14 | MM43, 19.10.2015 | MENSCHEN Porträt Gefangen im eigenen Körper Jahrelang wich Jann Kessler seiner Mutter aus, die an multipler Sklerose leidet. Dann drehte er einen Dokumentarfilm über sie und die heimtückische Krankheit. Der Film ist so gut geworden, dass er diese Woche sogar ins Kino kommt. Text: Ralf Kaminski V Bilder: Daniel Auf der Mauer ersteht sie, was gerade um sie herum passiert, oder nicht? So sicher weiss das niemand, auch ihr Sohn Jann (20) nicht. Aber er glaubt, immer mal wieder Zeichen zu erkennen, dass sie zumindest versteht, was man ihr sagt. Wie so oft sitzt er neben ihr und liest aus einem Buch vor: «Der unsichtbare Apfel» von Robert Gwisdek. Ursula Baumgartner (53) starrt ihren Sohn an, das Gesicht ausdruckslos, der Körper unbeweglich. Ihren Kopf kann sie noch drehen, ihre Arme und Hände noch ein bisschen bewegen, mehr nicht. Sprechen geht schon seit fünf Jahren nicht mehr, damals versiegte auch der letzte Kommunikationskanal zu ihr. Nun liegt sie da, im Alterszentrum Park in Frauenfeld TG, Tag für Tag, Woche um Woche, gefangen in ihrem hilflosen Körper, einge- sperrt von ihrer Krankheit, der multiplen Sklerose (MS). Jann war fünf Jahre alt, als es begann, auf einer Skitour in den Bergen. «Es war ein langer Aufstieg, meine jüngere Schwester sass im Rucksack auf den Rücken der Eltern», erinnert er sich. Endlich angekommen, in einer abgelegenen Hütte ohne Telefonempfang, war seine Mutter sichtlich erschöpft. Am nächsten Tag hatte sie Mühe, ihr Bein zu bewe- gen, Stunden später konnte sie nicht mehr gehen. Draussen tobte ein Schneesturm. «Papa kämpfte sich auf Ski zu einer anderen Hütte mit Telefonverbindung durch. Dort rief er die Rega an, aber auch die musste warten, bis der Sturm vorbei war.» Die MS-Diagnose hat Ursula Baumgartner nie akzeptiert. «Sie hat sich der Krankheit verweigert, wollte nicht darüber sprechen.» Was es ihrer MENSCHEN | MM43, 19.10.2015 | 15 völlig ins Abseits manövriert.» Als Folge davon wich Jann nicht nur seiner Mutter aus, er ver mied die Auseinandersetzung mit der Krankheit viele Jahre lang. Umso bemerkenswerter ist der sensible, berührende Doku mentarfilm «Multiple Schick sale», den er nun über Menschen mit multipler Sklerose und über seine Mutter gedreht hat. Gefilmt hat Jann Kessler 2013 innerhalb eines halben Jahres, und eigentlich war das nur als Maturaarbeit gedacht. «Damals habe ich begonnen, mich mit MS auseinanderzusetzen.» Filmen bei der Sterbehilfe Kommunikation ohne Worte: Jann Kessler und seine Mutter Ursula Baumgartner. Familie umso schwerer gemacht hat, damit umzugehen. Und dann fing die MS an, ihre Per sönlichkeit zu verändern. «Plötzlich wurde Mama extrem schnell wütend, sie tat Dinge, die ich nicht verstehen konnte.» Jann fing an, ihr aus dem Weg zu gehen, viel Zeit mit Freunden oder bei den Grosseltern zu verbringen. «Sie waren extrem wichtig für mich. Mein Gross vater war Arzt und ein Anhänger der Schulmedizin. Mama hin gegen fing an, sich mehr und mehr auf Alternativmedizin zu konzentrieren, und wollte mit ihrem Vater nichts mehr zu tun haben.» Schliesslich weigerte sie sich, bei MSSchüben ins Spital zu gehen. «Auch mit Papa hat sie immer wieder gestritten – eigentlich mit allen, gerade auch den Leu ten, die mir wichtig waren. Aus meiner Sicht hat sie sich damit Mit seiner Mutter jedoch konnte er zu dem Zeitpunkt bereits nicht mehr sprechen. Also such te er mithilfe der Schweizeri schen Multiple Sklerose Gesell schaft den Kontakt zu anderen Erkrankten, um durch sie mehr über die Krankheit zu erfahren und den Umgang damit. Die Resonanz war enorm: 40 Personen waren interessiert, mit 15 führte er Gespräche, sechs wählte er aus für den Film. Drei Monate lang besuchte er sie regelmässig, redete, lernte sie kennen, baute Vertrauen auf, Freundschaften zum Teil. Erst dann nahm er die Kamera mit und fing an zu filmen. Entstanden ist ein sehr intimer Einblick in sechs ganz unterschiedliche Krankheitsgeschichten von Menschen, die alle anders mit ihrem Schicksal umgehen. Als einer der Porträtierten während der Dreharbeiten beschloss, seinem Leiden mit hilfe von Exit ein Ende zu set zen, fragte er Jann, ob er mit der Kamera dabei sein wolle. Der zögerte zunächst, aber nachdem alle Angehörigen ihr Einver ständnis gegeben hatten, ent schied er sich dafür. «Die Kame ra und die Technik halfen dabei, etwas Distanz zu wahren.» Aber beim Schnitt rang er mit seinem Berater, dem erfahrenen Doku mentarfilmer Martin Witz, lange darum, wie viel von der Sterbe szene in den Film sollte und was zu weit ging. Am Ende hatte der Gymna siast über 200 Stunden Material und zwei Wochen Zeit, daraus einen Film zu machen – was einige Nachtschichten erforder te. Das Interesse daran war so gross, das Feedback so positiv, dass er beschloss, noch weitere Szenen aufzunehmen. Diverse Stiftungen ermöglichten mit ihren Beiträgen eine professio nelle Überarbeitung, und nun startet «Multiple Schicksale» diese Woche in den Kinos. Seine Mutter würde sich über den Film freuen und hätte ihn unterstützt, glaubt Jann. Er hat in ihrem Zimmer auch ei nige Szenen gedreht, und es gab Momente, wo sie zu verstehen schien, was passierte. «Der Film ist meine Art, die Krankheit zu verarbeiten, er gab mir die Chance zu verstehen. Heute kann ich akzeptieren, dass Mama, geprägt durch die Krank heit, diesen Weg gehen musste. Meine Wut hat sich in Dank barkeit gewandelt, immerhin existiere ich nur dank ihr.» Er bedauert aber, dass er mit ihr nie über all das sprechen konnte – nicht mal an sein letztes Ge spräch mit ihr kann er sich erin nern. Deshalb ist er nun häufiger bei ihr, meistens abends, erzählt ihr aus seinem Leben und liest ihr aus Büchern vor. Verdrängen ist keine Lösung Was sie denkt, wie sie sich fühlt, ob sie auch gerne sterben würde, weiss niemand. «Sie hat sich nie dazu geäussert, als sie es noch konnte», sagt Jann. Doch selbst passive Sterbehilfe ist in ihrem Zustand keine Option mehr; sie wäre nicht in der Lage, das töd liche Getränk selbst zu sich zu nehmen. «Diese Ohnmacht ist nicht leicht auszuhalten. Das soll auch der Film zeigen: Das Verdrängen von schwierigen Fragen kann eine Strategie sein, die eine Zeit lang funktioniert, aber es ist keine Lösung.» Jann hält es für wichtig, sich in einer solchen Situation zu diesen Fragen zu äussern. «Ich denke, es könnte eine Erlösung für sie sein, wenn sie dann mal sterben kann», sagt er. Aber das kann noch Jahre oder Jahr zehnte dauern. «Und wer bin ich, das einschätzen zu können? Vielleicht ist ihr Leben für sie auch so lebenswert? Nur sie selbst kann das beurteilen.» Trailer zu Jann Kesslers Film «Multiple Schicksale» 16 | MM43, 19.10.2015 | MENSCHEN Migrosmagazin.ch Nach der Matura hat Jann für seinen Film ein Zwischenjahr eingelegt, nun folgt wohl noch ein zweites für die Kinoaus wertung und den Zivildienst. Danach will er studieren, weiss aber noch nicht so recht, was. «Ich könnte mir Elektrotechnik vorstellen, aber auch Germanis tik oder Politologie.» Klar ist nur eines: Er wird weitere Filme dre hen. «Das ist die Sprache, in der ich mich am intensivsten aus drücken kann.» Mit zwei Freun den hat er die Revolta Produc tions gegründet und macht unter diesem Label Kurzfilme und MusikClips. Der Gesprächsstoff an den Abenden mit seiner Mut ter wird Jann bestimmt nicht so schnell ausgehen. MM «Multiple Schicksale» startet am 22. Oktober in den Kinos: ms-film.ch Facebook.com/MultipleSchicksale Zahlen und Fakten Eine mysteriöse und unheilbare Krankheit Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems (Gehirn und Rückenmark), die meist im frühen Erwachsenenalter auftritt. Die Ursache ist trotz intensiver Forschung nicht bekannt. Bei 80 Prozent der Betroffenen zeigen sich die ersten Symptome im Alter von 20 bis 40 Jahren. Die Störungen betreffen verschiedene Körperfunktionen Über 200 Stunden Material hatte Jann am Ende für seinen Film. wie zum Beispiel Seh- und Gleichgewichtsstörungen, Lähmungen an Beinen, Armen und Händen, Schmerzen sowie Blasen- und Darmstörungen. Viele MS-Betroffene leiden zusätzlich Anzeige DIE GRATIS KREDITKARTE. * DIE CUMULUS-MASTERCARD OHNE JAHRESGEBÜHR. * Keine Jahresgebühr, auch in den Folgejahren Kostenlose Partnerkarte Weltweit Cumulus-Punkte sammeln 30 0 0 PUNKTE Bis 31.10.2015 beantragen und 3000 Bonuspunkte sichern! Antrag ausfüllen unter cumulus-mastercard.ch, telefonisch anfordern unter 044 439 40 27 oder in Ihrer Migros abholen. Herausgeberin der Cumulus-MasterCard ist die Cembra Money Bank AG. unter grosser Müdigkeit und Konzentrationsschwäche. Die heutigen Therapieangebote können den Verlauf der Krankheit nur mildern, bei einigen MS-Betroffenen wirken sie gar nicht. Die meisten leben viele Jahrzehnte mit ihrer Krankheit. Etwa 500 000 Europäer sind von MS betroffen, weltweit sind es rund 2,5 Millionen Menschen. Die Häufigkeit ist je nach Region unterschiedlich und tendenziell höher in den wirtschaftlich entwickelten Ländern. In der Schweiz geht man von 10 000 bis 12 000 Betroffenen aus. Multiplesklerose.ch
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