldungen von Behörden, Polizei und Privatpersonen ein.
Vernachlässigung, Mangelernährung,
Platzprobleme, Schmutz sind die
Gründe. «Wir haben mehr mit Menschen
zu tun, als mit Tieren», sagt Vogel. Kontrollen vor Ort sind schwierig, für die
amtlichen Tierärzte genauso wie für die
betroffenen Tierhalter. «Zu emotional
ist das Tierschutzthema», sagt Vogel.
Viele Tierhalter seien in einer misslichen Lage oder sähen sich als Experten
und reagierten ablehnend gegen nötige
Massnahmen. Nicht selten muss das
Veta-Team deshalb die Polizei zum eigenen Schutz aufbieten. «Wir versuchen,
unsere Arbeit nachvollziehbar, korrekt
und angemessen zu erledigen, aber wir
machen halt unsere Arbeit, setzen uns
für die Mindeststandards ein.» Schelte
müsse man aushalten können, sich im
Team austauschen.
Weil manche Tierhalter auf die Kontrollen emotional reagieren, kommt es
auch zu «physischen Grenzüberschreitungen». Deshalb wird das Thema Sicherheit im Veta grossgeschrieben. Das
geht so weit, dass die Mitarbeitenden in
Kursen speziell geschult werden. Ein
Grund für diese Massnahme ist die Geschichte von Lama Klara und Esel Maxi.
Das ist fünf Jahren her. Ein Tierhalter
wurde darauf hingewiesen, er müsse für
Im Jahr 1914 wurde im Kanton Zürich
erstmals ein Kantonstierarzt eingesetzt, und
am 1. April 1915 entstand aus der Abteilung
«Viehversicherung und Viehverkehr» der
Volkswirtschaftsdirektion das Zürcher
Veterinäramt (Veta). In den 100 Jahren
seines Bestehens wurde das Amt von
­insgesamt sieben Kantonstierärzten geleitet.
Der erste war Hans Baer aus Winterthur
(1914–1944). Regula Vogel, die erste oberste
Tierärztin des Kantons Zürich, leitet das
Amt seit 1995.
Die Zuschriften ans Veterinäramt waren
schon zahlreich, als die Briefmarke noch
20 Rappen kostete. Aber nicht allen war der
Begriff Veterinäramt geläufig, was zu teils
lustigen Schreibweisen führte, wie etwa
«Fettirinähramt», «Viehdrinär-Amt»,
«Veternährungsamt», «Viehdrinär-Amt»,
«Veterenaramt» oder einfach «Volkswirtschaftsdirektion Abteilung Vieh».
Das Veterinäramt ist Teil der Gesundheitsdirektion des Kantons Zürich. Es sorgt dafür,
dass die gesetzlichen Vorgaben von Bund
und Kanton rund um das Tier umgesetzt
und auch eingehalten werden. Zudem
­betreibt das Amt eine Meldestelle für
­Findeltiere, ist zuständig für die Sicherheit
der Bevölkerung vor Hunden und überwacht
die Arbeit der Tierärzte. Im Team arbeiten
derzeit 40 Personen. (roc)
www.veta.zh.ch/100jahre
Nach dem Abladen der Kühe mit Maul- und Klauenseuche im Schlachthof muss intensiv gereinigt werden. Foto: Veterinäramt, 1956
sein Lama und seinen Esel einen Sozialpartner suchen. Der Mann reagierte auf
eigenwillige Weise. Er liess das Lama
schlachten und brachte den Esel in eine
Auffangstation. Als die Presse darüber
berichtete, brachen Morddrohungen
über Vogel herein. Meinungen im Internet zeugten von einem «abgrundtiefen
Hass», empörte Leser schrieben «­Regula,
fahr zur Hölle!». Man warf ihr «Machtgeilheit» vor und drohte, sie werde «ihre
gerechte Strafe» noch erhalten.
Dabei, sagt Vogel, habe sie nur die für
die Tiere wichtigen Mindestanforderungen zu erfüllen versucht. «Haben die
Medien eine emotionale Welle losgetreten, hat man keine Chance mehr, denn
alles, was man danach sagt, wird negativ
ausgelegt.» Und anonym könne heute
­jeder schreiben, was ihm in den Sinn
komme. Dies habe dazu geführt, «dass
Regula Vogel
Kantonstierärztin
wir keine E-Mails mehr bearbeiten,
­solange uns nicht der volle Name und die
Adresse bekannt gegeben wird.»
Bewusste Misshandlung selten
Vogel arbeitet gerne vor Ort, wenn es ihr
die Zeit erlaubt. So kann es sein, dass
man die oberste Tierärztin auch in einem Kuhstall oder morgens um 3 Uhr
auf der Rampe des Hinwiler Schlacht­
hofes antrifft. «Da entstehen oft gute
­Gespräche mit Tierhaltern und Transporteuren.» Auch Fleischproduzenten
hätten einen gewissen Respekt vor den
Tieren, weiss Vogel. «Bewusste Tiermisshandlungen sind sehr selten.» Häufiger trifft das Veta auf vernachlässigte
Tiere. Etwa, wenn ein Schwein mit Gelenkentzündung nicht behandelt wird,
oder Heimtiere im verdreckten Käfig
ohne Futter dahinvegetieren.
Doch es gibt auch schöne Einsätze.
Vogel erinnert sich an eine Nutztierkontrolle in einem Stall für 2000 Legehennen. Sie habe mit dem Betreiber auf einem Balken im Stall gesessen, als innerhalb von Minuten Hühner auf sie zu kamen und sich auf ihre Schultern setzten:
«Das war richtig schön.» Die Hühner waren so zutraulich, weil der Bauer jeden
Tag zwei Stunden lang bei ihnen im Stall
verbrachte. «Gute Tierbeobachtungen
sind eine hervorragende Voraussetzung,
seine Tiere im Griff zu haben», so Vogel.
Ein aktuelles Problem ist der sorglose
Umgang mit Antibiotika in der Humanund Veterinärmedizin wegen der zunehmenden Multiresistenzen. Aber noch
­etwas anderes macht Vogel Sorgen: Die
illegale Einfuhr von Tieren, die mit fatalen Folgen verbunden sein kann. «Heute
kann man im Internet alles bestellen,
faktisch existieren keine Grenzen
mehr», sagt sie. «Wenn das Tier an der
EU-Aussengrenze durch ist, dann hat es
freie Fahrt.» Es herrschten EU-Veterinärraum und EU-Recht.
Nur eine Folge zeigt das Beispiel eines
Welpen aus Nordafrika, der illegal importiert wurde. Der Hund zeigte verdächtige Symptome. Die Diagnose: Tollwut. Weil mehrere Personen Kontakt
zum Hund hatten, wurden die Medien
eingeschaltet. 16 Personen, darunter einige Kinder, die im Flugzeug und in den
folgenden Tagen mit dem Tier gespielt
hatten, wurden gefunden. Dank sofor­
tiger medizinischer Behandlung erkrankte niemand. Hunde und Katzen,
die mit dem Hund in Berührung kamen,
mussten in Quarantäne. Bei einigen war
das Risiko zu gross, sie wurden eingeschläfert. In Nachbarländern sind wegen der Einfuhr kranker Tiere schon
Menschen gestorben. Die Schweiz gilt
zwar nach WHO-Kriterien seit 1999 als
tollwutfrei. «Trotzdem stellt die Tollwut
auch heute noch eine Gefahr dar», warnt
Vogel. Immer wieder würden Tiere aus
Tollwut-Risikoländern eingeführt. 2013
entdeckte man 20 Heimtiere, 2014 waren es im Kanton Zürich bereits 50 Fälle.
Heute wisse man nicht mehr, wie
Tierkrankheiten auf Menschen über­
tragen werden, wie man sich verhält.
«Meine Mutter gab mir noch eins hinter
die Ohren, wenn ich Rohmilch trank»,
sagt Vogel. Jeder wusste, dass Rohmilch­
trinken Gefahren birgt – etwa sich mit
Tuberkulose oder Brucellose zu infizieren. Lektionen für Verhaltensregeln und
Hygiene wollen aber gelernt sein, deshalb gibt Tierärztin Vogel zum Schluss
noch eine letzte mit. «Die Keime auf
Mastpouletfleisch können trotz grosser
Anstrengungen nicht eliminiert werden.» Dagegen hilft nur sorgfältigste Zubereitung. Bei der Veterinärmedizinerin
kommt das Schweizer Pouletfleisch deshalb vom Schüttstein, wo sie die Packung öffnet, direkt in die Bratpfanne.
Bilder Aus 100 Jahren Tätigkeit
des Zürcher Veterinäramtes.
100jahre.tagesanzeiger.ch