Wissenschaft und die Ethik des Anderen

Roland Fischer
Wissenschaft und die Ethik des Anderen
"Ethik des Anderen" bedeutet, sich auf das / den / die Andere(n) einlassen, es / ihn /
sie wahrnehmen, ihm / ihr Aufmerksamkeit schenken, ihm / ihr zuhören usw. Man
kann vielleicht auch sagen: es / ihn / sie erforschen. "Das Andere" kann ein anderer
Mensch, eine andere Gesellschaft aber auch ein Teil der Natur, ein Kunstwerk, ein
technischer Gegenstand usw. sein. Insbesondere ist der Gegenstand von
Wissenschaft immer "ein Anderes". Ethik des Anderen bedeutet aber auch, das
Andere als solches, als Anderes zur Kenntnis zu nehmen, es nicht vereinnahmen,
nicht unterdrücken, kurz: Respekt vor dem Anderen haben. Eine Form der
Vereinnahmung kann schon das als Ergebnis von Erforschen gewünschte Verstehen
sein. Ein Kollege sagt öfters, daß für ihn der Satz "Ich verstehe dich" eine gefährliche
Drohung ist. Auf der anderen Seite kann auch der Satz "Ich verstehe dich nicht" als
eine solche aufgefaßt werden. Er kann Ablehnung, Zurückweisung, Desinteresse
bedeuten.
Wissenschaft ist auf Erforschung und Verstehen ausgerichtet. Sie strebt sogar eine
Gesamttheorie des jeweiligen Gegenstandsbereichs an. Z. B. die Schulmedizin: Ihr
genügt nicht, daß eine Heilmethode funktioniert, das Funktionieren muß auch
erklärbar sein, indem ein Zusammenhang zur gängigen Theorie hergestellt wird. –
Die Wissenschaft will weiße Flecken auf der Landkarte des Wissens beseitigen, kurz
das Andere soll als solches beseitigt werden. Damit stehen wir vor einem Problem,
einem Dilemma, nämlich dem zwischen Desinteresse und Vereinnahmung.
Selbstbeobachtung und Empathie
Wie ist eine Ethik des Anderen überhaupt möglich? Das genannte Dilemma gibt es ja
nicht nur für die Wissenschaft, sondern auch für den einzelnen Menschen, der einem
Anderen (Menschen, Gegenstand usw.) gegenübersteht. Wie löst er dieses
Problem?
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Es ist eine sensible Gratwanderung. Diese ist nur auf der Basis von Intuition und
Empathie auf der einen (emotio) und kritischer Selbstbeobachtung (ratio) auf der
anderen Seite möglich. Selbstbeobachtend muß sich der Mensch die Frage stellen:
Was will ich eigentlich, was sind meine Motive? Was bewirke ich? Wie ist die
Reaktion des anderen? Was will er? Wie verändert er sich? Respektiere ich ihn
wirklich? Selbstbeobachtung ist die Grundvoraussetzung für Gewissen, d. h. für eine
innere mitwissende Instanz (conscientia). Die Möglichkeit des Menschen zur
Selbstdifferenz, d. h. die Aufspaltung in ein handelndes und ein beobachtendes
Subjekt (je situativ) ist die Voraussetzung dafür.
Die zweite Voraussetzung ist emotionaler Art, Intuition und Empathie. Sie geht davon
aus, daß es möglich ist, mit dem Anderen in eine nicht rational explizierte Verbindung
zu treten, d. h. etwas zu spüren. Zu spüren was der / die / das Andere braucht, um
sich als solche/r/s entfalten zu können. Braucht er / sie / es mehr Zuwendung mit der
Gefahr der Vereinnahmung oder mehr Abgrenzung mit der Gefahr der Isoliertheit.
Die Voraussetzung dafür, daß dies möglich ist, ist ein Zusammenhang zwischen dem
Ich und dem Anderen, ein Zusammenhang, der Wahrnehmung ermöglicht jenseits
explizierter, rational kontrollierter Verfahren und Methoden.
Wissenschaft als Organisation
Wissenschaft ist ein soziales Unternehmen, ist eine Organisation. Zwar handeln
einzelne Menschen, der Betrieb "Wissenschaft" – ob disziplinäre Community, eine
Universität, eine Forschergruppe – ist aber mehr als eine bloße Menge von
Menschen. Er ist ein strukturiertes Ganzes mit Regeln, Zielen, Verfahren, kurz: eine
Organisation. Und Organisationen sind im Vergleich zu Individuen plump in ihrem
Außenverhältnis, in ihrem Verhältnis zum Anderen. Sie können nicht so schnell und
so sensibel reagieren, wie das einzelne Menschen tun können.
Zwar sind an der Schnittstelle von Wissenschaft zum jeweiligen Anderen, zur
beforschten Volksgruppe, zur beforschten Natur, zum beforschten Patienten immer
Menschen tätig, und die können – der Ethik des Anderen folgend – sensibel,
empathisch sein und ihr Gewissen erforschen. Aber: Sie handeln ja nicht als
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Einzelmenschen. Sie sind den Zielen und Regeln der Organisation Wissenschaft
verpflichtet. Sie müssen dieser Rechenschaft ablegen. Wenn sie den Zielen nicht
entsprechen, werden sie über kurz oder lang ausgetauscht, da sich Ziele und
Normen der Organisation nicht so schnell ändern. Das gilt übrigens in besonderem
Maße, wenn die Organisationen demokratisch verfaßt sind, man könnte vielleicht
sogar sagen: je demokratischer im Binnenverhältnis, desto plumper ist die
Organisation in ihrem Außenverhältnis.
Ein Forschungsprogramm, ein Institut wird eingerichtet, ein Rahmenprogramm
definiert, dann rollt eine Maschinerie. Selbst wenn einzelne Menschen die Probleme
schon ganz wo anders sehen, sie haben nicht die spontane Macht, etwas zu ändern,
ja sie können / dürfen sie auch nicht haben, wenn organisiertes Tun einen Sinn
ergeben soll.
Stehen wir damit vor einem unauflöslichen Dilemma?
Wenn Wissenschaft ethisch sein soll, müssen wir uns über so etwas wie
Organisationsethik den Kopf zerbrechen. Es handeln nämlich nicht nur Einzelmenschen, es handeln auch soziale Systeme, zumindest halte ich das für eine
sinnvolle Metapher.
Bewußtsein eines sozialen Systems
Was kann Organisationsethik bedeuten? Als Voraussetzung für eine solche sehe ich
zunächst wie beim Individuum die Kompetenz zur Selbstbeobachtung an. Im Bezug
auf Organisationen meine ich organisierte Selbstbeobachtung. Sie geht über die
Beobachtung des sozialen Systems durch die einzelnen Mitglieder (und daraus oft
folgendes informelles Raisonieren) hinaus und bedeutet eine explizite
Aufgabenstellung für eine Untergruppe des sozialen Systems. Diese Herausnahme
einiger Menschen aus dem Alltagsgeschäft der Organisation, man könnte auch
sagen aus dem Prozessieren der Organisation, wie es auch in gruppendynamischen
Settings oder bei der Entwicklung von Organisationen professionell verwendet wird,
hat verschiedene Gründe. Zum einen ist es schwierig, gleichzeitig zu tun, zu handeln
und sich in diesem Tun zu beobachten. Zweitens enthält diese Beobachtung immer
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auch ein kritische Komponente, denn festzustellen, daß irgendetwas so und so ist,
bedeutet die implizite Annahme daß es auch anders sein könnte, zumindest eine
Vorstellung muß man davon haben. Und Kritik ist aus der Distanz leichter möglich.
Und drittens geht es nicht nur um die Beobachtung, sondern um eine kollektive
Auseinandersetzung mit den Beobachtungsergebnissen. Wenn ein soziales System
in seinem Gewissen nicht auf eine stellvertretende Untergruppe, im Extremfall auf
eine Person reduziert werden soll, muß eine solche Auseinandersetzung geführt
werden. Dies erfordert eine Konzentration der Aufmerksamkeit, zu der sich das
System entschließen muß, und das durch die phasenweise Hervorhebung
bestimmter Mitglieder des Systems als Beobachter gefördert wird. Beobachter sollten
keine Macht haben im Sinne von Entscheidungen, im Sinne von Ziehen von
Konsequenzen aus ihren Beobachtungen, sie sollten bloß das Recht haben, daß
ihnen Aufmerksamkeit geschenkt wird.
Die Selbstbeobachtung eine sozialen Systems ist immer auch eine Konstruktion
desselben. Es gibt das soziale System ja nicht so unmittelbar wie den einzelnen
Menschen, der als Selbstbeobachtungsgegenstand seine körperliche Manifestation
zur Verfügung hat. Bei sozialen Systemen ist immer die Frage "Wer gehört dazu?
Was ist das Besondere? Wie verstehen wir uns?" zu beantworten. Das heißt, die
Selbstbeobachtung ist immer auch ein Vorschlag, wie das Ganze zu sehen ist. Die
Auseinandersetzung des sozialen Systems mit einem solchen Vorschlag, d. h. mit
einem Beobachtungsergebnis hat dann den Charakter der Dekonstruktion. Nicht alle
finden sich aufgehoben in dem Vorschlag, sich in ihrem individuellen Sein
berücksichtigt, oder wollen einfach nicht aufgehoben sein, weil sie damit als
Individuen oder Teilgruppen verschwinden. D. h., im Prozeß der Auseinandersetzung
wird der Vorschlag kritisiert, er wird zerlegt und löst sich im Endeffekt auf. Der Boden
ist frei für eine neue Beobachtung und für einen neuen Vorschlag.
Ich nenne den Prozeß der beobachtenden Konstruktion und diskursiven
Dekonstruktion einer sozialen Ganzheit das Bewußtsein eines sozialen Systems.
Dabei ist für die Konstruktion eine Teilmenge (eben jene der Beobachter) zuständig,
für die Dekonstruktion sind alle gefragt. Ohne innere Differenzierung ist kein
Bewußtsein eines sozialen Systems, damit kein Gewissen eines sozialen Systems
und damit auch keine Ethik möglich. Bewußtsein eines sozialen Systems ist ein
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Prozeß, allerdings keiner, der im Gleichschritt der Mitglieder erfolgt, er ist von
Konflikten begleitet. Bewußtsein "tut weh" – übrigens auch beim Individuum.
Die Rolle des Anderen
Die Sache mit dem Bewußtsein ist aber noch etwas komplizierter.
Selbstbeobachtung eines sozialen Systems heißt immer auch, Beobachtung und
Definition der Grenzen: Was sind wir im Unterschied zu den anderen? Wie bei jeder
Grenzziehung müssen die Grenzen für beide Seiten zumindestens klar und
verstehbar sein. Das spricht für die Beteiligung der "Anderen" an der Definition der
Grenzen, insbesondere an der Diskussion was Wissenschaft ist bzw. sein soll. Man
braucht diese Diskussion eigentlich vor allem für dieses Außenverhältnis. Die
Wissenschafter selbst brauchen in der Regel keine Definition ihres Tuns, sie tun
einfach. Erst im Außenverhältnis ist die Definition relevant. Dies gilt natürlich auch für
die Einteilung der Disziplinen innerhalb der Wissenschaften. Für die obige
Bewußtseinsdefinition heißt dies: zumindestens am Dekonstruktionsprozeß ist auch
die Umgebung angemessen zu beteiligen. Bewußtsein eines sozialen Systems ist
kein reines Binnenphänomen.
Was heißt das nun für Wissenschaft? – Die jeweiligen Nicht-Fachleute müssen ein
Mitspracherecht haben. Ich bin dafür, so etwas wie Laienräte einzurichten, genauer:
gemischte Gremien, in denen Systeminsassen (im konkreten Fall Wissenschafter,
z. B. Universitätsangehörige) und Vertreter des Umfelds zusammenwirken. Die
Laienvertreter sollten nach einem Zufallsprinzip (wie Schöffen oder Geschworene)
rekrutiert werden, damit nicht die Einflüsse anderer Organisationen, z. B. von
Parteien, ein Übergewicht bekommen. Innerhalb der bestehenden Strukturen, etwa
der Selbstverwaltung von Universitäten, sollten zumindestens die interdisziplinär
zusammengesetzten Kollegialorgane als wechselseitige Laienräte inhaltlich ernst
genommen werden, aber auch die Studenten als Vertreter des Anderen eine Rolle
spielen. Das ganze bedeutet natürlich ein ganz anderes Selbstverständnis von
Wissenschaft, das mit der gängigen Überbewertung der jeweiligen fachlichen
Kompetenz nicht vereinbar ist.
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Emotionalität eines sozialen Systems?
Wie sieht es mit dem zweiten Ingredienz für ethisches Handeln beim Individuum,
nämlich mit Intuition und Empathie, bei Organisationen aus? Sie haben etwas mit
Emotionen zu tun und ist das auf Organisationen übertragbar? Man spricht
zumindest metaphorisch von kollektiver Emotionalität, aber was ist das und, wenn es
das gibt, wollen wir das wirklich als kollektives Handlungsmotiv?
Organisationen sollten zumindestens die Emotionalität ihrer Mitglieder insbesondere
jener, die an der Schnittstelle zum Anderen stehen ernst nehmen. Es sollten
Verfahren existieren, die es ermöglichen, diese Emotionalität überhaupt
wahrzunehmen. Das bedeutet neue Formen der Kommunikation innerhalb einer
Organisation, im konkreten Fall innerhalb von Wissenschaft. Man kann dies als Teil
der Selbstbeobachtungsaufgabe ansehen.
Ich meine aber, daß man darüber hinausgehen muß. Intuition und Empathie sind
nicht bloß naturwüchsig vorhanden, sodaß man sich ihrer bedienen kann. Sie
können erzeugt und gepflegt werden. In Organisationen sollte es Rituale geben, die
der Erzeugung und Pflege von kollektiver Sensibilität, von kollektivem
Verantwortungsgefühl und von kollektivem Interesse am Anderen dienen. Wie das im
einzelnen geschehen soll, darüber sollte man nachdenken, insbesondere
bestehende Rituale daraufhin ansehen, ob sie Derartiges leisten können.
Erwähnt sei auch die Notwendigkeit einer auf das soziale System selbst gerichteten
positiven Emotionalität. Wenn man von einem sozialen System, von einer
Organisation mehr haben möchte als ein bloß maschinelles Ablaufen nach
bestimmten Regeln, dann muß man ihm auch eine emotionale Identität zugestehen.
Beim Individuum wird manchmal die Selbstliebe als eine ohnehin vorhandene
vorausgesetzt und ethische Argumente können sich dann darauf konzentrieren, die
Liebe zum Anderen zu fordern. Man kann selbst beim Individuum die Frage stellen,
ob diese Voraussetzung wirklich hinreichend in jedem Einzelfall erfüllt ist, bei
sozialen Systemen ist es jedenfalls so, daß ohne Investition in deren Selbstliebe sie
als bloß seelenlose Mechanismen funktionieren und damit zu einer Ethik des
Anderen nicht wirklich fähig sind.
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Verzicht auf Wissen
Betrachten wir noch einmal den Gegensatz zwischen Forschungsdrang auf der einen
Seite und den notwendigen Respekt vorm Anderen auf der anderen. Das
dominierende Wissenschaftsethos sagt: Das Andere soll sein Anderssein verlieren,
es soll eingebaut werden in den Wissenskorpus. Wenn dieses Wissenschaftsethos in
Frage gestellt werden soll, so bedeutet dies radikal: Bewußter Verzicht auf Wissen.
Und das ist eine einschneidende Angelegenheit. Das dominierende
Wissenschaftsethos setzt auf eine ungebremste Expansion von Wissen.
In manchen Bereichen gesellschaftlicher Aktivität wird zwar schon über
Begrenzungen von Expansionen nachgedacht, z. B. in der Wirtschaft. Bezüglich der
Wissenschaft ist dies aber noch ein Tabuthema. Man würde die Freiheit der
Wissenschaft gefährdet sehen, Zensur und Unterdrückung ablehnen, usw. Es gibt
allerdings auch zaghafte Versuche, Forschung ethisch zu steuern, insbesonders
dort, wo unerwünschte Anwendungen die Folge sein könnten. Aber daß das Wissen
selbst unmittelbar schon ein Problem sein kann, davon ist eigentlich nicht die Rede.
Auf der anderen Seite, im Bereich des individuellen Verhaltens einem anderen
Menschen gegenüber, kann ein bewußter Verzicht auf Wissen als durchaus
angemessen angesehen werden. Für einen Psychotherapeuten bespielsweise kann
es Situationen geben, in denen er entscheidet, auf Wissen über einen Patienten zu
verzichten, um diesem nicht zu nahe zu treten und dessen autonome Identität nicht
zu gefährden. Auch Organisationen, z. B. der Staat, entscheiden sich gelegentlich für
Nichtwissen, etwa wen Gesetze zum Schutz von Daten beschlossen werden. Sind
derartige Entschlüsse auch grundsätzlicher für die Wissenschaft denkbar?
Ich persönlich bin der Überzeugung daß die Biologie als Wissenschaft vom Leben
sich mit der Problematik des bewußten Nicht-Wissens auseinandersetzen muß. Ich
kann der von Maturana und Varela vorgeschlagenen Definition von Leben einiges
abgewinnen: Lebewesen sind sogenannte "autopoietische" Systeme, das sind
solche, die ihre Organisationsstruktur und ihre Grenzen ständig reproduzieren, d. h.
sich selbst herstellen. Die Alternative sind sogenannte "allopoietische" Systeme, d. s.
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solche, die von einem jeweils anderen hergestellt werden. Der entscheidende Punkt,
und der wird von Varela am deutlichsten formuliert, ist aber der, daß die Frage ob
etwas ein auto- oder ein allopoietisches System ist, nicht vom System selbst
beantwortet wird, sondern durch eine Entscheidung des Beobachters; d. h. der
Beobachter entscheidet, was für ihn Leben ist.
Worin besteht nun die Entscheidung für Leben? Sie besteht darin, zu sagen, daß
man einem Anderen gegenübersteht, dem man Eigenständigkeit zuerkennt und zwar
eine Eigenständigkeit, die von außen, insbesondere von einem selbst, nicht
beeinflußbar ist, jedenfalls nicht total; insbesondere – und das füge ich hinzu – die
nicht total durchschaubar ist. Es handelt sich somit gewissermaßen um eine
paradoxe Entscheidung: Ich entscheide mich dafür, daß etwas für mich nicht total
erkennbar und daher auch in gewissem Sinn nicht entscheidbar ist. Ich sehe diese
Art der Haltung gegenüber einem Anderen als einen sich selbst aufhebenden
Konstruktivismus an, der für Leben konstitutiv ist.
Es ist zwar so, daß eine biologische Wissenschaft immer mehr Wissen über Leben
gewinnen kann. Gleichzeitig müßte sie aber sagen, da gibt es noch etwas, das ich
als Wissenschafter nicht erkennen kann bzw. will. Würde ich alles erkennen, dann
wäre es kein Leben.
Erkenntnis und Selbstauflösung
Warum soll man eigentlich auf Erkenntnis verzichten? Deswegen, weil Erkenntnis
eine reziproke Angelegenheit ist. Weil Erkenntnis des Anderen immer auch
Selbsterkenntnis bedeuten kann und die totale Selbsterkenntnis Auflösung der
eigenen Ganzheit bedeutet. Ich gehe davon aus, daß eine notwendige
Geheimnishaftigkeit des Lebens des Anderen auch für das eigene Leben gilt und
damit eine Grenze der Selbstbeobachtung darstellt, d. h. daß die totale
Selbsterkenntnis die Auflösung des Selbst nach sich zieht. Es gibt das notwendig
undurchschaubare Selbst auf der psychischen Ebene – negativ konnotiert die
"Lebenslüge" – es gibt notwendige Tabus für soziale Systeme usw. Natürlich kann
deren partielle Aufdeckung oder In-Frage-Stellung auch eine Chance bedeuten,
Möglichkeit für Umstrukturierung, jedenfalls ist es auch eine Gefahr für die Integrität.
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Indem ich das Andere respektiere und nicht alles wissen möchte, respektiere ich
somit auch mich selbst. Wenn ich die Grenzen zum Anderen auflöse, löse ich mich
selbst auf.
Von dieser Überlegung ausgehend biete ich einen Gedanken an, der vielleicht
absurd erscheinen mag (vielleicht erscheint auch schon das bisher gesagte absurd).
In diesem Jahrhundert hat die Wissenschaft Unmöglichkeitsaussagen bezüglich ihrer
Erkenntnischancen formuliert. Ich denke an die Heisenbergsche Unschärferelation,
die besagt, daß Ort und Geschwindigkeit eines Teiles nicht gleichzeitig mit beliebiger
Genauigkeit meßbar sind. Und ich denke an den Gödelschen Satz, der die Existenz
von Aussagen in formalen Systemen behauptet, die mit den Mitteln des Systems
weder beweis- noch widerlegbar sind. Es sind beides Aussagen über die NichtMöglichkeit von Wissen. Meine gewagte Interpretation: Diese Sätze drücken ein
Nicht-Wissen-Wollen der Menschheit aus, motiviert aus dem Wunsch nach
Abgrenzung vom Anderen, einerseits Abgrenzung von der (unbelebten) Natur, dem
Gegenstand der Physik, andererseits Abgrenzung von formalen Systemen.
Liebe als Selbstauflösungsangebot
Vielleicht habe ich das Thema "Ethik des Anderen" verfehlt. Man kann ja dem im
letzten Abschnitt Gesagten entgegenhalten: Liebe ist gerade das Angebot der
Selbstauflösung. Es gibt Situationen, wo gerade aus der Auflösung der Grenzen die
Kraft für Leben geschöpft wird, in denen die totale Selbstaufgabe für den anderen
gefragt ist; oder auch solche Situationen, in denen zugunsten des Überlebens des
anderen Übergriffe notwendig sind, auch Vereinnahmungen; oder daß es jenseits
des vereinnahmenden Wissens ein anderes gibt, das nicht auf Beherrschung
ausgerichtet ist und von dem man nie genug haben kann. Das ist aber doch nicht
mehr Wissenschaft? Oder doch?
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Literatur
Fischer, R. / Costazza, M. / Pellert, A. (Hrsg.) (1993): Argumentation und
Entscheidung: Zur Idee und Organisation von Wissenschaft. Wien/ München:
Profil 1993
Fischer, R. (1994): Drei Paradigmen systemischen Denkens. In: Wissenschaftliche
Blätter/Angewandte Ökologie der Wissenschaftlichen Landesakademie für
Niederösterreich, Heft 1/1994, S. 38-40.
Fischer, R. (1992): Ganzheitlichkeit = Nichtwissen. In: UNISONO, Zeitschrift des
Außeninstituts der Universität Klagenfurt, Jänner 1992
Fischer, R. (1999): Kollegiales Management. In: R. Grossmann (Hrsg.) "Besser
Billiger Mehr. Zur Reform der Expertenorganisationen Krankenhaus, Schule,
Universität", IFF-texte Band 2. Springer-Verlag, Wien 1997, S. 58-67
Varela, Francisco I. (1979): Principles of Biological Autonomy.
New York: Elsevier
Schmidt, Siegfried I. (Hrsg.) (1987): Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus.
Frankfurt: Suhrkamp