Marathonlesung «The Making of Americans» von Gertrude Stein Donnerstag , 10. Dezember – Sonntag 13. Dezember 2015 konzipiert und organisiert von Andrea Saemann und Marcel Schwald koproduziert von der Kaserne Basel und der Ateliergemeinschaft VIA Abstract 1908 «À la recherche du temps perdu». 1914 «Ulysses». 1921 «Mann ohne Eigenschaften». Doch zuvorderst in der Zeitlinie stünde: 1902 «The Making of Americans». Gertrude Stein beginnt die Schreibarbeit an diesem Buch. Würden sich Leute explizit darauf beziehen und es nicht als «unlesbar» beiseite legen, gäbe es auch für die «Americans» allerorten eigene Liebhabergemeinden. Doch das öffentliche Interesse und die Forschung an der Pionierin Stein gilt es noch voranzutreiben und zu bündeln. Denn am Anfang der Moderne steht: Gertrude Stein hat geschrieben, um gelesen zu werden. Und dies werden wir nun tun. (Andrea Saemann, Marcel Schwald) Die Performancekünstlerin Andrea Saemann und der Regisseur Marcel Schwald laden ein, das Monumentalwerk «The Making of Americans» der Modernistin Gertrude Stein in Basel in seiner vollen Länge als Marathonlesung mitzuerleben. Beide haben sich in früheren Arbeiten bereits mit Stein-Texten auseinandergesetzt. Ihre Erfahrungen zeigen: Auf Blättern gedruckt wirkt Steins Sprache grundlegend anders, als wenn sie über die Ohren aufgenommen wird. Das Lautlesen von Steins Werk bringt ihre Texte erst in Schwingung. Öffentliche Plattformen für die Rezeption von Stein sind bis heute eine Seltenheit. Saemann und Schwald wollen Zeit und Raum schaffen für eine Begegnung mit einer der bemerkenswertesten Literatinnen des vergangenen Jahrhunderts. Gertrude Stein Gertrude Stein, Amerikanerin deutsch-jüdischen Ursprungs, übersiedelte 1903 nach abgebrochenen Studien in Philosophie, Psychologie und Medizin nach Paris, wo sie bis zu ihrem Tod 1946 eine zentrale Rolle in der Kunst- und Literaturszene einnahm. Als Verfechterin und Förderin der modernistischen Avantgarde prägte sie einen Kunstbegriff mit, der nach radikal neuen Ausdrucksformen suchte. Ihr Salon an der Rue de Fleurus, den sie mit ihrer Lebensgefährtin Alice B. Toklas führte, wurde ein Treffpunkt für innovative KünstlerInnen der damaligen Zeit wie Pablo Picasso, Henri Matisse, Juan Gris oder Marie Laurencin. Was die Maler, deren Werke sie sammelte, in der Bildenden Kunst verfolgten, strebte sie als Autorin in der Literatur an. Sie lehnte die lineare, zeitgeführte Erzählpraxis des 19. Jahrhunderts ab zugunsten eines Schreibstils, der ein Verweilen in einem physischen Leseerlebnis ermöglichen sollte. In der Folge entwarf sie formelhafte literarische Motive, die sie zu repetitiv angelegten, fast mathematisch anmutenden Texten schichtete. Aus ihrem Werk sickerten eine Vielzahl markanter Ohrwurm-Sätze ins kollektive Bewusstsein wie etwa das berühmte «Rose is a rose is a rose is a rose». The Making of Americans Steins Hauptwerk «The Making of Americans» ist ein rund 1000 Seiten starker Roman, 19021911 geschrieben, veröffentlicht 1925. Zentral steht, wie der Untertitel besagt, der ‚Werdegang einer Familie’. Die Erzählung schliesst alle Personen mit ein, die dieser Familie begegnen, und kündet darüber hinaus immer wieder den Versuch an, alle vergangenen, gegenwärtigen und künftigen Leben der Menschheit zu beschreiben. Exzessiv wiederholende Textflächen werden dabei unterbrochen von anekdotischen Miniaturen, die akribisch genau individuelle Personen und Einzelschicksale porträtieren. Mit ihrer Intuition für gesellschaftliche Realitäten zieht die Autorin weite Kreise durch die Gesellschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts, von prekären bis zu mondänen Existenzen. Trotz seinem Anspruch auf Vollständigkeit vermittelt der Text aber kein Gefühl von allgemeiner Gültigkeit. Vielmehr macht «The Making of Americans» spürbar, wie unbegrenzt und individuell die Empfindungen der Menschheit beschaffen sind. Lautlesen Stein wurde nie müde zu betonen, dass «The Making of Americans» laut und in Gruppen gelesen werden sollte. Als gesprochener Klang eröffnen die Variationen in Steins Wiederholungen subtile Bedeutungsverschiebungen; auf überraschende Weise entfaltet sich etwas Physisches, Dreidimensionales in der performativen Praxis des Lautlesens. Gerade in Künstlerkreisen erlangte der Roman Kultstatus und befeuert seit seinem Erscheinen den Dialog zwischen Literaten, Verlegern und Vertretern der Bildenden Kunst. Als der Roman 1966 auf Initiative von Fluxus Künstlern neu aufgelegt wurde, fand eine neue Generation von Kunstschaffenden Zugang zu Steins Werk. Zwischen 1974 und 2000 veranstaltete die Paula Cooper Gallery in New York jährliche Marathonlesungen von «The Making of Americans», immer rund um Neujahr, initiiert u.a. von John Cage. Heute trägt die transdisziplinäre Publikationsplattform Triple Canopy in New York diese Tradition weiter. Marathonlesung Als durchgehende Lesung dauert «The Making of Americans» geschätzte 70 Stunden. Das Werk wird von rund 120 Leuten am Stück vorgelesen. Dabei wird auch der Reflektion des vorgetragenen Stoffs Rechnung getragen. Der Anlass findet in den Räumlichkeiten der Ateliergemeinschaft VIA im Hinterhaus der Amerbachstrasse 55 statt. Der hintere Raum, das eigentliche Ton- und Videostudio, ist abgeschlossen und installiert eine Leseglocke für die über drei Tage und Nächte dahinfliessende Marathonlesung. Der vordere Empfangsraum bietet mit Küchenzeile und langem Tisch, Möglichkeiten unterschiedlichster Gastgeberschaft. Hier wird angewärmt und Nachklang formuliert. Leseraum Eine ganze Lesegesellschaft wurde eingeladen, in jeweils halbstündigen Vorlese-Einheiten das Geschriebene klingen zu lassen. Die Resonanz war gross: Innerhalb von nur einer Woche waren sämtliche 120 Vorlese-Einheiten vergeben. Das Buch wird wahlweise im englischsprachigen Original oder in der deutschen Übersetzung gelesen. Während an einem Tisch in einer Sprache vorgelesen wird, fährt eine weitere Person mit ihrem Zeigefinger dieselben Zeilen in der anderen Sprache ab. Dieser Zeigevorgang wird mithilfe von Videotechnik vergrössert und an die Wand projiziert. So bildet sich Aufmerksamkeit über das Auge und Ohr und in beiden Sprachen ab. Aufenthaltsraum Im Aufenthaltsraum sorgt ein Team für das leibliche Wohl sich länger aufhaltender Besucher. Unterschiedlichste Anwesenheiten und Beteiligungen werden ermöglicht. An diesem Ort der Besammlung kann das Gehörte geteilt werden und können Eindrücke in Umlauf gebracht werden. Zuhör-Erfahrungen werden ausgetauscht, diskutiert und abgeglichen. Eröffnung des Lesemarathons, Donnerstag 10. Dezember 19.30h Zur Eröffnung der Marathonlesung wird die Autorin und Filmemacherin Eva Meyer aus Berlin mit „Ich als Autobiographie der Anderen“ einen einführenden Vortrag halten. Anschliessend gibt es ein Gespräch zwischen Meyer und Ute Holl, Professorin für Medienkunst an der Universität Basel. Lesefenster, Freitag 11. / Samstag 12. Dezember 20.00h Am zweiten und dritten Abend des Marathons (11./12. Dezember) werden jeweils um 20 Uhr dreistündige Lesefenster eingerichtet, während denen geladene Gäste auf Englisch oder auf Deutsch vorlesen. Freitag, 11. Dezember (Englisch): - Laura Berman (Opernchefin Theater Basel) Simone Aughterlony (Choreographin) Michèle Fuchs (Musikerin, Les Reines Prochaines) Serena Dankwa (Sozialanthropologin, Moderatorin) David Kerman (Musiker) N.N. Samstag, 12. Dezember (deutsch): - Güzin Kar (Drehbuchautorin, Kolumnistin) Black Tiger (Rapper) Jürg Läderach (Schriftsteller) Ariane Andereggen (Künstlerin, Schauspielerin) N.N. N.N. Fakten Daten: 10. – 13.12.2015 Zeiten: 10.12.2015, 19.30h Vortrag, anschl. Gespräch mit Eva Meyer & Ute Holl 10.12.2015, 21.30h Start Marathonlesung 11.12.2015, 20.00h Lesefenster englisch mit Spezialgästen 12.12.2015, 20.00h Lesefenster deutsch mit Spezialgästen Ort: Ateliergemeinschaft VIA, Amerbachstrasse 55A, 4057 Basel Konzeption & Organisation: Andrea Saemann, Marcel Schwald Team Aufenthaltsraum: Chris Regn, Lukas Acton Team Leseraum: Franziska Schmidt, Alan Twitchell, Selina Wälti, Silvia Studerus Projektions- und Aufnahmetechnik: Iris Ganz, Sus Zwick Produktionsleitung: Franziska Schmidt (stranger in company ℗) Koproduktionspartner: Kaserne Basel, VIA Video Audio Basel Medienarbeit: Marcel Schwald, Franziska Schmidt Grafik: HauserSchwarz, Basel Interviewpartner und Gespräch: Eva Meyer, Ute Holl Lesegesellschaft Anna Albisetti, Sam Ammann, Leo Bachmann, Martina Bernasconi, Kathrin Borer, Maya Bösch, Dagmar Brunner, Ruth Buck, Margarit von Büren, Martin Chramosta, Martin Christener, Tumasch Clalüna, Sandro Corbat, Fabian Degen, Saskia Edens, Barbara Ellenberger, Sabine Gebhardt Fink, Axel Gampp, Iris Ganz, Attila Gaspar, Jonas Gillmann, Christin Glauser, Pascale Grau, Ursina Greuel, Katrin Grögel, Andreas Hagenbach, Isabel Halene, Angela Hausheer, Mary Hogan, Eric Honegger, Cécile Hummel, Silvana Iannetta, Monika Kästli, Birgit Kempker, Guy Krneta, Birgit Krueger, Chantal Küng, Lukas Linder, Brigitte Lobsiger, Lesley Loew, Sabina Lutz, Fränzi Madörin, Leila Martin, Sarah Elena Müller, Barbara Naegelin, Boris Nikitin, Patricia Nocon, Lorenz Nufer, Guido Nussbaum, Anna Papst, Grazia Pergoletti, Dominique Plüss, Dagmar Reichert, Marion Ritzmann, Dorothea Rust, Daniel von Rüti, Karin Saemann, Christophe Scheidegger, Sarina Scheidegger, Marianne Schuppe, Anna Schürch, Ute Sengebusch, Verena Stössinger, Peter Suter, Emanuel Tschumi, Jörg Wiesel, Frieder Wilening, Isabel Zürcher, Sus Zwick uvm. Biografien Andrea Saemann (*1962) geboren in Wilmington / USA, lebt in Basel Andrea Saemann ist Künstlerin und Kuratorin. Sie arbeitet gerne in und mit künstlerischen Initiativen und Plattformen. 1994 schloss sie ihr Studium an der Hochschule der Künste in Hamburg im Bereich bildende Kunst bei Marina Abramovic und Bernhard Johannes Blume ab. 1997-2000 koordinierte sie den Kaskadenkondensator in Basel. Seit 2002 arbeitet sie mit «Performance Saga» an einer Aktualisierung und Vermittlung von Performancegeschichte. In diesem Zusammenhang begegnet sie erstmals Alison Knowles und Esther Ferrer. 2003 tritt sie der Ateliergemeinschaft VIA bei. Seit 2011 koordiniert sie den Performancepreis Schweiz und ist 2014 Mitbegründerin von PANCH, dem Performance Art Network CH. Im selben Jahr initiiert sie ApresPerf, die WebPlattform für Texte zur Performancekunst und übernimmt das Kuratorium von International Performance Art Giswil, Obwalden. Andrea Saemanns Auseinandersetzung mit Gertrude Stein steht am Beginn ihrer Arbeit als Performancekünstlerin. Mit ihrem Text «As a Wife has a Cow, a Lovestory.» wagte sie den Sprung in die Live Art. Marcel Schwald (*1976) geboren in Basel, lebt in Basel Marcel Schwald studierte Physical Theatre an der Hogeschool voor de Kunsten Utrecht und Angewandte Theaterwissenschaft in Giessen. Formal wie inhaltlich interessieren ihn Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Kommunikation. Seine Stückentwicklungen und Regiearbeiten werden schweizweit an Freien Häusern und Stadttheatern und manchmal auch im Ausland gezeigt. Er kollaboriert regelmässig mit Künstler_innen und Künstlergruppen anderer Sparten, wie etwa mit dem Choreografen Chris Leuenberger, dem internationalen Tanznetzwerk «Sweet & Tender Collaborations» oder dem «worms artist collective». Er ist Teil des «bblackboxx» Kollektivs und vom «Kaskadenkondensator – Raum für aktuelle Kunst und Performance», beide in Basel. Marcel Schwald fand zu Stein während seiner Zeit in Giessen. Unkommentiert, fast versteckt, lässt er seit 2013 Textmotive aus «The Making of Americans» in seine Theaterarbeiten einfliessen («Enfants Terribles» 2013, «Together» 2015). Für Herbst 2016 plant er eine abendfüllende Bühnenadaption der «Americans». Ateliergemeinschaft VIA (*1988), seit 2012 Amerbachstrasse 55A Die Ateliergemeinschaft VIA vereint seit 1988 autonom agierende KünstlerInnen, GestalterInnen, Künstlergruppen und VermittlerInnen. Ursprünglich als Zweckverbund zur Nutzung von Infrastruktur für audiovisuelle Medien gegründet, ist in der VIA über die Jahre ein Klima des Austauschs, der Gastfreundschaft, der gegenseitigen Unterstützung und gemeinsamen Initiativen gewachsen. Nebst offenen Atelierplätzen beherbergt die VIA ein grosses Video- und Tonstudio, welches auch als Veranstaltungsort VIA STUDIO genutzt wird. In ihrem langjährigen Bestehen wurden in der VIA eine Vielzahl von Videos, Installationen, Musik- und Performanceprojekten, Tonträgern, Fotos und grafischen Erzeugnissen auf Papier und Netz realisiert. Diese Arbeiten werden in Kunsträumen, Museen, Galerien, Konzerthallen, auf verschiedenen Fernsehstationen und an Festivals weltweit gezeigt.
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