Ins Blaue hinein - VolkswagenStiftung

Impulse
Das Wissenschaftsmagazin der VolkswagenStiftung
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Ins Blaue hinein
Ozeane, Küsten, Inseln: der größte Lebensraum
auf unserer Erde im Fokus der Forschung
Vorwort
Es ist erst wenige Monate her, da ließ ein Urteil
die Weltgemeinschaft aufhorchen: Neuseeland
erkennt als erster Staat den Klimawandel und
die Zerstörung der Umwelt als berechtigten, also
„rechtmäßigen“ Anlass für Migration und damit
als Asylgrund an. Eine Familie von der Pazifikinsel Tuvalu, deren Zuhause, so wertete es das
neuseeländische Gericht, nachweislich Opfer des
allmählich steigenden Meeresspiegels geworden
war, erhielt in letzter Instanz dauerhaftes Bleiberecht zugesprochen. Es dauerte nicht lange,
und die Vereinten Nationen meldeten sich mit
dem Hinweis: Sollte sich an der Situation nichts
ändern, dann erwarte man bis zum Jahr 2050
weltweit bis zu 500 Millionen Menschen, die
allein aufgrund von klimatischen Veränderungen
und Umweltzerstörung ihre Heimat fliehen.
Impressum
Herausgeber
VolkswagenStiftung
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Vertreten durch
Kuratorium VolkswagenStiftung, vertreten durch
den Generalsekretär Dr. Wilhelm Krull
Redaktion (Text- und Schlussredaktion, Heftkonzept)
Dr. Christian Jung (cj)
Bildredaktion
Ina-Jasmin Kossatz
Kommunikation VolkswagenStiftung
Jens Rehländer (Leitung)
Gestaltung
Medienteam-Samieske, Hannover
Korrektorat
Cornelia Groterjahn, Hannover
Druck
gutenberg beuys feindruckerei gmbh
Hans-Böckler-Str. 52
30851 Hannover/Langenhagen
Schon etwas länger beschäftigen sich fünf Forscherteams unterschiedlicher Expertise in einem
von der Stiftung geförderten Projekt gemeinsam
mit der Frage, inwieweit ein Zusammenhang
bestehen könnte zwischen massiven Umweltveränderungen und dem Bedürfnis von Menschen,
ihre Heimat – teils unter großen Gefahren für ihr
Leben und das ihrer Liebsten – für immer zu verlassen. Der spezielle Blick gilt dabei Küstenregionen, schließlich werden dort offenkundig schneller als anderswo global wirkende klimatische
Veränderungen manifest: ob schleichend etwa
durch steigende Wasserspiegel der Meere oder
schlagartig aufgrund extremer Wetterereignisse.
Und damit sind wir, das aktuelle Weltgeschehen
vor Augen, mitten in dieser Ausgabe 1_2016 unseres Magazins „Impulse für die Wissenschaft“ angekommen. Ein Heft zum Schwerpunktthema „Meer“
– kein als solcher explizit formulierter Förderbereich der Stiftung, aber doch einer, der sich in vielen
Projekten abbildet, wie wir festgestellt haben.
Dass „das Meer“ in seinen unzähligen Facetten in
recht unterschiedlicher, überaus vielfältiger Weise
Gegenstand von Forschung ist, überrascht letztlich kaum. Schließlich gibt es nicht umsonst das
geflügelte Wort vom „blauen Planeten“ und seinen
Geheimnissen, die er noch birgt. Und über diesen
möchten wir Ihnen viele Geschichten erzählen –
kleine und große. Die großen führen Sie jeweils
drei Mal zunächst zu verschiedenen Küstenregionen dieser Welt, dann zu Inseln – oder solchen, die
Wissenschaftler dafür halten –, und zuletzt geht‘s
dann drei Mal direkt hinaus auf die Ozeane.
In vielen der Beiträge über die geförderten Projekte, die ja den Kern der Erzählungen bilden,
schwingt immer auch der Gedanke der Nachhaltigkeit mit. Dieser ist zunehmend von Bedeutung
auch bei jenen gemeinsam von Land und Stiftung
vergebenen Fördermitteln, die explizit den niedersächsischen Hochschulen und Wissenschaftseinrichtungen zugute kommen. Gleich drei Mal
blättern sich in diesem Heft Beiträge zu solchen
im „Niedersächsischen Vorab“ geförderten Vorhaben auf: angefangen bei einem Projekt zur Ökosystem- und Biodiversitätsforschung vor der Insel
Spiekeroog über die an der hiesigen Küste teils vor
Anker liegende deutsche Forschungsflotte bis hin
zu neuen Offshoretechnologien – allesamt Wissensfelder, in denen nicht nur deutsche, sondern
oft gerade niedersächsische Forscherinnen und
Forscher weltweit die Nase vorn haben.
Wilhelm Krull,
Generalsekretär der
VolkswagenStiftung
Die Stiftung ist ja bekanntlich ein verlässlicher
Partner von Forschung und Wissenschaft in diesem Bundesland und möchte es auch künftig in
bewährter Stabilität und Standfestigkeit bleiben.
Immerhin hat sie in den ersten beiden Ausschreibungsrunden zur Nachhaltigkeitsforschung 15 Projekte mit insgesamt rund 25 Millionen Euro bewilligt, darunter auch solche zur Meeresforschung.
Wir hoffen, dieses Heft bietet reichlich Anregung,
sich mit den Wundern am, im, auf dem und unter
Wasser zu beschäftigen. Ich wünsche viel Vergnügen und Erkenntnisgewinn bei der Lektüre.
Ihr
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Inhalt
Küsten
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Küsten
Grob geschätzt leben weltweit über
zwei Milliarden Menschen an den
Gestaden der Meere. Für sie verbindet sich vieles mit dem Lebensraum
am Wasser. Die Meere vor ihrer Tür
sichern Überleben und wirtschaftliche Existenz, sind Fluchtpunkt in
ein neues Leben – bedrohen aber
auch durch steigenden Wellenspiegel
in Zeiten des Klimawandels. Und sie
spucken immer mehr Müll aus.
Ein Landgang. ➞ Seiten 32-69
Ein Recht auf Meer
Wer vor Südafrikas
Küste fischt, den reguliert der Staat – gerade
auch die „kleinen
Fischer“. Und hier beginnen die Probleme …
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Ozeane
Das offene Meer ist der größte Lebensraum unserer Erde und einer, der noch
viele Geheimnisse birgt. Die Ozeane beheimaten eine faszinierende Tier- und
Pflanzenwelt und bieten uns Nahrung und Energie. Sie speichern große Mengen Kohlendioxid und regeln das globale Klimasystem. Algenwolken sorgen
als „grün-blaue Lunge“ für Sauerstoff in der Atmosphäre. Jeder fünfte unserer
Atemzüge stammt aus dem Meer. Einmal Durchatmen, bitte. ➞ Seiten 114-151
4
Inselleben im Zeitraffer
Zwölf kleine Inseln
entstehen vor der Insel
Spiekeroog mitten
im Wattenmeer: Wer
besiedelt sie zuerst?
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Treibgut Mensch
Umweltschäden und
Klimawandel als Anlass für Migration? Forscher haben Menschen
an Küsten Ghanas und
Indonesiens befragt.
Eiland der Riesenmäuse
Wie Tierarten auf
Inseln in kurzer Zeit
immer größer werden
oder in wenigen Generationen schrumpfen:
über Riesenwachstum
und Inselverzwergung.
Herrscher der Meere
Angsteinflößend, zerstörerisch, gefürchtet.
Aber auch: gute Konstrukteure und geschickte Händler. Ein Besuch
bei den Wikingern.
Inseln der Evolution
Ein Blick in Kraterseen
und zu Inseln, die
eigentlich Berge sind.
Wie neue Arten entstehen – ohne scheinbar
triftigen Grund.
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Inseln
Reif für die Insel? Dann nichts wie los. Aber nicht auf Urlaubs-, sondern auf
Forschungsreise. Dorthin, wo Tiere übergroß werden, wo neue Arten entstehen und Leben sich vom Wasser zum Land hin entwickelt und umgekehrt. In
ihren Erzählungen bilden viele Inselvölker Eilande als hinter dem Horizont
liegende Gärten Eden ab, als die wahren Paradiese der Erde mit unzähligen
faszinierenden Lebewesen. An künstliche Inseln aus Metall haben sie dabei
vermutlich nicht gedacht. Doch auch die gibt es. Eine Reise ins Unbekannte.
➞ Seiten 78-103
Inseln
78
96
Ozeane
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Ein Schiff muss zur Kur
Ein Tag am Marine Science Center in RostockWarnemünde auf der
Spur von Seehund, Seebär, Seelöwe und Sepia.
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Mit der Sonne unterwegs
Freie Fahrt für die
neue SONNE, der Star
in Deutschlands achtzügiger Forschungsflotte. Das schwimmende Hightechlabor
macht Furore.
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Brise für die Steckdose
Windräder oder deren
Komponenten unter
Offshorebedingungen
prüfen: In Hannover
eröffnete das Testzentrum für Tragstrukturen.
Kooperationsmodul Europaförderung
Die Stiftung hat von
2013 bis Ende 2015 Forscher in den von der
Wucht der Finanzkrise
betroffenen Staaten
Europas mit
einem auf
sie zugeschnittenen.
Angebot
unterstützt. Ziel war
es, Wissenschaftlern
in ihrem Heimatland
auch unter schwierigen
Bedingungen weiterhin
substanziell Forschung
zu ermöglichen. Voraussetzung war die
Anbindung eines
solchen Projekts
an ein von der
Stiftung bewilligtes Vorhaben.
Es wurden 21 dieser
„Kooperationsmodule
Europaförderung“ auf
den Weg gebracht: elf in
Spanien, sieben in Portugal, zwei in Griechenland und eins in Irland –
fünf davon finden Sie in
diesem Heft vorgestellt.
Ein kleiner „Stempel“
macht darauf aufmerksam. Die Stiftung hofft,
so einen bleibenden Beitrag geleistet zu haben
zum Erhalt der Vielfalt
der Wissenschaftskulturen Europas.
Rubriken
26
Kompakt: zum Schwerpunktthema
70
Spektrum: zur Wissenschaftsförderung
104
Forum Förderung: Auszeichnungen / Bewilligungen
152
Publikationen
158
Veranstaltungen
162
Die Stiftung im Netz
163
Die Stiftung in Kürze
166
Vorgestellt!
167
Impressum
Allianz für das Meer
Eine Fotoreportage ➞ S. 6-25
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Allianz für das Meer
Das Deutsche Meeresmuseum in Stralsund. Hier
treffen sich zwei Geschichten, die eigentlich nur
eines verbindet: der Lebensraum Wasser, das Meer.
Die eine Geschichte erzählt davon, wie – oft vom
Menschen verursachte – Belastungen den größten
Meeresbewohnern vor unserer Küste zu schaffen
machen. Die andere beäugt Verwandtschaftsverhältnisse – unter Fischen. Eine Geschichte über die Qual
des Wals und das Silber des Meeres. Willkommen in
Stralsund – und an ein paar anderen Schauplätzen.
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Professorin Ursula Siebert, Leiterin des Instituts für Terrestrische
und Aquatische Wildtierforschung der Tierärztlichen Hochschule
Hannover (TiHo), bei einer Ausfahrt mit der „Seeeule“. Das Schiff
liegt am Standort Büsum des Instituts vor Anker. Die Wissenschaftler suchen mit Klickdetektoren nach Schweinswalen. Das Gerät
nimmt durch hochsensible Unterwassermikrofone die typischen
Laute der Meeressäuger auf, verarbeitet und speichert diese.
Schweinswale nutzen zur Orientierung eine Art Sonar – eben jene
Klicklaute, deren Echo sie wieder auffangen. Dessen Muster zeigt
ihnen Beutefische an oder lässt sie Hindernisse erkennen.
Mitarbeiter des TiHo-Instituts beladen die „Seeeule“ mit dem
Klickdetektor. Am Ende der Fahrt (rechts) warten bereits zwei
neue Totfunde – eine Robbe und ein Schweinswal – im Büsumer
Sektionsraum auf Ursula Siebert und ihr Team. Viele Tiere sterben
als „Beifang“. Sie verheddern sich in den Maschen der in der Ostsee nach wie vor üblichen Stellnetzfischerei oder enden in sogenannten Geisternetzen, die von Fischern aufgegeben wurden
und noch jahrzehntelang im Meer treiben können. Die modernen
Netze sind zudem aus solch feinem Nylongarn geknüpft, dass
die Tiere sie weder sehen noch akustisch mit ihrem wichtigsten
Orientierungssinn, der Echoortung, rechtzeitig wahrzunehmen in
der Lage sind, da der Schall nicht ausreichend reflektiert wird.
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Mitarbeiterinnen des TiHo-Instituts für
Terrestrische und Aquatische Wildtierforschung im Sektionsraum am Standort
Büsum. Die beiden toten Meeressäuger
werden vor der Sektion zunächst gewaschen
(oben). Dann entnehmen die Wissenschaftler verschiedene Gewebeproben (Mitte).
Ganz typisch für die Meeressäuger: das Fettgewebe, hier eines Schweinswals (unten).
Vor allem dort lagern sich viele Schadstoffe
und Umweltgifte ab und reichern sich an.
Auch Parasiten nisten sich ein, nach denen
hier gerade gesucht wird.
Rechte Seite: TiHo-Mitarbeiterin Dr. Kristina
Lehnert koordiniert das Forschungsvorhaben
„Meeressäuger in einer sich verändernden
Umwelt“ mit sieben Projektpartnern an acht
Hochschul- und Museumsstandorten. Hier
sucht sie mit einem Binokular im Büsumer
Sektionsraum nach Parasiten (oben). Im toten
Seehund findet sie unter anderem einen
Herzwurm; hier das „Korkenzieherende“ des
Männchens (unten links). Unterdessen stellt
Institutsdirektorin Ursula Siebert gerade
Gewebeproben für weitergehende Analysen
sicher (unten rechts).
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Schauplatzwechsel: hinüber an die Ostsee ans
Deutsche Meeresmuseum (DMM) in Stralsund.
Drei engagierte Forscher diskutieren in der
Trockensammlung des DMM über frisch identifizierte Spuren an Knochen von Robben und
Zahnwalen: Dr. Michael Dähne, Kurator für
Meeressäugetiere; Anja Gallus, zuständig für
das Schweinswal-Monitoring an der Ostsee –
sowie Dr. Timo Moritz, Leiter Wissenschaft und
Kurator für Fische (auch: mittleres Bild). Mit
den drei Wissenschaftlern treffen hier in Stralsund im Deutschen Meeresmuseum auch die
beiden von der Stiftung geförderten Projekte
zu den Meeressäugern sowie zu möglichen
Verwandtschaftsbeziehungen verschiedener
Fischgruppen aufeinander. Unten: Blick in die
Schausammlung auf Modelle von Delfinen.
Linke Seite: An den toten Meeressäugern
werden standardisierte Messungen vorgenommen bis hin zum Körperumfang und zur
Dicke der Fettschicht. Oben, links: ein Stück
Fettgewebe eines Schweinswals und eine
Schieblehre zur Bestimmung der Dicke des
Gewebes. Unten: der Schädel einer Kegelrobbe. Ob aus Nord- oder Ostsee: Der Vergleichbarkeit halber konzentrieren sich die Forscher
des an Partnern reichen „MeeressäugerVerbundprojekts“ auf Untersuchungen an
ausgewählten Knochen, und zwar vor allem
des Unterkiefers, vereinzelt aber auch auf
Schädel, Brustbein, Becken- und Schulterknochen (siehe auch Text ab Seite 20).
Abbildungen nächste Doppelseite:
Von den Meeressäugern zu den Fischen:
Timo Moritz präsentiert die an Beständen
reiche Sammlung konservierter Fische im
Deutschen Meeresmuseum in Stralsund.
Einen Eishai, der für die Sammlung auf Dauer
haltbar gemacht werden soll, übergießt er
routiniert in einem Glasbehälter mit Alkohol.
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Die Bilder faszinieren: mit der Clearing-and-Double-Staining-Methode angefärbte Fische. Das Tier wird transparent gemacht;
Nächste Doppelseite: Während Timo Moritz sich auf die Morphologie der Fische
Knochen und Knorpel werden mit spezifischen Farbstoffen gefärbt. Dazu benötigt man die beiden Lösungen Alcyanblau und
konzentriert, übernimmt Projektpartner Dr. Nicolas Straube (linke Seite) von der
Alizarinrot (oben). Darunter: Aufgehellte Fische werden dann in Glycerin aufbewahrt. Auch die Fische unten wurden so behandelt (von links nach rechts): Western Galaxia (Galaxias occidentalis); junger Nagelrochen (Raja clavata); Schwarzkopf (Normichthys operosus); Süßwasser-Kugelfisch (Carinatetraodon travaricoricus); Stint (Osmerus eperlanus) mit Beute; junge Forelle
(Salmo trutta). Bild rechts: Timo Moritz füttert mit Tochter Ylva und Doktorand Matthias Mertzen die Fische seiner Zucht.
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Zoologischen Staatssammlung München die molekularbiologischen Analysen
(hier ein Probenglas mit Stinten). Die Münchner Sammlung hält einen Großteil
der benötigten Gewebeproben und viele der die Forscher interessierenden Fische
konserviert vor – unten rechts ein Blick in die Sammlung karpfenartiger Fische.
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Nach der Sektion ist vor der Sektion: Ursula Siebert ist viel gefragt
und viel unterwegs – und das nicht nur, weil das von ihr geleitete
TiHo-Institut für Terrestrische und Aquatische Wildtierforschung
mit Hannover und Büsum an der Nordsee zwei Standorte hat.
Text: Christian Jung // Fotos: Daniel Pilar
Ü
ber tausend tote Schweinswale habe sie
bestimmt schon vor sich auf dem Untersuchungstisch liegen gehabt. „Und dabei vieles gesehen, was
beunruhigt.“ Ursula Siebert blättert im Schnelldurchgang die Ergebnisse jahrelanger Forschung
auf, während sie sich in ihrem Institut in Büsum
auf eine weitere Sektion eines tot angelieferten
Meeressäugers vorbereitet. Die Direktorin des
Instituts für Terrestrische und Aquatische Wildtierforschung der Tierärztlichen Hochschule Hannover (TiHo) schüttelt leicht sorgenvoll den Kopf
bei der Erinnerung daran, wie viele gestrandete
und „beigefangene“, also durch Fischerei getötete
Schweinswale bei ihr und ihrem Team im vergangenen Jahrzehnt auf dem Seziertisch gelandet sind.
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Was dort zu liegen kommt, schauen sich die
Forscher genau an. Sie nutzen inzwischen standardmäßig zum Beispiel computergestützte Röntgenaufnahmen, untersuchen etwa den Gehörbereich von Schweinswalen und dabei explizit die
Ohrknochen. Vor allem interessieren sie sich für
Schäden, die im Verdacht stehen, durch Lärm verursacht worden zu sein. „Im Innenohr werden die
Schwingungen des Schalls auf winzige Haarzellen
übertragen und dann als elektrisches Signal an
das Gehirn weitergeleitet“, erläutert Professorin
Dr. Ursula Siebert und verdeutlicht zugleich, wie
leicht das überlebenswichtige und sensible Organ
verletzt werden kann. Sind die Schwingungen
zu stark, können sie das empfindliche Gewebe
regelrecht zerstören. „Letztlich müssen wir in der
Gesamtschau ganz klar festhalten, dass sich Schäden und Veränderungen am Hörapparat in den
vergangenen Jahren in einem weit höheren Maße
fanden als erwartet“, betont die Biologin.
Insgesamt stellten die TiHo-Forscher fest, dass der
Gesundheitszustand vor allem jener in der Ostsee lebenden Schweinswale deutlich schlechter
ist im Vergleich zu den Artgenossen in anderen
Weltmeeren. Der Schweinswal ist der typische Wal
der deutschen Gewässer und ihrer Anrainer und
die einzige in der Ostsee heimische Walart. „Die
Untersuchungen an rund tausend dieser toten
Meeressäuger belegen, dass die Tiere häufiger an
Lungenentzündung, Störungen des Hormon- und
Immunsystems und Parasitenbefall leiden als
Schweinswale anderswo“, bündelt Siebert zehn
Jahre intensiver Forschung. Sie erklärt dies mit
einer übermäßig starken Belastung und Nutzung
des Meeres. Faktoren wie eine zunehmende Schadstoffanreicherung und Verschmutzung der Meere,
Öl-Havarien und Erdölförderung, die Erwärmung
der Meere, Gefahren durch die Fischereimethoden
ebenso wie der Rückgang der Beutetiere aufgrund
von Überfischung, stetig zunehmender Schiffsverkehr, Lärmverschmutzung, der Bau von Windparks,
seismische und militärische Aktivitäten und in diesem Kontext auch die Anreicherung schwer abbaubarer Schadstoffe aus der Chemie im Meerwasser:
Die akuten Bedrohungen tragen viele Namen.
Ursula Sieberts Fazit aus jahrelanger facettenreicher Forschung zu den Meeres­säugern: „Den
Schweinswalen in den heimischen Gewässern
geht es nicht gut.“ Denn vieles, was für die Ostsee
gilt, treffe – wenngleich abgeschwächt – auf die
Nordsee ebenfalls zu. Und es sind nicht nur die
Schweinswale, die leiden: Auch andere in Nordund Ostsee lebende Meeressäuger sind gefährdet
– Seehunde und Kegelrobben beispielsweise.
Meeressäuger in einer sich über die Jahrzehnte
verändernden Umwelt
Damit ist der Rahmen gesteckt für das umfangreich
angelegte Kooperationsvorhaben „Meeressäuger
in einer sich verändernden Umwelt“, an dem sich
unter Federführung von Ursula Siebert seit Mitte
2015 sieben Projektpartner an acht Hochschul- und
Museumsstandorten beteiligen. Neben dem TiHoInstitut mit seinen beiden Standorten und dem
Deutschen Meeresmuseum sind die Zoologischen
Institute und Museen der Universitäten Hamburg
und Kiel, die Universität Hildesheim sowie die
beiden Naturkundemuseen in Kopenhagen, Dänemark, und Stockholm, Schweden, eingebunden. Die
Stiftung fördert das Vorhaben in der Initiative „Forschung in Museen“ mit 420.000 Euro.
Ist aber die bedrohte Tierwelt überhaupt ein Thema für Museumsforscher? „Sicher“, antwortet
Anja Gallus entschieden. Die Biologin ist seit 2010
für das Schweinswal-Monitoring an der Ostsee
zuständig und koordiniert verschiedene Projekte
zu den Meeressäugern. „Auch und gerade anhand
von Sammlungsbeständen können wir im Blick
über große Zeiträume Entwicklungen aufzeigen.“
Dr. Kristina Lehnert vom TiHo-Institut ergänzt:
„Die Projektpartner verfügen über einzigartige
Sammlungen. Dazu gehören Skelette, gefrorene
und in Formalin archivierte Materialien und Parasitenproben der marinen Säugerspezies aus Nordund Ostsee.“ Das Material wurde jahrzehntelang
bewahrt und ergänzt. Eine einmalige Chance für
die Wissenschaftler, denen diese Sammlungen
unzählige vergleichende Analysen ermöglichen.
„Ziel ist es unter anderem zu erfassen, wie stark
die Belastung der Tierbestände durch die verschiedenen Stressoren ist“, erläutert Dr. Michael Dähne,
seit Herbst 2015 Kurator für Meeressäugetiere
am Deutschen Meeresmuseum Stralsund. „Der
Vergleichbarkeit halber konzentrieren wir uns
mit den anderen Museumspartnern im Verbund
auf Untersuchungen ausgewählter Knochen, und
zwar vor allem auf Unterkieferknochen, vereinzelt
ziehen wir aber wohl auch Schädel, Brustbein,
Becken- und Schulterknochen für Analysen hinzu.“
„Wir versprechen uns dabei viel vom Einsatz neuer
Untersuchungsmethoden“, übernimmt Kristina
Lehnert wieder. Bei der Mitarbeiterin von TiHoInstitutschefin Ursula Siebert laufen die Fäden der
vielgliedrigen Kooperation zusammen.
„In Kombination mit dem sehr facettenreich vorhandenen Fachwissen durch die zahlreichen Partner im Verbund sollte es im Ergebnis möglich sein,
die Belastungen, denen Schweinswale, Seehunde
und Kegelrobben über den betrachteten Zeitraum
ausgesetzt waren und sind, differenziert zu analysieren“, ergänzt Gallus. „Ganz konkret wollen wir
herausarbeiten, wie sich der Gesundheitsstatus,
die Zusammensetzung der Nahrung sowie die
Belastung mit Schadstoffen beziehungsweise mit
Parasiten oder Viren bei den drei Säugetierarten
in Nord- und Ostsee unterscheiden – und zwar
sowohl zwischen den drei Arten als auch bei ein
und derselben Art im Abgleich über die Jahrzehnte“, fasst Dr. Kristina Lehnert zusammen.
In Kerteminde, Dänemark,
beschäftigen sich Wissenschaftler auch mit lebenden Schweinswalen; der
einzige Standort an der
Ostsee, an dem mit den
Meeressäugern gearbeitet
wird. Dr. Jörg Driver sehen
wir hier bei audiometrischen Untersuchungen.
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Auch Wissenschaftler der Universität Hildesheim steuern
beim Meeressäuger-Projekt
ihre Expertise bei: Sie identifizieren kleinste Schäden an
Knochen und Zahnmaterial
bis in den Zahnschmelz
hinein und sind in der Lage,
Rückschlüsse zu ziehen auf
Umwelteinflüsse und Nahrungsangebot. Die Schäden
im Zahnschmelz der Backenzähne eines Hausschweins
(oben) beziehungsweise Wildschweins (unten) sind hier
ausgesprochen markant
und gut zu erkennen.
Im Detail geplanter Untersuchungen sieht das
dann so aus: Die Wissenschaftler werden an
Präparaten aus mehreren Jahrzehnten zunächst
Knochendichte und Knochenstruktur vergleichend
analysieren. Knochen und Fell untersuchen sie auf
Spurenelemente und Schwermetalle; wo es das
Material hergibt aber auch auf Verletzungen, Veränderungen oder sonstige Auffälligkeiten. Standardmäßig testen sie auf Gifte und Umweltschadstoffe wie beispielsweise Quecksilber, Blei und
Selen. Weiter schauen sie nach Veränderungen im
Nahrungsspektrum und suchen nach Anzeichen
dafür, ob und inwieweit sich die Umweltbedingungen im Laufe der Zeit geändert haben. Ferner
gilt das Interesse Krankheitserregern: Gelingt es
womöglich, Viren nachzuweisen? Wie differenziert
lassen sich Parasiten in den Präparaten der drei
Säugetierarten über die Jahrzehnte kategorisieren?
„Jeder trägt sein spezifisches Know-how bei“,
sagt Kristina Lehnert: etwa über neueste molekularbiologische und morphologische Techniken
oder moderne Analytik, mit deren Hilfe sich sogar
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Krankheitserreger detektieren lassen – im Optimalfall auch in der Rückblende. Ebenso lasse sich
aus Ergebnissen modernen Methodeneinsatzes
ableiten, welche Auswirkungen bestimmte chemische Schadstoffe auf den Gesundheitszustand
mariner Säuger gehabt hätten. „Hinzu kommen
Experten wie die Kollegen von der Universität Hildesheim, die in der Lage sind, anhand von Knochen
und Zahnmaterial Rückschlüsse auf die Umwelteinflüsse und das Nahrungsangebot zu ziehen und
die morphologische Stressmarker im Zahnschmelz
zu analysieren vermögen“, sagt Siebert.
Ursula Siebert fasst zusammen: „Am Ende des Projekts werden wir hoffentlich aus den Ergebnissen
so viele Erkenntnisse destillieren, dass wir klare
Aussagen machen können über den Gesundheitszustand unserer marinen Säugetiere, wie er sich
über eine längere Zeitspanne darstellt. Und vielleicht gelingt es sogar, Entwicklungsszenarien aufzuzeigen.“ Die Ergebnisse und Interessantes mehr
sollen am Ende als Wanderausstellung aufbereitet
in den beteiligten Museen gezeigt werden. Insgeheim hofft man, dass solch eine Schau nicht nur
angedacht verharrt, sondern denkwürdig wird und
so viel Aufmerksamkeit erfährt, dass andere Anrainer von Nord- und Ostsee ihr Interesse bekunden.
Hering, Lachs und Karpfen – alte Bekannte mit
unbekannter Verwandtschaft
Eine Ausstellung am Ende des Projekts: Da bekommt auch Dr. Timo Moritz leuchtende Augen.
Und das versteht man sofort, sieht man all die
Bilder von transparent gemachten und angefärbten Fischen. Der Biologe ist der Kopf des zweiten
Projekts, dessen Herz nun unzweifelhaft im Deutschen Meeresmuseum in Stralsund schlägt. Dort
beschäftigt sich der Leiter Wissenschaft und Kurator für Fische am DMM mit drei alten Bekannten,
denen er eine mögliche, bislang jedenfalls ungeklärte Verwandtschaft nachsagt: Hering, Lachs
und Karpfen. Auf den ersten Blick scheint es dem
flüchtigen Betrachter so, als hätten diese Fische –
zumal teils in Salz-, teils in Süßwasser beheimatet
– so gar nichts miteinander zu tun. Außer, nun ja,
dass man als Fischesser sie wohl alle drei schon
mal auf dem Teller hatte. Und dass sich mit jedem
von ihnen auch jenseits der Wissenschaft für viele
etwas Besonderes verbindet: mit dem Karpfen
der Jahreswechsel, mit dem Lachs der mühsam
erscheinende Fortpflanzungsreigen – und der
Hering, der galt eh gemeinhin lange Zeit als König
der Fische; wurde jahrhundertelang mit Gold aufgewogen, nährte als Silber des Meeres die Massen,
begründete Handelsimperien, löste Kriege aus
und inspirierte Künstler und eben Köche.
Greifen wir kurz den Hering heraus, über den Timo
Moritz auch am meisten erzählt: „Der Hering an
sich, oder vor allem auch die ganzen Heringsverwandten wie Sardellen, Sprotten und andere mehr,
sind extrem wichtig für die Nahrungskette im
Meer, nicht zuletzt, weil sie in großen Mengen vorkommen. Sie sind wichtige Nahrungsfische nicht
nur für uns, sondern auch für Seevögel und Meeressäuger.“ Je mehr man also über den Hering und seine – möglichen – Verwandten wisse, umso besser.
Neben Sprotte und Sardelle zählen außerdem die
mittelmeertypische Sardine, die Finte oder der
Maifisch, der Wolfshering und weitere Arten zur
Familie der Heringe. Der Hering selbst ernährt
sich überwiegend von Plankton, kleinen Krebstie-
ren und Fischlarven. Typisch für den 30 bis 40 cm
langen Fisch ist sein eher schlichtes Erscheinungsbild in schillerndem Schuppenkleid. Einmal pro
Jahr laicht er: Je nach Art im Frühjahr, im Sommer
oder im Herbst. Die Eier, 20.000 bis 50.000 an der
Zahl, legt das Heringsweibchen in küstennahen,
wärmeren Gewässern ab. Die zu erreichen, überwindet der Hering in riesigen Schwärmen – und
das erinnert an den Lachs – unglaubliche Distanzen: bis zu 4.000 Seemeilen liegen zwischen den
Fressplätzen im Nordatlantik und den Laich- und
Überwinterungsplätzen in der Nordsee.
„Im Schwarm ist er durch seinen besonders gut
ausgeprägten Hör- und Sehsinn in Gefahrensituationen in der Lage, Fressfeinde rechtzeitig
zu erkennen, und durch eine besondere Art der
akustischen Kommunikation hat er eine Chance,
der Bedrohung auszuweichen“, erläutert Moritz
und macht auf eine Besonderheit aufmerksam:
„Ganz typisch für die ganzen Heringsverwandten ist, dass sie eine Verbindung zwischen ihrer
Schwimmblase und dem Innenohr haben – und
darüber kann der Hering sehr gut hören.“ Die
Fische kommunizieren auch untereinander,
machen Geräusche. Man nimmt an, dass das vor
allem in der Nacht wichtig ist, um den Schwarm
zusammenzuhalten, oder generell, um sich gegenseitig etwa vor Räubern zu warnen.
Vier für die Meere: Michael Dähne,
Anja Gallus und Timo Moritz
vom Deutschen Meeresmuseum
Stralsund – und Ursula Siebert
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Solch ein Heringsgeräusch kann ohne Unterbrechung bis zu zehn Sekunden andauern und
ist immerhin noch in zehn Metern Entfernung
wahrnehmbar, auch vom menschlichen Ohr. Allerdings gelang es lange Zeit nicht, diese Laute zu
erkennen und zuzuordnen. Statt­dessen hielt man
sie in Schweden sogar für Geräusche sowjetischer
Atom-U-Boote. Erst in den 1960er Jahren gelangen
Forschern in unmittelbarer Nähe großer Heringsschwärme Unterwassertonaufnahmen des von
Seeleuten so bezeichneten Heringsfurzens.
Heringslaute, Verbindung zwischen der Schwimmblase und dem Innenohr: Sind hier Spezifika
erkennbar, die helfen könnten, die nächsten Verwandten des Herings auszumachen und unter
Umständen auch den Bogen Richtung Lachs und
Karpfen zu schlagen? Den generellen gedanklichen Ansatz kann Timo Moritz verstehen, sein
Projekt ist aber doch etwas anders angelegt.
Die Kombination von Morphologie und Molekularbiologie: Viele Methoden wirken zusammen
„Das Problem bei der Aufklärung von Verwandtschaftsbeziehungen ist, dass man sich leicht täuschen kann“, sagt Moritz. „Zum einen sagt die bloße Sequenzanalyse von Abschnitten des Genoms
mehrerer betrachteter Spezies im Vergleich allein
zu wenig aus. Zum anderen können sich bei ähnlicher Lebensweise ähnliche Merkmale ausprägen,
die zwei Tierarten fälschlicherweise als näher
miteinander verwandt erscheinen lassen.“ Moritz
umschifft diese Untiefen, indem er zwei Ansätze
kombiniert: Er bringt morphologische und molekularbiologische Methoden zusammen. Das überzeugende Potpourri an Verfahren und Analysen und
die valide Wissenschaft dahinter mündeten unmittelbar in eine Förderung der Stiftung über 550.000
Euro in der Initiative „Forschung in Museen“.
Weg Nummer eins der Annäherung erfolgt über
die Morphologie mittels vergleichender Ontogenese. Moritz betrachtet also, wie sich der einzelne
Organismus quasi vom Stadium weniger Zellen
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an entwickelt. „Oft ist die Organisation des Skelettapparates und von Muskulatur und Nervensystem
gerade in den frühen Entwicklungsstadien besser
vergleichbar als im Laufe der allmählich fortschreitenden Differenzierung“, sagt Moritz. „Damit liefert
die Ontogenese häufig erste gute Hinweise über
echte oder aber auch bis dato gegebenenfalls falsch
angenommene Verwandtschaftsverhältnisse.“
Für den Vergleich über die Entwicklungsstadien
hinweg kommt Moritz dabei die umfangreiche
Fischsammlung des Deutschen Meeresmuseums
in Stralsund zugute sowie zur selektiven Fischzucht
sein eigener „Forschungsaquarienraum“.
Interessant ist die Kombination des Methodenarsenals, das den morphologischen Ansatz grundiert: Moritz arbeitet mit Aufhellpräparaten, Antikörperfärbungen und CT-Scans. Das Spannendste
vorweg: die Clearing-and-Double-Staining-Methode
zur Untersuchung von Skelett, also Knochen- und
Knorpelelementen bei Wirbeltieren (siehe Fotos auf
den Seiten 16/17). Dabei wird das Tier transparent
gemacht, Knochen und Knorpel werden jedoch mit
spezifischen Farbstoffen gefärbt. „So lassen sich
selbst kleinste Skelettelemente von Fischlarven
untersuchen und somit Strukturen in ihrer Entwicklung“, bringt es Moritz auf den Punkt.
Weitere Erkenntnisse liefert die Antikörperfärbung. „Inzwischen können wir in kleinsten Fischen
und Fischlarven Muskel-, Knorpel- oder Nervengewebe mithilfe von Antikörpern untersuchen“,
erläutert der Biologe. „Ohne dass wir zeitaufwändig Schnittserien anfertigen.“ Über das Verfahren
lassen sich spezifisch bestimmte Merkmalskomplexe betrachten. Hier profitiert das Projekt von
der Erfahrung der Arbeitsgruppe um Dr. Lennart
Olsson vom Phyletischen Museum der Universität
Jena. Ebenso ist man dort versiert in computertomografischen Scans und 3-D-Rekonstruktionen.
Diese Techniken kommen zum Einsatz, um
gleichermaßen Hartsubstanzen wie Knochen
darzustellen oder auch Muskelstränge, also Weichgewebe. „Diese Methode, bei der ja kein Material
beschädigt wird, nutzen wir vor allem, um seltene
Exemplare zu untersuchen“, betont Moritz.
Der zweite Weg führt über molekularbiologische Methoden Richtung Ziel. Durch eine neue
Next Generation Sequencing-Technik lassen sich
geeignete Gene des Zellkerns in großem Umfang
auf gewünschte, passgenaue Weise analysieren.
Voraussetzung für den Einsatz dieser Technik ist
es, hochqualitative DNA der zu untersuchenden
Arten in Händen zu halten. Hier kommt die Expertise von Moritz’ Hauptprojektpartner Dr. Nicolas
Straube von der Zoologischen Staatssammlung
München zum Tragen. Der Biologe, der gerade erst
von einem längeren wissenschaftlichen USA-Aufenthalt am College of Charleston nach Deutschland zurückgekehrt ist, beherrscht zum einen die
Technik, zum anderen steht an seiner Wirkstätte
ein Großteil der benötigten Gewebeproben bereit.
Ursprünglich umfasste das Set der für die molekulargenetische Fragestellung zu sequenzierenden
und analysierenden Gene etwa 1200 Kandidaten.
Das Know-how und die technischen Möglichkeiten von Kooperationspartner Professor Dr.
Chenhong Li von der Shanghai Ocean University
führten jedoch dazu, dass inzwischen über 14.000
Kandidatengene im Kontext der Verwandtschaftsanalysen für weitergehende Betrachtungen interessant erschienen. Die Analysen laufen.
Schauen wir abschließend aber noch einmal auf
den Hering. Faszinierend an ihm ist nicht nur die
besondere Art und Weise sich zu verständigen –
Vergleichbares kennt man bei Meeresbewohnern
bislang nur von hoch spezialisierten Arten wie
Walen und Delfinen. Auch die Erscheinung der
riesigen Heringsschwärme ist ein einzigartiges
Naturschauspiel. Denn obwohl der einzelne Fisch
eher unscheinbar aussieht: In der Masse ist die
Wirkung der unzähligen glänzenden Schuppen, die
je nach Einfall des Sonnenlichtes in einem Spektrum von stahlblau bis violett schimmern, äußerst
beeindruckend. Die riesigen, das Mondlicht reflektierenden Schwärme vor den Küsten kündigten
den Fischern von jeher den Beginn der Fangsaison
an. Doch der schillernde Glanz des Herings ist nicht
für den Menschen gemacht, sondern einzig Zauber
des Fisches und allein ihm zu eigen.

Blick auf das Ozeaneum,
den neuesten Standort
des Deutschen Meeresmuseums in Stralsund,
im Oktober 2010
Impulse 01_2016 25
Kompakt
Nachrichten
zum Schwerpunktthema
„Ins Blaue hinein“
Lichtenberg-Professor Georg Pohnert
von der Universität Jena neuer Max Planck Fellow
Wie organisieren sich Einzeller im Meer, und wie beeinflussen sie sich gegenseitig?
Zur chemischen Ökologie von Planktongemeinschaften und Algenpopulationen forscht
Georg Pohnert – künftig auch am Max-Planck-Institut für chemische Ökologie in Jena.
Der Chemiker Georg
Pohnert (oben) vom
Institut für Anorganische und Analytische
Chemie der Universität Jena überprüft
Algenkulturen, die in
einem speziellen Container der Einrichtung
gehalten werden. Der
Lichtenberg-Professor
hat gemeinsam mit
seinem Team und
Kollegen der Universität Gent in Belgien
aufgeklärt, wie bei Kieselalgen die Einzeller
miteinander wechselwirken und welche
chemischen Prozesse
dabei eine Rolle spielen. Algen sind Teil der
Planktongemeinschaften unserer Meere
(mittlere Bildleiste:
zwei Planktonproben);
unten: Mitarbeiter
Dr. Thomas Wichard
forscht am „Meersalat“
(Ulva lactuca), einer
mehrzelligen Grünalge,
die besonders viele
Spurenelemente und
Vitamine enthält.
26
Professor Dr. Georg Pohnert, Inhaber des Lehrstuhls für Instrumentelle Analytik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, wurde zum Max
Planck Fellow ernannt. Mit dem 2005 ins Leben
gerufenen Fellow-Programm soll die Zusammenarbeit zwischen exzellenten Wissenschaftlern
der Max-Planck-Gesellschaft und an Hochschulen
gefördert werden. Der mit einer LichtenbergProfessur der VolkswagenStiftung ausgestattete
Forscher erhält damit für zunächst fünf Jahre die
Möglichkeit, als Leiter einer Arbeitsgruppe am
Jenaer Max-Planck-Institut für chemische Ökologie (MPI-CE) mit dem Status eines Gastwissenschaftlers eigenständig zu forschen.
Pohnerts Interesse gilt der chemischen Ökologie
von Planktongemeinschaften. Mit diesem Begriff
fasst man die zahlreichen, in Ozeanen und Seen
frei schwebenden, oft mikroskopisch kleinen
Organismen zusammen. Wenn Algenpopulationen „blühen“, können sie riesige Teppiche im
Meer ausbilden. Das komplexe Gebilde vieler miteinander in Wechselwirkung stehender winziger
Lebewesen ist dabei hochdynamisch und ändert
sich permanent. Man könnte diese Gemeinschaft
als eine Art „Superorganismus“ verstehen. Bereits
die einzelnen Zellen scheinen sich individuell von
den anderen zu unterscheiden. Sicher ist, dass sie
mithilfe chemischer Verbindungen miteinander
kommunizieren und interagieren können. Das gilt
unter anderem für durch Pheromone ausgelöste
sexuelle Fortpflanzung, Räuber-Beute-Beziehungen
oder die natürliche Regulierung bei mikrobiellen
Infektionen.
Die Arbeitsgruppe um Georg Pohnert untersucht
nun, wie heterogen Algenpopulationen sind und
wie sich die chemischen Eigenschaften einzelner
Zellen auf die Wechselwirkungen innerhalb von
ganzen Populationen auswirken. Dazu nutzt sie
unter anderem neueste bildgebende Verfahren
der Massenspektrometrie, um chemische Profile
für einzelne Zellen zu erstellen. Pohnert greift
dabei auf seine Erfahrungen bei der Gewinnung
und Manipulation solcher Zellkulturen zurück
und verbindet dieses Know-how mit den Möglichkeiten, die das Max-Planck-Institut bietet. Die
chemische Charakterisierung einzelner Zellen bildet die Grundlage für weitergehende ökologische
Untersuchungen wie beispielsweise Experimente
mit markierten Zellen im Mesokosmos – einer Art
künstlicher und vereinfachter Umwelt, in der sich
das Schicksal dieser Zellen innerhalb einer Planktongemeinschaft genau verfolgen lässt.
Der Chemiker Georg Pohnert befasste sich bereits
in seiner Doktorarbeit mit der Pheromonchemie
von Braunalgen. Nach einer Postdoc-Zeit in den
USA untersuchte er von 1999 bis 2005 als Leiter
einer Max-Planck-Nachwuchsgruppe die dynamischen Verteidigungsprozesse von Algen, folgte
dann einem Ruf an die ETH in Lausanne, bevor er
als Lichtenberg-Professor nach Jena wechselte. Er
erhielt zahlreiche renommierte Auszeichnungen.
➞ Zur Forschung von Georg Pohnert siehe auch das daran angebundene „Europa-Modulprojekt“ auf der nächsten Seite.
Christian Jung
Kompakt
Schwerpunktthema
„Ins Blaue hinein“
Schwamm drüber – oder: Wie „kommunizieren“
diese Tiere mit ihren einzelligen „Mitbewohnern“?
Plastikkonglomerate: eine neue Lebensform?
Ein junger Forscher begibt sich auf die Suche
Auf der Suche nach Naturstoffen als Grundlage möglicher Therapeutika:
Rodrigo da Silva Costa vom Zentrum für Meereswissenschaften der Algarve-Universität
in Portugal forscht mit einem „Kooperationsmodul Europaförderung“ der Stiftung.
Was geschieht, wenn der Mensch durch seine Hinterlassenschaften zum größten Verursacher atmosphärischer, geologischer und biologischer Veränderungen auf der Erde
wird … ? – Die Stiftung bewilligt erste Projekte in der Initiative „Originalitätsverdacht?“.
Die Plastikpest: ein Problem
Im Kampf ums Überleben
globalen Ausmaßes. Forscher
haben Schwämme (hier:
suchen nach Wegen, den in den
Spongia Azores) verschiedene
Weltmeeren flottierenden Müll
Verteidigungsstrategien aus-
in den Griff zu bekommen.
gebildet; etwa das Ausscheiden wachstumshemmender
oder toxischer Substanzen.
Die Naturstoffe dieser „chemischen Kriegsführung“ haben
sich für pharmakologische,
medizinische und (bio)technologische Anwendungen als
wertvoll herausgestellt.
Zahlreiche Tiere im Meer leben vergesellschaftet
mit Mikroorganismen – in sogenannter Symbiose. Korallen etwa beherbergen Algen, die ihren
Wirt mit wichtigen Nährstoffen versorgen. Auch
Schwämme – sie gelten als frühe Entwicklungsform der Vielzeller – enthalten große Mengen
an Mikroorganismen in ihrem Gewebe, die bis
zu 40 Prozent der Biomasse ausmachen können.
Schwämme kommen in allen Meeresgewässern
der Erde vor, nur wenige Arten allerdings im
Süßwasser. Über das Zusammenleben mit ihren
Untermietern sowie beider Abhängigkeiten voneinander ist kaum etwas bekannt.
Das will Rodrigo da Silva Costa vom Zentrum
für Meereswissenschaften der Universidade do
Algarve in Portugal ändern. Sein „Europa-Modulprojekt“ adressiert die chemische Kommunikation zwischen marinen Schwämmen und ihren
Symbionten. Vor allem die sogenannte Chemotaxis, inwieweit also die Fortbewegung von
Lebewesen oder Zellen in Richtung auf höhere
oder niedrigere Konzentrationen eines Stoffes
beeinflusst wird, sowie das Quorum Sensing will
der junge Forscher untersuchen.
28
Als Quorum Sensing wird die Fähigkeit von Einzellern bezeichnet, über chemische Kommunikation
die Zelldichte der Population messen zu können.
Sie erlaubt es den Zellen einer Lösung, spezifische
Gene nur dann zu aktivieren, wenn eine bestimmte Zelldichte über- oder unterschritten wird – ein
junges, ausgesprochen spannendes Forschungsfeld, auf dem sich der portugiesische Wissenschaftler bereits anerkannt bewegt. Sein Vorhaben ist damit gut in das übergreifende Thema der
Lichtenberg-Professur von Georg Pohnert eingebettet, greift aber ein neues Modellsystem auf.
Mit der Fülle ihrer Naturstoffe stellen Meeresmakroorganismen wie Schwämme ebenso wie
Mikroorganismen ein gewaltiges Reservoir für
technologische und medizinische Anwendungen
dar. Die große Vielfalt an biologischen Aktivitäten
jedenfalls und das Wissen darüber, dass in marinen Entwicklungsprozessen Jahrmillionen an evolutiven Prozessen zur Entstehung hochwirksamer
Substanzen geführt haben, machen für Pohnert
wie da Silva Costa die Faszination der interdisziplinären Forschungsgebiete Marine Chemie, Mikrobiologie und Chemische Ökologie aus.
Die zunehmende Ansammlung von Plastik in den
Weltmeeren ist eines der größten ökologischen
Probleme unserer Zeit. Zuletzt landeten jährlich
nach Schätzungen über 30 Millionen Tonnen
davon im Meer – Tendenz weiter steigend. Viele
Kunststoffe sind erst nach mehr als hundert Jahren zersetzt, und die dann verbleibenden feinsten
Nanopartikel treiben umher und sammeln sich
in bestimmten Zonen der Ozeane an. Lässt sich
gerade ein neues Phänomen beobachten – die Entstehung von Plastik-Naturen-Kulturen?
Diese Frage stellt Dr. Sven Bergmann, der Ende
2015 mit einer darauf aufsetzenden Projektidee
einer jener war, die erfolgreich aus der ersten
Wettbewerbsrunde der neuen Förderinitiative
„Originalitätsverdacht?“ der Stiftung hervorgingen. Er unterfüttert die Frage mit einem interessanten Ansatz: „Wenn Hinterlassenschaften
des Menschen wie etwa der Kunststoffmüll dazu
führen, dass – wie neuere Forschung zeigt – in den
Ozeanen durch und mit Plastik neue Ökosysteme
und Lebensformen entstehen, dann stellt dies die
Kategorien und die Unterscheidung von Natur
und Kultur infrage“, sagt er. Und eben das fordere
einen Sozial- und Kulturwissenschaftler wie ihn
dazu heraus, einen neuen analytischen Umgang
mit diesen hybriden Gegenständen zu finden.
Was also steht auf dem Spiel, wenn die Konzentration von Plastik im Salz- wie im Süßwasser immer
mehr steigt? Das ist es im Detail, was ihn bewegt
und interessiert. Zur Beantwortung dieser Fragen
bedient er sich aus der Werkzeugkiste sozialanthropologischer und ethnografischer Methoden.
Zudem biete der „Forschungsgegenstand Plastik“
die Möglichkeit, auch unerwartete Akteurskonstellationen, Bezüge und Beziehungen sowie
Abzweigungen in den Blick zu nehmen.
i
Im Jahr 2014 hat die Stiftung mit „Originalitätsverdacht?“
eine weitere themenoffene Small Grants-Förderinitiative auf
den Weg gebracht mit Fokus auf den Geistes- und Kulturwissenschaften. Die Initiative hält zwei Förderlinien bereit: „Komm! ins
Offene …“ bietet dem einzelnen Forscher die Gelegenheit, ein Thema explorierend zu bearbeiten und in einem Essay oder Traktat
darzulegen. Förderlinie 2 „Konstellationen“ soll es kleinen Projektteams ermöglichen, die Tragfähigkeit einer neuen Forschungsidee
in einer Explorationsphase zu erkunden und gemeinsam auszuloten. Zum ersten Stichtag im Mai 2015 lagen insgesamt 388 Anträge
vor, von denen jetzt 13 bewilligt wurden.
Kompakt
Schwerpunktthema
„Ins Blaue hinein“
Inselleben – oder: Wie beeinflusst das soziale
Miteinander die Übertragung von Krankheiten?
Auch sie finden den Weg über das Meer: Zugvögel
können das Navigieren noch nachträglich lernen
Dr. Julia Schroeder vom Max-Planck-Institut für Ornithologie in Seewiesen und der
­spanische Forscher Dr. Jordi Figuerola liefern wichtige Erkenntnisse zum Verständnis der
Übertragung von Infektionskrankheiten bei Vögeln – weiteres „Europa-Kooperationsmodul“.
Zweite Chance im Leben – oder: Ich bin dann jetzt doch mal weg! Forscherinnen und
Forscher der Universität Oldenburg um Lichtenberg-Professor Dr. Henrik Mouritsen
verblüffen mit weiteren Erkenntnissen über den Orientierungssinn von Rotkehlchen.
Er löst mit seinem Team ein
Geheimnis nach dem nächsten
zum Navigationsvermögen von
Zugvögeln: Lichtenberg-Professor
Julia Schroeder wies unlängst
an Spatzen-Nachkommen
Dr. Henrik Mouritsen. Am Beispiel
von Rotkehlchen zeigte er jetzt,
auf einer kleinen Insel vor
dass sie auch später im Leben
der Südwestküste Englands
noch lernen können, den Weg
den Lansing-Effekt nach
über das Meer zu finden.
(s. Impulse, 2015_2; Seite 46).
Zehn Jahre lang beobachtete
sie die Vögel auf dem 19
Kilometer entfernt vom
Festland gelegenen Eiland.
Manche Tierarten besiedeln als Einzelgänger
Territorien enormen Ausmaßes und treffen
Artgenossen sehr selten. Wieder andere leben
in großen Herden oder Schwärmen auf engem
Raum. Manche brüten in Kolonien dicht an dicht;
insbesondere auf Inseln oder an felsigen Küsten.
Einige Arten wiederum sind sozial monogam und
wechseln selten den Partner, während andere sich
mit vielen verschiedenen Partnern fortpflanzen.
Dr. Julia Schroeder vom Max-Planck-Institut für
Ornithologie in See­wiesen und Dr. Jordi Figuerola
vom Department of Wetland Ecology des spanischen Nationalparks Donana interessierte nun, ob
ein Zusammenhang besteht zwischen der Sozialstruktur und der Häufigkeit, mit der Krankheitserreger von einem Tier auf ein anderes übertragen
werden. Ihre Untersuchungsobjekte: vier Arten
von Regenpfeiffern, die in unterschiedlich organisierten Sozialverbänden leben – in zwei Regionen
Südspaniens, auf den Kapverdischen Inseln und
an der Küste Mexikos. Aktuell integrieren sie in
das Untersuchungssample des deutsch-spanischen „Europamodul-Kooperationsvorhabens“
noch eine Population der Kanarischen Inseln.
30
Vor Ort sammelten die Forscher Vogelkot und
nahmen Blutproben, die sie dann auf fünf verschiedene Erreger testeten: Salmonellen und Plasmodien ebenso wie Campylobacter, Chlamydia,
Haemoproteus. Die Werte von vielen Hundert
Vögeln haben sie bereits erfasst, und es zeigte sich
zunächst grundlegend, dass Salmonellen, Chlamydien und Campylobacter unerwartet häufig
vorkommen. Zurzeit laufen detaillierte molekularbiologische Tests. Parallel holte Julia Schroeder
Kollegen der Universität in Sheffield, Großbritannien, mit ins Boot. Jene übernehmen die Genotypisierungen und genetisch fundierten Analysen
des Materials Tausender Vögel. Aus den so ermittelten Verwandtschaftsgraden der Tiere lässt sich
auf die Sozialstruktur rückschließen.
Die Evolutionsbiologin hat reichlich Erfahrung mit
solchen Forschungsansätzen und -kontexten. Im
Frühjahr 2015 (s. Impulse, 2015_2; Seite 46) machte
Julia Schroeder mit einer Veröffentlichung auf
sich aufmerksam, als sie erstmals bei wildlebenden Wirbeltieren den „Lansing-Effekt“ nachwies,
demzufolge Kinder älterer Eltern vergleichsweise
weniger Nachkommen haben und oft kürzer leben.
Wie schaffen es Zugvögel, ihren Weg zu finden?
Damit befasst sich schon seit mehr als einem
Jahrzehnt der von der VolkswagenStiftung im
Rahmen einer Lichtenberg-Professur geförderte
Biologe Dr. Henrik Mouritsen, Direktor des Instituts für Biologie und Umweltwissenschaften der
Universität Oldenburg. Nach und nach kommt
seine Arbeitsgruppe den vielen Geheimnissen
hinter dem perfekten Navigationsvermögen der
Vögel auf die Spur.
So fanden sie bisher bereits heraus: Zugvögel orientieren sich unter anderem an den Feldlinien des
Erdmagnetfelds, die an den Polen senkrecht zur
Erdoberfläche stehen und am Äquator fast parallel sind. Diese können sie wahrnehmen und wissen so ziemlich genau, auf welchem Breitengrad
sie sich gerade befinden und wohin sie fliegen.
Außerdem nutzen sie den Stand der Sonne, um
sich zu orientieren. Und bei Nachtflügen ist das
Sternenbild eine wichtige Navigationshilfe. All
diese Fähigkeiten entwickeln Rotkehlchen bereits
in ihren ersten Lebensmonaten und bauen sich
daraus ihren nahezu perfekten Orientierungssinn
für ihren Flug im Herbst zusammen.
Doch was ist mit Jungvögeln, die den Himmel gar
nicht sehen können, weil sie beispielsweise wegen
einer Verletzung in einem geschlossenen Raum
gepflegt werden? Haben Sie die Chance verpasst?
Davon ist die Wissenschaft bisher ausgegangen. In
mehreren Experimenten mit Rotkehlchen haben
Mouritsens Doktoranden Bianca Alert und Andreas
Michalik herausgefunden, dass dies nicht immer
der Fall ist. Zugvögel können das Navigieren auch
später noch lernen – selbst dann, wenn sie im
ersten Lebensjahr keine Sterne gesehen haben.
Ihren Studien zufolge ist die Fähigkeit von Zugvögeln, ein Navigationsvermögen aufzubauen,
zeitlich weitaus flexibler angelegt als bisher
gedacht. Wie lange nachträglich, wie groß also das
Zeitfenster dafür ist: Das ist noch unklar. Damit
haben ausgewilderte Vögel eine bessere Chance
zu überleben. Die Ergebnisse wurden online in
den Scientific Reports der „Nature“-Verlagsgruppe
veröffentlicht (Scientific Reports 5, Article number:
14323 (2015)).
Link zur Publikation:
 www.nature.com/articles/srep14323.
Impulse 01_2016 31
Schwerpunktthema
Ins Blaue hinein | KÜSTEN
Ein Recht
auf Meer
Wo das Meer den Tisch seiner
Anrainer reich zu decken vermag,
gibt es traditionell eine Fischerei­
wirtschaft. Diese bedarf häufig
Regulierungen von staatlicher Seite,
wie die Überfischungen der Welt­­meere zeigen. Doch wie steht
es um Vorgaben für gewachsene
nachhaltige, kleine, nur lokal verortete
Fischereien? Und: Werden die Fischer
dort in politische Ent­scheidungs­
prozesse eingebunden? Die ­
süd­afrikanische Nachwuchs­
wissenschaftlerin Dr. Samantha
Williams sucht nach Antworten.
Südafrika, Western Cape, Lamberts Bay: Dr. Samantha Williams von der Universität
Kapstadt begutachtet eine Hummerfalle im Boot von Fischer David Shoshola.
Mit ihm und seiner Mannschaft ist sie gerade unterwegs zu guten Fanggründen.
Impulse 01_2016 33
Text: Melanie Gärtner // Fotos: Felix Seuffert
E
Samantha Williams
versucht im Gespräch
mit heimischen
Fischern herauszufinden, wie die Männer
die Ressource Meer
nutzen und inwieweit
die Vorgaben des Staates sie behindern oder
nicht. Hier befragt sie
David Shoshola vor
dessen Wohnhaus im
südafrikanischen
Lamberts Bay.
s dürfte eins der meistgezeigten Motive
Südafrikas sein – ob es als Illustration von Reiseberichten in Zeitungen dient, weil es uns als Touristenschnappschuss vor Augen gehalten wird
oder einem aus Werbematerial von Reiseveranstaltern malerisch entgegenfunkelt: das Western
Cape mit seinen vielen kleinen Fischerbooten,
von denen (fast) immer welche auf See zu sein
scheinen. Beinahe so, als wollten sie sicherstellen,
dass das Motiv für Auge oder Kamera stets das
pittoreske ist, dass man kennt. Damit bloß kein
anderes Bild von diesem fast unwirklich schönen
Fleckchen Erde entstehen kann.
Eben dieses Bild, das den meisten Betrachtern
wohl so das Herz weitet, zeigt letztlich harte
Arbeit. Denn für die, die es entstehen lassen, heißt
es tagtäglich: früh aufstehen, auf die See hinaus,
Netze auswerfen. Das Meer an der Küste entlang
des Western Cape ist traditionelles Fischereigebiet. Seit Jahrtausenden schon bieten die Fanggründe den Fischern in dieser Region eine dauerhafte Beschäftigung und den Menschen an Land
Samantha Williams
i
eine verlässliche Nahrungsgrundlage. Reich an
Leben ist das Meer hier durch das Benguela
Upwelling Ecosystem, einen Auftrieb nährstoffbeladener Wasserschichten aus der tiefen See, der
quasi in seinem Sog zahlreiche Fische in die Nähe
der Küste zieht. Und so gibt es viel zu tun und
viel zu fischen, und die Tage der Fischer werden
schnell lang – so lang eben, dass sie als Nebeneffekt eine bezaubernde Wasserlandschaft von
scheinbarer Dauerhaftigkeit entstehen lassen.
Zwei typische Ortschaften an diesem Abschnitt
der südafrikanischen Westküste sind Elands Bay
und Lamberts Bay, rund 220 Kilometer nördlich
von Kapstadt gelegen. Hier hat die Fischerei eine
lange Tradition und ist tief in der Geschichte, der
Kultur und der Identität der Menschen verankert.
Ob Meeräschen, Hechtmakrelen, Hummer oder
die als Delikatessen begehrten Seeohrschnecken:
Wo und zu welcher Zeit des Tages die See die
besten Fänge hergibt, das haben die Fischer noch
von ihren Vätern und Großvätern gelernt – und
die wiederum von ihren Vätern und Großvätern.
Bis heute bestreiten sie mit dem, was in ihren Netzen hängen bleibt, ihren Lebensunterhalt. Doch
wer in südafrikanischen Gewässern was fischen
darf, wird vonseiten des Staates reguliert – und
hier beginnen die Schwierigkeiten. Denn den Vorgaben, Regelungen oder Entscheidungen von politischer Seite fehlt nach Meinung der Fischer vor
Ort oft das Bemühen um ein nachhaltiges Wirken,
das zudem auch ihnen gerecht wird.
„Womöglich ändert sich das gerade“, zeichnet
Dr. Samantha Williams einen leichten Silberstreif
an den Horizont. Sie ist allerdings auch Realistin
genug zu wissen, dass das politische Ringen um
den Umgang mit einer natürlichen Ressource
nicht einfach ist und es immer wieder schnell zu
Rückschritten kommen kann – schließlich sind
oft viele Akteure im Spiel mit teils recht unterschiedlichen Interessen. Die südafrikanische
Wissenschaftlerin ist inzwischen ausgewiesene
Fachfrau zu dem Thema. Sie erwarb ihren PhD
an der Environmental Evaluation Unit (EEU) der
University of Cape Town in Südafrika und forscht
seit nunmehr acht Jahren zu und in den Fischerdörfern an der Westküste. Bislang beschäftigte sie
sich vor allem mit den Methoden und Strategien,
die sich die Männer zur See seit Jahrhunderten zu
eigen gemacht haben, um mit ihren Familien vom
Meer zu leben.
Ein großer Einschnitt in ihrem wissenschaftlichen Engagement kam um den Jahreswechsel
2013/14. Damals gelang es ihr, eines der begehrten Postdoktoranden-Fellowships für afrikanische Nachwuchswissenschaftlerinnen und
Nachwuchswissenschaftler zu ergattern, die die
VolkswagenStiftung in ihrer Förderinitiative zum
sub-saharischen Afrika vergibt (siehe auch Kasten
auf den Seiten 38/39). Und so kann Samantha
Williams das im Zuge ihrer Doktorarbeit herausgeschälte Wissen vertiefen und, angereichert um
zahlreiche neue Erkenntnisse, fundiert weitergeben. In dem mit rund 100.000 Euro geförderten
Projekt „Sustainability of marine social-ecological
systems – linking fisheries livelihoods strategies and
multilevel governance in the Benguela Upwelling
Ecosystem“ setzt sie sich mit den nachhaltigen
Strategien der Fischer im Umgang mit der Ressource Meer auseinander und den Einflüssen, die
vonseiten des Staates und seiner Institutionen auf
das gesamte System wirken.
Benachteiligt bei Gesetzgebung und Lizenzvergabe:
Die „kleinen“ Fischer haben’s schwer
Williams verfolgt ein ganz grundlegendes Ziel:
Sie möchte die Fischer zum einen darin bestärken,
den Zugang zu den Gewässern vor ihrer Haustür
als Arbeits-, Lebens- und Nahrungsgrundlage
immer wieder mit Nachdruck vom Staat einzufordern. Zum anderen sollen die Männer zur See
nicht nachlassen in ihrem Bemühen, an relevanten politischen Entscheidungsfindungsprozessen beteiligt zu werden – etwa, wenn es um die
Zu­teilung von Fischereilizenzen geht. Ein Blick
zurück und zur Seite zeigt, dass solch eine Haltung, ein solches Auftreten absolut nicht selbstverständlich sind.
„Die VolkswagenStiftung ist in Südafrika äußerst
bekannt und ihre Stipendien sind sehr gut angesehen“, betont Samantha Williams im Gespräch immer
wieder. Im Jahr 2002 machte sie zunächst ihren BA
(Honours) und 2005 ihren Master an der University
of the Western Cape in Südafrika. Danach wechselte
die Geografin an die University of Cape Town an das
Department of Environmental and Geographical Sciences; dort ist auch ihr von der Stiftung gefördertes
Junior-Fellowship-Projekt verankert. Von Beginn an
arbeitete Williams in der unabhängigen Forschungseinheit Environmental Evaluation Unit (EEU) mit.
Ihren PhD erwarb sie bereits mit einer Arbeit über
Zugangsstrategien lokaler Fischer zu den Ressourcen
des Meeres. Derzeit vertieft sie ihre Forschungsergebnisse wie im Text vorgestellt im Rahmen des Post­
doktorandenprogramms der VolkswagenStiftung.
Das Western Cape ist durch den Benguela-Auftrieb eines der am stärksten befischten Seegebiete
Südafrikas. Die Trawler der großen Fischereikonzerne können mit ihren Langleinennetzen dabei
so viel aus dem Wasser ziehen, wie es sich die
Fischer in ihren kleinen Booten nicht einmal zu
träumen wagen. Obwohl sie derselben Tätigkeit
nachgehen wie die große Konkurrenz, wurden
sie über Jahrzehnte hinweg nicht als bestehender
Impulse 01_2016 35
Sektor der Fischindustrie anerkannt und bei der
Vergabe von Fischereilizenzen nicht bedacht. Vor
allem in den Jahren der Apartheid tat man sie als
Selbstversorger ab, die entsprechend in der Fischereigesetzgebung nicht zu berücksichtigen sind, in
der Konsequenz dieses Denkens dann aber auch
keine Ansprüche zu stellen haben. Erst mit dem
Entstehen der ersten demokratischen Regierung
1994 wurden die Fischerfamilien an den Küsten
als Unternehmer und damit als Teil des Fischereisektors eingestuft.
Samantha Williams’
Interesse rund um ihr
Thema ist weitgreifend: Hier lässt sie
sich von Fischer Brian
Anderson eine Angelschnur mit Haken
und Senkblei zum
Fangen von Hottentot
(Pachymetopan) zeigen. Besondere Fangmethoden und ganz
allgemein kulturelle
Eigenheiten gehören
ihrem Verständnis
nach dazu, will man
sich ein umfassendes
Bild davon verschaffen, was nachhaltige
Fischerei ausmacht.
2007 setzte das National Department of Fisheries,
die nationale Fischereibehörde, ein neues Gesetz
in Kraft. Es spricht den Fischern das Recht zu,
Lizenzen zu erwerben – eine Entscheidung, die
bitter notwendig und überfällig war. Immerhin
rund 28.000 Haushalten in Südafrika sichert die
kleinteilige Fischerei zwar offiziell das wirtschaftliche Überleben, doch obwohl die südafrikanische
Verfassung den Zugang zu natürlichen Ressourcen als grundlegendes Menschenrecht anerkennt,
kann sich nur jeder zweite Fischerhaushalt von
dieser Arbeit tatsächlich noch ausreichend ernähren. Für Samantha Williams ist das neue Gesetz
daher ein großer Fortschritt in Richtung Armutsbekämpfung und soziale Gerechtigkeit. „Der Text
weist viele gute Ansätze auf; insbesondere jene
Passagen, die den Fischern mehr Mitbestimmung
und mehr Eigenverantwortung zusprechen“,
sagt sie. „Leider verläuft der Prozess, in dem diese
neue Politik umgesetzt wird und in den Köpfen
ankommt, sehr langsam. Das zu verbessern, ist die
entscheidende ­Herausforderung.“
Zwar hatte die Regierung mehrfach in der Vergangenheit Anläufe unternommen, den Fischern
„einen Weg zu ihren Rechten zu ebnen“, doch diese Offerten schlugen weitgehend fehl. In einem
der Versuche hielt man die Fischer dazu an, für
den Erwerb einer Fischereilizenz einen Antrag zu
stellen. „Viele wussten aber nicht, was sie genau
tun sollten oder hatten neben der täglichen
Arbeit schlicht keine Zeit dafür“, sagt Samantha
­Williams. „Dieses Vorgehen drängte viele in die
Illegalität – und zwar nur, weil sie keinen Antrag
für das auszufüllen vermochten, was schon ihr
ganzes Leben lang ihre Profession war.“
Dr. Samantha Williams ist eine vielversprechende
Nachwuchswissenschaftlerin. Auf ungewöhnliche
Weise und beinahe „in sich“ interdisziplinär kreist
sie zur Beantwortung ihrer Forschungsfragen
ihren Untersuchungsgegenstand ein, indem sie
Fragen des Zugangs zu natürlichen Ressourcen
und Aspekten von Nachhaltigkeit oder Nahrungs­
mittelsicherheit aufwirft, dreht und wendet
und darüber als Dach das Ziel von mehr sozialer
Gerechtigkeit spannt. Damit steht die Geografin in
Interesse und Engagement beispielhaft für die Stiftungsinitiative „Wissen für morgen – K
­ ooperative
Forschungsvorhaben im sub-saharischen Afrika“.
Die aktuelle Strategie der Regierung besteht nun
darin, Rechte nicht individuell, sondern an Kollektive in den Kommunen zu vergeben. Die Fischer wurden daher dazu aufgefordert, sich in ihren Dörfern
in Vereinen oder Gewerkschaften zu organisieren.
An diesem Punkt setzt das Forschungs­vorhaben von
Dr. Samantha Williams an. Sie analysiert, welche
politischen Parameter sich gemessen an den Gegebenheiten des Alltags der Fischer als sinnvoll und
wirksam erweisen. Und sie schaut, ob die Fischer
sich in der Tat hinreichend einzubringen vermögen.
Eine Forschungsförderung, die in ihrer internationalen Ausrichtung wie die Initiative zum
sub-saharischen Afrika angelegt ist, erfüllt im
Optimalfall viele sinnvolle Zwecke – Samantha
Williams ist dafür das beste Beispiel. So wie sie
können sich junge Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftler in Schwellen- und Entwicklungsländern auf sonst kaum mögliche Weise qualifizieren: Mit der Unterstützung der Stiftung im
Gepäck forschen sie vor Ort zu Themen, die für ihr
Land oder ihre Region von Bedeutung sind. Einer
der Kerngedanken, den die Stiftung mit ihrer
internationalen Wissenschaftsförderung verfolgt,
ist dabei nicht zuletzt Nachhaltigkeit. Am Anfang
steht eine gute Idee, ein lohnenswertes Projekt.
Gerät es in Schwung, kann sich die Stiftung nach
einiger Zeit zurückziehen.
Samantha Williams und
David Shoshola (großes
Bild, Mitte) lauschen
Ernest Titus, der den
Gebrauch einer Hummerfalle demonstriert.
Oben: Mehrere Spulen
Mit dem Herzen bei der Sache: Die „Afrika-Fellows“
engagieren sich für die Zukunft ihres Landes
Indem sich der umfassend geförderte akademische Nachwuchs in Afrika oder anderswo mit
fortschreitender Dauer der Projekte dann länderübergreifend nach und nach vernetzt, stärkt sich
wechselseitig die Expertise: bei dem Einzelnen, in
dessen Heimat und in der Zielregion insgesamt.
Derart gestützt, empfiehlt sich die Wissenschaft­
lergeneration von morgen dann nicht zuletzt in
globaler Perspektive für die Zusammenarbeit mit
Kollegen aus allen Kontinenten. All diese Ziele
verfolgt auch die VolkswagenStiftung mit ihrem
Förder­bereich „Internationales“ im Großen, mit
den einzelnen Angeboten für bestimmte Regionen dieser Welt im Speziellen.
Angelschnur mit großen
Haken zum Fangen von
Snoek (Thyrsites atun)
liegen neben Seilen und
anderem Fischereibedarf in Brian Andersons
Boot, das gerade wieder
den Hafen von Lamberts
Bay mit seinen zahlreichen vertäuten Fischerbooten anläuft (unten).
Im Hintergrund: eine
ehemals zur Fischverarbeitung genutzte Fabrik,
in der jetzt Pommesfrites produziert werden.
Impulse 01_2016 37
LAMBERTS BAY
Wieder zurück an Land: Samantha Williams (vorne) und die
Fischer (von links) Ernest Titus, David Shoshola, Alfonso Smith
und Brian Anderson
CAPE TOWN
Hintergrund
Die Entwicklung des Förderangebots zum ­­
sub-saharischen Afrika
Die 2003 gestartete Initiative „Wissen für morgen
– Kooperative Forschungsvorhaben im sub-saharischen Afrika“ soll vor allem jungen afrikanischen
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in
ihren Heimatländern Perspektiven eröffnen. Dabei
verfolgt die Stiftung über ein dreistufiges Karrieremodell einen langfristigen und nachhaltigen
Weg, der dem dortigen Forschernachwuchs Anreize
bieten soll, auch nach der Promotion längerfristig
in afrikanischen Institutionen zu arbeiten. In der
inzwischen abgeschlossenen ersten F­ örderphase
der Initiative waren Doktoranden und Masterstudierende eingebunden in internationale Kooperationsvorhaben, die bewilligt wurden im Zuge der
folgenden acht thematischen Ausschreibungen:
Political, Economic, and Social Dynamics
in Sub-Saharan Africa
Communicable Diseases in Sub-Saharan
Africa – from the African Bench to the Field
Resources, their Dynamics and Sustainability –
Capacity Development in Comparative
and Integrated Approaches
Violence, its Impact and Coping Strategies
38
beziehungsweise stehen den Postdoktorandinnen
und Postdoktoranden offen:
Negotiating Culture in the Context
of ­Globalization
Resources, Livelihood Management,
Reforms, and Processes of Structural Change
Sustainable Value Chains – Integrated
­Technologies for Sustainable Use of ­
Resources in Africa
Neglected Tropical Diseases and Related
Public Health Research
Neglected Tropical Diseases and
Related Public Health Research
Resources, their Dynamics, and S
­ ustaina­bility –
Capacity Development in C
­ omparative and Integrated Approaches
Ingenieurwissenschaften
Sozialwissenschaften
Geisteswissenschaften
Livelihood Management, Reforms, and P
­ rocesses
of Structural Change
Derzeit läuft noch die zweite Förderphase, in der
junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
über sechs Postdoktorandenprogramme die Möglichkeit erhalten, eigene Projekte zu beantragen.
Diese sind an den afrikanischen Heimatinstituten
verankert. Die Postdoktorandenförderung umfasst
auch die Schulung sogenannter Soft Skills: Wie
manage ich beispielsweise ein Projekt, wie verfasse
ich einen Antrag oder erstelle eine Publikation –
oder auch: Wie plane ich meine Karriere? Können
die Junior-Postdoktoranden Erfolge vorweisen,
sollen sie in einer dritten Förderphase möglichst
eigenständig ihren Weg als Senior-Postdoktoranden
machen. Folgende sechs Themenfelder standen
Zwei Säulen tragen aktuell die Afrika-Initiative. Zum
einen hat die Stiftung bereits vier der sechs Postdoktorandenprogramme – zu den „Vernachlässigten
Tropenkrankheiten“ und den „Natürlichen Ressourcen“ sowie zu den Sozial- und den Ingenieurwissenschaften – über die erste Unterstützungsphase
hinaus weitergeführt mit jeweils mindestens einer
zweiten Ausschreibungsrunde. Dieser zweite Durchgang wurde für die Sozial- und die Ingenieurwissenschaften mit Auswahlkonferenzen im Frühjahr 2015
abgeschlossen. Hier konnten sich bereits geförderte
Junior-Postdoktoranden im offenen Wettbewerb
mit neuen Interessenten um ein dreijähriges „Senior
Fellowship“ bewerben.
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rr
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Dr. Samantha Williams hat als Partner die Biologin und Politologin Dr. Milena Arias Schreiber von
der Universität Göteborg gewinnen können. Die
gebürtige Peruanerin hat bis vor Kurzem anderthalb Jahrzehnte in Deutschland gearbeitet und
geforscht, zuletzt mehrere Jahre am Zentrum für
Tropenökologie in Bremen. Sie unterstützt das
Forschungsvorhaben mit einer institutionellen
Analyse der Zugangsstrategien der Fischer zur
Ressource Meer und dokumentiert, welche der
Gesetzgebungen, die explizit „kleine Fischereien“
adressieren, tatsächlich einen – möglicherweise
bleibenden – Effekt auf die Lebenswelt der Fischer
haben. Im Frühjahr 2016 wird sie für insgesamt
drei Monate zu Feldforschungsaufenthalten nach
Südafrika reisen.
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Das Herzstück des Angebots zum sub-saharischen
Afrika sind seit einigen Jahren Postdoktorandenprogramme zur Unterstützung junger afrikanischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler,
die an ihren Heimatuniversitäten den drängenden Fragen unserer Zeit nachgehen. Das Afrika­
Engagement der Stiftung funktioniert als ein
mehrstufiges Modell, bei dem sich junge Forscher
nach der Promotion einem Auswahlverfahren um
ein Junior- oder Senior-Fellowship stellen können
(siehe Kasten auf dieser Seite). Durch die Förderung
erhalten nicht nur die Nachwuchskräfte selbst
einen deutlichen Schub in ihrer wissenschaftlichen Karriere; über die Bewilligungen an junge,
engagierte Spitzenleute brechen allmählich auch
die akademischen Strukturen an den jeweiligen
Heimathochschulen auf und sortieren sich neu.
Um langfristig ein internationales Netzwerk für
ihre künftige akademische Karriere zu entwickeln,
kooperieren die Geförderten jeweils mit einem
deutschen Partnerinstitut, das die Projekte begleitet, wissenschaftlich mitbetreut und auch darüber
hinaus mit Rat und Tat zur Seite steht.
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Arias Schreiber hat bereits über Fischereien in
Peru gearbeitet und einen internationalen Zugang
zu dem Thema. „Im Umgang mit natürlichen Ressourcen gibt es keine allgemeingültigen, global
anwendbaren Lösungen“, sagt die Biologin. „Alles
hängt von Umweltbedingungen vor Ort ab, von
der Geschichte, der Kultur und den gesellschaftli-
Die Karte zeigt jenen
Teil der südafrikanischen
Westküste, der die
Forscherin interessiert:
Elands Bay und Lamberts
Bay, 220 Kilometer nördlich von Kapstadt gelegen.
Ziel der Stiftung ist es, im Zuge eines mehrstufigen Förderverfahrens besonders talentierte junge
Forscherinnen und Forscher über einen längeren
Zeitraum zu unterstützen und damit in Afrikas Wissenschaftslandschaft zu verankern. Hierzu erhalten
seit dem Jahr 2015 die geförderten Fellows auch –
eingebettet in die Projektphase – die Gelegenheit
zu einem maximal viermonatigen Forschungsaufenthalt am Stellenbosch Institute for Advanced Study
in Südafrika. Ein zwischen Institut und Stiftung
vereinbartes Memorandum of Understanding bildet
dafür die Grundlage.
Andererseits ist die gelegentlich so bezeichnete
„Exit-Strategie“ für das Themenfeld der „Vernachlässigten Tropenkrankheiten“ angelaufen. Hierfür
hat ein Konsortium europäischer Stiftungen der
European Foundation Initiative for African Research
into the Neglected Tropical Diseases (EFINTD) im
Jahr 2015 Mittel bewilligt für den Aufbau eines
innerafrikanischen Netzwerks zum Themenfeld:
das African Research Network for Neglected Tropical
Diseases (ARNTD). Im Optimalfall entwickelt sich
daraus ein Modellszenario für weitere Exit- und
Transferstrategien, auch wenn sich sicherlich nicht
alles eins zu eins auf die anderen Programme
übertragen lässt.
Christian Jung
Impulse 01_2016 39
acht Fellows wissenschaftlich, die bei der Ausschreibung um eine Postdoktorandenförderung
im Bereich „Livelihood Management“ erfolgreich
waren.
Samantha Williams
führt zahlreiche Interviews mit Fischern
entlang der Küste
chen wie politischen Rahmenbedingungen sowieso. Lösungen müssen daher immer in lokaler Perspektive entwickelt werden.“ Nur so könne eine
Umsetzung von Strategien erfolgreich sein.
zwischen Elands Bay
und Lamberts Bay.
Hier nehmen sich die
Sprecher der Fischervereinigung Masifundise Development Trust
Nico Waldeck (Bild links,
Mitte) und Brian Anderson Zeit für sie. Rechts:
Fischer David Shoshola
demonstriert weiteres
Angel- und Fischereiwerkzeug und erläutert
die jeweils erforderlichen Handgriffe.
40
Aushandlungsprozesse sollten von unten nach
oben verlaufen – ausgehend von den Fischern
Nichtsdestotrotz scheinen im Management des
Zugangs zu und des Umgangs mit natürlichen
Ressourcen Muster auf, aus denen sich durchaus
Handlungsempfehlungen für ähnliche Fälle ableiten lassen. So hat sich neben ökosystembasierten
Ansätzen, die bei der Ausrichtung des Fangs nicht
nur den Fisch, sondern auch die anderen Lebewesen im Meer einbeziehen, als Partizipationsmodell
das Ko-Management bewährt. Bei diesem Modell
von Aushandlungsprozessen nach dem Down-totop-Prinzip werden die Fischer vor Ort am politischen Prozess beteiligt – und genauso soll es auch
in Elands Bay und Lamberts Bay geschehen. „Menschen versuchen, das Meer anhand von Institutionen zu reglementieren, und tendieren dazu,
Ressourcen zwischen den Nutzern aufzuteilen“,
sagt Milena Arias Schreiber. „Das Ökosystem Meer
besteht aber aus aufs Engste miteinander verwobenen Einheiten, und es ist nicht absehbar, welche
Auswirkungen es hat, die Ressourcen einfach
aufzuteilen oder einzelne Teile durch deren Verschwinden dem Meer für immer zu entziehen.“
Durchgesetzt hat sich die Einsicht, dass es hilfreich ist, das über Generationen gewachsene
Wissen der Fischer vor Ort anzuerkennen, zu
berücksichtigen, zu gewichten und es schließlich
einfließen zu lassen in den von staatlicher Seite
zu gestaltenden Rahmen, der die Fischereiwirtschaft ja durchaus nachhaltig aufstellen will. Ob
die Regierung die Menschen in Elands Bay und
Lamberts Bay tatsächlich erreichen wird und ihre
Beschlüsse und Gesetze künftig eher im Positiven
greifen oder negativ wirken, muss sich zeigen. Die
Fischer haben jedoch bereits begonnen, sich in
Kollektiven zu organisieren und den Prozess von
ihrer Seite aus zu begleiten und auf einen guten
Weg zu bringen.
Milena Arias Schreiber und Samantha Williams
wirken aber in jeder Sekunde so, als wissen sie,
was zu tun ist und was sie erreichen wollen. So
möchten sie die Ergebnisse ihrer Forschung nicht
nur für die akademische Welt veröffentlichen,
sondern sowohl in Vorträgen den politischen Entscheidungsträgern im zuständigen Ministerium
nahebringen als auch über Workshops mit den
Fischern in deren Dörfern verbreiten. Für die
Basisarbeit dort wollen sie alsbald Booklets mit
den Projektergebnissen produzieren einschließlich daraus abgeleiteter Empfehlungen für die
politische Arbeit. Die engagierten Nachwuchskräfte hoffen, dass die Kommunen das Material dann
auch nutzen. Und damit zudem der wissenschaftliche Nachwuchs an der University of Cape Town
nicht zu kurz kommt, ermöglicht es Samantha
Williams einem Studierenden, im Rahmen ihres
Projekts eine Bachelorarbeit zu schreiben.
Was der politische Prozess für die Fischer bedeutet, wird sich zeigen müssen; ebenso, inwieweit es
durch die Forschung gelingen kann, ein Bewusstsein zu schaffen für eine bessere Gestaltung der
Prozesse mit dem Ziel angemessenerer Rahmensetzungen für die lokale Fischerei – eben unter
Beteiligung der Fischer vor Ort. „Ich hoffe, dass
schon bald greifbare Veränderungen kommen
und Effekte auch sichtbar werden“, sagt sie.
Ein Ergebnis aber steht schon fest: Samantha
Williams hat durch das Projekt eine Entscheidung
für ihre eigene berufliche Zukunft getroffen. Die
inzwischen gut ausgebildete Geografin möchte
zumindest mittelfristig der Wissenschaft erhalten
bleiben. „Die Förderung erlaubt es mir, weiter an
meinem Thema zu arbeiten und meine Expertise auszubauen“, stellt sie fest. Sie will sich auch
weiterhin mit Fragen zum Umgang mit natürlichen Ressourcen beschäftigen. Denn das sei ein
Arbeitsfeld, das nicht an Bedeutung verlieren werde und für das gut ausgebildete Experten in Afrika
dringend benötigt würden. „Eine davon möchte
ich sein – auch auf Dauer!“

Vorträge im Ministerium, Booklets für die Fischer­:
Die Forscherinnen haben die Zielgruppen im Blick
Samantha Williams hat bei dem auf insgesamt
drei Jahre angelegten Projekt noch bis Mai 2017
Zeit für ihre wissenschaftlichen Analysen. Und
Milena Arias Schreiber startet jetzt, im Frühjahr
2016, ihre begleitenden Feldphasen vor Ort. Beide
wissen sich zudem in jedem Fall gut gesichert,
falls sie einmal mit Projekt oder Kooperation nicht
weiterkommen. Denn im Hintergrund gibt es,
sofern erforderlich, noch die helfende Hand der
Professoren Nikolaus Schareika und Eva Schlecht
von der Universität Göttingen. Sie begleiten jene
Fischer wohnen wie
anderswo in der Welt
auch in dieser Region
meist unter sich. Im
Hintergrund eine kleine Ansiedlung nahe
der südafrikanischen
Lambert’s Bay mit
ausrangierten Fischerbooten ringsumher.
Impulse 01_2016 41
Schwerpunktthema
Ins Blaue hinein | KÜSTEN
Treibgut
Mensch
Bilder von Stürmen, überschwemm­
ten Gebieten und eingestürzten
Häusern verknüpfen wir inzwischen
fast automatisch mit dem Gedanken an Umweltveränderungen und
Klimawandel. Häufig sind es Küsten­
regionen, die von solchen Extrem­
ereignissen besonders betroffen
sind – jene Regionen, die ebenso
im Fokus globaler Aufmerksamkeit
stehen als Orte von Zu- und Abwanderung. Bestehen womöglich gar
Zusammenhänge zwischen Umwelt­
veränderungen und Migration?
Warum verlassen Menschen ihre Heimat, und warum bleiben andere selbst in unbewohnbar gewordenen Gegenden? Fünf Forscherteams haben Männer, Frauen und
Heranwachsende an Küstenregionen Ghanas und Indonesiens befragt. Im Bild die
Fischersiedlung Totope nahe der Voltamündung, angrenzend an das Untersuchungsgebiet in Ghana. Durch den steigenden Meeresspiegel versinkt das Dorf langsam im Sand.
42
Impulse 01_2016 43
Text: Heidrun Riehl-Halen // Fotos: Nyani Quarmyne
I
m Jahr 2015 versetzt eine steigende Zahl an
Flüchtlingen Europa mehr und mehr in Unruhe. Viele kommen über Land, doch besonders
bedrücken die Bilder von jenen, die es über die
Meere versuchen, oft kentern und viele Stunden
in den Wellen um ihr Leben kämpfen. Viel zu viele
schaffen es nicht; und doch versuchen es immer
mehr gerade auch auf diesem Weg. Lange schon
vor den Ereignissen vom Spätsommer und Herbst
2015 brennen sich vor allem die Bilder von jenen
Frauen, Männern, Jugendlichen und Kindern ein,
die Nordafrika auf dem Seeweg verlassen und
manchmal Tage später völlig erschöpft vor den
Küsten Südeuropas aus dem Wasser gezogen
und erst einmal in – für sie zumeist trügerische –
Sicherheit gebracht werden. Und so sind es lange
Zeit eben jene Regionen, die als Orte im Fokus
sichtbarer globaler Ab- und Zuwanderungsbewegungen stehen.
Ebenso sind es Küsten, an denen offenkundig
schneller als anderswo global wirkende klimatische Veränderungen manifest werden – ob schleichend etwa durch steigenden Wasserspiegel des
Meeres oder schlagartig aufgrund extremer Wetterereignisse. Gibt es womöglich einen Zusammenhang zwischen Migration und Umweltveränderungen, der in Küstenregionen besonders
augenfällig wird?
Trotz der Aktualität des Themas weiß man wenig
darüber, ob und gegebenenfalls wie klimatische
und ökologische Veränderungen zu Flucht und
Abwanderung aus der Heimat führen. Offiziell
gibt es den Begriff Klima- oder Umweltflüchtling
nicht – ein Begriffskonstrukt, das impliziert, dass
Menschen allein aufgrund klima- und umweltbedingter Veränderungen ihre Heimat verlassen.
Andererseits ist Schätzungen der Vereinten Nationen (UN) zufolge bis zum Jahr 2050 mit weltweit
fünfzig bis 500 Millionen Umweltflüchtlingen zu
rechnen. Damit ist der Rahmen gesteckt für eine
Gruppe von Forscherinnen und Forschern aus
Bremen, Berlin und Essen, die sich hochschul- und
fachübergreifend zu diesem Thema zusammen­
gefunden haben.
44
Warum also gehen Menschen weg aus ihrer Heimat, und warum bleiben andere selbst in unbewohnbar gewordenen Gegenden? Das ist eine der
Kernfragen, die die fünf beteiligten Wissenschaftlerteams interessiert. Beispielhaft konzentrieren
sie sich auf zwei Untersuchungsregionen in
Ghana und Indonesien, die hinsichtlich Lage und
genereller Lebenssituation durchaus vergleichbar
sind.
So ist die Region der Millionenstadt Semarang auf
Indonesiens Hauptinsel Java von starker Landsenkung und wiederkehrenden Hochwassern
betroffen. Auch der Küstenabschnitt im Osten
Ghanas um den Ort Keta mit seinen rund 100.000
Einwohnern erlebt seit einiger Zeit eine intensive
Landerosion. „Beide Regionen sind seit Jahrzehnten raschen Veränderungen in ihrer Umwelt ausgesetzt“, erläutert Projektkoordinator Dr. Johannes
Herbeck vom artec Forschungszentrum Nachhaltigkeit der Universität Bremen das Verbindende.
„Hier lassen sich für uns Forscher jahrelange
Prozesse sowohl retrospektiv als auch aktuell gut
nachvollziehen“, sagt der Geograf.
„Wenn es um Umweltveränderungen geht,
­blicken wir entweder auf ganz große oder ganz
kleine Dimensionen“, meint Professor Dr. Michael
Flitner. Der Leiter des artec Forschungszentrums
in Bremen ist einer von fünf Wissenschaftlern,
die mit ihren jeweiligen Teams die Eckpfeiler
des Verbundvorhabens bilden. Als Beispiel denkt
Flitner an die medialen Diskussionen zum globalen Klimawandel und den Anstieg des Meeres­
spiegels. Globale wie lokale Analysen erhielten
viel Aufmerksamkeit; hingegen gehe der Blick
verloren „für die Ebene dazwischen“ – von Flitner
als „regionale Formationen“ bezeichnet.
Unter diesem Begriff, der zunächst recht sperrig
daherkommt, versteht der Geograf eine Verknüpfung aus einerseits sozialen Prozessen und
andererseits natürlichen Abläufen von Umweltveränderungen innerhalb einer sich permanent
wandelnden Region. Die Forscher vermuten,
dass die Anpassung an raschen Umweltwandel
in solch „regionalen Formationen“ abläuft und
gleichzeitig zu deren Veränderung beiträgt. Was
jedoch meint er genau damit, und wie lässt sich
diese Hypothese überprüfen? Und vor allem: Wie
nähern sich die fünf Forscherteams aus ihren
jeweiligen disziplinären Blickwinkeln und mit
ihren unterschiedlichen Methoden und Vorgehensweisen einer Antwort auf die Fragen, die sich
daraus ergeben?
Teilprojekt eins: Wie hat sich die Küstenlinie
über die Jahrzehnte verändert?
Bleiben wir zunächst noch in Bremen. Dort untersucht die Direktorin des Leibniz-Zentrums für
Marine Tropenökologie (ZMT), Professorin Dr.
Hildegard Westphal, mit ihrem Team die Veränderungen der Küstenmorphologie. Mithilfe aktueller Satellitendaten und Luftbilder, die es von den
beiden Regionen seit dem frühen 20. Jahrhundert
gibt, ermittelt etwa Geologe Dr. Thomas Mann
Veränderungen der Küstenlinie über die Zeitläufte. Er erfasst Daten über saisonale Schwankungen
des Meeresspiegels, von Stürmen und Monsunen.
Diese werden aufbereitet und ermöglichen so
neue Modellierungen und Computersimulationen. Unterstützung erhalten die Geologen von
Dr. Alessio Rovere, der im Rahmen des Exzellenzclusters Meeresforschung an der Universität
Bremen die kooperative Nachwuchsgruppe
„Sea Level and Coastal Changes“ leitet. Der Meeresforscher setzt Flüge mit Kameradrohnen ein, um
den aktuellen Küstenverlauf und feinste Änderungen zu dokumentieren. Außerdem sammeln
die Wissenschaftler laufend GPS-Daten und Sedimentproben vom Strand. „Anhand von mineralogischen Bestandteilen können wir Landerosionen
und den historischen Verlauf der Küste nachweisen“, erläutert Westphal.
Momentaufnahmen am
Rand der Siedlung Totope
nahe der Voltamündung.
Fischer Joshua Onyame
(unten, links), der noch dort
wohnt, will den steigenden
Sand- und Wassermassen
auch künftig trotzen. Adjawutor und Miyorhokpor
Anikor schauen aus ihrem
Haus auf der Insel Azizakpe, die in der Voltamündung liegt. Der steigende
Meeresspiegel setzt das
kleine Eiland inzwischen
ein Mal pro Monat unter
Wasser – mindestens.
Impulse 01_2016 45
brauch in der Stadt; zudem wird Erdgas gefördert.
Dies führt dazu, dass der Boden kontinuierlich
absinkt. Demgegenüber steigt der Meeresspiegel.
„Während das im globalen Durchschnitt derzeit
wenige Millimeter im Jahr ausmacht, sind es in
Semarang bereits sechs bis zwanzig Zentimeter“,
betont die Bremer Forscherin. Häufige Überschwemmungen sind eine Folge.
Teilprojekt zwei: Wie reagieren die Menschen in
den Küstenregionen auf Umweltveränderungen?
Wenn die Geologen bei den Workshops in naturwissenschaftlicher Präzision ihre Daten präsentieren, ist Professor Dr. Volker Heins jedes Mal
beeindruckt. „Ich kann leider nicht mit einer
Schaufel im Sand nach Ergebnissen graben“, lacht
er anerkennend. Der Bereichsleiter am Kultur­
wissenschaftlichen Institut (KWI) in Essen setzt
auf „narrative Interviews“: Erzählungen von
Einwohnerinnen und Einwohnern in den betroffenen Gebieten. Ihn und sein Team interessieren
„Risikokulturen“. Heins erläutert umgehend: „Es
geht um die Einstellungen der Menschen vor Ort
insbesondere dazu, wie sie Risiken einschätzen,
die durch Umweltveränderungen drohen – vor
allem unmittelbar ihnen selbst.“ In der Regel handele es sich um kollektive Interpretationen, die das
Verhalten ganzer Gruppen beeinflussen. Daraus
ergäben sich dann, und das ist das Interessante,
bestimmte Strategien des individuellen Umgangs
und der jeweiligen „Anpassung“ des Einzelnen an
­Umweltveränderungen.
Die steigenden
Wasser der Ozeane versalzen die
Ufergebiete. Viele
Bäume tolerieren den
erhöhten Salzgehalt
nicht und gehen ein.
Aus der Küstenregion
wird eine Schlammund Modderzone.
Zudem kann das Team auf spezielles Archivmaterial zurückgreifen. „Wir wussten, dass es Verbindungen zwischen Ghana und Bremen aus der kirchlichen Missionarsarbeit gibt, und fanden tatsächlich
Material für unser Projekt“, freut sich die Sedimentologin über die seltenen Funde. Auf historischen
Stadtplänen und Fotos sieht man, welche Gebäude
im Vergleich zu heute weggeschwemmt wurden:
„Die Küstenlinie verlief vor einhundert Jahren
noch etwa 200 Meter weiter seewärts.“
46
Vor wenigen Jahren entstand die „Sea Defence“,
eine Küstenschutzanlage, ähnlich wie es sie an der
Nordsee gibt. „Dadurch ist Keta besser vor Erosionen geschützt; nun ist die Küste im benachbarten
Togo aber stärker betroffen“, weiß die Wissenschaftlerin. Insgesamt spräche jedoch vieles dafür,
dass die Küstenlinie natürlichen Schwankungen
unterliege. Anders verhält es sich im indonesischen Semarang: Aufgrund des rapiden Bevölkerungszuwachses steigt der Grundwasserver-
Um die Deutungen der Ghanaer genauer zu
verstehen, hat Doktorand Jan Schuster bei der
Feldforschung in Keta bereits mehr als hundert Einheimische befragt: „Wie war es mit den
Überschwemmungen früher, wie ist es heute?“
Auch Polizisten, Fischer, Künstler oder Leute an
der Bushaltestelle hat der Kulturanthropologe
interviewt, sich mit Predigten und traditionalistischen Naturbildern befasst. Zudem durchsuchte
er Zeitungen, Volkslieder und Hiphop-Texte
nach Hinweisen.
Im Ergebnis ließen viele Aussagen immer wiederkehrende Fingerzeige auf kulturelle Muster
erkennen, fasst Heins zusammen. Und daraus leitet er wiederum Erklärungen ab für Resultate von
anderer Seite: „Wir waren alle überrascht, dass in
Keta weniger Menschen als vermutet wegen der
Umweltveränderungen abwandern“, erklärt er.
Viele akzeptierten offenbar die Naturgewalten
und lernten mit den Widrigkeiten umzugehen.
Und eben dafür fänden sich Entsprechungen
in den Untersuchungsergebnissen: So besagt
das Wort für Überschwemmung in der lokalen
Sprache übersetzt: „Das Meer hat sich mit dem
Menschen vermählt.“ In den Köpfen der Einheimischen mischten sich Erfahrungen aus Christianisierung, moderner Informationsgesellschaft und
traditionellen Vorstellungen von einer Symbiose
mit dem Meer, sagt Kulturwissenschaftler Heins.
Teilprojekt drei: Warum migrieren Menschen,
und was hält sie andererseits ab?
Mit kulturellen Aspekten beschäftigt sich auch
Migrationsforscherin Professorin Dr. Felicitas
Hillmann vom Leibniz-Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung (IRS) in Erkner bei
Berlin. Die Geografin spricht gleich ein Grundproblem der Migrationsforschung an. Die auslösenden Faktoren für Migration seien nicht immer
klar zu benennen, denn: „Migration ist zunächst
ein individuelles, biografisches Projekt. Sie findet
nicht in einem abstrakten Raum statt, sondern ist
an konkrete zeitliche und regionale Bedingungen
gebunden.“ Diese Bedingungen könnten ökonomischer, sozialer, politischer und eben ökologischer Natur sein. Es sei meist schwer zu klären,
welche Antriebsfaktoren wie ineinander griffen
und was letztlich den Entschluss des Einzelnen
auslöse zu migrieren. Sie spricht daher auch etwas
vorsichtiger von „umweltinduzierter Migration“
statt von Klimaflüchtlingen.
Um dem komplexen Geschehen so gut es geht
gerecht zu werden, untersuchen Felicitas Hillmann und ihre Mitarbeiterinnen mittels aus­
Impulse 01_2016 47
Mancherorts, wie hier in
der Untersuchungsregion
in Semarang in Indonesien, arrangieren sich die
Bewohner mit den Überschwemmungen, indem
sie als Reaktion auf die
Landsenkungen die Fußböden ihrer Häuser regelmäßig höher setzen.
gefeilter Methodik die Migrationsbewegungen
in Raum und Zeit. Im Kern erforschen sie auf der
Basis von Bevölkerungsdaten und einer eigenen
Erhebung jene Wege, die Migranten nehmen:
sogenannte Migrant Trajectories. Und zwar
Migrant für Migrant. So differenziert das eben
möglich ist.
„Migrationen verlaufen oft entlang bestimmter
Korridore – das nennen wir Trajecto­ries“, erläutert
Hillmann. „Das sind kollektive soziale und räumliche Migrationsmuster, die in regionale und globale Regime eingebettet sind.“ Soll heißen, die Forscherinnen betrachten zum Beispiel die sozialen
Netzwerke von Migranten sowie die Migrationsmythen: also jene Geschichten, die erzählt werden
von einem besseren Leben. Die wenigsten Migranten planten schließlich ihre Auswanderung allein;
vielmehr kontaktierten sie vorher Freunde oder
auch Ämter, von denen sie sich Unterstützung
versprächen. Mehrfach fällt der Begriff „Migrant
Industries“; er fokussiert gut jenes Bündel an informellen und formellen Dienstleistungen, die den
Migrationsprozess fl
­ ankieren.
48
Felicitas Hillmann und ihre Kolleginnen haben
schon reichlich Material aus ihren Befragungen
vorliegen. Um die quantitativen Daten aus inzwischen über 600 Haushaltsbefragungen richtig
zu interpretieren, führt Doktorandin Usha Ziegelmayer zusätzlich qualitative Leitfadengespräche. Sie befragt Bewohner, Wissenschaftler und
Experten vor Ort, beobachtet – und kartiert zudem
­Migrationsrouten.
Erste Auswertungen zeigen, dass es in Ghana
gute internationale Kontakte und eine große
Bereitschaft zur Migration gebe. Dies könne – das
ein Hinweis aus den Befragungen – in der langen
Tradition der mobilen Küstenfischerei wurzeln.
Die Diaspora, also das soziale Netz aus Verwandten und Freunden an den Zielorten, sowie der
„Einsatz vieler kleiner Helfer“ auf dem Weg dorthin spielen nach Hillmanns Ansicht eine große
Rolle. Als Helfer versteht sie sowohl Agenturen
in der Heimat, die in Ghana den „Mythos Migration“ anheizen, als auch Kontaktpersonen auf
den R
­ outen unterwegs oder Jobvermittler an den
Zielorten.
In Indonesien zeigten sich mehr Wanderungsbewegungen innerhalb des Landes. Generell arrangierten sich die Bewohner mit den Überschwemmungen; sie setzen einfach als Konsequenz auf
die Landsenkungen die Fußböden ihrer Häuser
regelmäßig höher. Trotz der Umweltveränderungen gebe es sogar einen Zustrom, wundert sich
Hillmann: „Zuwanderer ziehen in eigentlich unbewohnbare Stadtteile.“ Ein Behördenmitarbeiter
fand dafür eine bildhafte Erklärung: „Die Lichter
der Stadt scheinen hell und überstrahlen die Flut.“
Die Neuankömmlinge versprächen sich in der
rapide urbanisierenden Region trotz der Umweltveränderungen mehr Erfolg als anderswo; ein besseres Leben halt, trotz allem, sagt Ziegelmayer.
Teilprojekt vier: Wie unterscheiden sich Migranten
und Daheimbleibende in ihrem Risikoverhalten?
Um dieses „Trotz allem“ besser zu verstehen, steht
die in Berlin bei Felicitas Hillmann arbeitende
Doktorandin häufig im Austausch mit ihrer Kollegin Carina Goldbach. Mit ihr landen wir bei den
Wirtschaftswissenschaftlern in dem Verbundvorhaben und sind zugleich zurück in Bremen. Die
Doktorandin Carina Goldbach nutzt ebenfalls das
Instrument der Befragung: Sie ist gleichermaßen
vor Ort im Einsatz und interviewt ergänzend per
Telefon. Goldbach interessiert sich weniger für
Einstellungen als für das konkrete Verhalten der
Einzelnen – soweit sich das trennen lässt. Die
zentrale Frage: Wie unterscheiden sich Migranten
und Daheimbleibende in ihrer Risikobereitschaft?
Um hier belastbare Antworten zu finden, führt sie
vor allem verhaltensökonomische Experimente
durch – mit Migranten und Migrierenden insbesondere per Telefon. Dabei werden den Teilnehmern Risikoszenarien beschrieben. Durch Anreize
wie kleine Geldbeträge, die über das Handy verbucht werden, soll die Entscheidungssituation im
Experiment realistischer sein. Außerdem werden
Zeitpräferenzen abgefragt: „Wollen Sie das Geld
jetzt ausgezahlt haben oder in zwei Wochen das
Doppelte?“ So erhalten die Forscher eine Einschätzung über die Risikobereitschaft ebenso wie über
Geduld oder Kooperationsverhalten der Befragten.
Numour Puplampo
steht an der Tür seines
Fischerhauses, das
nach und nach vom
Strand begraben wird.
Den Kampf gegen
den Sand hat er aufgegeben. Das Meer
mit seinen höher
steigenden Wellen
raubt an anderer Stelle aber auch Land und
schafft immer größere
Abbruchkanten (links).
Impulse 01_2016 49
Ein Beispiel: Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer
werden in einem Szenario vor die Wahl gestellt,
alle Fische aus einem Teich allein zu essen oder mit
anderen zu teilen. Hier zeigte sich, dass Migranten
offenbar „egoistischer“ agieren als Daheimgebliebene – sie teilen weniger gern. Die Annahme, dass
viele die Zuwanderung in ein anderes Land als
gute Investition in die Zukunft sähen, habe sich
bestätigt, sagen die Forscher: Diejenigen, die sich
durch das Auswandern mehr Verdienst versprachen, beziehungsweise ein neues Leben mit mehr
Gewinn, zogen eher weg. „Wer sprichwörtlich mit
dem ‚Spatz in der Hand‘ zufrieden sei, bleibe eher
in der Heimat“, fasst Goldbach zusammen. Sie
Weitere Projekte
i
Afrikas großes Problem:
die Ressource Wasser
Kaum ein Ressourcenthema ist inzwischen weltweit, seit Langem aber vor allem in Afrika so
konfliktbehaftet wie die Situation der Wasserversorgung und der Umgang mit dem „Rohstoff Wasser“ – die sachgerechte Entsorgung der Abwässer
eingeschlossen. Mit Fragen dazu und dem Erlernen
des erforderlichen wissenschaftlichen Handwerkzeugs zur Erforschung des skizzierten Konfliktfelds
beschäftigten sich in den ersten beiden Oktoberwochen 2015 in Norduganda zwanzig afrikanische und
deutsche Doktorandinnen und Doktoranden im
Rahmen einer von der VolkswagenStiftung geförderten Field School. Den Teilnehmern sollte das Wissen und die Kompetenz vermittelt werden, empirische Forschungen selbst entwerfen, durchführen
und analysieren zu können – zunächst am Beispiel
Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, aber
durchaus auch davon losgelöst.
Die jungen Nachwuchswissenschaftlerinnen und
Nachwuchswissenschaftler aus dem Südsudan,
Uganda, Malawi und Niger sowie aus Deutschland erhielten zunächst ein praktisches Training
in sozialwissenschaftlichen Forschungsmethoden,
wie sie in der Kultur- und Sozialanthropologie,
der Politikwissenschaft und den Wirtschafts- und
50
gehört zum Team von Professor Dr. Achim Schlüter, Leiter der Abteilung Sozialwissenschaften am
Leibniz-Zentrum für Marine Tropenökologie (ZMT)
in Bremen.
Es sind die Küsten
dieser Welt, an
Teilprojekt fünf: Wie agieren die Politik und andere
Einrichtungen und Institutionen?
denen offenkundig
schneller als anderswo globale klimati-
Der Kreis schließt sich wieder bei Professor Dr.
Michael Flitner und seinem Team. Während zuvor
eher Einstellungen, Verhalten und Reaktionen
Einzelner im Vordergrund standen, nimmt er
mit seinen Mitarbeitern die Vielzahl involvierter
Sozialwissenschaften zur Anwendung kommen.
Ein wichtiges Ziel war es, den Teilnehmerinnen
und Teilnehmern zu vermitteln, wann ein Einsatz
welcher Methodik passend zu welchem Forschungsdesign geboten und sinnvoll erscheint
– und wann nicht. Dabei hangelte man sich im
Laufe der zwei Wochen durch unterschiedliche
Fragestellungen und Projektdesigns rund um das
Themenfeld „Post-Konfliktgebiete“. Eingebettet in
die zweiwöchige International Field School “Water
Governance and Interdisciplinary Research Techniques
in Post-Conflict Areas” waren zahlreiche intensive
­Feldforschungsübungen.
Beispielhaft erhoben die Teilnehmer Daten über
Afrikas Wassermanagement und hatten dann die
Aufgabe, vor dem Hintergrund spezifischer Fragestellungen mit der richtigen Methodik sinnvoll
weiterzuarbeiten. Dabei sei es spannend gewesen
zu beobachten, wie die Doktoranden auf der Basis
ihrer unterschiedlichen fachlichen Expertise die
jeweiligen methodischen Ansätze ihrer Disziplinen
eingesetzt hätten, sagt Projektkoordinatorin Dr.
Birthe Pater vom Institut für Ethnologie und Afrikastudien der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz.
Nach und nach hätten die jungen Forscherinnen
und Forscher die Stärken, aber auch die Schwächen
und Unzulänglichkeiten mancher Ansätze erkannt
und sich von dort aus anderen Ideen geöffnet, die
auch aus ihnen fremden Fächern stammen konnten.
sche Veränderungen
manifest werden.
Die Menschen lernen das auszuhalten
– oder fliehen.
Dabei zeigte sich nicht zuletzt, dass der wissenschaftliche Disput und Diskurs, der unabdingbar ist
auf dem Weg zum Erfolg in der Forschung, gelernt
und geschult sein will.
dem Südsudan und Uganda ist solch ein Angebot
zugleich eine Chance, sich durch gemeinsame Forschungsarbeiten beim Wiederaufbau zu engagieren“, hofft der Mainzer ­Wissenschaftler.
Ursprünglich sollte die Field School im Süd­sudan
stattfinden. Aufgrund der zeitweilig extrem
schlechten Sicherheitslage wurde der Veranstaltungsort jedoch in die Universitätsstadt Gulu in
Norduganda verlegt; beide Länder pflegen ausgeprägte, historisch gewachsene Verbindungen. Für
die Erhebung der Daten und die exemplarische
Lehre zu den Feldforschungsmethoden habe sich
nach Meinung von Field School-Initiator Professor
Dr. Thomas Bierschenk Norduganda aufgrund
einer soziostrukturell relativ gut vergleichbaren
Post-­Konfliktsituation regelrecht angeboten. „Für
Forscher in ehemaligen Konfliktgebieten wie
„Darüber hinaus beziehungsweise von diesem
Projekt ausgehend möchten wir die interregionale
wissenschaftliche Zusammenarbeit innerhalb Afrikas selbst ankurbeln“, erklärt die Mainzer Projektkoordinatorin Birthe Pater. „Längerfristiges Ziel der
Zusammenarbeit ist es, einen Beitrag zum Aufbau
der südsudanesischen Hochschullandschaft zu
leisten und die Strukturen für höhere Bildung im
Südsudan zu entwickeln“, ergänzt sie. Zu diesem
Zweck arbeiten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von der Universität Mainz unmittelbar
vor Ort mit dem Institute of Peace and Strategic
Studies (IPSS) der Gulu-Universität in Norduganda
zusammen, der Goethe-Universität Frankfurt am
Main und der KfW Entwicklungsbank, die mit einem
Büro in der Hauptstadt Kampala vertreten ist.
Christian Jung
Geoffrey Okullo aus Uganda erläutert den angehenden
Wissenschaftlern während der „Field School“ in Norduganda,
wo die Schwierigkeiten des Wassermanagements in vielen
Ländern Afrikas liegen.
Impulse 01_2016 51
Verantwortungsträger in den Blick sowie die politischen Rahmensetzungen und ähnliche Koordinaten. Seine Bremer Forschergruppe untersucht,
welche Konsequenzen zum Bespiel bestimmte
Maßnahmen haben, die nationale Regierungen,
regionale Verwaltungen, inter- und transnationale
Institutionen wie die Vereinten Nationen oder
verschiedene Nichtregierungsorganisationen
(NGOs) ergreifen. Dabei hinterfragen die Forscher:
Wie hat die Politik bisher auf akute ebenso wie
drohende Umweltveränderungen reagiert? Was
wäre vor Ort zu tun, um gegebenenfalls mit Auswirkungen des Klimawandels umzugehen? Und
inwiefern werden Entscheidungen, die in den
Regionen oder ganz lokal vor Ort gefällt werden,
beeinflusst – etwa gestützt oder konterkariert?
Darüber hinaus, ebenso wichtig: Inwieweit wird
die Bevölkerung an den Entscheidungen beteiligt?
Feldforschung in Afrika:
Jan Schuster zu Wasser
im Dzita-MangrovenGebiet in Ghana. Rauf
und runter fuhr er die
Küste und fragte die
Einheimischen: „Wie war
es mit den Überschwemmungen früher, wie
erlebt ihr sie heute?“
„Erste Ergebnisse deuten darauf hin, dass politische Entscheidungen seit Jahrzehnten das regionale Migrationsgeschehen beeinflussen“, sagt
Johannes Herbeck. Mit Blick auf die Region Keta
in Ghana sieht er da insbesondere die seit Jahren
voranschreitende Verschlechterung der regionalen Infrastruktur. Ein dort lange geplanter Hafen
wurde plötzlich woanders gebaut, die regionale
Verwaltung verlegt und der grenzüberschreitende
Handel mit Togo zeitweise behindert. Umge-
kehrt agiere die Politik kaum positiv gestaltend,
schon gar nicht in langfristiger Perspektive, wie
gerade auch der Umgang mit Umweltproblematiken ­zeige. „Entscheidungen werden eher
nach Gelegenheitsfenstern getroffen“, ergänzt
Michael Flitner. „Wenn beispielsweise ein Förderprogramm läuft, wird ein Staudamm gebaut
oder in eine Küstenschutzmaßnahme investiert.“
Was halt gerade so komme und passe. Dabei würden zudem selten die negativen Konsequenzen
bedacht, die sich etwa, um bei dem Beispiel Staudamm zu bleiben, aus der Umsiedlung der Bevölkerung ergäben.
Erkenntnisse aus den untersuchten Regionen sind
keine stumpfe Blaupause für andere Orte der Welt
„Mit unserem Blick auf die regionale Ausrichtung
analysieren wir eine bislang wenig beachtete
Ebene“, beschreibt Flitner das Besondere an dem
Projekt. Dies könne nur in der fachübergreifenden
Zusammenarbeit gelingen. Da sind sich alle Beteiligten einig. Volker Heins würdigt insbesondere
das Engagement der VolkswagenStiftung, die das
Vorhaben in der Förderinitiative „Schlüsselthemen
für Wissenschaft und Gesellschaft“ über drei Jahre noch bis Ende 2016 mit insgesamt rund einer
Million Euro unterstützt: „Unsere Teilnahme als
Kulturwissenschaftler an dem Projekt war ausdrücklich erwünscht, um den interdisziplinären
Fokus noch breiter auszurichten.“ Eine derart starke multidisziplinäre Förderung sei außergewöhnlich. „Die Zusammenarbeit in diesem Projekt ist
zwar eine besondere Herausforderung, aber auch
ein ertragreicher Ansatz für die Forschung“, ist
Michael Flitner überzeugt.
Auch über das Projekt hinaus seien neue Vernetzungen mit Kolleginnen und Kollegen in
anderen Ländern und zu anderen Fachgebieten
entstanden, ergänzt Hildegard Westphal. Davon
könnten künftig alle Seiten profitieren. So seien
Gastwissenschaftler aus Ghana und Indonesien
bereits mehrfach zu Besuch gekommen. Außerdem wirkten Wissenschaftler aus Togo an der
52
Regionalkonferenz im November 2015 in Ghana
mit. Die Tagung war für alle Projektbeteiligten ein
wichtiges Ereignis, bei dem sie erstmals Ergebnisse im Dialog mit den Verantwortlichen der Region
erörtern konnten. Allein der Titel des Verbundvorhabens „Neue regionale Formationen: Rascher
Umweltwandel und Migration in Küstenregionen
Ghanas und Indonesiens“ sorge immer wieder für
interessierte Nachfragen, so ungewöhnlich scheine vielerorts noch der Ansatz einer Annäherung
an das komplexe Themenfeld über die Betrachtung „regionaler Formationen“.
Gefragt ist die Expertise aus dem Projekt auch
überregional: Felicitas Hillmann hielt auf Anfrage
der Weltbank einen Vortrag, bei dem vor allem
die Methodik interessierte. Doch sie warnt: „Man
kann die Lösungen aus unseren Modellregionen
nicht als Blaupause auf andere übertragen.“ Flitners Appell an die Entscheidungsträger lautet
daher: „Wir müssen die vorherrschende globale
Perspektive dringend differenzieren. Die Rolle der
Regionen sollte in jedem Fall stärker beachtet und
unterstützt werden.“
Nachklapp: Mitten in der Laufzeit des Forschungsprojekts untermauert ein Gerichtsurteil die Brisanz dieses Thema. Im Herbst 2014 erkennt Neuseeland als erstes Land weltweit den Klimawandel
und die Zerstörung der Umwelt als Asylgrund an.
Sigeo Alesana und seine Familie von der Pazifikinsel Tuvalu, die wie auch andere Eilande in den
Weltmeeren durch den steigenden Meeresspiegel
spürbar in Mitleidenschaft gezogen wird, erhalten nach hartem Kampf ihrer Anwältin in letzter
Instanz endgültig das Bleiberecht in Neuseeland
zugesprochen. Ein Jahr zuvor waren die Mitglieder
einer Familie aus dem Inselstaat Kiribati noch
nicht als Klimaflüchtlinge anerkannt worden.
Die Pazifikstaaten nutzen seitdem gerade dieses
Aufsehen erregende Urteil, um ob des steigenden
Meeresspiegels die Länder weltweit zu einem
noch stärkeren, vereinten Kampf gegen den Klimawandel aufzufordern. Sollte sich nichts ändern,
dann erwartet nun inzwischen auch das deutsche
Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung (früher: Ministerium für Entwicklungshilfe) bis zu 200 Millionen Klimaflüchtlinge bis Mitte dieses Jahrhunderts.

Sie formen das Projekt
„Küstenregionen“ (von
links): Professor Dr.
Michael Flitner, Universität Bremen; Jan
Schuster, M.A., vom KWI
in Essen; Dr. Thomas
Mann und Professorin
Dr. Hildegard Westphal,
beide Leibniz-Zentrum
für Marine Tropenökologie ZMT in Bremen;
Johannes Herbeck, Universität Bremen; Professor Dr. Achim Schlüter
vom ZMT in Bremen;
Usha Ziegelmayer M.
A. und Professorin Dr.
Felicitas Hillmann, beide
Freie Universität Berlin –
sowie Carina Goldbach
vom ZMT in Bremen.
Impulse 01_2016 53
Schwerpunktthema
Ins Blaue hinein | KÜSTEN
Ein Schiff
wird kommen
Sie plündern und morden. Aber sie
treiben auch Handel bis in den Orient
und erkunden unbekannte Küsten:
die Wikinger. In einer Epoche, in der
mit Karl dem Großen zeitweilig ein
einziger Herrscher über halb Europa
gebietet, setzen sie im Norden
des Kontinents den Kontrapunkt.
Die Sphären der Macht teilen
sich am Grenzwall der Wikinger,
bei Haithabu, nahe der heutigen
Stadt Schleswig. Wir befinden uns
im 11. Jahrhundert, am Vorabend
von Haithabus Untergang und
Schleswigs Aufstieg.
Auf historischem Grund der einstigen Siedlung Haithabu befinden sich heute das
Wikinger-Museum und das nachgebaute Wikingerdorf mit einem halben Dutzend
rekonstruierter Häuser, in denen man auch auf „Wikinger-Darsteller“ trifft. Die
Schausammlung des Museums informiert anhand archäologischen Fundmaterials
unter anderem über die Ergebnisse der von der Stiftung geförderten Forschung.
Impulse 01_2016 55
Text: Christian Jung // Fotos: Johannes Arlt
Kurz vor 700
Das im heutigen nördlichen Schleswig-Holstein
gelegene „Danewerk“
entsteht, ein komplexes
Befestigungssystem, das
am Ende aus Erdwällen
mit Wehrgräben, einer
viele Kilometer langen
Ziegelsteinmauer, zwei
mittelalterlichen Wallburgen und einem Seesperrwerk besteht.
Um 700
Die Wikinger gründen
Ribe, die älteste Stadt
Dänemarks.
700-730
Fortlaufender Ausbau
des „Danewerks“: Die
Befestigungen sind angelegt in der Schleswiger
Landenge zwischen der
Ostseeförde Schlei und
den Niederungen von
Treene und Rheider Au.
737-750
Die Wikinger verstärken
das „Danewerk“ massiv:
Es entstehen zum einen
der 7,5 Kilometer lange
Kograben und der Verbindungswall. Der Osterwall
bezieht die Ostseebucht
Windebyer Noor in das
Verteidigungssystem ein.
Errichtet werden auch
die Waldemarsmauer,
die Burg Rothenkrug und
die Thyraburg. Besonders
beachtlich: der Bau des
Seesperrwerks in der
Großen Breite der Schlei
zur Kontrolle durchfahrender Schiffe.
Um 770
Haithabu wird gegründet.
793
Der erste große Überfall der Wikinger; sie
plündern das Kloster
Lindisfarne an der Nordostküste Englands.
795
Der Beginn zahlreicher
Wikingerüberfälle auf
Siedlungen in England,
die über Jahre anhalten.
56
V
on Kälte gestählt, groß und stark von Statur,
furchteinflößend, Achtung gebietend. Kurz: ein
Auftritt wie ein Donnerhall. Und dieser eilt ihnen
als Ruf auch voraus. Wohl kaum ein Volk der europäischen Geschichte steht geschlossen in solch
einem schlechten Leumund wie sie, die Wikinger.
Zwischen 800 und 1050 nach Christus überfallen die Männer aus dem hohen Norden gleich
reihenweise die Küstenstädte Europas, das allerdings längst nicht das Europa ist, das wir heute
vor Augen haben. Bei ihren Raubzügen plündern
sie nach Belieben, brandschatzen und verbreiten
Angst und Schrecken – ob an den Gestaden der
Nordsee oder den Siedlungen entlang der Küste
des Mittelmeeres. Sogar weit die Flüsse hinauf bis
ins Binnenland dringen sie vor, erobern Städte
wie Bourges, Clermont-Ferrand, Toulouse oder
Périgueux. Ganz Irland und weite Teile Englands
suchen sie heim, und selbst in Vorderasien sind die
unerschrockenen Seefahrer gefürchtet und berüchtigt, gelten als wenig zimperlich und morden bei
ihren Überfällen oft mit leichter Hand. Sie töten
Männer, entführen Frauen und Kinder und nehmen immer wieder auch Sklaven, denn die lassen
sich schließlich gut zu Geld machen.
Eine Begegnung mit ihnen ist stets eine mit
weitreichenden Folgen. Auf wen die Nordmänner
treffen, dessen Leben sieht hinterher meist anders
aus als vorher. Ganz anders. Wenn man es denn
überhaupt überlebt.
Doch das ist nur die eine Seite. Die Wikinger eint
eine gemeinsame Sprache: von ihren Siedlungen
entlang der Fjorde der Nordsee bis zu den Schären
der Ostsee. Sie sind kluge Händler und geschickte
Handwerker – und: hervorragende Schiffskonstrukteure. Sie entwickeln lange, schlanke, in vielerlei Hinsicht handliche Boote, ausgerüstet mit
nur einem einzigen Rahsegel, und dabei äußerst
seetauglich und robust. Die Konstruktion erlaubt
es ihnen, weite Strecken über das offene Meer zu
fahren, schnell vor Küsten aufzutauchen, zügig
einzuholen – und später ebenso rasch wieder nach
ihren Beutezügen zu verschwinden.
Auch ist es möglich, kleinere Schiffe wie jene, die
das Gesicht der Kriegsarmada prägen, ruckzuck
auf rollierende Baumstämme zu hieven und
mit Manneskraft zig Kilometer über Land zu
bewegen. Als geniale Seeleute steuern sie zielgenau und offensichtlich kenntnisreich durch den
„norwegen“, den Nordweg, in arktische Gewässer,
über den Atlantik bis nach Grönland und landen
als erste Europäer um 1000 in Amerika, an der
Küste Neufundlands. Sie kolonisieren Island und
andere Inseln im Nordatlantik. Und das in Zeiten,
in denen es ansonsten in den Kulturen Europas
allenfalls eine vage Vorstellung gibt von der
Gestalt des Kontinents und insbesondere dessen
nördlichen Rändern, geschweige denn von ferneren Gegenden dieser Welt.
Und dann kommen die Schicksalsjahre 1050 und
1066 nach Christus. Sie werden für den U
­ ntergang
der Wikingerkultur von enormer Bedeutung sein.
Im Jahr 1050 nach Christus findet die damals
größte Wikingerstadt des Nordens, die im heutigen Schleswig-Holstein gelegene Siedlung Haithabu, ihr erstes Ende im Feuer. König Harald der
Harte von Norwegen (König von 1047 bis 1066)
unternimmt den entscheidenden Angriff auf den
Ort; der dänische König Sven Estridsen (König von
1047 bis 1074) ist an anderer Stelle gebunden und
kann nicht eingreifen. Haithabu wird sich von diesem Zusammenbruch nicht mehr erholen.
1066 dann eine zweite folgenschwere Plünderung.
Die Stadt wird erneut gebrandschatzt, diesmal von
Westslawen, die damals in den Gebieten östlich
der Kieler Förde leben. Die Einwohner Haithabus
verlegen die Siedlung daraufhin nach Schleswig,
direkt gegenüber an das andere Ufer der Schlei,
und bauen Haithabu nicht wieder auf. Gemeinsam mit der Schlacht von Hastings in England im
selben Jahr markiert die Zerstörung und Aufgabe
Haithabus das Ende der Wikingerzeit. In Schleswig hingegen entsteht eine große Hafenanlage
als neues „Logistikzentrum“ zwischen Ostsee und
Nordsee – einer der bedeutendsten Fernhandelsplätze seiner Zeit.
Ein Jahrtausend später: Die Ereignisse setzen den
Rahmen für ein Forschungsprojekt, das 2012 startete: „Zwischen Wikingern und Hanse: Kontinuität
und Wandel des zentralen Umschlagplatzes Haithabu/Schleswig im 11. Jahrhundert“. Ausgestattet mit 570.000 Euro, untersuchten Forscher der
Universität Kiel und des in Schleswig ansässigen
Archäologischen Landesmuseums Schloss Gottorf
vier Jahre lang das Ende Haithabus und die Phase
seiner „Ablösung“ durch die Stadt Schleswig. Jetzt
liegen die Ergebnisse vor.
Haithabu und Schleswig: zentrale Handelsplätze
und Kommunikationsknotenpunkte ihrer Zeit
„Zwar war bekannt, dass der Hafen Haithabus im
11. Jahrhundert allmählich verlandete und beladene Schiffe ihn kaum noch anlaufen konnten;
dennoch ließen archäologische Spuren schon
einige Zeit vermuten, dass dort länger als bislang
gedacht Handel getrieben wurde und Handwerker aktiv waren“, sagt Dr. Ralf Bleile, Leiter des
Landesmuseums. „Ziel war es, das zu konkretisieren und so das Ende der Wikingerzeit detaillierter
und zeitlich genauer zu fassen.“
Um zwei zentrale Ergebnisse vorwegzunehmen:
„Jetzt, nach Abschluss der Forschung, gehen wir
davon aus, dass Schleswig und Haithabu etwa
noch eine Generation lang nebeneinander als
Siedlungen existiert haben“, sagt Bleile, einer der
beiden Initiatoren des Projekts. „Ebenso kann man
sagen, dass Schleswig einige Jahre, vielleicht sogar
Jahrzehnte älter ist als bislang angenommen“,
fügt Ko-Projektinitiator Professor Dr. Ulrich Müller
vom Institut für Ur- und Frühgeschichte der
Christian-Albrechts-Universität Kiel hinzu und
nennt 1070/1071 als bislang gültiges Gründungsdatum Schleswigs, das nun infrage zu stellen sei.
Dr. Volker Hilberg
beschäftigt sich mit
Silbermünzen und
anderen Silbergegenständen jener Zeit. Der
Archäologe am Schleswig-Holsteinischen Landesmuseum fungiert
als Leiter der Forschergruppe und bündelt die
Kontakte zu den vielen
„Analytikpartnern“ in
Deutschland.
Unstrittig ist, dass beide am inneren Ende der
Schlei nahe beieinander liegende Stätten als die
zentralen Kommunikationsknoten und Warenumschlagplätze Nordeuropas ihrer Zeit gelten mit
den jeweils größten Häfen: Haithabu vom 8. bis in
die Mitte des 11. Jahrhunderts und Schleswig am
Anfang seiner Blütezeit, die auf die zweite Hälfte
des 11. Jahrhunderts datiert. Das Bemerkenswerte
aus Sicht beider Forscher: Trotz des gravierenden Bruchs in der politischen Bedeutung sei der
Übergang von Haithabu nach Schleswig so gut
gelungen, dass die Wirtschafts- und Infrastruk-
Impulse 01_2016 57
Der Kieler Archäologe Ulrich Müller umreißt die
Eckpfeiler des Projekts: „Zum einen erfolgte eine
Digitalisierung der Siedlungs- und Hafenbefunde
der ‚Altgrabungen‘ und auf dieser Basis die Analyse und Auswertung der Objekte mithilfe neuer
Verfahren. Die Zeichnungen und Fotos der Grabungen wurden dann zu einem dreidimensionalen Modell zusammengefügt. All das mündete in
entsprechende 3-D-Visualisierungen“, erläutert er.
Mit ihrer Hilfe lasse sich etwa die räumliche Situation an bestimmten Punkten eines Siedlungsabschnitts besser darstellen. So entsteht ein recht
genaues Bild von der damaligen Bebauungsstruktur. „Spannend wird es, wenn man in entsprechende Computermodellierungen dann die vermuteten
historischen Wasserstände über Berechnungen
einfließen lässt. Solche Simulationen sind ja recht
komplex und noch gar nicht so lange möglich!“
Darüber hinaus seien dann und wann ergänzend
systematische, flächendeckende Begehungen mit
Metalldetektoren erfolgt, um kontinuierlich weiterhin Funde aus den Schichten des fokussierten
11. Jahrhunderts zusammenzutragen.
Michaela Schimmer,
Doktorandin an der
Universität Kiel, begutachtet eine Christusfibel
im Museum Schleswig
(unteres Bild: Großaufnahme). Fibeln sind
tur im Gebiet der inneren Schlei recht bruchlos
weiter funktioniert habe. „Die ganz Nordeuropa
umspannende Bedeutung der Region als Tor zwischen Nord- und Ostsee sowie als Umschlagplatz
zwischen Ost- und Westeuropa hat auch nach
der Mitte des 11. Jahrhunderts noch eine Zeit lang
Bestand gehabt“, halten sie fest.
von ihrer Funktion her
heutigen Broschen vergleichbar; sie dienten
dem schmückenden Verschließen von Kleidung.
58
Doch worauf gründen diese Erkenntnisse im
Kleinen? Im Archiv und im Magazin des Archäologischen Landesmuseums in Schleswig befinden
sich aus zahlreichen früheren Grabungen – insbesondere der 1970er und 1980er Jahre – Dokumente
und Funde beider Orte, die jene entscheidende
Phase zwischen dem Ende der Wikingerzeit und
dem Beginn friesisch dominierten Handels erhellen können. Ein Postdoktorand, zwei Doktoranden
und eine technische Mitarbeiterin haben sich
mit den beiden Projektinitiatoren an die Arbeit
gemacht, unter Zuhilfenahme neuester Methoden
und Techniken solche Leuchtfeuer zu suchen.
Doch wie konkret lässt sich nun belegen, dass
die Region um Schleswig wichtiger Umschlagplatz blieb im Warenverkehr zwischen Nord- und
Ostseeraum – auch nach der Verlagerung von
Siedlung, Hafen und Markt von Haithabu an das
nördliche Schleiufer infolge schwerer zweifacher
Verwüstung? „Zeugnis für weitreichende Kontakte in alle Teile der bekannten Welt sind neben den
historischen Quellen vor allem Importgüter im
Fundmaterial“, sagt Müller. Und die fänden sich
durchaus in den Schleswiger Altstadt-Grabungen.
Zwar lägen Stücke, deren geografische Herkunft
sich klar benennen lässt, oft nur als Einzelfunde
oder in geringer Stückzahl vor, was eine Aussage
über die Handelsverbindungen und Fernkontakte Schleswigs nicht zulasse – doch: „Es gibt
Ausnahmen wie etwa importierte Keramik.“ Mit
unter anderem rund 5000 Keramikscherben einer
Ausgrabung des Jahres 2007 im Hafengang 11 in
Schleswig beschäftigte sich Doktorandin Michaela
Schimmer. Wenn sie zu erzählen beginnt, erwachen die jahrhundertealten Objekte zum Leben.
„Über die Analyse der Funde wissen wir, dass im
11. und 12. Jahrhundert rege Handelsbeziehungen in den westeuropäischen Raum bestanden“,
wartet sie gleich mit einer wichtigen Erkenntnis
auf. Schimmer kennzeichnete die Funde zunächst
hinsichtlich Warenart und Fragmenttyp sowie
nach der Rand- und Bodenform der Scherben.
Besonderes Interesse galt auch – sofern vorhanden
– den Verzierungsmustern. „Ergänzen lässt sich
jetzt, dass es neben den Kontakten in Richtung
Westeuropa ziemlich sicher auch regelmäßigen
Warenaustausch mit dem westslawischen Raum
gab.“ Auch manches an der Fundsituation spräche
eindeutig für zumindest eine teilweise Einfuhr an
Keramiken – als Handelsgut selbst, Ausstattung
der Schiffsmannschaften oder als Transportbehälter, die beim Anlanden der Schiffe oder Verkauf
des Inhaltes als defekt oder unbrauchbar vor Ort
entsorgt wurden und sich jetzt wiederfinden.
Handelsbeziehungen in alle Regionen Europas –
und darüber hinaus
In der neuen Siedlung Schleswig sei „besonders
bei den Dingen des täglichen Bedarfs eine praktisch bruchlose Weiterführung der aus Haithabu
bekannten Formen und Herstellungstechniken
festzustellen“, platziert Michaela Schimmer ein
weiteres zentrales Ergebnis, das sie aus ihren
Untersuchungen ableitet. Beinahe spielerisch
gleiten die Objekte durch ihre Finger, während sie
fortfährt: „Das gilt für das umfangreiche heimische Keramikmaterial ebenso wie für Holz- und
Eisenfunde.“ Zum einen liege diese Kontinuität
wohl sicherlich in der funktionsbestimmten
Formgebung der Objekte begründet, „zum anderen handelt es sich aber eben auch um Produkte,
die sich weitgehend aus den im Umland vorkommenden Rohstoffen fertigen ließen“.
sie insgesamt bis heute erfasst, katalogisiert und
ausgewertet: die meisten davon Objekte aus Eisen,
einige Hundert aus Kupfer, Kupferlegierungen,
Blei und/oder Zinn – aber auch seltene Funde wie
sieben Gussformen oder -fragmente aus Gestein
sowie elf Gusstiegelfragmente aus Keramik.
Als äußerst aufschlussreich erwiesen sich zwanzig
besondere Gegenstände aus Glas, darunter Fingerund Glasringe, Ringperlen sowie eine Silberfibel
und ein silberner Ohrring. „Für Haithabu lässt sich
die Herstellung von Glasobjekten recht sicher nachweisen, in Schleswig fand dieses Handwerk offenbar allenfalls in geringem Umfang eine Fortsetzung; auch kommt dort die Formgebung deutlich
weniger vielfältig daher“, stellt Schimmer mutig
fest. Zumindest lasse sich bis jetzt nichts anderes
belegen. „Die Funde legen die Vermutung nahe,
dass vergleichsweise mehr importiert wurde.“
Auch das – rohstoffimportabhängige – Bunt- und
Weißmetallhandwerk in Schleswig weist Unterschiede auf zu den aus der Spätphase Haithabus
bekannten Formen, Techniken und Legierungszusammensetzungen. Spannend ist vor allem der
Blick auf die Schmuckobjekte aus Weißmetall,
und hier insbesondere auf die Herstellung von
Kleidungsbestandteilen, zu denen sogenannte
Die wissenschaftliche
Mitarbeiterin am Kieler
Institut für Ur- und
Frühgeschichte fand
reichlich Unterschiede
hinsichtlich Formen,
Techniken und Legierungszusammensetzungen zwischen den
in Schleswig und den in
Haithabu hergestellten
Fibeln. Interessant ist,
dass auf Schleswiger
Grund vermehrt christliche Elemente wie
Kreuze erstmals als
Verzierung auftauchen.
Ein anderes Bild ergibt sich, wenn man den Blick
auf Preziosen aus jener Zeit richtet. Michaela
Schimmer nahm sich aus der alten Schleswiger
Hafengang-Grabung unter anderem Glas- und
Metallfunde vor. Nahezu 3000 Einzelfunde hat
Impulse 01_2016 59
Um 800
Karl der Große lässt eine
Küstenabwehr nördlich
der Mündung der Seine
gegen die Wikinger
errichten.
806
Schwedische Wikinger
gründen Siedlungen am
Ladogasee im heutigen
Russland.
808
Haithabus große Konkurrenz, der slawische
Handelsort Reric in der
Nähe von Wismar, wird
durch den dänischen
König Gudfred zerstört.
809
Durch die Zwangsumsiedlung der Kaufleute
von Reric nach Haithabu
entwickelt sich die Stadt
zur Handelsmetropole,
noch bevor Dänemark
Einheit erlangt.
Um 810
Haithabu ist jetzt die
größte Stadt Nordeuropas und Zentrum
des Wikingerreichs.
Ab 811
Die einige Kilometer
südlich Haithabus fließende Eider markiert die
Grenze zum Frankenreich, was die Bedeutung
Haithabus noch vergrößert.
841
Die Wikinger gründen
Dublin.
Um 848
Wohl in diesem Jahr
errichtet Erzbischof
Ansgar von Hamburg die
erste christliche Kirche
in Haithabu.
Um 860
In Haithabu leben jetzt
mindestens tausend
ständige Einwohner;
der Ort ist ein wichtiger,
überregional bekannter
Handelsplatz, an dem
auch eigene Münzen
geprägt werden.
Um 870
In Island entstehen erste
Wikingersiedlungen.
885
„Danelag“ entsteht, eine
weite Teile des heutigen
Südenglands umfassende Wikingerenklave.
60
Fibeln zählen. Sie ähneln von der Funktion her
heutigen Broschen und dienten dem schmückenden Verschließen von Kleidung. Solche Fibeln
gibt es in verschiedenen Ausführungen, etwa als
Buckel- oder Scheibenfibeln. „An der Art und Weise, wie die Fibeln ausgestaltet wurden, lässt sich
einiges ablesen“, erläutert Schimmer. Vor allem sei
erkennbar, dass sich über die Zeit eine eigene Formensprache entwickle. „Die Gestaltung der Weißmetallobjekte setzt sich deutlich ab von jener der
Edelmetallfibeln.“ Interessant sei auch, dass auf
Schleswiger Grund vermehrt christliche Elemente
wie Kreuze als Verzierung auftauchten.
Als Glücksgriff fällt immer wieder der Name eines
engagierten Doktoranden dort: Stephen William
Merkel. Der junge US-Amerikaner analysierte
unter anderem 243 Bunt- und Weißmetallobjekte
auf die Zusammensetzung der jeweiligen Legierung. Die Entdeckung einer seltenen und damit
besonders charakteristischen Kupfer-Zink-ZinnBlei-Legierung führte zur Untersuchung weiterer
rund fünfzig Funde aus drei anderen Grabungsorten in der Schleswiger Altstadt. Zudem wurden
je zehn Proben von Blechen aus der Kupfer-ZinkZinn-Blei-Legierung und von Weißmetallobjekten
(Blei, Zinn und Blei-Zinn-Legierungen) zur Bleiisotopenanalyse hinzugenommen.
Unterstützung durch moderne Prüfverfahren –
ob Röntgenfluoreszenz- oder Bleiisotopenanalyse
Fasst man die Untersuchungen auch über verschiedene Objektklassen hinweg einmal etwas
generalisiert zusammen, lässt sich im Vergleich
der Funde aus Haithabu und der Schleswiger
Altstadt anhand der Röntgenfluoreszenzanalyse
sagen: Die verwendeten Metalle und ihre Legierungen unterscheiden sich deutlich. „Während in
Haithabu überwiegend Blei oder bleireiche BleiZinn-Legierungen verwendet wurden, dominiert
bei den Schleswiger Funden Zinn als Werkstoff;
Blei-Zinn-Legierungen treten am nördlichen
Schleiufer häufiger und vor allem mit hohem Zinnanteil auf“, geben die Wissenschaftler einen ersten
zusammenfassenden Überblick.
Um im Detail zu erkennen, wie sich das Spektrum
verschiedener Materialien zwischen den Fundorten unterscheidet, knüpften die findigen Forscherinnen und Forscher ein Netz in alle Richtungen
zu ausgewiesenen Experten für bildgebende oder
auch andere analytische Verfahren. Als etwa bei
Michaela Schimmer die Vermutung wuchs, dass
sich die Glasfunde von Haithabu in ihrer Materialzusammensetzung von jenen in Schleswig
unterscheiden könnten, ließ sie Objekte beider
Fundorte von Spezialisten des Geowissenschaftlichen Zentrums der Georg-August-Universität
Göttingen auf die chemische Zusammensetzung
hin untersuchen. Die Grundglastypen wurden
dann gleich mit analysiert.
Zahlreiche Materialuntersuchungen erforderten hingegen eine Röntgenfluoreszenzanalyse.
Die entsprechende Expertise für umfangreiche
archäometallurgische und chemische Analysen
fand man in Bochum am Deutschen BergbauMuseum. Die Projektpartner dort untersuchten
das ihnen weitreichend vorgelegte Ausgrabungsmaterial zunächst einmal generell auf Metalle, die
im skandinavischen Raum zu jener Zeit typischerweise bevorzugt verwendet wurden: Silber, Kupfer, Blei/Zinn und Messing – und zwar hinsichtlich
der Herkunft sowie der Verarbeitung.
Und während sie so ein Ergebnis nach dem anderen präsentieren, wird zugleich sichtbar, wie vielfältig vernetzt die Forschergruppe ist: ein Kooperationspartner nach dem nächsten scheint auf. Die
eingebundenen Standorte sind klug gewählt und
die Zusammenarbeit greift vielschichtig ineinander. So ist es gelungen, das „Kooperationsvorhaben
Haithabu/Schleswig“ über eine Promotionsarbeit
einzubinden in die neue Graduiertenschule „Rohstoffe, Innovation und Technologie alter Kulturen
(RITaK)“ – ein Verbundangebot von Ruhr-Universität Bochum und Deutschem Bergbau-Museum.
Die Dissertation zum Thema „Silber und Silberwirtschaft in Haithabu“ ist Teil des dort verankerten Forschungsclusters „Nordmitteleuropa zwischen römischer Kaiserzeit und Mittelalter“.
Die Wikinger: harte Krieger, gnadenlose Eroberer –
oder doch: kluge Händler und ehrbare Kaufleute?
Silber ist einer der begehrten Rohstoffe in der
Hochphase Haithabus um das Jahr 1000, als die
Stadt zentrale Metropole im Wikingerreich ist.
Woher aber stammt es? Immerhin reicht das Einflussgebiet der Nordmänner von Neufundland in
Nordamerika bis in die Steppen Zentralasiens und
von Grönland bis ans Mittelmeer. Sie befahren
die nördlichen Gewässer vom Labradorstrom bis
zum Eismeer und die europäische Atlantikküste
bis Gibraltar. Sie dringen über die Flüsse Großbritanniens und des Kontinents bis ins Herz Westeuropas vor. Außerdem gelangen sie über Wolga
und Dnjepr ins Schwarze und Kaspische Meer; von
dort aus bedrängen die Wikinger Byzanz. Und
immer geht es um Waren, Menschen, Geld, Profit.
Manches Gut wird gehandelt, doch vieles holen
sie sich – oft mit Gewalt.
Um an gleich welche Objekte ihrer Begierde zu
kommen, scheuen sie keine Auseinandersetzung.
Gefürchtet sind die Blitzkriege und ihre Taktik
dabei – sofern man von Taktik reden kann. Denn
die ist eigentlich immer gleich. Die Schiffe rasen
auf die Küste zu, die Mannen werfen sich von Bord,
rennen brüllend an Land, stürmen Wohnhäuser,
schrecken auch nicht davor zurück, Klöster abzufackeln und Mönche zu massakrieren. Kurzgefasst:
plündern, morden, Feuer legen, Beute machen,
zurück aufs Boot, in See gestochen – so der Ablauf.
Doch das Bild bedient auch ein Klischee; es hat
eine Unwucht und bildet nur einen Teil der Wikingerkultur ab. Denn die Nordmänner treten auch
anders auf, wie ein genauer Blick zeigt. Ebenso
brillieren sie als frühe Entdecker, Kapitalisten –
und eben Händler. Und als solche hinterlassen
sie Eindruck in Russland, Spanien oder Byzanz.
Über die Gründung einer Art frühmittelalterli-
Im Wikinger-Museum in
Haithabu ausgestelltes
Reitzubehör: Zaumzeugund Steigbügelbeschlag
(oben links) sowie ein
weiterer in Haithabu
gefundener Steigbügelbeschlag (oben rechts).
Unterdessen fertigt
Museumszeichner Gert
Hagel-Bischof von einem
ebenfalls aus Haithabu
stammenden Gewicht
eine Skizze an, während
Volker Hilberg ein paar
Meter weiter einen Zaumzeugbeschlag vermisst.
Impulse 01_2016 61
der Feingehalt an Silber bei Münzen dänischen,
deutschen und englischen Ursprungs anfangs
noch bei 80 bis 90 Prozent, so sinkt er bis zu den
1080er Jahren auf Feingehalte von lediglich 50
bis 60 Prozent.
Kreuz und quer durch die Republik:
Jedes Objekt reist zu „seinem“ Experten
Das Interesse von
Doktorand Felix Rösch
gilt der wissenschaftlichen Aufarbeitung
Zehntausender Holzfunde jener Zeit. Hier
vermisst er Tröge im
Archäologischen Landesmuseum Schloss
Gottorf in Schleswig.
chen Hanse kurbeln sie gleichsam als Pioniere der
Globalisierung den Welthandel an. Und der dreht
sich um Pelze, Schwerter, Schmuck – aber auch um
Waren wie Honig. Sie handeln mit Salz aus Frankreich, Speckstein von den Shetlandinseln, Wein aus
dem Rheinland, Seide aus Byzanz. Sie sind ehrbare
Kaufleute. Und als solche haben sie Interesse an
allen edlen Dingen – so auch an Silber, das ein
besonderes Gut ist, dient es doch zugleich als
Zahlungsmittel für all die anderen Waren.
Im 10. Jahrhundert kommt Silber vor allem
aus dem Harz, im 11. Jahrhundert wird es knapp
Zurück im 21. Jahrhundert treffen wir erneut
auf Stephen William Merkel in Bochum, der sich
mit den Silberfunden des Forschungsvorhabens
beschäftigt und diesmal versucht, anhand von
Bleiisotopenanalysen die genaue Herkunft des
in Haithabu bekannten Edelmetalls zu ermitteln.
„Die Analysen zeigen, dass im Verlauf der 960er
und 970er Jahre das aus Zentralasien ins Ostseegebiet einströmende Silber in den Münzen
immer stärker durch Silber ersetzt wird, das aus
deutscher Produktion stammt; später womöglich
62
– wobei das bislang nur eine Vermutung ist – auch
aus englischer“, sagt Dr. Volker Hilberg. Als heimische Quellen nachgewiesen seien Lagerstätten im
rheinischen Schiefergebirge und vor allem im Harz.
Der Archäologe Volker Hilberg fungiert als Leiter
der Forschergruppe und Kopf der kleinen „Jungen
Akademie auf Zeit“, in die die beiden Doktoranden
und fallweise Studierende eingebunden sind. Er
selbst bearbeitet die Sammlungen „Ausgrabungen Haithabu 2005-10“ und die Ergebnisse der
„Detektorbegehungen Haithabu“. Er koordiniert
die am Archäologischen Landesmuseum sowie
am Institut für Ur- und Frühgeschichte der Universität Kiel vorhandene Expertise für das Projekt,
bündelt die Kontakte zu den Analysepartnern vor
allem in Bochum und Göttingen – dort begleitet er
auch die archäometallurgischen und chemischen
Untersuchungen – und hält die Vernetzungen zu
vergleichbaren Sammlungen einschließlich jener
im Ausland am Leben.
214 Fundmünzen nahm Hilberg bisher auf. „Die
Münzanalysen zeigen: Haithabu verfügt mit fast
hundert nach 983 geprägten Münzen über das
bislang größte bekannte Münzspektrum, das von
einem Fundplatz dieser Zeit zwischen spätem 10.
bis Ende des 11. Jahrhunderts bekannt ist. Zudem
förderten die Detektorbegehungen dort annähernd 500 wikingerzeitliche Gewichte zutage.
Viele wurden für das genaue Abwiegen beim
Bezahlen mit Silber benötigt, sind damit vor allem
Beleg für Handel und geschäftliche Transaktionen.
„Auch dies ist ein Ausmaß an Funden, das seinesgleichen sucht“, sagt Hilberg und fügt hinzu, dass
als Ergebnis der wissenschaftlichen Analyse jener
Münzen und Gewichte sowie von ergänzend gut
hundert Proben diverser Silber- und Buntmetallobjekte und 28 Blei-Schmuckobjekten sich übergreifend alles in allem festhalten lasse: „Haithabu
hat bis zuletzt seine Stellung im internationalen
Fernhandelsnetz behauptet.“
Hilberg nutzte für die Analytik der Silberobjekte
neben Know-how und Gerätepark der Bochumer
Forscher auch die Erfahrung der Wissenschaftler
am Institut für Anorganische Chemie der Leibniz
Universität Hannover. Dort wurden darüber hinaus von Dr. Robert Lehmann 158 Münzen und 15
Schmuckgegenstände auf Bleiisotope untersucht.
28 weitere Objekte wiederum, im Wesentlichen
Silberbarren und Hacksilberfragmente, reisten
mit Stephen Merkel zur Universität Frankfurt
am Main und erlebten, was moderne Analytik
zu leisten vermag. Und die Identifizierung und
Bestimmung von Münzen islamischer Herkunft
übernahm Dr. Lutz Ilisch von der Forschungsstelle für Islamische Numismatik an der Universität
Tübingen; dort lagert die in Deutschland größte
Sammlung von Münzen islamischer Provenienz.
Teamleiter Dr. Volker
Hilberg begutachtet
eine Kampfaxt, die in
Haithabu gefunden
wurde. Dem Archäologen gelang es, für
detaillierte Analysen
der bei den Fundobjekten verwendeten
Materialien Experten
zu gewinnen am
Deutschen BergbauMuseum in Bochum
sowie an den Universitäten Hannover, Göttingen, Frankfurt am
Main und Tübingen.
Um auch hier den Vergleich zwischen beiden
Siedlungen zu haben, unterzog Hilberg den
umfangreichen Bestand an Fundmünzen aus der
„Grabung ‚Schleswig Hafengang‘“ ebenfalls einer
detaillierten Analyse. Er bestimmte von 73 Münzen die Zusammensetzung des Feingehalts an
Silber. „Im Ergebnis zeigt sich, dass es im Laufe
des 11. Jahrhunderts zu einer spürbaren Silberverknappung kam“, sagt der Projektleiter. Liegt
Impulse 01_2016 63
907
Die Wikinger fallen mit
ihren Drachenbooten in
Konstantinopel ein.
934
Der ostfränkisch-sächsische König Heinrich I.
besiegt die Dänen unter
König Knut I. in der
„Schlacht von Haithabu“
und erobert die Stadt –
damit fällt das Gebiet
zwischen der Eider und
der Schlei zunächst an
das Ostfränkische bzw.
Römisch-Deutsche Reich.
945
Der dänische König Gorm
erobert den wichtigen
Handelsplatz zurück.
948
Nach einem Besuch
Kaiser Ottos I. wird
Haithabu Bischofssitz.
Um 950
In Haithabu leben
etwa zu dieser Zeit
mindestens 1500 Einwohner; der Ort hat
seine Blütezeit und ist
mit der bedeutendste
Handelsplatz für den
Ostseeraum.
965
Der arabisch-jüdische
Gelehrte Ibrahim Ibn
Yacub besucht Haithabu.
974
Gorms Sohn König
Harald Blauzahn verliert
Haithabu 974 zunächst
wieder an Heinrichs
Sohn Otto I.
983
König Harald Blauzahn,
einer der bedeutendsten
Herrscher der Wikinger,
erobert Haithabu zurück.
983
Erik der Rote wird verbannt und siedelt nach
Grönland über, auch dort
entstehen nun Siedlungen der Wikinger.
Um 998
Die Wikinger erreichen
Nordamerika.
64
Gegenstände aus Keramik, Metall, Glas, Silber,
Legierungen: All das zu untersuchen ist schon eine
Menge. Doch fehlt eine entscheidende Substanzklasse, die wesentliche Erkenntnisse liefert: Holz.
Und in der Tat: Vieles, was man jetzt weiß, stammt
aus der Aufarbeitung von über zehntausend
Holzfunden. Allein 1500 Hölzer wurden akribisch
dendrochronologisch untersucht, ein Drittel davon
konnte exakt datiert werden. „Durch solch eine
breite Basis lassen sich kurzphasige Siedlungsprozesse differenziert abbilden“, sagt Felix Rösch, der
sich mit Unterstützung der technischen Mitarbeiterin Kerstin Greve diesen Werkstoff und damit die
Bautätigkeiten jener Zeit vorgenommen hat.
Die Erfassung Tausender Hölzer macht es möglich:
Die Bebauungsstruktur wird sichtbar
Inzwischen hat das Zweierteam sämtliche 19.683
Hölzer der Baubefunde vollständig digital erfasst,
die Daten aufbereitet und dreidimensional kartiert. Damit nicht genug: In die Analyse flossen
auch Bodenverfärbungen ein, die in die Simulationen eingespeist wurden; sogar die Position markanter Steine nebst Profilen und ausgewählten
Oberflächen wurde aufgenommen. Ziel war es,
all das in ein räumliches Verhältnis zueinander
zu setzen und so ein Modell von den untersuchten Grabungsorten zu erhalten, das die damalige
Bebauungs- und Grundstückssituation abbildet
und in einem weiteren Schritt etwa über die Einspeisung historischer Wasserstände noch weitergehende Simulationen ermöglicht.
„Unerlässlich war es dafür, die digitalisierten
Hölzer mithilfe eigens entwickelter GIS-Shapes zu
vermessen und anhand dieser Daten die Befunde
dreidimensional zu kartieren. Zeitgleich liefern
diese Messungen die letzten benötigten Informationen für die Befunddatenbank, ohne die im
Hintergrund eine Analyse und Beschreibung der
einzelnen Objekte, die sich dann nach und nach
zu einem großen Ganzen zusammensetzen, nicht
möglich sind“, erläutert Rösch, der mittlerweile
seine Doktorarbeit eingereicht hat. Er hat dieses
große Ganze nun mithilfe neuer Darstellungsverfahren am Rechner dreidimensional rekonstruieren können: unter Einspeisung jeder einzelnen
getrennt erfassten Grabungsschicht – und das
sind alles in allem immerhin 4000.
Man staunt, und der Blick in plötzlich sich öffnende Tiefen auf dem Computerbildschirm lässt
den Betrachter in die zweite Hälfte des 11. Jahrhunderts eintauchen und ihn zunächst eine Reihe
rechtwinklig zur Schlei ausgerichteter Parzellen
wahrnehmen. „Die durch Freiräume oder einfache
Bohlenwegkonstruktionen voneinander getrennten rechteckigen Strukturen weisen Breiten zwischen sieben und zwanzig Metern auf“, erklärt
Rösch mit geübtem Blick und macht auf weitere
Details aufmerksam, die sich dem ungeübten
Betrachter erst nach und nach offenbaren. Man
erkennt: Die Parzellen sind umgrenzt von Flechtwandzäunen, die im Südteil bis zu sieben Phasen
aufweisen können.
„Diese Mehrphasigkeit lässt sich unserer Meinung nach nur durch den stark schwankenden
Wasserspiegel der Schlei erklären – das wechselfeuchte Milieu erzwang eine häufige Erneuerung
der Zäune“, sind Rösch und Müller sich einig. Der
Doktorand sieht auch bei einigen identifizierten
Baumaßnahmen den Grund darin, dem schwankenden Wasserspiegel der Schlei etwas entgegenzusetzen. So erklärt er sich, warum einige der
Befunde zeigen, dass in seinem Untersuchungsareal in den späten 1070ern und zu Beginn der
1080er Jahre Flechtwandzäune durch eine Reihe
massiver, spundwandartig aneinandergesetzter
Spaltbohlen ersetzt wurden. Da zudem die in
mehreren Phasen gebauten Parzellenbegrenzungen stratigrafisch unter den datierten Holzausbauphasen lägen, könne als gesichert gelten, dass
es in Schleswigs Kern bereits vor den 1070er Jahren umfangreiche Siedlungstätigkeiten gegeben
habe, ergänzt Rösch. „Die dürften spätestens Mitte
des 11. Jahrhunderts eingesetzt haben.“ Die parzellenartigen Einteilungen der Grundstücke wurden
inzwischen an vielen Stellen in Schleswigs Altstadt durch Ausgrabungen dokumentiert.
„Das Bild einer Stadtentwicklung, das sich hier
zeigt, ist durchaus typisch für das ausgehende
11. Jahrhundert“, erläutert Wissenschaftler Müller.
„Die systematische Unterteilung von Flächen ist
ein epochenübergreifendes Phänomen, das sich in
entstehenden Siedlungen des Frühen Mittelalters
und der Wikingerzeit genauso beobachten lässt
wie bei Städten, die im Hochmittelalter gegründet
wurden.“ Das sei gut zu sehen bei vergleichbaren
Gründungen jener Zeit wie etwa Dorestad, Ribe,
Sigtuna, Trondheim und Lübeck – „auch wenn
Details und Entwicklungsverläufe natürlich von
Fall zu Fall variieren“, fährt der Archäologe fort.
Die Blütezeit: wichtigster Seehandelsplatz mit
modernem Hafen und organisierter Müllentsorgung
Gerade die Städte Skandinaviens zählen zu dieser
Zeit zu den wichtigsten Handelszentren. Haithabu,
gelegen zwischen Nord- und Ostsee am Fuße der
Halbinsel Jütland, ist in seiner Hochphase nicht
nur wichtigster Seehandelsplatz Nordeuropas und
Skandinaviens Tor zur Welt, sondern auch – eins
folgt dem anderen – Schmelztiegel der Kulturen.
Um das Jahr 1000 leben hier Franken, Slaven,
Sachsen und Byzantiner mehr oder minder fried-
lich mit Wikingern und versprengten Vertretern
weiterer Völker zusammen. In all diesen Gruppen
wiederum finden sich Zimmerleute, Schmiede,
Fischer, Töpfer, Glasmacher und Landwirte.
Im Jahr 965 lebt der maurische Gesandte Achmed
al-Tartuschi einige Zeit in der Stadt. Er hält viele
seiner Eindrücke schriftlich fest. So ist er nicht nur
überrascht davon, dass eine Art Müllentsorgung
festgeschrieben ist – nun ja, man hat sich darauf
verständigt, allen Unrat im Hafenbecken zu versenken –, ausgesprochen beeindruckt zeigt er sich
von der Stadt mit ihren angelegten Gräberfeldern
und der Hafenanlage mit den Landungsbrücken.
Auch lässt sich bei ihm nachlesen, wie in der
zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts die Bewohner
nach und nach einen mehrere Meter hohen, halbkreisförmigen Wall aufschichten, um sich gegen
Angriffe landseitig abzuschirmen. Gibt es bei den
Menschen in Haithabu ein womöglich kollektives
diffuses Gespür, dass sich erste Schatten auf die
Blütezeit zu legen beginnen, eine noch nicht näher
fassbare Gefahr droht? Noch jedenfalls sind die
Wikinger hier und anderswo auf dem Höhepunkt
ihrer Macht – und die bildet sich nirgends besser
ab als in dem massiven Ausbau der Hafenanlage.
Die rund 20.000 Hölzer
der Grabungen im Schleswiger Hafenareal wurden
digital erfasst, aufbereitet
und dreidimensional
kartiert – und um weitere
Daten angereichert. Man
erkennt die immer weiter
in die Schlei hineingetriebenen Bautätigkeiten
(Näheres auf Seite 66f).
Bei der grünen Fläche
handelt es sich um die
historischen Ausmaße
der Schleswiger Altstadthalbinsel vor dem Ausbau
der Besiedlung, bei der
gelben um Erweiterungen durch Sand aus der
Schlei. Der Wasserstand
ist bei dieser Darstellung
auf 0,25 Meter simuliert.
Impulse 01_2016 65
Die Boote bringen Waren, schaffen Raum, bedeuten
Freiheit – ein echter Kerl ist nur, wer zur See fährt
Ob in Haithabu oder Schleswig: Das Leben in dieser Zeit dreht sich vor allem um Schifffahrt und
Handel. Die Chroniken überliefern: Nur wer auf
große Fahrt geht, ist im mittelalterlichen Skandinavien sozial geachtet. Die Helden der Ozeane
sind die Helden daheim – fünfzig verschiedene
Bezeichnungen kennt das Skandinavische dieser
Zeit allein für das Wort Meer.
Die beiden Initiatoren
des Verbundvorhabens:
Museumsdirektor
Dr. Ralf Bleile (links)
und der Kieler Archäologe Professor Dr. Ulrich
Müller. Er steht im
heutigen Schleswiger
Hafen auf historischem
Grund – eine jener
Ausgrabungsstätten,
die reichlich Zeugnisse
der Vergangenheit
preisgegeben haben.
Ein Jahrtausend später zeigt die Fülle an Erkenntnissen: Rösch hat die Möglichkeiten der Dendrochronologie derart umfassend ausgeschöpft, dass
die jahrhundertealten Hölzer wohl kurz vorm Glühen waren. „Mit dem Jahr 1087 muss in Schleswig
ein ‚Bauboom‘ eingesetzt haben“, sagt er. Zumindest
würde man es heute so bezeichnen. „Innerhalb kurzer Zeit wurden vor den Parzellen Dämme erbaut:
U-förmige Konstruktionen, errichtet aus eng gesetzten Spaltbohlen und verfüllt mit Reisig, Mist und
Erde.“ Im Abstand von wenigen Jahren wurden diese Dämme in die Schlei hineingetrieben – bis etwa
ins Jahr 1100. „Die Akteure haben so ihre Grundstücke in den Flachwasserbereich ausgedehnt.“
Es geht noch genauer: Wann konnten bei
welchem Wasserstand die Schiffe wo anlegen?
„Bisher dachte man, dass es sich bei diesen Anlagen wegen ihrer Beschaffenheit und Lage um
feste Landebrücken einzig für das Anlegen von
Schiffen handelt“, erläutert Ulrich Müller. Doch
dagegen sprächen die in den Profilen aufgearbeiteten Daten einschließlich der in die Simulationen eingespeisten historischen Wasserstände,
66
die deutliche Schwankungen für die Zeit zeigen,
inklusive der ebenfalls berücksichtigten Seesandschichten in der Schlei.
„Der Wasserspiegel der Schlei befindet sich im
ausgehenden 11. Jahrhundert etwa 20 bis 30
Zentimeter unter dem heutigen Mittelwert; bei
einem solchen Wasserstand beträgt die Tiefe vor
den ersten Phasen der Dämme gerade einmal 30
Zentimeter und vergrößert sich mit den weiteren
Ausbauten“, versucht Rösch eine Erklärung. „Dies
bedeutet, dass mittelgroße Transportschiffe mit
einem Tiefgang von einem Meter frühestens etwa
im Jahr 1095 im Untersuchungsareal anlegen
konnten.“ Wozu also feste Landebrücken?
Inzwischen scheint es den Forschern plausibler,
von multifunktionalen Einrichtungen auszugehen.
Rösch favorisiert die Idee, dass es sich bei den meisten Dämmen um Anlagen professioneller Händler handelt, die sich dadurch ein Grundstück in
Poleposition im Schleswiger Hafen sichern wollten.
„In Schleswig wurde der Handel schließlich anders
als in Haithabu nicht mehr überwiegend von
Nebenerwerbshändlern getragen, demzufolge entwickelte sich eine professionellere Infrastruktur.“
Und so sind es denn auch zwangsläufig die Boote,
in deren Bau alle Energie, alles Wissen, alles Können fließt. Kein Schiff kann es mit den schnellen,
wendigen Drachenbooten aufnehmen. Und immer
weiter perfektionieren die Wikinger den Schiffbau.
Dabei experimentieren sie viel, verzichten etwa bei
ihren bis zu dreißig Meter langen und vier Meter
breiten „Langschiffen“ auf Tiefgang, um sie schneller und wendiger zu machen. So versuchen sie, diesen Bootstyp für ihre Beutezüge und kriegerischen
Überfälle zu optimieren.
Hundert Krieger haben Platz in solch einem Boot,
das gesegelt oder gerudert wird – in extremer, von
Schiffen anderer Völker bei Weitem nicht erreichter Geschwindigkeit. An der Bordwand angebracht
die Schilde, stets sofort griffbereit für die nächste
Auseinandersetzung, den nächsten Gegner. Etwa
drei Zentimeter dick sind die Klinkerplatten, die
sie wie Dachziegel verbauen. Die Rahsegel fertigen sie aus Schafwolle und imprägniert wird alles
mit Pferdefett.
Und auch die Frachtflotte wird kontinuierlich verbessert. Die Handelsschiffe sind so gebaut, dass sie
sehr viel Ladung aufnehmen können und dennoch
äußerst wendig und seetüchtig sind – auch dieser
Bootstyp sucht seinesgleichen auf den Weltmeeren.
Ihr Erkennungsmerkmal: ein ausgesprochen breites Deck und ein offener Laderaum. So ist auch das
Be- und Entladen der Schiffe schnell und effektiv
möglich. Es sind für lange Zeit unerreichte Konstruktionen, an denen permanent gefeilt wird. Es
sind die Boote der Seemacht einer ganzen Epoche.
Der umfassende Ausbau des Schleswiger Hafens
im 11. Jahrhundert in nur kurzer Zeit – Ergebnis
der Forschung – spiegelt letztlich die aufstrebende
Handelsmetropole. „Vermutlich siedelten sich zeitgleich mehr und mehr Menschen dort an“, meint
Müller. „Das sich verschärfende Platzproblem auf
der Altstadthalbinsel erzwang dann die Dammbauten.“ Immerhin war das historische Altstadtareal Schleswigs mit einer Fläche von seinerzeit
rund 12,5 Hektar nur halb so groß wie das Gebiet
innerhalb des Halbkreiswalls von Haithabu. Da in
fast allen Bodenaufschlüssen Siedlungsnachweise
des späten 11. Jahrhunderts zu finden sind, könne
man für diese Zeit von einer enormen Verdichtung und damit der Notwendigkeit für Landgewinnungsmaßnahmen ausgehen, um einfach
Platz zu schaffen für die Bevölkerung Schleswigs.
Von den Details zum großen Ganzen:
ein Blick in die Stadtentwicklung im Mittelalter
Landgewinnung? Stadtwerdung? Da ist Ulrich
Müller bei „seinem“ Sujet, der Gründung von
Städten und Stadtentwicklung im Mittelalter. Und
flugs startet ein spannender Ausflug über planerisches Vorgehen und Aushandlungsprozesse, über
Interessen und Aktionen unterschiedlicher Akteure und die Prozesshaftigkeit bei der Entwicklung
urbaner Strukturen – ein eigenes Thema.
Mit seinen Doktoranden ist er sich jedenfalls
einig: Schleswig stellt beispielhaft eine ebenso
rare wie herausragende „Quellengrundlage“ für
die Erforschung frühester Stadtgründungen im
skandinavischen Raum dar. „Wir wissen das jetzt,
da wir die alten Ausgrabungen und deren Funde
neu sichten und begreifen können“, betont Müller. Die Ergebnisse belegten das eindrucksvoll.
„Gerade Altgrabungen wie in unserem Fall die
Befunde der flächigen Stadtkerngrabungen in
den 1970er und 1980er Jahren neu zu betrachten
unter Zuhilfenahme moderner Techniken und
Methoden: Darin liegt eine große Chance auch für
viele ­unserer Kolleginnen und Kollegen in ihren
Arbeits- und Forschungssituationen!“
Impulse 01_2016 67
Um 1050
König Harald der Harte
von Norwegen erobert
und brandschatzt
Haithabu.
1066
Haithabu wird zum
zweiten Mal niedergebrannt, diesmal von
slawischen Angreifern.
Der normannische
Herzog Wilhelm der
Eroberer siegt über
Harald II. in der Schlacht
von Hastings und wird
zum englischen König
gekrönt. Die Herrschaft
der Wikinger neigt sich
dem Ende zu.
1070/71
Vermeintliches Gründungsdatum Schleswigs;
wie die Forschung nun
gezeigt hat, ist die Stadt
wohl älteren Ursprungs.
Hintergrund
i
Museumschef Dr. Ralf Bleile, dessen Blick immer
mehr auf Haithabu denn auf Schleswig ruht, ist
zu Recht stolz auf das Zusammenwirken aller
Akteure. „Die Vernetzung mit den zahlreichen
Experten: Das war der Schlüssel zu der Vielzahl
neuer Erkenntnisse über die beiden Städte, die
damals Nordeuropas Kommunikations- und Handelsknoten waren – am Vorabend der Hanse, von
der und deren Protagonisten wir doch so ein ganz
anderes Bild in unseren Köpfen haben als von den
Wikingern.“ Und doch: Es sind die zur See fahrenden Pioniere, die auch heute noch sogar außerhalb
Ende im Feuer –
Neuanfang als UNESCO-Weltkulturerbe?
Haithabu, seit über neun Jahrhunderten verlassen,
gilt gemeinsam mit dem Danewerk als bedeutendstes archäologisches Bodendenkmal in SchleswigHolstein. Gegründet wurde die Siedlung um 770
nach Christus von Dänen, die wie die Jüten in der
ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts von Norden bis
zur Schlei und zur Eckernförder Bucht vordrangen.
Die Lage des Ortes war günstig, denn die Schlei, ein
42 Kilometer langer Arm der Ostsee, war schiffbar,
und zugleich verlief hier die uralte Nord-Süd-Route
zwischen dem Fränkischen Reich und Skandinavien.
In West-Ost-Richtung gab es eine jahrhundertealte Seehandelsroute zwischen Nord- und Ostsee:
Dabei gelangten die Handelsgüter jedoch nicht
nur zu Wasser ins jeweils andere Meer – rund 18
Kilometer ging es über Land. Zunächst konnten
Schiffe über Eider und Treene bis nach Hollingstedt
fahren. Danach schafften kleinere Schiffe es noch,
die Rheider Au zu nutzen. Manche Forscher halten
es für möglich, dass von dort an Boote bis fast nach
Haithabu über Land gezogen werden konnten, um
in die Schlei zu gelangen – Ralf Bleile allerdings ist
der Ansicht, dass das allenfalls für Kriegsschiffe vereinzelt möglich gewesen sei; die hätten schließlich
über entsprechende Manpower verfügt. Anderen
Theorien zufolge kann der Kograben knapp südlich
des Danewerks als Schifffahrtskanal gedient haben.
68
Europas diesem Kontinent ein Gesicht geben. Wer
könnte diesen Symbolgehalt besser bekräftigen
als die „globalisierte“ Hillary Clinton. Sie bezeichnete die Wikinger, die im Zuge ihrer Reisen auch
Menschen und Orte verbanden und dabei über
große Entfernungen Informationen, Erfahrung,
Wissen und Kultur transportierten, als „Internet
des Jahres 1000“. Und über die erste Begegnung
mit ihrem späteren Ehemann Bill Clinton 1970
schreibt sie in ihrer Autobiografie: „Ich sah seinen
sexy roten Bart und die langen rötlich-blonden
Haare – er war ein Wikinger aus Arkansas.“ 
Wegen dieser Lage an den jahrhundertealten NordSüd- und Ost-West-Handelswegen war Haithabu als
einzigartiger Knotenpunkt ohne Zweifel einer der
Haupthandelsplätze seiner Zeit. Bis Nordskandinavien und in das Byzantinische Reich fuhren Schiffe.
Waren aus der gesamten damals bekannten Welt
wurden in Haithabu gehandelt: aus Norwegen,
Schweden, Irland, dem Baltikum, Konstantinopel,
Bagdad und dem Fränkischen Reich. Weine wurden
aus dem Raum Koblenz importiert, aus dem Harz
kamen begehrte Metalle wie Silber und Kupfer, aus
Skandinavien andere Rohstoffe wie Wetzsteine,
Specksteingefäße, Hirschgeweihe oder Walrosselfenbein, aus den entfernteren Gebieten eher Luxusgüter.
So ist belegt, dass Handelsverbindungen bis nach
Samarkand bestanden im heutigen Usbekistan; dort
gab es Anschluss an die Seidenstraße nach China.
Mindestens tausend ständige Einwohner hatte der
Ort vom 9. bis ins 10. Jahrhundert; auch eigene Münzen wurden hier geprägt. Besonders die Herstellung
und Bearbeitung von Tonwaren (Geschirr), Glas und
Werkzeug wurden wichtig für die Bedeutung Haithabus, das auch von dem arabisch-jüdischen Reisenden
Ibrahim Ibn Yacub besucht und beschrieben wurde.
Im 10. Jahrhundert erreichte Haithabu seine Blütezeit und war mit mindestens 1500 Einwohnern der
bedeutendste Handelsplatz für den Ostseeraum.
Historischer Grund, der Jahr für
Jahr viele Besucherinnen und
Besucher anzieht: Umgeben von
einem baumbestandenen halbkreisförmigen Wall grenzt die
Wikingerstadt Haithabu – bestehend aus Museum und Schaudorf – in ihren einstigen Ausmaßen auf der anderen Seite an
die Schlei. Im Hintergrund zu
erkennen die Stadt Schleswig
mit Altstadt samt Dom.
Vom Wikinger-Museum zum Weltkulturerbe
Heute befindet sich an der Stätte des historischen
Ortes nahe des halbkreisförmigen Begrenzungswalls das Wikinger-Museum Haithabu. Die Sammlung informiert anhand archäologischen Fundmaterials unter anderem über die Ergebnisse der
Forschung. Entlang der Grabungsobjekte erzählt die
Schau eine atmosphärisch dichte Geschichte über
die Lebensverhältnisse in der frühen Stadt. Originalfunde, Modelle und moderne Medien lassen die
Siedlungsgeschichte und den Alltag der Bewohner
Haithabus lebendig werden: ob es um den Haushalt
oder um Zeremonien bis hin zu Bestattungsritualen
geht, um Handel und Handwerk – oder um Schifffahrt, Kampf und Verteidigung. Zahlreiche Fundobjekte werden erst seit Kurzem gezeigt.
Spektakulärstes Ausstellungsstück im Wikinger-Museum ist das in
der Schiffshalle wieder aufgebaute Langschiff „Haithabu 1“, das im
Hafengrund der alten Siedlung im Schlick gefunden wurde.
In der Schiffshalle kann der Besucher in das frühmittelalterliche Hafenleben eintauchen und das Wrack
eines wikingerzeitlichen Kriegsschiffs bestaunen,
einst das schnellste Gefährt auf der Ostsee. Das
rekonstruierte Langschiff „Haithabu 1“, gefunden
im ehemaligen Hafengrund der historischen Stadt,
ist das wohl spektakulärste Ausstellungsstück. Das
Bootkammergrab gewährt Einblicke in die kostbare Bestattung eines mächtigen Kriegsherrn. Viele
der in der Schau gezeigten Stücke zeugen von der
aktuellen Wikingerforschung. Nicht weit entfernt
vom Museum entstanden zwischen 2005 und 2008
sieben aus Befunden rekonstruierte Wikingerhäuser: das Wikingerdorf. 2009 dann wurde auf der
Museumswerft in Flensburg ein sechseinhalb Meter
langes Wikingerboot nachgebaut, das seit seiner
Fertigstellung in Haithabu an der Landebrücke liegt.
Gemeinsam mit dem Danewerk und weiteren für
die Kultur der Wikinger bedeutsamen Orten in
Nordeuropa war Haithabu im Rahmen des transnationalen Projektes „Wikingerzeitliche Stätten in
Nordeuropa“ Teil der insbesondere von Island federführend vorangetriebenen Bewerbung als UNESCOWeltkulturerbestätte. Der Vorschlag scheiterte im
ersten Anlauf bei der Entscheidungsrunde 2015.
Wenngleich das Konzept der fünf beteiligten Länder
als zu vage und vor allem zu unausgewogen zwischen den Partnern kritisiert wurde, lehnte ihn das
UNESCO-Komitee nicht gänzlich ab. Die Bewerber
dürfen wiederkommen.
Christian Jung
Impulse 01_2016 69
Spektrum
Nachrichten aus der
Wissenschaftsförderung
der VolkswagenStiftung
Gigantische Spuren von Raubsauriern gefunden:
Verdrängten die Riesen kleinere Verwandte?
Sind große Raubsaurier Schuld am Aussterben des zwergenhaften Europasaurus
vor 154 Millionen Jahren? Versteinerte Dinosaurier-Fußspuren, nahe der niedersächsischen
Stadt Goslar entdeckt, weisen zumindest auf gemeinsame Lebensräume hin.
Blick in den Langenberg-Steinbruch (oben)
im Harz nahe der niedersächsischen Stadt
Goslar. In dem Gebiet,
seinerzeit vermutlich
eine Insel im flachen
Meer, lebte vor gut
150 Millionen Jahren
der Europasaurus – bis
eines Tages Raubsaurier in das abgeschottete
Gebiet vordrangen.
Das ermittelten Forscher jetzt anhand der
Analyse versteinerter
Fußspuren; diese waren
beim Gesteinsabbau
zutage getreten. Die
beiden Bilder in der
Mitte zeigen Dinosaurierspuren – dreidimensional rekonstruiert
und im Original. Das
Panorama unten skizziert, wie es nach
Meinung der Forscher
in der heutigen Harzregion während der
späten Jurazeit ausgesehen haben könnte.
70
Wieso starb vor rund 154 Millionen Jahren der Europasaurus aus? Neue Erkenntnisse dazu liefert jetzt
eine im niedersächsischen Langenberg-Steinbruch
im Harz gefundene Platte mit Abdrücken riesiger
Fußspuren von Dinosauriern. Forscher aus Hannover und Bonn haben die versteinerten Spuren
ausgewertet. Jens Lallensack, Paläontologe am
Steinmann-Institut der Universität Bonn, und Dr.
Oliver Wings vom ­Niedersächsischen Landesmuseum Hannover kommen zu dem Schluss, dass große Raubsaurier in den Lebensraum des vergleichsweise zwergenhaften Europasaurus eindrangen
und die Art verdrängten. Die Raubsaurier-Spuren
stammen aus einer Gesteinsschicht, die sich nahe
der Schicht mit Europasaurus-Spuren befand und
etwas jünger datiert. Mithilfe der FotogrammetrieTechnik – sie kombiniert Messdaten und Fotografien – gelang es den Forschern, die ursprüngliche
Anordnung der Fußspuren als dreidimensionales
Modell zu rekonstruieren und auszuwerten.
Wie aber konnten die dreizehigen Fußspuren der
Raubsaurier in den Lebensraum des Europasaurus
gelangen? Hier helfen weitere Forschungserkenntnisse. So deuten viele ebenfalls in Langenberg gefundene marine Fossilien wie Schnecken,
Muscheln oder Seeigel darauf hin, dass sich die
Kalksteine des Steinbruchs, in denen die Spuren
des Europasaurus gefunden wurden, innerhalb
eines flachen Meeresbeckens gebildet haben.
„Möglicherweise gab es in diesem Zeitraum eine
Absenkung des Meeresspiegels und in der Folge ein zeitweises Trockenfallen des Gebiets; so
konnten die festländischen Raubsaurier zu der
vormals auf einer Insel geschützt lebenden kleineren Gattung vordringen“, fasst Wings zusammen. „Wir vermuten, dass damit auch das Ende
dieser spezialisierten Inselzwerge besiegelt war“,
resümiert Lallensack. „Noch vor fünf Jahren wäre
eine solche Rekonstruktion der Fundstelle technisch nicht machbar gewesen.“
Die Funde fossiler dreizehiger Fußspuren ließen die
Forscher auf große, räuberisch lebende Dinosaurier
schließen. Diese Theropoden hatten eine Körperlänge von etwa acht Metern. Der seinerzeit im gleichen
Gebiet vorkommende Europasaurus gehörte zwar
zur Gruppe der langhalsigen, pflanzenfressenden
Sauropoden, die mit bis zu 30 Metern Länge zu den
größten Landtieren aller Zeiten zählten – er allerdings brachte es als kleiner Vertreter der Gruppe auf
lediglich sechs bis acht Meter Länge. Wahrscheinlich ist, dass sich der Dino-Zwerg mit seiner Körpergröße dem begrenzten Nahrungsangebot seines
Lebensraums, einer kleinen Insel, angepasst hatte.
Nach wie vor ungeklärt ist,
wie Europasaurus in die
große Familie der Dinosaurier einzuordnen ist. Fußabdrücke und Skelettfunde auch
anderswo erlauben es nun, die
Verwandtschaftsverhältnisse dieser DinosaurierSpezies weiter aufzuschlüsseln. Damit befasst sich
im Rahmen eines angedockten „Kooperationsmoduls Europaförderung“ Dr. Emanuel Tschopp
von der Universidade Nova de Lisboa, Facuidade de
Ciencias e Tecnologia in Portugal.
Tina Walsweer
Spektrum
Wissenschaftsförderung
der VolkswagenStiftung
Zielgenaue Tumortherapie:
ein neuer Hebel, um Krebs zu stoppen?
Neuer Ansatz zur Behandlung
von Schlaganfällen
Lichtenberg-Professor Dr. Christian Reinhardt von der Universität zu Köln und sein
Nachwuchsforscherteam haben herausgefunden, wie sich das Wachstum bestimmter
Tumore bremsen lässt. Die Entwicklung von Medikamenten läuft bereits.
Forscher der Universität Duisburg-Essen untersuchen alternative Behandlungsoptionen
für Patienten nach einem Schlaganfall: „Extrazelluläre Vesikel“ sind offenbar ebenso
wirksam wie die Stammzellen, von denen sie produziert wurden – aber risikoärmer.
Zielgenaue Tumortherapie:
ein neuer Hebel, um Krebs
zu stoppen? Ein Forscher bei
der analytischen Betrachtung
eines DNA-Gels. Er sucht nach
Auffälligkeiten im genetischen
Mehrere neue Ansätze machen
Profil eines Patienten.
derzeit bei der Behandlung von
Schlaganfällen von sich reden.
Hier schaut eine Ärztin in einer
„Stroke Unit“, einer Spezialstation,
sich die ComputertomografieAufnahme eines Patienten an.
Krebs zählt zu den häufigsten Todesursachen in
Deutschland und in der westlichen Welt. Eine
zielgerichtete Tumordiagnostik und -therapie ist
für die Patienten von großer Bedeutung. Forscher
aus Deutschland, Dänemark und England haben
jetzt einen neuen Hebel identifiziert, der helfen
könnte, Tumore zu bekämpfen. Beteiligt an den
Arbeiten war das Team von Lichtenberg-Professor
Dr. Christian Reinhardt von der Universitätsklinik Köln. Publiziert sind die Ergebnisse im renommierten Fachjournal Cell vom 2. Juli 2015.
Die Forscher identifizierten zwei Enzyme (Chk1
und MK2), die offenkundig das Tumorwachstum
beschleunigen. Und zwar immer dann, wenn im
Erbgut der Tumorzellen das sogenannte KRASGen eine Mutation aufweist. Man weiß inzwischen, dass dies eine der in menschlichen Tumoren am häufigsten vorhandenen Mutationen ist,
die bei fast allen Krebserkrankungen der Bauchspeicheldrüse sowie in rund einem Drittel aller
­Bronchial- und Dickdarmtumore vorkommt. Sie
führt zu einem enorm gesteigerten Zellwachstum,
das mit Komplikationen einhergeht: Denn die
Verdopplung ihrer DNA, die die Zellen vor jeder
72
Teilung durchlaufen, ist unter den beschleunigten
Wachstumsbedingungen nur erschwert möglich.
Wie die Kölner Forscher herausgefunden haben,
helfen die Enzyme MK2 und Chk1 den Tumorzellen bei der fehlerfreien Verdopplung ihrer DNA.
Gesundes Gewebe hingegen benötigt die Funktion beider Enzyme weitgehend nicht.
Dieser Unterschied zwischen Tumorzellen und
normalen Zellen könnte für Therapien nützlich
sein. Die Forscher konnten bereits zeigen, dass
Tumorzellen und Tumore mit KRAS-Mutationen
sehr gut auf eine Kombinationstherapie mit Chk1und MK2-Hemmstoffen ansprechen, wobei das
gesunde Gewebe die Kombinationstherapie ohne
entscheidende Nebenwirkungen toleriert. Eben das
gibt Ärzten in naher Zukunft möglicherweise ein
Werkzeug zur effektiven Behandlung von Tumoren
mit KRAS-Mutation an die Hand. Aktuell liegt noch
keine Zulassung sogenannter MK2-Hemmer vor,
Forschungen zur Entwicklung solcher Medikamente laufen aber bereits seit einiger Zeit. Die Arbeiten
an dem aktuellen Projekt haben die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die Deutsche Krebshilfe und
die VolkswagenStiftung gefördert.
In den westlichen Industrieländern ist der
Schlaganfall die dritthäufigste Todesursache und
häufigster Grund für schwere Behinderungen.
Ist die Blutversorgung unterbrochen, sterben die
betroffenen Nervenzellen innerhalb weniger
Stunden ab. Nach einem Schlaganfall muss das
Gehirn daher möglichst schnell und nachhaltig
regeneriert werden. Große Hoffnungen verbinden
sich dabei mit dem regenerativen Potenzial von
Stammzellen – allerdings können diese sich nach
einer Transplantation auch unkontrolliert verhalten und zum Beispiel Tumore bilden.
Wissenschaftler der Medizinischen Fakultät der
Universität Duisburg-Essen konnten nun im Tierversuch zeigen, dass extrazelluläre Vesikel nach
einem Schlaganfall genauso wirksam sind wie die
Stammzellen, von denen sie produziert wurden.
Extrazelluläre Vesikel sind winzige Bläschen, die
von einer Membran aus Proteinen umschlossen
sind. Sie übertragen biologische Signale zwischen
den Zellen und lenken viele Prozesse im menschlichen Körper. Beide Therapieformen – der Einsatz
extrazellulärer Vesikel und adulte Stammzellen –
aktivierten die Reparatur neurologischer ­Schäden
im Gehirn von Mäusen vergleichbar gut und nachhaltig. Die motorischen Leistungen der betroffenen Versuchstiere verbesserten sich deutlich. Dies
geht vermutlich darauf zurück, dass die extrazellulären Vesikel kurzfristig Reaktionen des Immunsystems verändern. So können die Hirnstrukturen
vor weiteren Schädigungen geschützt und die
gehirneigene Regeneration gefördert werden.
Die möglichen therapeutischen Vorteile gegenüber potenziellen Stammzelltherapien liegen auf
der Hand: „Die Behandlung mit extrazellulären
Vesikeln ist weniger riskant, weil sie sich nicht
vermehren können und einfacher zu handhaben sind“, erläutern PD Dr. Thorsten R. Döppner
von der Klinik für Neurologie und PD Dr. Bernd
Giebel vom Institut für Transfusionsmedizin am
Universitätsklinikum Essen. Die Wissenschaftler
forschen nun daran, wie sie Betroffenen helfen
könnten. Gefördert wurden ihre Arbeiten von der
VolkswagenStiftung im Rahmen der Förderinitiative „Offen – für Außergewöhnliches“. Die Ergebnisse sind im Fachjournal Stem Cell veröffentlicht:
 http://stemcellstm.alphamedpress.org/content/ early/2015/08/31/sctm.2015-0078.short?rss=1
Impulse 01_2016 73
Spektrum
Wissenschaftsförderung
der VolkswagenStiftung
Angriff auf der Mikroebene: auf dem Weg
zu einer neuen Therapie gegen Hepatitis B?
Eine molekulare Pinzette gegen das HI-Virus.
– Erfolge auch bei Viren wie Herpes und Hepatitis C
Verläuft eine Infektion mit dem Hepatitis-B-Virus chronisch und wird die Krankheit
­dauerhaft, können Betroffene meist nicht vollständig geheilt werden – bislang.
Neue Erkenntisse Hamburger Forscher beruhen auf Genome-Editing-Methoden.
Multifunktionale Substanz: Wissenschaftler der Universitäten Ulm und Duisburg-Essen nutzen
ein zuvor entwickeltes Molekül zum unmittelbaren Angriff auf den Viruserreger – einerseits.
Andererseits blockiert die Mehrzweckwaffe zugleich im Sperma enthaltene Infektionsverstärker.
.
Forscher haben zwei DNABereiche des HepatitisB-Virus identifiziert, die
für die Funktion des Virus
essentiell sind. Mithilfe neuer
Methoden können sie jetzt die
spezifischen DNA-Abschnitte
zielgenau erkennen und
gleich zerschneiden.
Jan Münch vom Institut für
Molekulare Virologie der
Universität Ulm ist mit der
„molekularen Pinzette“
etwas Bedeutendes
gelungen: Sie bricht unter
anderem die Virenmembran
auf – dadurch ist der Erreger
nicht mehr infektiös.
Weltweit leiden rund 350 Millionen Menschen an
einer chronischen Infektion mit dem HepatitisB-Virus (HBV), früher eher als Gelbsucht bekannt.
Bei der Infektion von Leberzellen mit HBV wird
zum einen das Erbgut des Virus, also dessen DNA,
direkt in das Erbmaterial der infizierten Zellen
integriert. Zum anderen liegt nach der Infektion
die DNA des Virus als ringförmiges Molekül in den
Leberzellen vor. Um eine Infektion vollständig zu
heilen, muss die Virus-DNA zerstört werden, ohne
dabei die Leber nachhaltig zu schädigen. Zwar
gibt es durchaus hilfreiche Behandlungsansätze,
jedoch sind diese meist teuer, erfordern eine Therapie über lange Zeit oder gehen mit schwerwiegenden Nebenwirkungen einher. Daher suchen
Forscher seit Jahren nach alternativen Methoden,
die eine vollständige Heilung zum Ziel haben.
Wissenschaftler verschiedener Einrichtungen –
vom Universitäts­klinikum Hamburg-Eppendorf,
dem Deutschen Zentrum für Infektionsforschung
und vom Leibniz-Institut für Experimentelle
Virologie (Heinrich-­Pette-Institut) – haben nun
Wege gefunden, das Virus bei seiner verhängnisvollen Tätigkeit grundlegend zu stören.
74
Um die Virus-DNA aus den Leberzellen zu entfernen, bedienen sie sich sogenannter Genome-Editing-Methoden. Dabei werden mithilfe bestimmter Proteine (sogenannten Nukleasen) spezifische
DNA-Abschnitte exakt erkannt und zerteilt. Diese
Proteine bringen jedoch die Gefahr mit sich, auch
an unerwünschten Stellen DNA zu zerschneiden.
Das Forscherteam hat nun zwei DNA-Bereiche des
Virus identifiziert, die für dessen Funktion essenziell sind und die durch eine bestimmte NukleaseVariante zielgenau zerschnitten werden können.
„Unsere Erkenntnisse lassen hoffen, dass durch
die Weiterentwicklung von Designer-Nukleasen
in absehbarer Zeit eine vollständige Heilung chronischer HBV-Infektionen möglich ist“, resümiert
Professor Dr. Joachim Hauber, Leiter der Abteilung
„Antivirale Strategien“ am Heinrich-Pette-Institut,
dessen Arbeiten von der Stiftung im Rahmen der
Förderinitiative „Experiment!“ unterstützt wurden. Er hat mit seinen Kollegen die Erkenntnisse
in der Fachzeitschrift Scientific Reports publiziert
(Scientific Reports 5:13734. doi:10.1038/srep1373;
CRISPR/Cas9 nickase-mediated disruption of
hepatitis B virus open reading frame S and X).
Mikrobizide, also chemische Substanzen, die
Virus-Infektionen verhindern, gelten als Hoffnungsträger im Kampf gegen HIV/AIDS. Als Vaginalgele sollen sie es vor allem Frauen in Entwicklungsländern ermöglichen, sich auch dann vor
einer Infektion zu schützen, wenn ihr Partner kein
Kondom verwendet. Allerdings haben bisherige
Mikrobizide in der Praxis versagt. Nun stellen Forscher einen neuen Ansatz vor: eine „molekulare
Pinzette“, die nicht nur das HI-Virus und andere
sexuell übertragbare Viren angreift, sondern auch
im Sperma enthaltene Infektionsverstärker blockiert. Ihre Studie ist im Journal eLife erschienen.
Wissenschaftler um Jan Münch und den amerikanischen Fibrillen-Forscher Professor James
Shorter setzen nun eine „molekulare Pinzette“ ein,
die die HIV-verstärkende Wirkung der Klebestäbchen blockiert, indem sie die Bildung von VirionAmyloid-Komplexen verhindert und reife Fibrillen
zerstört. Dabei greift die „Pinzette“ Reste der Aminosäuren Lysin und Arginin an. Zudem bricht das
Molekül CLR01 die Virenmembran auf – dadurch
ist der Erreger nicht mehr infektiös. Die Forscher
konnten diesen Effekt nicht nur bei HIV nachweisen, sondern auch bei weiteren sexuell übertragbaren Viren wie Herpes und Hepatitis C.
Ein Großteil der Neuinfektionen mit HIV kommt
durch Geschlechtsverkehr zustande. Dabei
scheinen Eiweißbruchstücke, die stäbchenartige
Fibrillen im Sperma ausbilden, eine große Rolle zu
spielen. Die von den AIDS-Forschern Professor Jan
Münch und Professor Frank Kirchhoff vom Institut für Molekulare Virologie der Universität Ulm
2007 entdeckten „Klebestäbchen“ binden Erregerpartikel und erleichtern die Anheftung von Viren
an die Zielzelle. So sind nur wenige Viruspartikel
erforderlich, um eine Zelle zu infizieren.
Ein auf CLR01 basierendes Mikrobizid würde also
gegen das Virus selbst wirken und andererseits
die Amyloidfibrillen blockieren. „Aufgrund dieser
Doppelstrategie dürfte CLR01 effektiver sein als
bisherige Mikrobizide“, hofft Münch. Für klinische
Tests lässt sich CLR01 einfach und kostengünstig
synthetisieren. Als einer der Entdecker der molekularen Pinzette gilt Professor Thomas Schrader
von der Universität Duisburg-Essen. Beider Arbeiten wurden von der Stiftung unterstützt. Weitere
Informationen unter  http://biophysik.charite.de/.
Impulse 01_2016 75
Spektrum
Wissenschaftsförderung
der VolkswagenStiftung
Blick in die Zelle live:
faszinierende Bilder von Ribosomen in Aktion
„Was ist Leben?“ – Stiftung startet neue Förderinitiative
für Projekte aus den Natur- und Lebenswissenschaften
Freigeist-Fellow Dr. Elmar Behrmann und Wissenschaftlerteams von der Charité in Berlin
und vom Bonner Forschungszentrum caesar gelingt die räumliche Abbildung menschlicher
Ribosomen in Aktion – unmittelbar bei der Proteinproduktion.
Ziel des neuen Angebotes ist es, Prozesse des Lebens in künstlichen Systemen nachzuahmen und
diese besser zu verstehen oder zu versuchen, solche Systeme an der Schnittstelle zwischen Naturund Lebenswissenschaften gemäß den Grundprinzipien des Lebens zu entwickeln.
Dr. Elmar Behrmann betrachtet
Proteine bis in kleinste Details.
Das genaue Zusammenspiel
verschiedener Moleküle im
Organismus zu kennen ist zum
Beispiel entscheidend, soll ein
Medikament passgenau im
Körper wirken. Der FreigeistFellow will ein Experiment ent-
Maximal durchleuchtet:
wickeln, mit dem sich die Reak-
Probe unter dem extrem
tionen verschiedener Proteine
zenzmikroskop am European
im Vorfeld testen lassen (Bild
Neuroscience Institute der
rechts: ein Ribosom).
Ein dreidimensionales Bild eines aktiven Proteins
oder Proteinkomplexes zu erhalten, stellt Forscher
vor ein schwer lösbares Problem: Der Aufbau der
Makromoleküle ist nicht nur äußerst komplex, die
Moleküle sind zudem ständig in Bewegung und
nehmen dabei verschiedene räumliche Anordnungen ein je nach Aktivität und Funktion eines
Proteins. Bislang ließ sich nur über eine chemische
Fixierung der räumliche Aufbau von Proteinen
untersuchen. Nachteil: Die Chemikalien können
die Struktur des Proteins beeinflussen, die dann
eventuell nicht mehr der Konformation im lebenden Organismus entspricht.
Wissenschaftlern der Charité – Universitätsmedizin Berlin und des Bonner Forschungszentrums
caesar ist es jetzt gelungen, mithilfe einer neuen
Methode die Struktur von Proteinkomplexen im
aktiven Zustand zu untersuchen. Dafür haben sie
eine Probe mit menschlichen Polysomen – also
Ribosomen, die zur Proteinsynthese an einem
mRNA-Molekül aufgereiht sind – in flüssigem
Ethan schockgefroren und deren dreidimensionale Struktur anschließend mittels Kryo-Elektronenmikroskopie rekonstruiert.
76
hochauflösenden Fluores-
auf zahlreiche Medikamente
Die Forscher identifizierten dadurch bislang unbekannte funktionelle Zustände. Zudem erstellten
sie das erste hochaufgelöste atomare Modell eines
aktiven menschlichen Ribosoms. Ein solch detaillierter Bauplan hilft, dessen Funktion besser zu
verstehen und könnte nicht zuletzt die Entwicklung neuartiger Medikamente befördern. Publiziert wurden die Ergebnisse in Cell (doi: 10.1016/j.
cell.2015.03.052. PubMed PMID: 25957688).
„Aktive Proteine sind in der Regel in Bewegung.
Um ihre Struktur zu ermitteln, werden sie häufig
inaktiviert. Dieses ist bei unserem Ansatz nicht
der Fall“, sagt Elmar Behrmann, der als FreigeistFellow der Stiftung eine Arbeitsgruppe am Bonner Forschungszentrum caesar leitet. „Allerdings
musste die Probe zur Vorbereitung eingefroren
werden, es fehlt also eine zeitliche Auflösung der
verschiedenen Zustände.“ Wie sich eben diese zeitliche Dynamik von Proteinen untersuchen lässt,
das erforscht Behrmann aktuell; nachzulesen in
dem Interview „Tanzende Proteine verstehen“.
 www.volkswagenstiftung.de/aktuelles/aktdetnewsl/news/detail/artikel/tanzende-proteine-verstehen/marginal/4592.html
Universität Göttingen
„Was ist Leben?“ – diese Frage stellt sich die
Menschheit seit Jahrhunderten. In jüngster Zeit
haben sich besonders an der Grenze zwischen
Natur- und Lebenswissenschaften Forschungsfelder entwickelt, die vollkommen neue Erkenntnisse zu dieser Frage beisteuern können.
So werden beispielsweise in den Bereichen Biophysik, synthetische Biologie oder systemische
Chemie artifizielle Systeme entwickelt und untersucht, die sich nicht mehr eindeutig als lebend
oder nicht-lebend einordnen lassen. Des Weiteren
können biologische Zellen mithilfe modernster
Verfahren mittlerweile genauestens kartiert und
analysiert werden. Immer effizienter gelingt es
Forschern, die Prozesse des Lebens in künstlichen
Systemen nachzuahmen und besser zu verstehen
oder neuartige artifizielle Systeme gemäß den
Grundprinzipien des Lebens zu entwickeln.
Diesen Ansätzen ist gemein, dass sie die fundamentalen Prinzipien des Lebens besser zu
begreifen suchen und damit neue Perspektiven
in Ergänzung zu philosophischen Aussagen über
das Leben eröffnen. Wo sich solch ein spannungs-
geladenes, dynamisches Feld in der Wissenschaft
auftut, zumal an der Schnittstelle zwischen
Natur- und Lebenswissenschaften mindestens
und mittelfristig vielleicht sogar fernere Wissensgebiete noch erreichend, da sieht sich die Stiftung
als idealer Partner, Forscherinnen und Forschern
mit passenden Projektideen und Aktivitäten ein
Unterstützungsangebot zu machen.
Förderangebot
Die neue Initiative „Leben? – Ein neuer Blick der
Naturwissenschaften auf die grundlegenden
Prinzipien des Lebens“ adressiert sowohl Einzelforscher aller Karrierestufen nach der Promotion
als auch grenzüberschreitende Kooperationen von
Wissenschaftlern, deren Arbeiten Erkenntnisse
über die Grundprinzipien des Lebens versprechen.
Weitere Hinweise zu den Ausschreibungsbedingungen sowie zur Antragstellung finden sich
unter  www.volkswagenstiftung.de bei der Förderinitiative selbst unter „Information zur Antragstellung“. Mitte Dezember 2015 fand im Tagungszentrum Schloss Herrenhausen in Hannover eine
Kick-off-Konferenz zur Veranstaltung statt.
Impulse 01_2016 77
Schwerpunktthema
Ins Blaue hinein | INSELN
Inselleben
im Zeitraffer
Inseln spielen eine entscheidende
Rolle für die Biodiversität: Sie
umfassen nur fünf Prozent der
Landfläche, auf ihnen leben aber
allein etwa 25 Prozent aller Pflanzenund annähernd so viele Tierarten.
Welche Arten konnten und können
sich hier etablieren und warum? Was
geschieht, wenn plötzlich eine neue
Art eindringt? Um dieses Werden
und Vergehen quasi im Zeitraffer zu
beobachten, lassen Wissenschaftler
vor der Insel Spiekeroog mitten im
Watt zwölf kleine Inseln entstehen.
Vor der Küste Spiekeroogs ist 2015 ein weltweit einmaliges, spektakuläres Experiment angelaufen. Es soll helfen, Evolution in ihren Grundzügen zu verstehen. Schritt für Schritt wächst
dort ein einzig­artiges Freiluftlabor heran – ein sich im Zeitraffer erhebendes Inselsystem.
Dutzende Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen einschließlich Studierender sind daran
beteiligt – so auch die Biologin Salome Gonçalves von der Universität Göttingen, die mit
einem Kescher Kleinstlebewesen fängt. Ihr Thema: komplexe Räuber-Beute-Beziehungen.
78
Text: Andrea Hoferichter // Fotos: Christian Burkert
S
ie liegen beinahe da wie vom Himmel
gefallen: ein Dutzend große Metallkäfige aus
schwerem Schiffsstahl. Wie gestrandete Raumschiffe scheinen sie sich ins Watt gegraben zu
haben; je nach Licht und Sonneneinfall glänzen
sie oder wirken düster, abweisend. Auf den
ersten Blick ist nicht zu erkennen, worum es
sich handelt – und das wundert wenig. Schließlich sind es künstlich geschaffene Objekte, die
das Auge als fremd wahrnimmt: hier, in der
Nordsee, ein paar Hundert Meter vor der Insel
Spiekeroog gelegen.
Die von Menschenhand geschaffenen MiniInseln sind Kern eines Experiments, das weltweit
einmalig ist und nicht nur deshalb spektakulär.
Es soll helfen, Evolution in ihren Grundzügen zu
verstehen. Forscherinnen und Forscher der Universitäten Oldenburg und Göttingen haben in den
vergangenen beiden Jahren die kleinen Eilande
aus sedimentgefüllten Stahlkörben gebaut, und
so wächst vor der ostfriesischen Insel allmählich
Schritt für Schritt ein einzigartiges Freiluftlabor
heran – ein sich im Zeitraffer erhebendes Inselsystem. „Wir haben den ganzen Entstehungsprozess
eines Archipels im Watt auf einen Schlag abgekürzt“, sagte Dr. Thorsten Balke vom Institut für
Biologie und Umweltwissenschaften der Univer-
sität Oldenburg, der die operative Projektleitung
hat. Und warum gerade Spiekeroog? „Die Naturbelassenheit der Insel und das Forschungszentrum
Wittbülten machen Spiekeroog zu einem idealen
Standort für ökologische und geomorphologische
Untersuchungen“, ergänzt er.
Mehr als 120 Quadratmeter künstliche Insel sollen nun dokumentieren, wie aus einem zunächst
marinen ein vorwiegend terrestrisches Ökosystem entsteht. Es liegt dabei auf der Hand, dass
sich das Wattenmeer wie wohl kaum ein zweites
Gebiet für solche Fragen und Experimente als
optimaler Standort ausweist. Die besonderen
Dynamiken, die dort ablaufen, das Entstehen und
Vergehen kleinerer Inseln, die häufigen Störungen, denen die Lebensgemeinschaften an Pflanzen
und Tieren durch Tide und Sturmfluten permanent ausgesetzt sind: All das macht die Naturräume des Wattenmeeres zu einem einzigartigen
Freiluftlabor für die Biodiversitätsforschung.
Die Erkenntnisse und Ergebnisse aus der aktuellen Forschung vor Ort seien aber auch jenseits
ihrer Relevanz für das Wattenmeergebiet für die
Ökosystemforschung weltweit von Bedeutung,
führt Balke weiter aus. Ohne Zweifel: Sie dürften
helfen, die natürlichen Prozesse von Ökosystemen
Das BEFmate-Experiment zur
Biodiversitätsforschung: Wissenschaftler aus Oldenburg
und Göttingen haben vor der
Küste Spiekeroogs im Watt
in etwa 300 bis 500 Metern
Abstand zur Salzwiese zwölf
künstliche Inseln aus Metallkörben aufgestellt. Jedes Eiland
hat eine Grundfläche von zwölf
Quadratmetern und ist in drei
Höhenstufen segmentiert.
und die grundlegenden Bedingungen und Besonderheiten, denen die jeweils dort lebenden Arten
ausgesetzt sind, besser zu verstehen.
Bereits in den vergangenen Jahren haben die
Oldenburger Wissenschaftler immer wieder mit
fundierten Berichten aus zahlreichen Vorhaben
der Meeresforschung national wie international
auf sich aufmerksam gemacht – zum Beispiel über
die „Biogeochemie des Watts“. Aus dieser Zeit
resultieren Vorarbeiten bis hin zu einer modernen
wissenschaftlichen Infrastruktur wie etwa einer
Messstation vor Spiekeroog, von der nun auch das
neue „Inselbauprojekt“ BEFmate (Biodiversity –
Ecosystem Functioning across marine and terrestrial
ecosystems) profitiert. Stiftung und Land Niedersachsen fördern das umfangreiche Kooperationsvorhaben im Rahmen des „Niedersächsischen
Vorab“ (über weitere im „Vorab“ geförderte Großvorhaben lesen Sie ab Seite 129 und 141).
Welche Pflanze ist Pionier, wenn sich ein Eiland
aus dem Meer erhebt?
Beteiligt sind an BEFmate rund zwanzig Professorinnen und Professoren mit den Ressourcen ihrer
Institute der Universitäten Oldenburg und Göttingen; explizit neun Postdoktoranden und acht Doktoranden qualifizieren sich derzeit im Rahmen des
Vorhabens. Eingebunden sind des Weiteren Wissenschaftler vom Forschungsinstitut Senckenberg
am Meer in Wilhelmshaven, und sogar Fachkollegen vom Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer sind mit im Boot. Auch profitieren etliche
Studierende von dem Projekt, und dieses ebenso
von ihnen: Viele sind in die rund ein Dutzend
Teilforschungsvorhaben integriert. Zudem hat
der akademische Nachwuchs beim Bau der Inseln
mitgeholfen: Zahlreiche Freiwillige schippten
Sand, fertigten Sedimente, bauten Fundamente.
Im Detail wollen die Forscherinnen und Forscher
beobachten, welche Pflanzen und Tiere sich auf
den kinderzimmerkleinen Inseln nach und nach
ansiedeln, wie sich die Zusammensetzung der
Arten mit der Zeit ändert und welchen Einfluss das
wiederum auf die sogenannten Funktionen des
Ökosystems hat, zum Beispiel auf die Produktion
von Biomasse oder die Kohlenstoffspeicherung.
„Bisher basierten Studien und Simulationen über
den Einfluss und die Bedeutung, die sowohl die
Vielfalt als auch die Zusammensetzung von Arten
für Ökosystemfunktionen haben, fast immer auf
konstanten Umweltbedingungen“, leistet Professor Dr. Helmut Hillebrand vom Institut für Biologie und Chemie des Meeres (ICBM) der Universität
Oldenburg den großen Problemaufriss. „Doch
einen solchen Zustand gibt es in der Natur nicht;
gerade auf den Inseln im Wattenmeer ändern sich
die Bedingungen ständig, allein schon durch Ebbe
und Flut, durch Stürme und Sturmfluten“, fügt der
Projektkoordinator hinzu.
Die Metallkörbe wurden mit Wattsediment
befüllt und Messinstrumenten bestückt. In den
nächsten Jahren soll sich
zeigen, welche Pflanzenund Tierarten sich nach
und nach ansiedeln.
Impulse 01_2016 81
Vor allem an den Küsten müsse sich das Leben
oft ganz neu organisieren. „Inseln sind sicher ein
Extremfall, aber gerade deshalb so lehrreich und
so exemplarisch“, betont der Biologe. Zudem sei
es wichtiger denn je, grundlegend zu verstehen,
wie eine durch Klimawandel und zunehmende
Zerstörung natürlicher Lebensräume massiv belastete Natur und Umwelt sich immer wieder neu
organisiere. „Steigende Meeresspiegel, häufiger
auftretende Wetterextreme, veränderte Artenvielfalt und Bioinvasion ergeben multiple Stressoren“,
sagt der Forscher.
Aller Anfang ist schwer: Die Inselbauten der ersten
Generation fegt der Wintersturm hinweg
In der Anfangsphase des Projekts mussten die
Wissenschaftler dennoch Überzeugungsarbeit
leisten. „Viele Leute haben uns für verrückt erklärt
und prophezeit, dass unsere gebauten Eilande niemals halten werden“, berichtet der Landschaftsökologe Professor Dr. Michael Kleyer von der
Universität Oldenburg, der den Bau der kleinen
künstlichen Welten koordiniert hat. Und in der Tat
gab es Startschwierigkeiten. Eine erste „Inselversion“ aus Drahtkörben, sogenannten Gabionen, die
üblicherweise mit Steinen gefüllt als Hangbefe-
stigungen dienen, wurde gleich im ersten Winter
von meterhohen Wellen zerfetzt. Mittlerweile
steht die zweite Variante, und sie hält – bislang.
„Die Körbe haben jetzt Metallstreben in Schiffsstahlstärke“, berichtet Kleyer. Schräge Bleche an
den oberen Korbrändern verhindern stärkeren
Wellenschlag von oben, und in den Wintern,
wenn mit besonders heftigen Stürmen zu rechnen
ist, schützt zusätzlich ein Dach aus durchlöchertem Plexiglas.
Jede Kunstinsel hat drei Ebenen, um den flachen
Anstieg eines natürlichen Eilands zu simulieren.
„Auf der untersten Ebene, die häufig unter Wasser
steht, siedeln sich besonders robuste Pionierarten
an wie zum Beispiel Queller oder Strandsode“,
berichtet Kleyer. Auf der mittleren Ebene hätten
auch weniger überflutungstolerante Arten wie
Andelgras eine Chance. Und ganz oben könnten
sich Arten etablieren, die lediglich Springtiden und
Sturmfluten standhalten müssten wie beispielsweise der würzige Strand-Beifuß. Sechs der zwölf
Inseln wurden allerdings gleich komplett mit
Pioniergewächsen bepflanzt. Die Wissenschaftler,
darunter viele junge Leute, die sich über das Projekt qualifizieren, wollen so herausfinden, ob sich
die nackten und bepflanzten Inseln angleichen
oder unterschiedlich entwickeln.
Die Forscher besuchen regelmäßig „ihre“ Inseln. Wissenschaftlerinnen wie (von links)
die Umweltingenieurin Daniela
Meier, die Meeresbiologin Joeline
Ezekiel – sie hat an der University
of Dar es Salaam in Tansania
studiert – und die Meeresbiologin Jennifer Schmitt sind in
regelmäßigen Abständen vor Ort,
um Boden- und Wasserproben zu
nehmen; hier ziehen sie gerade
Sedimentkerne zur Bestimmung
von Mikroalgen. Alle drei promovieren im Rahmen des Projekts an
der Universität Oldenburg.
Je nach individueller Perspektive sind es „nur“
oder „immerhin“ mehrere Hundert Meter, die das
nächstgelegene Land, die Insel Spiekeroog, von
den experimentellen Inseln entfernt ist. Mindestens diese Distanz also müssen Pflanzen und
Tiere überwinden, die sich dort ansiedeln wollen.
Welche Pflanze wird zuerst ihre Heimat auf der
neuen Insel finden, welches Tier? Wie stehen sie
in Interaktion miteinander, beeinflussen sie sich
gegenseitig? Werden sie verdrängt von Pflanzen
oder Tieren, die sich später auf der Insel ansiedeln? Welche Bedeutung haben sie für das neue
Ökosystem? Wie viel neue Biomasse entsteht
durch den Besiedlungsprozess und nicht zuletzt:
Wie entwickelt sich ein neues Nahrungsnetz?
Um diese Detailfragen zu beantworten, wandern
die Wissenschaftler im Sommer bei Ebbe fast
täglich und die restliche Zeit im Jahr zumindest
mehrmals im Monat zu „ihren“ Inseln, führen
Messkampagnen durch und protokollieren die
Pflanzen und Tiere, die sich dort niederlassen.
Und nicht nur dort, auch auf Vergleichsflächen im
angrenzenden Wattenmeer und in den Salzwiesen von Spiekeroog nehmen sie Bodenproben,
sammeln Pflanzen und Insekten. Im Labor bestimmen und zählen sie die Arten sowie die Biomasse
im Einzelnen, und sie analysieren unter anderem
den Nährstoff- und Kohlenstoffgehalt des Bodens.
Weitere Daten liefern Messgeräte, die an den
Sedimentkäfigen angebracht sind; sie registrieren
permanent Salzgehalt und Temperatur – ob von
Luft oder Wasser.
Ein langwieriger Prozess, das ganze Vorhaben: Da
machen sich die Forscher aus Oldenburg und Göttingen nichts vor. In etwa sechs Jahren, vermuten
sie, wird man fundierte Antworten auf zumindest
einige Fragen haben. Doch schon jetzt, nach der
ersten Vegetationsperiode, tut sich etwas. „Auf
den ursprünglich nackten Inseln sind erste Pflanzen angekommen, und die Zusammensetzung der
Arten auf den bepflanzten Inseln hat sich bereits
geändert“, berichtet Hillebrand, der sich freut,
dass schon nach kurzer Zeit einiges an Daten ausgewertet werden kann.
„Jede Kunstinsel hat drei Ebenen, um den flachen Anstieg eines natürlichen Eilands zu simulieren“, erläutert Projektleiter Dr. Thorsten Balke
(oben) von der Universität Oldenburg das Konzept der künstlichen
Eilande: Auf der untersten Ebene, die häufig unter Wasser steht, siedeln
sich besonders robuste Pionierarten an wie zum Beispiel der Queller
(unteres Bild). Auf der mittleren Ebene haben auch weniger überflutungstolerante Arten eine Chance. Und ganz oben können sich Arten etablieren, die lediglich Springtiden und Sturmfluten standhalten müssen.
Impulse 01_2016 83
bereits publizierter Studien, die entweder den
Einfluss der Nährstoffverfügbarkeit auf die Artenvielfalt oder den Einfluss der Artenvielfalt auf die
Nährstoffnutzung zum Gegenstand hatten, und
entwickeln ein Modell zu den Wechselwirkungen.
„Wir wollen den Zusammenhang verstehen“,
erklärt Hillebrand. Das Modell soll später mit
jenen Daten abgeglichen werden, die durch die
neuen „Inselexperimente“ gewonnen wurden.
Je nach individueller
Perspektive sind es
„nur“ oder „immerhin“
mehrere Hundert Meter,
die das nächstgelegene
Wenngleich die Oldenburger Kollegen sich über
die Jahre einen exzellenten Ruf in der Meeresforschung erworben haben, sind Göttinger Wissenschaftler zu gleichen Teilen in dem Projekt engagiert. Zum Beispiel Professor Ulrich Brose.
Land, die Insel Spiekeroog, von den experimentellen Inseln entfernt ist. Am Ende eines
langen Tages heißt es
auch für die beiden
Göttinger Biologinnen
Dr. Kristin Haynert und
Salome Gonçalves einiges an Distanz zurückzulegen von den Inseln
über die Salzwiesen zur
Unterkunft im Nationalparkhaus Wittbülten.
84
Die Nordsee an den Schreibtisch holen:
Ohne Computermodellierungen geht’s nicht
Der Ökologe wechselte allerdings kürzlich von der
Universität Göttingen an die Universität Jena, wo
er den Lehrstuhl für Biodiversitätstheorie übernahm. Ihm weht nur selten der Nordseewind um
die Nase: Sein Team entwickelt Computermodelle,
die den Einfluss der Artenvielfalt auf die Ökosystemfunktionen selbst unter den extrem schwankenden Inselbedingungen treffend beschreiben
und Vorhersagen ermöglichen sollen. Sobald
genügend Daten aus den Freilandexperimenten
vorliegen, wollen die Wissenschaftler prüfen, ob
sie mit ihren Prognosen richtig liegen. „Ziel ist es,
Vorhersagen zu treffen für quadratkilometergroße
Flächen und lange Zeiträume, in denen Evolution
normalerweise stattfindet“, betont Brose.
Unter dem thematischen Dach „Vorhersagen und
Prognosen“ interessiert die Forscher natürlich
auch, welche Folgen klimatische Verwerfungen
haben. Und so simulieren verschiedene Höhenstufen der künstlichen Inseln die Überflutungszonen
der Salzwiesen; sie sorgen dafür, dass die Pflanzen
unterschiedlich häufig dem Salzwasser der Nordsee ausgesetzt sind. So soll sich zeigen, was ein
spürbarer Anstieg des Meeresspiegels bedeuten
könnte und wie sich das auf die Vegetation auswirkt. „Wir setzen die Pflanzen der Salzwiesen auf
unseren künstlichen Inseln gezielt unter Druck,
schauen, wie sie mit dem ,Stress‘ zurechtkommen
und die veränderten Umweltbedingungen verkraften“, erklärt der Oldenburger Forscher Michael
Kleyer. Wie lange dauert es, bis sie eingehen oder
durch resistentere Pflanzen ersetzt werden? Wie
stark ist ihre Widerstandskraft? Fragen, auf die
bei einem gegenwärtigen relativen Anstieg des
Meeresspiegels um bis zu vier Millimeter pro Jahr
dringend eine Antwort gefunden werden muss.
Auch das Team seines Oldenburger Kollegen Hillebrand nutzt den Computer für mehr als nur das
Übliche: Die Forscher machen eine Metaanalyse
Wie einzigartig diese Forschung ist, zeigt nicht
zuletzt die enge Zusammenarbeit mit dem Nationalpark Wattenmeer; die Einrichtung tritt sogar
als Kooperationspartner auf. Bisher gab es von
jener Seite immer die kategorische Devise: keine
Eingriffe im Wattenmeer. Dass die BEFmateExperimente in dem hochgeschützten UNESCOWeltnaturerbe möglich sind, ist eine absolute
Ausnahme – gleichsam Vertrauensbeweis wie
Wertschätzung den Wissenschaftlern gegenüber.
Den Forschern hilft dabei ihr exzellenter Ruf.
Die Wissenschaftler wandern im Sommer bei Ebbe
fast täglich und die restliche Zeit im Jahr zumindest
mehrmals im Monat zu
„ihren“ Inseln, messen,
sammeln, bestimmen und
protokollieren die Pflanzen
und Tiere, die sich dort
niederlassen. Dabei gebe
es immer wieder Überraschungen, sagen die Biologinnen Kerstin Heidemann
und Salome Gonçalves von
der Universität Göttingen.
Weitere Daten liefern
Messgeräte, die an den
Sedimentkäfigen angebracht oder im Boden verankert sind: Sie registrieren
permanent Salzgehalt und
Oldenburger Meeresforscher weiter erfolgreich:
Das neue Projekt MarBAS dockt an.
Und der bestätigte sich gerade erst wieder: Ende
2015 gelang es den Oldenburger Wissenschaftlern,
sich im harten Wettbewerb bei der landesweiten
Ausschreibung „Spitzenforschung in Niedersachsen“ durchzusetzen – als eine von insgesamt nur
sechs erfolgreichen Bewerbungen (siehe Kasten
auf der nächsten Seite). Im Rahmen des neuen Forschungsverbunds „Marine Biodiversität – Analyse
über zeitliche und räumliche Skalen (MarBAS)“
gilt ihr Interesse einzelnen Molekülen ebenso wie
ganzen Ökosystemen. Ein Projekt widmet sich
– unmittelbar angrenzend an das „Spiekeroogerkünstliche-Inseln-Projekt“ – der Frage, mit welcher
Geschwindigkeit sich die Artenvielfalt im Meer
verändert und welche Folgen das hat. „Dabei wollen wir Datensätze erstmals über eine Zeitspanne
von 30.000 Jahren analysieren“, sagt Professor Dr.
Helmut Hillebrand. Er hat nicht nur eine zentrale
Rolle bei dem „Spiekeroog-Projekt“ inne, sondern
ist auch Koordinator von MarBAS.
Temperatur – ob von Luft
oder Wasser. So kontrolliert
die Oldenburger Umweltingenieurin Daniela Meier
regelmäßig im Boden
installierte „Logger“, die
wie hier zum Messen des
Wurzeldrucks gesetzt sind.
Manches, was gesammelt
wird, kommt ins Labor.
Dort bestimmen und
zählen die Forscherinnen
und Forscher Arten und
analysieren die Biomasse
ebenso wie den Nährstoffund Kohlenstoffgehalt des
Bodens. Vor allem gilt das
Interesse der Frage, welche
Pflanzen und Tiere sich
auf den Eilanden nach und
nach ansiedeln und wie
die Zusammensetzung der
Arten sich ändert.
Impulse 01_2016 85
Weitere Forschungsthemen im neuen Verbund
MarBAS beziehen sich auf die Anpassungsfähigkeit
wirbelloser Meeresbewohner oder auf spezifische,
von Algen und Plankton produzierte Zuckerprodukte. Diese geraten immer mehr in den Fokus der
Meereswissenschaftler, da sie die Ozeane dieser
Erde zu einem großen klimarelevanten Kohlenstoffspeicher machen. Auch den gefährdeten Korallenriffen gilt das Interesse. Deutlich wird: Bei den
meisten MarBAS-Teilprojekten finden sich mögliche An- und Verknüpfungsstellen zu BEFMate.
Weitere Projekte
i
Welche Erkenntnisse das Projekt noch bringen
wird? „Evolution geschieht nicht von heute auf
morgen. Wir würden die Untersuchungen gerne
über mindestens 15 Jahre fortführen“, sagt Kleyer. Vielleicht kümmern sich die Beteiligten auch
deshalb frühzeitig um denkbare Nachwuchsforscher. Eine Verbindung zur Hermann-Lietz-Schule
Spiekeroog steht jedenfalls. Deren Schüler können
vor der eigenen Haustür gemeinsam mit den Forschern in einem weltweit einzigartigen Projekt
die Geheimnisse der Wattinseln ergründen. 
Oldenburger Meereswissenschaftler
erfolgreich bei Wettbewerb
Die Universität Oldenburg gilt inzwischen nicht
nur national als exzellent in der Meeresforschung.
Das zeigt ein Blick auf die Vielzahl erfolgreich
publizierender Wissenschaftler zum Thema ebenso wie der jüngst auf den Weg gebrachte For­
schungs­verbund „Marine Biodiversität – Analyse
über zeitliche und räumliche Skalen (MarBAS)“.
Dieses Kooperationsvorhaben war eine von landesweit lediglich sechs erfolgreichen Bewerbungen bei der Ausschreibung „Spitzenforschung
in N
­ ieder­sachsen“ und wird jetzt vom Land
Niedersachsen und von der VolkswagenStiftung
unter dem Dach des Niedersächsischen Vorab mit
785.000 Euro gefördert. Die beteiligten Forscherinnen und Forscher planen ein breites Spektrum
an Analysen: Ihre Betrachtungen gelten einzelnen
Molekülen ebenso wie ganzen Ökosystemen.
Die Jury überzeugte nicht zuletzt das flankierende
substanzielle Engagement der Universität Oldenburg
für den Forschungsverbund MarBAS. So finanziert
die Hochschule ergänzend zwei Postdoktorandenstellen. Damit können weitere Themen in dem Verbund bearbeitet werden: eine Studie zur Chemie der
Tiefsee und ihrer Bedeutung für das dortige mikrobielle Leben sowie ein Projekt zu forschungsorientiertem Lernen und neuen Lehrkonzepten für die
Meereswissenschaften. Ein integriertes Nachwuchskonzept soll es Studierenden zudem ermöglichen,
Lehrveranstaltungen an Partnereinrichtungen zu
besuchen. Ziel ist ein „Kursprogramm Meereswissenschaften“, das mit einem eigenen Zertifikat abschließen und darüber hinaus auch Studieninteressierten
aus Entwicklungs- und Schwellenländern den
Zugang zu Masterprogrammen ermöglichen soll.
Evolution geschieht
nicht von heute auf
morgen. Bereits nach
der ersten Vegetationsperiode habe sich
jedoch einiges getan,
freuten sich (von links)
Dr. Kristin Haynert
und Salome Gonçalves
bei ihrem Besuch im
Spätsommer 2015.
An MarBAS beteiligt ist als fester Partner bereits
die Universität Bremen. Geplant ist, in einem
entsprechenden Verbund künftig als „Nordwestallianz Meeresforschung und Meerestechnologie“
beim Nachfolgeprogramm der Exzellenzinitiative
ins Rennen zu gehen. An dieser Allianz beteiligen
wollen sich zudem das Alfred-Wegener-Institut
für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven,
die Forschungsstelle Senckenberg am Meer in
Wilhelmshaven sowie das Max-Planck-Institut für
Marine Mikrobiologie und das Leibniz-Zentrum für
Maritime Tropenökologie in Bremen.
Fünf weitere Forschungsverbünde erfolgreich
Ebenfalls erfolgreich in der 2015er Ausschreibung
„Spitzenforschung in Niedersachsen“ im harten
Wettstreit exzellenter Forschungscluster war die
Medizinische Hochschule Hannover mit dem Verbund „Rebirth: From a Cluster of Exzellence towards
a Clinic for Regenerative Medicine“.
Der große Gewinner aber ist die Universität Göttingen. Sie war gleich mit allen fünf Anträgen erfolgreich – darunter zum einen die vier Forschungsverbünde „The Making and the Unmaking of the
Religious“, „Primate Cognition – From Information
Integration to Decision Making“, „Functional Principles of Living Matter: Life at the Nanoscale“ und
„Physics to Medicine“. Zum anderen konnte sie mit
ihrem Vorschlag für ein übergreifendes Standortkonzept reüssieren. „Göttingen Campus“ umfasst
die gemeinsamen Aktivitäten, Netzwerke und Projekte der Partnereinrichtungen sowie die geplante
Entwicklung in den Handlungsfeldern Forschungsinfrastruktur, Informationsinfrastruktur, Forschungsorientierte Lehre und Nachwuchsförderung sowie akademische Personalentwicklung.
Projektwebsites
 www.icbm.de
 www.uni-oldenburg.de/ibu
Christian Jung
Die insgesamt zwölf
künstlichen Inseln im
niedersächsischen
Wattenmeer. Meeresbiologin Jennifer
Schmitt nimmt eine
Bodenprobe, um den
Salzgehalt im Porenwasser des Bodens zu
bestimmen.
86
Impulse 01_2016 87
Schwerpunktthema
Ins Blaue hinein | INSELN
Das Eiland der
Riesenmäuse
Inseln sind ein Eldorado für
Evolutionsforscher und Ökologen.
Ein besonderer Effekt fasziniert
schon lange: das Phänomen des
Riesenwachstums ebenso wie die
sogenannte Inselverzwergung von
Tierarten. Warum werden manch
kleine Arten im Laufe von einigen
Generationen in isolierter Lage
immer größer, während große Arten
zusehends schrumpfen? Am Beispiel
einer Population von Riesenmäusen
einer abgelegenen Inselgruppe
lüftete ein junger Forscher das
Geheimnis jetzt ein Stück weit.
Die Färöer-Inseln ganz im Norden Europas: Von dort holte Forscher Frank Chan Mäuse
extremer Ausmaße in sein Labor, um das Geheimnis des Riesenwachstums zu lösen.
Hier der Blick auf die Küstenlinie der Insel Vagar mit dem Wasserfall von Gasadalur.
88
Text: Andrea Hoferichter // Fotos: Cira Moro
G
Dr. Frank Chan in
seinem „Allerheiligsten“. In diesem
Raum hält er jene
Wildmäuse, deren
Vorfahren er 2009
eigenhändig auf
den Färöer-Inseln
fing. Ende 2015 lebt
hier bereits die
neunte Generation.
laubt man den Werbevideos der Reiseveranstalter, sind auf den Färöern im Nordatlantik
nicht nur jede Menge Schafe und seltene Vogelarten zu Hause, sondern sogar Trolle und Feen. Die
färöische Lieblingsspezies von Dr. Frank Chan vom
Friedrich-Miescher-Laboratorium der Max-PlanckGesellschaft in Tübingen indes kommt nicht im
Video vor. „Die Mäuse hier sind etwa um die Hälfte größer als ihre auf dem Festland lebenden Artgenossen“, berichtet der junge Biologe. Das Phänomen sei auch auf anderen Inseln zu finden, auf
Gough im Südatlantik etwa, wo Mäusegiganten
ganze Albatrosküken verspeisen. Auch das Gegenteil ist bekannt. So werden gerade besonders
große Tierarten auf Inseln oft allmählich immer
kleiner. Auf Madagaskar lebten früher MiniFlusspferde, auf den Channel Islands vor Kalifornien winzige Graufüchse oder auf der russischen
Wrangelinsel Wollhaarmammuts in MiniaturAusgabe. Das bekannteste Beispiel aber sind wohl
die Zwergelefanten, die auf der Insel Borneo vorkommen. Anhand von Funden weiß man, dass sie
nicht immer so klein waren. Im Übrigen – wichtig
hinzuzufügen – gehen diese Schrumpfprozesse
oder Anpassungen der Körpergröße nicht mit
einem Verlust von Fähigkeiten einher.
Ende der Welt, auf
den Gough-Inseln im
Südatlantik, gibt es
„Vermutlich bedingen Verzwergung und Gigantismus sowie die fehlenden Feinde einander. Die
extremen Maße bringen auf den Inseln einfach
keine Vorteile“, sagt Chan. Kleinere Mäuse könnten zwar vielfältigere Fluchtwege nutzen, doch
das ist auf den Inseln schlicht nicht mehr erforderlich. Doch wie genau funktionieren Anpassung
und Selektion? Welche Gene spielen eine Rolle,
und wie werden diese gesteuert?
Den dynamischen Wissenschaftler Frank Chan
treiben solche Fragen schon länger um. Die Initiative „Evolutionsbiologie“ der VolkswagenStiftung
kam da gerade recht. Mit gehörig Rückenwind
durch eine der begehrten Postdoktorandenförderungen brachte er 2009 sein Interesse umfassend
auf Spur und holte als Erstes gleich einmal zwanzig färöische Mäuse in sein Labor – damals noch
am Max-Planck-Institut für Evolutionsforschung
in Plön gelegen. Außerdem untersuchte er das
Erbmaterial von Labormäusen, die seit den 1970er
Jahren und damit über eine Spanne von 150 Generationen künstlich auf Gigantismus gezüchtet
worden waren und die mittlerweile zwei bis sechs
Mal soviel wiegen wie normalgewichtige Tiere.
Nun kann ein Lebewesen nur so groß werden,
wie seine Gene es zulassen – selbst wenn die
Umweltbedingungen optimal sind. Körpergröße
und -umfang sind also nicht beliebig variierbar.
Beteiligt sind in jedem Fall mehrere Gene, das ist
schon länger bekannt. Doch welche? Und: Wie
wirken sie gegebenenfalls zusammen? Chan
setzte es sich zum Ziel, die für die Riesenmaße der
Mäuse verantwortlichen Gene zu identifizieren.
Dazu untersuchte er zum einen sieben sich klar
voneinander unterscheidende Stämme der im
90
Auch am anderen
Riesenmäuse. Die hier
weitaus aggressiveren
Nager greifen sogar
Vögel an. Vorzugsweise
erlegen sie Albatrosküken in deren Nestern;
hier allerdings hat ein
Sturmvogel-Junges
dran glauben müssen.
Labor gezüchteten Mäusegiganten. „Wir fanden
immerhin 67 Regionen im Erbgut, die bei allen
Stämmen mit einer Gewichtszunahme korrelierten“, berichtet er. Die solchermaßen identifizierten Regionen steuern den Energiehaushalt,
Stoffwechselvorgänge und das Wachstum. Andere
sind zumindest indirekt für Größe und Körpergewicht verantwortlich – beispielsweise jene, die
die Fettzellenbildung und die Geschmacks- und
Duftwahrnehmung regulieren. Die neuen Funde
wurden 2012 im Fachblatt Current Biology veröffentlicht und erregten weltweit Aufmerksamkeit.
Der Entdeckung der „Gigantismus-Gene“ folgt
ein Mäusestammbaum über Hunderte Jahre
Die meisten der für die Labormäuse charakterisierten mutmaßlichen „Gigantismus-Gene“ fand
Frank Chan auch im Erbgut der färöischen Riesenmäuse, mit denen er noch in Plön die entscheidenden Experimente machte. Er paarte sie mit
kleineren Labormäusen über zwei Generationen
hinweg und erhielt schließlich die sogenannte
F2-Generation: Enkelinnen und Enkel, insgesamt
830 Individuen – unter ihnen kleinere und größe-
re, dickere und dünnere Tiere, allesamt Cousins
und Cousinen zueinander. „Die Karten wurden
sozusagen neu gemischt“, erklärt Chan. Mittlerweile ist es ihm gelungen, mit seinem neuen
Tübinger Forscherteam die Gene dieser Tiere zu
analysieren und deren Lage im Chromosom zu
bestimmen. Zudem hat er eine Vielzahl weiterer
äußerer Merkmale festgehalten, von der Größe
über das Gewicht bis zur Schnauzenform.
Das Ergebnis ist ein riesiger Datenschatz, mit
dessen Hilfe sich die Vererbung spezifischer
Eigenschaften wie in einem Familienstammbaum
zurückverfolgen lässt. Außerdem gelang es dem
engagierten Forscher, über eine Simulation die
Entwicklung der Riesenmäuse rückwärts auf der
Zeitachse abzubilden. Am Ende stieß er auf etwas
Überraschendes. „Die Mäuse haben danach in
weniger als tausend Jahren um rund die Hälfte
ihres ursprünglichen Gewichts zugenommen“,
berichtet er. Manche seien annähernd doppelt so
schwer wie eine normale europäische Kontinentalmaus. Im Vergleich zu anderen evolutionären
Prozessen, die oft Millionen Jahre bräuchten, sei
das bezogen auf den Zeitraum eine ausgesprochen rasante Entwicklung.
Impulse 01_2016 91
Mäuse ab zum Wiegen!
Einer der Nager von
den Färöer-Inseln mit
„Normalgewicht“ bringt
sogar etwas mehr Gewicht
auf die Waage als fünf
unserer heimischen Hausmäuse. Rechts: Aufnahme
einer Maus mit Riesenwuchs mittels MikroComputertomografie.
Die Untersuchungen lieferten – beinahe nebenbei
– eine weitere Überraschung. „Die Mäuse der Färöer
wurden lange als eigene Untergattung angesehen“,
berichtet der Biologe. „Doch Genanalysen zeigen,
dass es sich um einen Mix aus zwei in Europa verbreiteten Mäusegattungen handelt: Mus musculus
musculus und Mus musculus domesticus.“ Das
folgenreiche Aufeinandertreffen der beiden Arten
fand Simulationen zufolge vor etwa 650 bis 350
Jahren statt. Ein Szenario, das gut zu historischen
Daten passt. Denn bis 1380 kontrollierten Wikinger
das Archipel; sie brachten aus ihrer Heimat Norwegen vermutlich die Domesticus-Variante mit.
Dann übernahmen Dänen die Inselgruppe und mit
ihnen reisten offenbar die vor allem in der Kopenhagener Region verbreiteten Musculus-Mäuse ein.
Beide Gattungen zeugten problemlos miteinander
Nachwuchs – anders als das eben auf dem Festland
möglich ist, wo beide Arten streng voneinander
getrennt vorkommen.
„Auf der Insel konnten sich die reinen Arten
wegen der vermutlich geringen Zahl eingeschleppter Ausgangstiere nur durch Inzucht vermehren
und profitierten vom frischen Erbgut der anderen
Art“, vermutet Chan. Die Mäusemischlinge waren
offenbar robuster und weniger anfällig für Krankheiten und haben sich schließlich durchgesetzt.
92
Gut ein Jahrhundert nach der Entdeckung der inselgebundenen Riesenmäuse (1904) weiß man nun
einiges über deren Hang und Drang zum Gigantismus – und auch, dass seit Hunderten Jahren
ein gleichsam unsichtbares Tauziehen zwischen
immer wieder anders zum Zuge kommenden
Genen und Gensequenzen zweier Unterarten dieses Nagers stattfindet, das zur Patchwork-Maus auf
den Färöern geführt hat. Warum die Tiere jedoch
derart schnell so groß wurden, weiß man nicht.
Der „Initiative Evolutionsbiologie“ der
Stiftung als Karrierebeschleuniger
In einem ganz anderen Sinne „groß“ wurde im
Übrigen auch Frank Chan. Denn das von der Stiftung geförderte Projekt gab nicht nur dem einzigartigen Forschungsthema einen kräftigen Schub,
sondern auch Chans wissenschaftlicher Karriere.
Der aus Hongkong stammende Wissenschaftler
reüssierte in der Max-Planck-Gesellschaft schnell
vom Postdoktoranden zum Leiter einer eigenen
Forschergruppe. Seit zwei Jahren arbeitet er nun
bereits am renommierten Friedrich-MiescherLaboratorium (FML), das 1969 von der Max-PlanckGesellschaft zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses gegründet wurde.
Das Laboratorium, das eng mit den benachbarten
Max-Planck-Instituten für Entwicklungsbiologie
und biologische Kybernetik verwoben ist, bietet herausragenden jungen Forscherinnen und
Forschern die Möglichkeit, über einen Zeitraum
von mehreren Jahren eine Arbeitsgruppe aufzubauen, eigene Projektideen zu verwirklichen
und damit eine unabhängige Karriere zu starten.
Die Forschungsthemen sind breit gefächert und
wechseln mit der Berufung neuer Gruppenleiter.
Zurzeit arbeiten fünf solch handverlesener Wissenschaftlerteams am FML – alle im Übrigen ausgesprochen erfolgreich im Einwerben von Drittmitteln: ob von nationalen oder internationalen
Geldgebern. Chan, dessen Arbeitsgruppe den Titel
„Adaptive Dynamik des Genoms“ trägt, untersucht mit seinem Team inzwischen in größerer
Breite, wie Genveränderungen in Anpassung an
wechselnde Umweltbedingungen mechanistisch
zustande kommen.
Dass man mit Frank Chan offenbar dem Richtigen
in jungen Jahren wissenschaftliche Verantwortung übertragen hat, stellte er erst jüngst wieder
unter Beweis. 2015 erhielt er den Zuschlag für
ein hoch dotiertes EU-Projekt. „Der Europäische
Forschungsrat ERC hat uns eine Förderung von
anderthalb Millionen Euro über fünf Jahre zugesagt“, ist er sichtlich stolz. Mit solch einem ERC
Starting Grant soll die wissenschaftliche Eigenständigkeit von Spitzenforschern in Europa zu
einem frühen Zeitpunkt ihrer Karriere gefördert
werden. „Damit“, freute sich Chan bei der Bekanntgabe, „können nun die Untersuchungen zu meinem Spezialthema, das mit den Riesenmäusen seinen Anfang nahm, in die nächste Runde gehen.“
Mit seinem Team will er jetzt zunächst einzelne,
zuvor identifizierte Genabschnitte im Nagergenom
ersetzen, um die bisherigen Funde abzusichern und
mehr Klarheit im Detail zu gewinnen. Ziel ist es,
Punkt für Punkt herauszufinden, wie sich das Erbgut der Mäuse im Laufe von drei Millionen Jahren
verändert hat und inwieweit diese Veränderungen
verwandte Mausarten voneinander trennen – oder
auch nicht. In der Vergangenheit stellte das für
die Forscher eine besondere Herausforderung dar,
da gerade jene Erbfaktoren, die sich für Spezifizierungen eignen, nicht gattungsübergreifend funktionieren. Der Grund: Die Nachkommen aus Verpaarungen verschiedener Tiergattungen oder der
meisten Tierarten sind selbst nicht fortpflanzungsfähig – man kennt das von Muli oder Maultier als
Resultat einer Verpaarung von Pferd und Esel.
Interessantes Zuhause:
Die Wildmäuse von den
Färöer-Inseln leben in
Frank Chans Labor in
Eierpappen. 2009 hatte
er sich länger zu Forschungszwecken auf den
Inseln hoch im Norden
aufgehalten und Mäuse
von dort mitgebracht.
Impulse 01_2016 93
Chan will diese Schwierigkeiten beiseiteräumen.
Er nutzt die neuesten Techniken der Stammzellund Entwicklungsbiologie, um die Gene der Mausarten optimal analysieren zu können. „Wir werden uns damit beschäftigen, welche genetischen
Veränderungen zur Entstehung einer Art beitragen, aber dieses Projekt hat auch das Potenzial,
Behandlungsmethoden gegen Unfruchtbarkeit zu
finden“, wirft er mutig den Blick voraus. Für ihn
ist das Thema eben noch längst nicht ausgereizt,
auch weil Verzwergung und Gigantismus nur ein
Beispiel für genetische Anpassungsprozesse sind.
Weitere Projekte
i
Die Ergebnisse seiner Forschung spielen deshalb
auch für das Leben auf dem Festland eine wichtige Rolle, wo rasante Umweltveränderungen wie
der Klimawandel enorme Anpassungsleistungen
von allem Lebendigen bereits jetzt erfordern –
eine Entwicklung, die sich möglicherweise noch
verstärkt. Unter Umständen könnten die Erkenntnisse sogar helfen abzuschätzen, was geschieht,
wenn Ökosysteme etwa durch klimatische Veränderungen regelrecht durcheinander geraten, sagt
er: „Mal sehen, was wir aus dem ‚Gesetz der Insel‘
noch alles ableiten werden!“

Wettrüsten unter Wasser
Bei dem Forschungsprojekt von Dr. Susanne L­ andis
sind mögliche Umweltveränderungen k­ onkreter
von Bedeutung: Die junge Wissenschaftlerin untersuchte im Rahmen ihrer Doktorarbeit am GEOMAR
Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel und
der Universität Uppsala in Schweden, wie sich der
Klimawandel auf das parasitäre Zusammenleben
von Grasnadel-Fischen und Saugwürmern auswirken könnte. Die VolkswagenStiftung förderte Landis’ Arbeiten ebenfalls in der „Initiative Evolutionsbiologie“ über einen Zeitraum von fünf Jahren.
Man kann es wohl kaum als harmonische Unterwasserbeziehung bezeichnen: Saugwürmer nutzen
Grasnadeln als Durchgangsstation auf dem Weg in
den Körper des Endwirtes, einem Seevogel, der den
Fisch samt Parasiten frisst. Im Vogel können sie sich
schließlich sexuell fortpflanzen. Wie alle parasitären
Beziehungen ist auch jene zwischen Wurm und
Fisch von einem stetigen Wettrüsten geprägt. Der
Parasit verbessert immer wieder seine Angriffsmechanismen, um den Zielorganismus noch effektiver
auszunutzen und sich weiter verbreiten zu können.
Susanne Landis’
Modellorganismus ist
die Grasnadel, Sygnathus typhle. Die kleinen schlanken Knochenfische kommen in
vielen Meeren vor.
94
Dr. Susanne Landis im Spätsommer 2011 bei der
„Feldforschung“ in den Gewässern um Gotland,
Schweden. Damals startete ihr Forschungsprojekt
„Wettrüsten unter Wasser“. Wie entwickelt sich
parasitäres Zusammenleben zwischen einem Fisch
und dessen Peiniger, einem Saugwurm?
Und: Welchen Einfluss hat die Klimaerwärmung?
Profitiert einer von beiden? Jetzt ist das seinerzeit
am GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung in Kiel angebundene Projekt beendet. Was
es auszeichnete und was dabei herauskam – dazu
mehr im Text unten auf dieser Doppelseite.
Im Gegenzug optimiert der infizierte Wirt seine
Abwehrmethoden. Gut denkbar also, dass sich der
Klimawandel auf dieses Wechselspiel auswirkt und
einer der beiden ungleichen Partner mehr von einer
klimabedingten Temperaturerhöhung oder von
Wetterextremen profitiert als der andere.
Landis’ Wahl fiel nicht zuletzt deshalb auf die
Grasnadel als Wirtsorganismus, weil sich deren
Verbreitungsgebiet von ausgesprochen kaltem
Meerwasser vor der Küste Norwegens bis in deutlich wärmere Gefilde vor Südportugal erstreckt. Die
Forscherin eruierte in ausgedehnten Feldstudien
an Fischen aus verschiedenen Temperaturzonen, ob
und wie sich das System aus Wirt und Parasit als
Anpassung an die Wassertemperatur entwickelt
hat, wie stark die Fische der j­ eweiligen Bestände
vom Parasiten befallen sind und wie sich beide
Organismen genetisch verändert haben. Außerdem stellte sie in Laborexperimenten die für das
laufende Jahrhundert prognostizierte Erwärmung
nach und untersuchte, wie sich das sowohl auf das
Verhalten als auch das Erbgut von Parasit und Wirt
auswirkte. Und sie bestimmte die Vermehrungssowie die Infektionsraten.
Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass etwa klimawandelbedingte Hitzewellen die lokalen Anpassungsfähigkeiten von Wirt und Parasit offenbar
nicht beeinflussen werden. Sie zeigen aber auch,
dass hohe Temperaturen die Immunantwort der
Grasnadel schwächen und sich Saugwürmer in wär-
merem Wasser schneller vermehren. Eine bedenkliche Erkenntnis, denn beide Effekte zusammengenommen könnten Landis’ ­Einschätzungen zufolge
ganze Fischpopulationen gefährden.
Es gibt aber auch Hoffnungsschimmer. Schließlich
sind Grasnadeln mobil und könnten künftig einfach
in kühlere Gewässer fliehen. Landis’ Laborexperimente zeigen, dass vor allem infizierte Fische genau
dies auch tun. Der Umzug in die Kälte zahlt sich
gleich doppelt aus. Die Tiere werden schneller wieder gesund, und das Risiko für eine Neuinfektion ist
niedriger. Und wenn es um die Nachkommen geht,
haben die Fische offenbar ebenfalls Strategien entwickelt. So paaren sich kranke Grasnadel-Weibchen
Landis’ Untersuchungen zufolge nur mit gesunden
männlichen Artgenossen. Und die Chancen stehen
gut, dass sich diese Art der Partnerwahl positiv auf
die Fitness der nächsten Generation auswirkt.
Die Arbeit der jungen Forscherin führt somit auf
mehreren Ebenen zu einem besseren Verständnis
der Anpassungsmechanismen in Parasit-WirtBeziehungen, die ja nicht zuletzt Grundlage vieler
Infektionen sind und deshalb nicht nur für die
Unterwasserwelt von Bedeutung. Auf dem Festland
ist aufgrund des Klimawandels ebenfalls mit einer
Zunahme von Infektionskrankheiten zu rechnen,
die nicht nur die Gesundheit von Menschen, sondern auch die Artenvielfalt und ganze Ökosysteme
gefährden könnten.
Andrea Hoferichter
Impulse 01_2016 95
Schwerpunktthema
Ins Blaue hinein | INSELN
Inseln
der Evolution
Amphiplophus amarillo
Amphilophus chancho
Amphilophus xiloaensis
Amphilophus astorquii
Weshalb entstehen aus einer Tierart
zwei, ohne dass die Lebensräume beider Arten – etwa durch tektonische
Verwerfungen oder einbrechendes
Wasser – voneinander getrennt werden? Solche Vorgänge laufen sogar
im offenen Meer ab, aber auch anderswo. Bei der Suche nach Antworten auf diese Frage helfen Buntbarscharten, Salamander vor unserer
Haustür oder Echsen auf Inseln, die
eigentlich Berge sind. Eine Geschichte
darüber, wie Arten entstehen – ohne
scheinbar triftigen Grund.
Zwei mal drei Midas-Buntbarscharten, die sich in den beiden nicaraguanischen
Kraterseen Xiloá und Apoyo an veränderte Lebensbedingungen angepasst haben und
Amphilophus sagittae
Amphilophus zaliosus
von jeweils einer Art abstammen. Wie konnte das geschehen, fragen zwei Forscherinnen? Man erkennt sofort an Körperbau und Kieferform, dass es sich bei den Fischen
im Xiloá-See ebenso um drei Arten handeln muss mit ihren unterschiedlichen
Buntbarsche Lake Xiloá
Buntbarsche Lake Apoyo
Ansprüchen an Lebensraum und Ernährung wie bei den Barschen im Apoyo-See.
Impulse 01_2016 97
Text: Jo Schilling
Fotos: Christoph Edelhoff (Projekt Roth) // Miguel Landestoy (Projekt Wollenberg)
Dr. Olivia Roths Modellorganismus ist die
Seenadel. Wir sehen
sie hier beim frischen
Fang der kleinen Fische
im November in der
Kieler Förde. Ebenso
wie ihre – mit einem
„Europamodul-Projekt“
angedockte – Forscherkollegin Dr. Marta
Barluenga arbeitet sie
aber auch an Barschen.
E
twa 10.000 bis 20.000 Jahre alt sind zwei
Vulkankraterseen in Nicaragua, der Xiloá und
der Apoyo. In diesen geologisch jungen und recht
kleinen Seen leben Fische, die der Schlüssel zum
Verständnis sympatrischer Artbildung sein könnten, bei der sich eine Art in zwei neue „aufspaltet“,
ohne dass die Lebensräume der neuen Arten
voneinander getrennt sind. Bereits seit zehn Jahren erforscht Dr. Marta Barluenga vom Museo
Nacional de Ciencias Naturales in Madrid diese
Prozesse: „Innerhalb des Xiloá und Apoyo sind
ohne räumliche Trennung in sehr kurzer Zeit
neue Buntbarscharten entstanden, die lediglich in
unterschiedlichen Zonen desselben Sees leben.“
Noch liegt vieles im Dunkeln
darüber, weshalb aus einer
Art auch dann zwei neue
Die Erforschung dieses ungewöhnlich schnell verlaufenden Artbildungsprozesses
fördert die Stiftung als „Kooperationsmodul Europaförderung“, angebunden an
die Projektarbeiten von Dr. Olivia Roth vom GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel.
Sie ist Partnerin in dem spanisch-deutschen Verbundvorhaben „The Driving Forces For Sympatric
Speciation in Nicaragua Crater Lake Cichlids“.
Auf der Suche nach auslösenden Faktoren hat
Marta Barluenga den Rotlichtanteil im Lichtspektrum des Wassers im Visier, der mit zunehmender
Tiefe abnimmt. Sie analysiert jenes Gen, das bei
den Fischen den Proteinanteil des Sehpigments
Opsin für die Farbe Rot kodiert. Erste Ergebnisse
im Vergleich der Arten deuten einen Zusammenhang an zwischen dem Lichtspektrum des Lebensraumes und der für das Sehpigment einer jeweiligen Fischart kodierenden Gensequenz.
Gehen wir 20.000 Jahre zurück: Die Vulkane sind
erloschen, die Krater zwischen Nicaragua- und
Managuasee füllen sich mit Wasser. Durch Stürme
und tektonische Aktivität entstehen für kurze Zeit
Verbindungen zwischen den großen Seen und den
Kratern. Damit gelangen Fische in die Kraterseen.
Statt im trüben, flachen Süßwasser schwimmen
sie nun in leicht salzigem, sehr tiefem und klarem
Wasser. Unter den Fischen befinden sich auch
Midas-Buntbarsche, die als Generalisten gelten.
Und nun geht alles sehr rasant – aus Evolutionsbiologensicht. Einige Fischarten überleben nicht.
Andere haben sich bis heute nicht verändert. Einzig beim Midas-Buntbarsch erfolgte eine Anpassung an die veränderten Lebensbedingungen:
Sowohl im Kratersee Xiloá als auch im Apoyo-See
enstanden aus einer Hauptart jeweils drei neue
Arten. Diesen Prozess versuchen die Forscherinnen
zu verstehen: Weshalb haben sich die Midas-Buntbarsche so schnell angepasst und alle anderen
Fischarten nicht, obwohl sie unter exakt denselben
Bedingungen dorthin gekommen sind?
Olivia Roth hat Vergleichbares zu berichten: Sie
wies nach, dass sich die Besiedlung der Haut der
Buntbarsche mit Mikroorganismen zwischen den
Arten eines Sees und je nach See unterscheidet.
„Jetzt analysiere ich das Mikrobiom von Haut und
Darm der einzelnen Barscharten mit Blick auf
Lebensraum und Nahrungsquelle.“ Sowohl hinter
der Opsin- als auch der Mikrobiom-Analyse steckt
die Frage: Sind die Veränderungen Auslöser für die
Aufspaltung oder lediglich deren Folge? Den Weg
zur Antwort pflastern Tausende noch zu untersuchende Proben, die die Forscherinnen von ihren
Expeditionen nach Nicaragua mitgebracht haben.
Olivia Roth erkennt schon an Körperbau und K
­ ieferform, dass es sich bei Amphilophus amarillo,
Amphilophus xiloaensis und Amphilophus sagittae
im Xiloá-See um drei Arten handeln muss mit
unterschiedlichen Ansprüchen an Lebensraum
und Ernährung. Gleiches gilt für Amphilophus
astorquii, Amphilophus chancho und Amphilophus zaliosus im Apoyo-See. Die einen leben auf
dem Grund, andere frei im Wasser schwimmend
oder inmitten von Wasserpflanzen. Ziehen die Forscher jedoch ein Netz an beliebiger Stelle durch das
Wasser, finden sie darin stets alle drei Arten vor.
Isolation führt zur Artentwicklung
Ob Kratersee in Mittelamerika oder Berglandschaft
in der Karibik, sympatrische Artbildung ist ein
„Inselphänomen“. Allerdings ist hier der Begriff
„Insel“ nicht im landläufigen, lexikalischen Sinne
zu verstehen – die Insel als eine in einem Meer
oder Gewässer liegende, auch bei Hochwasser
über den Wasserspiegel hinausragende Landmasse, die vollständig von Wasser umgeben, jedoch
kein Kontinent ist. Für Evolutionsforscher können
Inseln auch Areale sein, auf oder in denen Prozesse
jeweils ähnlich ablaufen: eben zum Beispiel die
Entstehung von Arten. Die Kraterseen Xiloá und
Apoyo sind solche evolutionsbiologischen Inseln.
Und auch Inselberge an Land gibt es, die – vergleichbar Eilanden im Meer – weitgehend abgeschottet von der Umgebung sind und bei denen
Entstehungsprozesse neuer Arten vergleichbar
ablaufen: Berggipfel in Regenwäldern etwa.
entstehen, wenn nichts den
Lebensraum derart schlagartig verändert wie beispielsweise eindringendes Wasser
oder tiefe lange Erdspalten in
Folge eines Erdbebens.
Marta Barluenga bieten die
vielen Fragen zur Artentstehung genug Anreiz, dem Thema nachzugehen. Oder besser: nachzupaddeln – wie hier
im Winter 2012 auf dem Lake
Managua, einem der Kraterseen vulkanischen Ursprungs
mit reichem Barschbestand.
Machen wir einen kleinen Sprung von den Vulkankraterseen Nicaraguas zu den Bergketten im
karibischen Hispaniola – ein Gebiet, das nicht
zuletzt durch die erfolgreiche Arbeit von Katharina Wollenberg-Valero in den vergangenen Jahren
in den Fokus der Wissenschaft gerückt ist. Ihr
Engagement führte die von der VolkswagenStiftung ebenfalls in der „Initiative Evolutionsbiologie“ unterstützte Forscherin in wenigen Jahren
auf eine Professur für Biologie an der BethuneCookman University in Daytona Beach, Florida,
USA. Katharina Wollenberg-Valero, seinerzeit
ausgestattet mit einer Postdoktorandenförderung
über 270.000 Euro, forscht an der Grenze, an der
eine Art beginnt, sich in neue Arten aufzuspalten.
Vor fünf Jahren startete die Evolutionsbiologin
ihre wissenschaftliche Entdeckungsreise auf
der karibischen Insel Hispaniola. Dort fing sie
grünbraun­farbene, etwa handgroße DickkopfAnolis-Echsen. In nur wenigen Wochen sammelte
sie entlang mehrerer bis zu 400 Kilometer langer
Transekten – geraden Linien, die über Stock und
Stein führen – zahlreiche Tiere ein und katalogisierte sie. Etwa zehn männliche Echsen an jedem
Punkt. Mal im Tal am Rand einer Schotterstraße,
Impulse 01_2016 99
mal per Maultierexpedition auf knapp 3000
Metern Höhe. Ziel dieser Sammelaktion war es
zu verstehen, wie sich die Echsen in verschiedene
Arten aufspalten. Dass dies bei den DickkopfAnolis gerade der Fall ist, verraten den Wissen­
schaftlern deren Gene.
Echsen angeln in der
Karibik. Die Evolutionsforscherin Katharina
Wollenberg-Valero, inzwischen Professorin in den
USA, nimmt Gewebeproben von auf Hispaniola
lebenden Dickkopf-Anolis.
Das Material unterzog sie
später in ihrem damaligen „Gastlabor“ an der
Harvard University in
Boston, USA, genetischen
und molekulargenetischen Analysen.
Katharina Wollenbergs zentrale Frage lautete:
„Welche Faktoren beeinflussen die Artbildung
der Dickkopf-Anolis – eine Artbildung, die offensichtlich stattfindet ohne eine strikte räumliche
Trennung?“ Ihr Augenmerk galt vor allem der
Geomorphologie, der Struktur des Geländes. Auf
Hispaniola liegen fünf große Bergketten mit den
höchsten Bergen der Karibik nahezu parallel
zueinander. Die Dickkopf-Anolis leben überall: auf
den Bergkuppen und in den Tälern. Der Lebensraum der einzelnen Tiere ist auf einen kleinen
Radius von wenigen zehn Metern begrenzt. Auffällig ist, dass die Tiere ausgeprägte Vorlieben
haben: Manche sitzen besonders gern auf einem
Felsen, andere fühlen sich auf Ästen am wohlsten.
Welchen Einfluss aber haben solche und andere
Faktoren auf die gerade ablaufende Aufspaltung
einer Art? Nachgewiesen ist: In den Tälern vorkommende Tiere unter­scheiden sich genetisch
bereits deutlich von jenen, die auf den auseinanderliegenden Bergkuppen oder an den Hängen
leben. Jene hingegen ähneln sich überraschender­
weise sehr. „Offiziell handelt es sich noch um eine
Art, aber im Vergleich mit anderen Anolis-Arten
könnten die Dickkopf-Anolis in den Tälern als
eigene Art gegenüber den Tieren auf den Kuppen
angesehen werden“, sagt die Evolutionsbiologin.
Diesen „Inseleffekt eigener Art“ bestmöglich zu
verstehen, sammelte sie alle Daten, derer sie habhaft werden konnte. Wo sitzt die Echse: auf einem
Ast oder einem Stein? Im offenen Gelände oder im
Wald? Wie belaubt ist der Wald? Wie ist das Wetter?
Was sieht sie sonst in der Umgebung? Welche Farbe
hat der Kehllappen der Dickkopf-Anolis? Wie dick
ist deren Kopf? 500 Tiere wurden gewogen, vermessen – so viele Daten wie möglich vor Ort erfasst.
Auch Katharina WollenbergValero will herausfinden,
wann eine Art unter welchen
Bedingungen anfängt, sich in
zwei neue aufzuspalten. Ihre
Untersuchungsobjekte, die
Dickkopf-Anolis-Echsen, leben
auf der Karibikinsel Hispaniola.
Mit aller Vorsicht wirft die
Biologin einen ersten Blick auf
ein für kurze Zeit gefangenes
Exemplar, bevor dann weitere
Untersuchungen anstehen.
Einige schläferte sie sogar ein und nahm sie mit
in ihr damaliges „Gastlabor“ in die USA. Aus
Deutschland fast frisch von der Uni kommend,
hatte die angehende Doktorandin keine geringere als die Harvard University in Boston, USA, als
Heimatbasis für ihre Forschung auf Hispaniola
gewinnen können. Zwischenzeitlich zog es sie an
renommierte Lehrstühle für Zoologie und Evolutionsbiologie in Konstanz, Trier und Braunschweig
– bevor sie der Ruf auf die Professur in Florida
erreichte.
In Harvard röntgte sie die mitgebrachten Echsen,
vermaß deren Knochenbau, nahm Gewebe für die
genetischen Analysen ab, untersuchte zu guter
Letzt noch die Füße der Echsen. Wie Geckos haben
Anolis-Echsen Lamellen unter den Zehen, mit
denen sie auf glatten Oberflächen haften können.
Die Struktur dieser Lamellen ist ein wichtiges
Unterscheidungsmerkmal der einzelnen DickkopfAnolis-Typen. Sämtliche Angaben zu den gefangenen Echsen speiste sie in Datenbanken ein und
errechnete Zusammenhänge anhand komplizierter Algorithmen. Was dabei herauskam, ließ die
Fachwelt aufhorchen. Ihr gelang einer der ersten
klaren Nachweise, die der Lehrbuchmeinung über
die Entstehung und Aufspaltung von Arten belegbar und reproduzierbar widersprach. Inzwischen
gilt: Artbildung kann auch ohne strikte räumliche
Barrieren stattfinden. Und eine Insel ist nicht
immer eine Landmasse, die aus dem Wasser ragt.
Der Erfolg von Katharina Wollenberg-Valero hat
nicht zuletzt ihre wissenschaftliche Karriere zügig
vorangebracht, und er steht zugleich beispielhaft
für das gelungene Engagement der VolkswagenStiftung zur Evolutionsbiologie insgesamt: Rund
hundert exzellente junge Evolutionsbiologen
förderte sie zwischen 2005 und 2014. Einige von
ihnen wie Dr. Olivia Roth vom GEOMAR in Kiel
beeindruckten die regelmäßig aus aller Welt zur
Begutachtung der Projektanträge angereisten
Experten gar derart, dass sie gleich mehrfach mit
ihren Ideen für Forschungsvorhaben bei der Einwerbung von ­Fördergeldern erfolgreich waren.
Der Erfolg der einen Forscherin befördert den der
anderen: Evolutionsbiologie trifft Europa
Olivia Roths Hauptinteresse galt in mehreren von
der Stiftung geförderten Projekten einer weiteren
zentralen Grundannahme der Biologie: „Batemans
Prinzip“. Es besagt, dass weibliche Tiere – da sie
mehr in den Nachwuchs investieren – länger
leben und dass die elterliche Investition in den
Nachwuchs mehr an das Geschlecht gebunden ist.
Daraus abgeleitet galt lange Zeit, dass zumindest
bei Wirbeltieren Weibchen generell das stärkere
Immunsystem haben. Nun konnte sie mehrfach
zeigen, dass bei bestimmten Arten nicht nur die
Mütter, sondern auch die Väter das Immunsystem
ihrer Nachkommen prägen können.
Impulse 01_2016 101
„Bei der Grasnadel, einer mit den Seepferdchen
verwandten Fischart, brüten die Männchen die
Embryonen aus: in einer Bruttasche. Das ermöglicht es ihnen offenbar, Immunantworten an ihre
Nachkommen weiterzugeben“, erklärt Roth. „Und:
Bestimmte Teile dieses Systems werden sogar
allein durch die Väter gestärkt, wenn diese zuvor
Krankheitserregern ausgesetzt waren.“ Die Ergebnisse der Evolutionsbiologin deuten nun darauf
hin, dass eine der Plazenta vergleichbare Struktur
in der Bruttasche der männlichen Grasnadeln für
den Transfer der Immunantwort verantwortlich
ist. „Die Embryonen sind in der Bruttasche auf
ähnliche Weise mit dem Vater verbunden wie
Babys über den Mutterkuchen mit der Mutter.“
Weitere Projekte
i
Nacktschnecken und
Würmer sind die
bevorzugte Beute der
Feuersalamander;
eines der Tiere läuft
hier gerade ImpulseRedakteur Christian
Jung auf dem Dolomiten-Höhenwanderweg vor die Füße.
102
„Es ist spannend, dass die Evolution bei Menschen
und Fischen völlig unabhängig voneinander sich
ähnelnde Lösungen hervorgebracht hat“, erläutert
Roth. Dass zudem gleichermaßen Männchen bei
ihrer Nachkommenschaft Immunantworten zu
erzeugen und sogar zu steigern vermögen, vermutet sie noch bei weiteren Arten, bei denen dieses
Geschlecht die Brutpflege übernimmt. Womit wir
wieder bei den Buntbarschen sind, bei denen die
Männchen die Eier ausbrüten – sogar im Maul
bei vielen Arten. Experimente sollen nun zeigen,
inwieweit die vorliegenden Erkenntnisse auch für
diese Fische gelten, mit denen sich Forscherkollegin Dr. Marta Barluenga seit zehn Jahren in den
Kraterseen Nicaraguas beschäftigt.
Die wiederum ist froh, dass es
ihrer Projektpartnerin gelungen
ist, das deutsch-spanische Verbundvorhaben als „Kooperationsmodul Europaförderung“ auf den Weg zu bringen. Und so treffen sich
hier zwei Erfolgsgeschichten: die der kurzfristigen
Unterstützung exzellenter Wissenschaftler in
jenen Ländern Europas, die zeitweilig in schwerem Wasser segelten – und die vielen kleinen und
großen Forschungserfolge aus dem nachhaltigen
Stiftungsengagement für die Evolutionsbiologie.
Mit teils bahnbrechenden wissenschaftlichen
Erkenntnissen auf der Habenseite kann diese fast
ein Jahrzehnt lang laufende Initiative als eine der
ertragreichsten der Stiftungsgeschichte gelten. 
Dr. Olivia Roth
erforscht an den
Feuersalamander auf
Trennungskurs
Dass schwer überwindbare Erdspalten, Flussschleifen oder Berghügel die Entfremdung von Tieren
einer Art fördern, leuchtet ein. Wie aber Tierpopulationen ohne räumliche Trennung an einen solchen
Punkt ohne Wiederkehr gelangen können, ist für
Evolutionsbiologen noch immer nicht geklärt. Für
Dr. Sebastian Steinfartz vom Arbeitsbereich Molekulare Ökologie und Verhalten der Universität Bielefeld ist diese Frage und offene Flanke Anregung
genug, die Feuersalamander im Kottenforst nahe
Bonn näher zu betrachten – insbesondere deren
Fortpflanzungsstrategien.
kleinen schlanken
Der Nachwuchs von Salamandra salamandra
schlüpft – anders als in Amphibienkreisen sonst
üblich – nicht aus abgelegtem Laich. Hingegen kommen die Jungtiere nach einer Tragzeit von rund acht
Monaten bereits weit entwickelt zur Welt. Kleine
Waldgewässer sind die Kinderzimmer dieser noch
mit Kiemen atmenden Larven – zumindest in unseren Breiten. Andernorts verzichten manche Unterarten sogar ganz auf Feuchtgebiete wie der in Nordspanien beheimatete Oviedo-Feuersalamander oder
der schwarze Alpensalamander; beide bringen ihre
wenigen Jungtiere vollständig ausgebildet an Land
zur Welt. „Das zeigt bereits, dass sich in der jüngsten
Salamander-Evolution je nach Verfügbarkeit geeigneter Gewässer unterschiedliche Fortpflanzungsstrategien herausgebildet haben“, sagt Steinfartz.
Womit wir im Kottenforst bei Bonn wären. Dort
leben zwei Formen des klassischen gefleckten Feuersalamanders. Sie unterscheiden sich äußerlich kaum,
hingegen deutlich in ihren Fortpflanzungsstrategien.
„Während die eine ganz lehrbuchgemäß sauerstoffreiche Bäche und Quellen für die Geburt aufsucht,
entlässt die zweite Form ihre Jungen nach Art mancher Flachlandsalamander in kleine Stehgewässer,
Gräben oder Traktorspuren“, erläutert der Biologe.
Zudem seien die Larven dieser Tümpelvariante nicht
nur an einen geringeren Sauerstoffgehalt und andere Futtertiere angepasst, sondern ausgereifter. Droht
eine Austrocknung ihres Gewässers, können sie sich
schneller in landlebende Jungsalamander verwandeln. „Diese Unterschiede sind selbst dann noch zu
erkennen, wenn man Tiere beider Typen unter identischen Bedingungen aufzieht. Sie sind also nicht nur
das Ergebnis verschiedener Umweltbedingungen,
sondern offensichtlich genetisch fixiert“, erklärt
Steinfartz. Wie aber kann das sein?
Eine abweichende genetische Ausstattung würde
nun bedeuten, dass sich die zwei Formen im Kottenforst kaum noch miteinander kreuzen und dass
sie auf dem besten Weg sind, eigenständige Arten
zu werden. Diese Vermutung konnte der von der
Stiftung in der Initiative „Evolutionsbiologie“ geförderte Steinfartz mithilfe genetischer und verhaltensbiologischer Studien bestätigen.
Damit sind die Salamander aus dem tief im Westen
Deutschlands gelegenen Waldstück ein seltenes Beispiel für sogenannte sympatrische Artbildung, bei
der sich eine Ursprungsart innerhalb eines gemeinsamen Lebensraumes in zwei Arten aufteilt. Es
erweitert das auf Darwin zurückgehende Verständnis einer gemeinhin allopatrischen Entstehung von
Arten, bei der sich eine Art in geografisch getrennte
Populationen aufteilt, die sich mehr und mehr auseinanderentwickeln. Unter dem Einfluss selektionierender Faktoren entstehen schließlich eigenständige
Spezies, die sich nicht mehr vereinen können.
Seenadeln exemplarisch die Evolution
des Immunsystems.
Die Besonderheit
bei diesen Fischen:
Hier brüten die
Männchen die
Embryonen aus und
sind so dasjenige
Geschlecht, das die
Herausbildung des
Immunsystems bei
den Nachkommen
„Im Fall der Bonner Feuersalamander ist denkbar,
dass natürliche Auslese gleichermaßen sowohl die
eine als auch die andere Fortpflanzungsform fördert, es aber keinen goldenen evolutorischen Mittelweg gibt“, erläutert Steinfartz. Anhand seiner Daten
konnte er zeigen, dass der Genfluss zwischen beiden
Lurchtypen weitgehend versiegt ist. Eine Vermischung würden die sich äußerlich gleichenden, im
selben Gebiet lebenden Amphibien vermutlich vermeiden über wechselseitige Geruchserkennung. Für
diese Hypothese sprächen die ersten Ergebnisse aus
Versuchen zur Geruchspräferenz beider Geschlechter. Die Evolution des Feuersalamanders schreitet
also voran. „Die Abgrenzungen sind aber nicht eindeutig und in Bewegung“, schließt Steinfartz.
Christian Jung
beeinflusst.
Impulse 01_2016 103
Forum
Aus der Wissenschaftsförderung
der Stiftung: Auszeichnungen
und neue Bewilligungen
Archiv zur Dokumentation bedrohter Sprachen
ist „Memory of the World“
UNESCO zählt Sprachenarchiv zum Weltgedächtnis. VolkswagenStiftung hat zur
Erforschung seltener Sprachen und deren kulturellen Kontext in anderthalb Jahrzehnten
knapp 30 Millionen Euro auf allen fünf Kontinenten bereitgestellt.
Ein kleiner Blick auf die
Vielfalt der Sprachen
dieser Welt, auf Forscher
und Sprecher, die Teile
dieses kulturellen
Gedächtnisses vor dem
Ausblassen bewahren:
Das Herz der DoBeSInitiative schlägt
im Spracharchiv im
Max-Planck-Institut
für Psycholinguistik
im niederländischen
Nijmegen (oben rechts).
Bei den Trumai in Brasilien dokumentieren
Einheimische inzwischen selbst mit Kamera
und Audiorekorder ihre
Sprache (oben links).
Namibia: Ihre Muttersprache Akhoe-Hai//
om sprechen Kinder
nur noch in der Familie;
Forscher Thomas Widlok
zeigt ihnen erste Aufnahmen (Mitte, rechts).
Bei vielen Dokumentationsvorhaben spielt die
Bezeichnung von Tieren
und Pflanzen, vor allem
Bäumen, eine wichtige
Rolle – wie etwa bei den
Tima im Sudan.
104
Anerkennung für die Initiative zur Dokumentation bedrohter Sprachen (DobeS): Teile des aus
einer langjährigen Förderung hervorgegangenen
„The Language Archive“ (TLA) am Max-PlanckInstitut für Psycholinguistik in Nijmegen wurden
jetzt von der UNESCO in das bedeutende „Memory
of the World“-Register aufgenommen. Diese 64
Sammlungen dokumentieren 102 verschiedene
Sprachen, die nur noch von kleinen Sprechergemeinschaften genutzt werden. Sie sind vielfach
dem Untergang geweiht.
Durch die Analyse und Beschreibung ihres Wortschatzes und der Grammatik, vor allem auch
durch die Aufzeichnung der Sprachpraxis und
ihrer kulturellen Kontexte in umfassenden audiovisuellen Materialen bleiben die Sprachen dem
Gedächtnis der Welt erhalten und sind auch in
Zukunft zum Beispiel für die Wissenschaft nutzbar. Die Sammlungen – bei einzelnen Materialien
ist eine Registrierung oder Zugangserlaubnis
erforderlich – sind abrufbar über folgenden Link:
 https://corpus1.mpi.nl/ds/asv/?0
Die VolkswagenStiftung hatte die Initiative „Dokumentation bedrohter Sprachen“ (DobeS) im Jahr
1999 eingerichtet und ermöglichte in rund 15
Jahren mit knapp 30 Millionen Euro Sprachdokumentationsprojekte auf allen fünf Kontinenten.
Das digitale Herzstück des DobeS-Archivs wurde
am Max-Planck-Institut in Nijmegen entwickelt
und bildet heute auch den Kern des TLA. Dass das
Sprachenarchiv nun zum Weltgedächtnis zählt,
empfinden alle Beteiligten als eine große Aus-
zeichnung: die dokumentierenden Wissenschaftler in aller Welt, die Softwareexperten in Nijmegen und natürlich auch die Förderer in Hannover.
Eine Übersicht über die DobeS-Projekte findet sich
unter  http://dobes.mpi.nl/projects/.
DobeS-Projekt im Videoblog sciencemovies
Für den Videoblog sciencemovies dokumentierte
die junge Anthropologin Soraya Hosni gemeinsam mit ihren Kolleginnen Kilu von Prince und
Susanne Fuchs die vom Aussterben bedrohte
Sprache Daakaka auf der Südseeinsel Ambrym.
Die Wissenschaftlerinnen gehören zur Arbeitsgruppe von Professor Manfred Krifka vom Zentrum für Allgemeine Sprachwissenschaft in Berlin
(ZAS). Hosnis beeindruckende Kurzfilme „Wer
spricht noch Daakaka?“ sind zu sehen unter
 www.sciencemovies.de/de/07_wer_spricht_noch_
daakaka
Broschüre „Bedrohte Sprachen“
Unter dem Titel „Bedrohte Sprachen. Warum
die Vielfalt stirbt – und wie Forscher kulturelles
Wissen vor dem Vergessen retten“ geben Wissen­
schafts­journalistinnen und Sprachforscher viele
spannende Eindrücke in Projekte der DoBeS-Initiative – und man erfährt darüber hinaus jede Menge
mehr über das Thema: die Sprachen, die Menschen, die sie sprechen, ihre Kulturen; ihre Welt.
Die Publikation steht zum Download bereit unter
 www.volkswagenstiftung.de/fileadmin/
downloads/publikationen/Bedrohte-Sprachen.pdf
Barbara Riegler
Forum Förderung
Neue Bewilligungen der Stiftung
– und Auszeichnungen
Mit Ideen überraschen und mit frischer Forschung:
Das Jahr 2015 stellt sieben neue „Freigeister“ aus.
Wie wirkt eigentlich die sogenannte Entwicklungshilfe
– oder auch: Warum wirkt sie oft nicht wie erhofft?
Sieben auf einen Streich: So viele Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler setzten sich im letztjährigen Wettbewerb unter 140 Konkurrenten um eines der
begehrten Fellowships durch. – Die Universität Frankfurt am Main profitiert gleich zweifach.
Mehr Konzentration auf die ländlichen Räume; mehr Zuhören und Wahrneh­­men, was die dort
lebende Bevölkerung denkt, sagt, vorschlägt: ein erster großer Schritt, damit Unterstützung auf
einen fruchtbaren Boden fällt? Forscher aus Bremen und München proben einen neuen Ansatz.
Sie sind die Freigeist-Fellows
des Jahres 2015 (von links):
Dr. Wenjia Song, Dr. Sidonie
Kellerer, Dr. Christina Büsing,
Dr. Matthias Goldmann, Dr.
Nikolaus Gestrich, Dr. Patricia
Kanngießer, Dr. Tristan Petit.
Entwicklungshilfe auf der
langen Zeitschiene betrachtet:
Professorin Dr. Corinna Unger
von der Jacobs University
Bremen und Professor Dr.
Marc Frey von der Universität
der Bundeswehr München im
Nord-Süd-Verbund
Ihr Startschuss ertönte Ende September 2015
mit einer Preisverleihung im Tagungszentrum
Schloss Herrenhausen in Hannover: Sieben neue
„Freigeist-Fellows“ präsentierten sich einer interessierten Öffentlichkeit; sieben Forscherpersönlichkeiten, die inzwischen längst dabei sind, ihre
spannenden Ideen in Forschung umzusetzen.
Gleich zwei von ihnen zieht es an die Universität
Frankfurt am Main. Dort untersucht nun Dr. Nikolaus Gestrich am Beispiel der „Markadugu“, einem
Netzwerk ehemaliger Handelsstädte, die Beziehung zwischen Staat, Stadt und Handel im vorkolonialisierten Westafrika. Am House of Finance
der Goethe-Universität analysiert Dr. Matthias
Goldmann die wechselseitigen Einflüsse und
unterschiedlichen Ebenen des Zusammenwirkens
von öffentlichem Recht und Finanzwirtschaft.
Auch die Forschungslandschaft Berlins profitiert
zweifach. So wird Dr. Patricia Kanngießer an der
Freien Universität aus einer kulturvergleichenden Perspektive heraus betrachten, wie Kinder
in verschiedenen Gesellschaften ein Verständnis
von sozialen Normen entwickeln. Am Helmholtz106
Zentrum Berlin für Materialien und Energie GmbH
beschäftigt sich Dr. Tristan Petit mit den Eigenschaften und Reaktionen von kohlenstoffbasierten
Nanopartikeln. Sein Bestreben ist es, therapeutische Behandlungen und Eingriffe bei verschiedenen Tumorerkrankungen verbessern zu können.
Die Medizin als Arbeitsfeld und gleichermaßen
der weitgreifende Ansatz im Forschungsvorhaben
selbst leitet über zu Dr. Christina Büsing mit Standort RWTH Aachen. Ihr Ziel es ist, mithilfe bestimmter mathematischer Anwendungen, den sogenannten adaptiv robusten Modellen, die Planbarkeit in
der medizinischen Versorgung zu verbessern.
Und schließlich kommt auch der Süden des Landes
zum Zug. Dr. Sidonie Kellerer möchte künftig an
der Universität Stuttgart Martin Heideggers Rehabilitationsversuchen nach dem Zweiten Weltkrieg
und seinem Einfluss auf französische Philosophen
der Nachkriegszeit auf den Grund gehen. Und von
der Asche aufs eigene Haupt zu realer: Dr. Wenjia
Song eruiert an der Ludwig-Maximilians-Universität München die Auswirkungen von Vulkanasche
auf die Triebwerke von Flugzeugen.
Jährlich werden weltweit geschätzt etwa 120
Milliarden Euro an öffentlichen Mitteln in die
Entwicklungszusammenarbeit investiert. Die
Wirkungen in den Zielregionen sind jedoch oft
anders als von der internationalen Gemeinschaft
erhofft. Erwartungen und Ergebnisse harmonieren oft sehr wenig. Ein Grund könnte sein, dass
insbesondere ländliche Regionen und die dort
lebende Bevölkerung nicht ausreichend in die Prozesse einbezogen werden, obwohl gerade sie oft
Adressaten der Bemühungen sind. Trifft diese Vermutung zu? Das interessiert zwei kooperierende
Forscherteams um Professorin Dr. Corinna Unger
von der Jacobs University Bremen und Professor
Dr. Marc Frey von der Universität der Bundeswehr München.
Die beteiligten Historiker, Kultur- und Sozialwissenschaftler monieren, dass zu selten ein Transfer
moderner Konzepte im Bereich der Landwirtschaft
erfolge. Auch werde generell die Perspektive der
ländlichen Bevölkerung in den Aktionen und Analysen international tätiger Organisationen und
wissenschaftlicher Institute und Förderer häufig
zu wenig berücksichtigt. Dies überrascht, schließ-
lich sind die Menschen in ländlichen Regionen
direkt von entwicklungspolitischen Maßnahmen
betroffen: Sie sollen diese akzeptieren, mittragen –
und letztlich davon profitieren.
„Wertvolle Eindrücke, Erfahrungswissen und
Perspektiven aus dem Alltag jedes einzelnen
Bewohners in den ländlichen Regionen können
das Leben dort lebenswerter machen“, sagt Corinna Unger, Professorin für Moderne Europäische
Geschichte an der Jacobs University in Bremen.
Im Fokus des Projekts steht folglich das sinnvoll
gestaltete Miteinander der verschiedenen sozialen Gruppen, die an entwicklungspolitischen
Aktionen beteiligt sind. Die Wissenschaftler
betrachten dabei vor allem deren gegenseitige
Wahrnehmung sowie die Gestaltung der Kommunikationsprozesse zwischen den Akteuren.
Die VolkswagenStiftung fördert das Forschungsvorhaben „Entwicklung jenseits der Industrialisierung: Studien zur internationalen Entwicklungsgeschichte ländlicher Räume nach 1950“ über
einen Zeitraum von drei Jahren mit 540.000 Euro
unter dem Dach „Offen für Außergewöhnliches“.
Impulse 01_2016 107
Forum Förderung
Neue Bewilligungen der Stiftung
– und Auszeichnungen
Schreibszene Frankfurt: Junge Geisteswissenschaftler
setzen sich mit Gegenwartsliteratur auseinander
Das Denken irritieren … – Wie sich das Klima einer
intellektuellen Kultur im Hochschulalltag verankert
Forschen mit Praxisbezug – über Poetik, Publizistik und Performanz zeitgenössischer Werke.
Die Stiftung stellt 1,4 Millionen Euro bereit für ein neues Graduiertenkolleg an der GoetheUniversität Frankfurt am Main, das nicht zuletzt alternative Karrierewege aufzeigen soll.
Bologna plus – oder: wieder mehr Raum, mehr Zeit, mehr Chancen für Studierende. Das und
anderes mehr leistet das „Forschungszentrum für Historische Geisteswissenschaften“ an der
Goethe-Universität Frankfurt am Main. Die VolkswagenStiftung fördert es mit 820.000 Euro.
Sie haben die „Schreibszene
Frankfurt“ konzipiert: die
Professorinnen Dr. Julika
Griem (links) und Dr. Susanne
Komfort-Hein.
Modell für eine „Hochschule der Zukunft“? Der
Mittelalterhistoriker Professor Dr. Bernhard Jussen
(links) und Professor Dr. Dr.
Matthias Lutz-Bachmann
vom Institut für Philosophie
treiben an der Universität
Frankfurt am Main das
„Forschungszentrum für
Historische Geisteswissenschaften“ voran.
108
Frankfurt am Main bietet als Stadt von Buchmesse, großen Verlagshäusern und Medienstandort
viele Institutionen, die sich mit dem gedruckten
Wort beschäftigen. Damit sind die Voraussetzungen gut, um sich in und aus nächster Nähe auch
mit nationalen und internationalen Phänomenen
der Gegenwartsliteratur sowie mit aktuellen Konstellationen im Literaturbetrieb zu beschäftigen
und – einiges davon exemplarisch zu untersuchen.
Die Stiftung unterstützt diesen interessanten thematischen Ansatz mit einem Forschungskolleg.
Die Federführung der „Schreibszene Frankfurt.
Poetik, Publizistik und Performanz von Gegenwartsliteratur“ liegt bei den Professorinnen Dr.
Julika Griem und Dr. Susanne Komfort-Hein vom
Fachbereich Neuere Philologien der Universität
Frankfurt am Main. Ihnen ist neben der reinen
Forschung wichtig, dass sich die jungen Wissenschaftler durch intensive Zusammenarbeit mit
Institutionen vor Ort für ein breites Spektrum
universitärer, aber eben auch außeruniversitärer
Karrierewege qualifizieren können.
Im Zuge des Kollegs sollen in den kommenden
drei Jahren acht junge Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftler mit neuen Methoden und Formaten Werke dieser Zeit analytisch betrachten. Die
Kollegiaten legen ihre Studien vergleichend an
und beziehen dabei stets Schnittstellen zur Praxis
ein, richten ihren Blick etwa gen Literaturbetrieb
und setzen sich mit den Spezifika dieser Branche
auseinander. Sowohl im Bezug auf die Wissenschaft als auch mit Blick auf den Literaturbetrieb
verknüpfen sie entsprechend kritische philologische Ausbildungsinhalte mit soziologischer und
ethnologischer Praxisforschung.
Das neue Kolleg verstärkt zudem die Frankfurter
Graduiertenprogramme um eine Qualifikationsinfrastruktur, die auf aktuelle geisteswissenschaftliche Anforderungen zugeschnitten ist. Das von
der Stiftung in ihrer Initiative „Hochschule der
Zukunft“ verortete Angebot soll dazu beitragen,
an der Goethe-Universität ein national und international sichtbares Zentrum für Gegenwartsliteraturforschung zu etablieren. Mit der „Schreibszene
Frankfurt“ ist man auf einem guten Weg, zumal
sie perfekt passt zu dem von der Stiftung an der
Hochschule geförderten Forschungszentrum für
Historische Geisteswissenschaften (siehe rechts).
Das Denken von außen zu irritieren: Kaum etwas
erscheint wichtiger für die Geisteswissenschaften.
Potenziell schöpferische Forschungszusammenhänge entstehen häufig dort, wo gewohnte Arbeitsweisen, Deutungen und Methoden durch fremde
Denksysteme gestört werden. Deshalb bedarf es der
ständigen Auseinandersetzung mit anderen Disziplinen, Kulturen und Forschern fremder Wissenswelten, aber auch mit außerakademischen Impulsen, wie sie etwa die Gegenwartskunst bereithält.
Um in diesem Sinne Forschung und Lehre in ihren
geisteswissen­schaftlichen Fächern zu stärken, gründete die Universität Frankfurt am Main 2010 ein
„Forschungszentrum für Historische Geisteswissenschaften“: ein Ort transdisziplinärer Forschungskommunikation, der Nachwuchsförderung und zur
Erprobung innovativer Lehrformen, der intellektuellen Vorbereitung neuer Verbundprojekte; zugleich
ein erster Kontakt für auswärtige und ausländische
Gäste, interessierte Doktoranden und Studierende
und für Stipendiaten. Darüber hinaus schafft das
neue Zentrum für die universitäre Forschung eine
Infrastruktur, die die Kooperation mit außeruniversitären Institutionen erleichtert und verstetigt.
Nach Abschluss der Startphase galt es nun, insbesondere die Nachwuchsförderung und die neuen
Studiengänge dauerhaft transdisziplinär zu organisieren und die Vernetzung mit den außeruniversitären Forschungseinrichtungen in Frankfurt
massiv voranzutreiben. Für diese Vorhaben des
Zentrums stellte die Stiftung unter dem Dach ihrer
Initiative „Hochschule der Zukunft“ Anfang 2015
gut 820.000 Euro bereit. Die Mittel dienen im Detail
zum Beispiel dazu, Schwächen der neuen Bachelorund Masterstudiengänge zu kompensieren, indem
das Zentrum Studierenden Raum gibt für Interdisziplinarität und langfristige Arbeit an einem Thema
sowie eine dezidierte Forschungsorientierung von
Master- und Promotionsprogrammen sicherstellt.
Die Initiatoren und Organisatoren um die Professoren Dr. Bernhard Jussen und Dr. Dr. Matthias LutzBachmann von der Universität der Mainmetropole
möchten damit das Klima einer intellektuellen
Kultur im Universitätsalltag verankern: „Eine solche
Kultur, die sich aus der Vernetzung verschiedener Forschungsfelder und Qualifikationsgruppen
ergibt, bildet das ideale Umfeld für neue Denkansätze und neue Forschungskooperationen.“
Impulse 01_2016 109
Forum Förderung
Neue Bewilligungen der Stiftung
– und Auszeichnungen
Wenn die Fäden eines Netzes neu zusammenlaufen …
– die etwas andere Globalisierung der Weltgeschichte
Eine Brücke für die Geistes- und Kulturwissenschaften
– und eine große Chance für die kleinen Fächer
„A Global Network for Global History“: Mit 450.000 Euro ermöglicht die Stiftung die Annäherung
junger Geschichtswissenschaftler aus vielen Nationen. Im Zentrum des Netzes agiert die
Universität Göttingen; an ihrer Seite: Forschungseinrichtungen in Harvard und Amsterdam.
Die VolkswagenStiftung fördert den hochschulübergreifenden Austausch von Studierenden in zwölf
geistes- und kulturwissenschaftlichen Fächern mit insgesamt knapp 850.000 Euro für vier Jahre.
Taktgeber ist die Universität Göttingen; Vorbild ist der Studiengangverbund „Pons – Archäologie“.
Die Welt um 1799:
Landkarte aus jener Zeit
Das Objekt stets im Fokus:
Archäologie-Studierende
in Göttingen. Sie können
seit inzwischen fünf Jahren
Teile ihrer Ausbildung an
acht weiteren deutschen
Hochschulen absolvieren,
die ebenfalls dieses Fach
anbieten. Junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
in Europa, den USA, China, Indien, Brasilien und
dem Senegal sind begeistert: Denn was da gerade
als „A Global Network for Global History“ entsteht
und wovon sie profitieren werden, ist nicht weniger als ein ebenso fein austariertes wie sorgsam
geknüpftes Netzwerk für Forschung und Lehre
zur Weltgeschichte. Die angehenden Forscher sollen dabei vor allem durch intensiven Austausch
und die gemeinsame Organisation von Konferenzen die weltumspannende Bearbeitung und Kommunikation dieses Gebiets etablieren.
Die Fäden des Netzes laufen zusammen bei
Professor Dr. Ravi Ahuja vom Centre for Modern
Indian Studies (CeMIS) der Universität Göttingen.
Als entscheidende internationale Partner sorgen
Professor Dr. Marcel van der Linden vom International Institute of Social History in Amsterdam
und Professor Dr. Sven Beckert von der Weatherhead Initiative on Global History der Harvard
University für stabile Knoten. Zentrales Anliegen
ist es, bestehende Ungleichgewichte im Feld der
Weltgeschichte anzugehen und die „Inhalte und
Methoden zu globalisieren“.
110
Im Einzelnen ist vorgesehen, dass drei Postdoktoranden aus dem „Globalen Süden“ sich je ein
Jahr an einer der drei Institutionen in Göttingen,
Amsterdam oder Harvard aufhalten und sieben
Doktoranden die Möglichkeit zu einem jeweils
sechsmonatigen Aufenthalt an einer der Einrichtungen des Netzwerks erhalten. Die Themen, an
denen gearbeitet und über die konferiert wird,
sollen von allen Partnerinstitutionen gemeinsam
entwickelt werden und Experten aus aller Welt
anziehen.
Die Projektbeteiligten in Afrika, Asien und Lateinamerika wiederum repräsentieren starke wissenschaftliche Einrichtungen ihrer Region und
fungieren als Knotenpunkte für weitere Kontakte
dorthin. Alles in allem wird mit dieser fast weltumspannenden Kooperation als gut konstruierte
Partnerschaft auf Augenhöhe das Ziel verfolgt,
Ungleichgewichte abzubauen – ein Anliegen, das
die Stiftung grundsätzlich mit ihren international ausgerichteten Förderaktivitäten verfolgt. Sie
unterstützt das Gemeinschaftsprojekt mit rund
450.000 Euro unter dem Dach ihres Angebots
„Offen – für Außergewöhnliches“.
Seit dem Jahr 2010 unterstützt die Stiftung das
Projekt „Pons – Archäologie“ an der Universität
Göttingen (siehe www.pons-archaeologie.de). In dem
beispielgebenden Studiengangverbund gelingt es,
Grundlagenwissen und Überblickskompetenz ebenso zu vermitteln wie eine breite wissenschaftliche
Basis zu legen bis hin zu einer punktuellen Vertiefung und Spezialisierung, die Forschung in diesem
Fach schnell erfordert. Erreicht wird dies im Zuge
hochschulübergreifender Vernetzung.
„Pons – Archäologie“ zielt exemplarisch für das
Fach der Klassischen Archäologie darauf, interessierten Studierenden innerhalb Deutschlands
den Studienortwechsel zu erleichtern. Der akademische Nachwuchs kann auf diese Weise durch
geschickt gewählte Aufenthalte an zwei oder drei
Universitäten spezifische Vertiefungen individuell in die Ausbildung integrieren. Was seinerzeit
zunächst mit neun archäologischen Instituten
in Deutschland begann, hat sich Anfang 2016
auf 24 Partner ausgeweitet. Vor allem aber bildet
der offensichtliche Erfolg dieses umfangreichen
Kooperationsprojekts nun die breite Basis für
„Pons – Geistes- und Kulturwissenschaften“.
Das neue große Angebot für die kleinen Fächer
wurde wiederum initiiert von Professor Johannes
Bergemann, Direktor des Archäologischen Instituts der Universität Göttingen. Sämtliche Fächer
der Philosophischen und der Sozialwissenschaftlichen Fakultät – darunter auch lehrerbildende
Angebote – werden nun entsprechende Netzwerke aufbauen und gemeinsam mit ihren Partnern
für ihre Curricula bis hin zu den rechtlichen Rahmenkonstruktionen die Grundlage schaffen für
einen unkomplizierten Studienortwechsel innerhalb Deutschlands. Die Studierenden können auf
diese Weise zusätzliche Schwerpunkte ihres Fachs
kennenlernen.
Gerade in den kleinen Fächern mit nur einer
oder zwei Professuren trägt der Studienortwechsel erheblich zur Verbesserung der Ausbildung
bei. An der Universität Göttingen gibt es etliche
davon. Insgesamt beteiligen sich an dem Gemeinschaftsvorhaben die Fächer Ägyptologie, Alte
Geschichte, Altorientalistik, Englisch, Germanistische Mediävistik, Iranistik, Kunstgeschichte,
Klassische Philologie, Romanistik, Skandinavistik,
Ur- und Frühgeschichte sowie die Gender Studies.
Impulse 01_2016 111
Forum Förderung
Neue Bewilligungen der Stiftung
– und Auszeichnungen
Dr. Volker Busskamp erhält 1,5 Millionen Euro für
sein Vorhaben, Nervenzellen gezielt herzustellen
Großer Erfolg: Bénédicte Savoy und Dag Nikolaus
Hasse mit dem Leibniz-Preis 2015 ausgezeichnet
Der Europäische Forschungsrat (ERC) hat dem Freigeist-Fellow der VolkswagenStiftung
eine seiner begehrten Auszeichnungen zugesprochen. Der Wissenschaftler wirkt seit
gut einem Jahr am Forschungszentrum für Regenerative Therapien Dresden (CRTD).
Mit der Verleihung an die Romanistin von der Technischen Universität Berlin und den Philologen
und Philosophen von der Universität Würzburg gehen zwei der elf mit jeweils 2,5 Millionen Euro
dotierten Ehrungen an mehrfach von der Stiftung geförderte Geisteswissenschaftler.
Er promovierte bereits zu
Fragen von Wiederherstellungsstrategien – damals des
Sie legen neue Sichtachsen
Sehvermögens: Bevor Volker
und Zugänge zu ihren Themen
Busskamp im Herbst 2014 in
und verknüpfen ihre Funde
Dresden Forschungsgruppen-
und Erkenntnisse zu einem
leiter am CRTD wurde, arbei-
neuen, spannenden Ganzen:
tete er an der Harvard Medical
School in Boston, USA, in den
Bereichen Stammzellforschung und Systembiologie.
die Professoren Bénédicte
Savoy vom Institut für
Kunstwissenschaft der TU
Berlin und Dag Nikolaus Hasse
vom Lehrstuhl für Geschichte
der Philosophie an der
Universität Würzburg.
Eine zentrale Herausforderung für die biomedizinische Forschung ist es, die Entstehung neurodegenerativer Erkrankungen im Detail zu erfassen, um
sie in einem nächsten Schritt besser therapieren zu
können. Auf dem Weg dorthin benötigen Wissenschaftler menschliche Nervenzellen. An ihnen lässt
sich am besten untersuchen, ob und wie Medikamente und pharmazeutisch wirksame Substanzen
greifen. Von den vielen vorhandenen Nervenzelltypen im Gehirn ließen sich bislang in ausreichender Qualität und Menge nur wenige in vitro generieren – also künstlich in einem Reagenzglas.
Möglichst viele Zelltypen entsprechend verfügbar
zu haben, ist Ziel des Biotechnologen Dr. Volker
Busskamp. Ihm ist es gelungen, vom Europäischen
Forschungsrat dafür Mittel in Höhe von 1,5 Millionen Euro einzuwerben. Zunächst will er die
Wirkmechanismen verschiedener sogenannter
Transkriptionsfaktoren verstehen, die bei der
Zellteilung an das Erbgut der Zelle andocken.
Anschließend sollen über eine Art „Schaltbrett“
bestimmte Stammzellen gezielt so programmiert
werden, dass daraus die gewünschten Nervenzellen entstehen. Bis dato fand dieser Prozess wegen
112
der fehlenden wissenschaftlichen Erkenntnisse
in der Petrischale im Labor willkürlich und ohne
Steuerungsmöglichkeit statt. Letztlich will der
Freigeist-Fellow verstehen, wie im Detail die
Aktivität und Kombination von Transkriptionsfaktoren die Zellteilung beeinflussen, um darauf
aufbauend aus den Stammzellen passgenau spezifisch benötigte Zelltypen zu entwickeln.
„Die zugrundeliegenden biologischen Regeln versuchen wir nun gezielt anzuwenden“, sagt er. Man
sei bereits auf dem Weg, menschliche Fotorezeptoren in hoher Qualität und Quantität herzustellen. Diese könn­ten dann in Experimenten zur Zelltransplantation bei degenerativen Erkrankungen
der Netzhaut genutzt werden. „Dieser systembiologische Ansatz soll den Weg für eine zielorientierte ‚Programmierung‘ menschlicher Stammzellen
in Nervenzellen bahnen“, erläutert der Forscher,
der sich mit dieser Methode innerhalb der gesetzlichen Vorgaben für Stammzellforschung in
Deutschland bewegt. Weitere Informationen über
Freigeist-Fellow Dr. Volker Busskamp und seine
wissenschaftlichen Projekte finden Sie in unserem
Magazin „Impulse“, Ausgabe 2015, Heft 2.
Bénédicte Savoy schlägt in ihrer Forschung
ebenso wie in großen Ausstellungs­projekten die
Brücke zwischen der deutschen und französischen
Kunstgeschichte. Stets nimmt sie dabei eine europäische Perspektive ein, zudem betrachtet sie das
Feld als entscheidende Grundierung deutsch-französischer Beziehungen. Die Basis für ihre Arbeiten
legte sie bereits vor Langem mit ihrer Dissertation
über den französischen Kunstraub in Deutschland
während der napoleonischen Besatzung.
Weitere Studien beschreiben die Schau der Nofretete in Berlin als „deutsch-französische Affäre“
und die Entstehung der öffentlichen Museen in
Deutschland als politisch-kunstgeschichtliche
Unternehmung – ein Ansatz, der die an der Technischen Universität Berlin verortete Forscherin
wiederum zu Prozessen des „nation building“ führte. Diese betrachtete sie aus der Perspektive der
Museums- und Sammlungskultur. Großen Erfolg
hat die gebürtige Französin auch als Ausstellungsmacherin und Buchautorin. Bereits angekündigt
ist ihr Buch „Paris – Hauptstadt der deutschen
Romantik“, das durch eine vor zwei Jahren zugesprochene Opus-magnum-Förderung entstand.
Der Philologe und Philosoph Dag Nikolaus Hasse
von der Universität Würzburg hat mit seiner Forschung grundlegend neue Einblicke in die Anfänge des modernen Europa eröffnet. Im Mittelpunkt
seines Werkes stehen die wechselseitigen Wirkungen zwischen christlich-lateinischer, arabischer
und jüdischer Philosophie, Theologie und Naturwissenschaft – und zwar vom Mittelalter bis zur
Aufklärung. Mit einer ganzen Reihe von Studien
konnte Hasse zeigen, wie intensiv und fruchtbar
der kulturelle Austausch zwischen Gelehrten und
Institutionen aus Orient und Okzident war.
In seinen Arbeiten verbindet der einstige Lichtenberg-Professor historisch-philologische Forschung
mit detektivischer Beobachtungsgabe und von ihm
entwickelten Analyseverfahren. So identifizierte
er mit computergestützten Methoden sprachliche
Eigenheiten einzelner Übersetzer arabischer Texte
und rekonstruierte anschließend deren Einfluss auf
die großen Übersetzerschulen. Ebenso bedeutend
sind zwei Langzeitprojekte: über das ptolemäische,
also geozentrische Weltbild im west-östlichen Austausch sowie die fachsprachlichen Beziehungen
zwischen lateinischer und arabischer Welt.
Impulse 01_2016 113
Schwerpunktthema
Ins Blaue hinein | OZEANE
Lichtenberg
kommt zur Kur
Ein Seehund findet Fische in völliger
Dunkelheit in der Weite der Ozeane
und kann über Tausende von Kilometern punktgenau von A nach B
schwimmen. Wie er das macht? –
Das und anderes mehr zu den Tieren weiß man durch die Forschung
von Professor Guido Dehnhardt. Mit
seinem Team begibt er sich Tag für
Tag am Marine Science Center in
Rostock-Warnemünde auf die Spur
der Meeressäuger. Die schwimmende Forschungsstation dort, die
„Lichtenberg“, ist Basis für alle Aktivitäten. Jetzt kam sie ins Trockendock.
Seehund Malte und Guido Dehnhardt sind ein eingespieltes Tandem. Der LichtenbergProfessor und sein Team aus Tieren und Menschen haben in anderthalb Jahrzehnten Forschung zahlreiche Erkenntnisse zum Orientierungsverhalten der Meeressäuger vorgelegt.
114
Text: Christian Jung // Fotos: Fabian Fiechter
W
ie weit ich unter der Wasseroberfläche
bin? Ich weiß es nicht genau, habe irgendwie
das Gefühl dafür verloren. Doch ich wähne mich
sicher. Beinahe scheint es, als seien ganz in der
Nähe, in der trüben Wand aus Wasser rings um
mich her und gerade so eben nicht mehr erkennbar, Augen und Ohren, die meine Bewegungen
registrieren; Sinne, die mich jede Sekunde wahrnehmen – alles darauf gerichtet, auf mich aufzupassen. Zumindest bildet sich mein Hirn das wohl
ein. Ab und an sehe ich schemenhaft Flossen um
mich herumwirbeln. Ein Schatten dann und wann,
eine Berührung; dann wieder nur undurchsichtiges Einheitsgrau. Allmählich schreien meine Lungen nach Luft. Ich tauche auf – ein wenig widerwillig; öffne die Augen und schaue in ein Gesicht,
das lediglich eine Armeslänge entfernt ist. Auf
Anhieb gelingt es mir nicht zu erkennen, welches
der Tiere es ist, das sein nasses Zuhause gerade mit
mir geteilt hat. „Es ist Henry“, ruft mir eine dunkel
gekleidete Gestalt vom Rand her zu, so als könnte
sie das Fragezeichen hinter meiner Stirn sehen
und deuten. Was ich zunächst nur als schemenhafte Figur wahrnehme, gießt sich plötzlich einen
Eimer Wasser über den Kopf. Es ist Guido Dehnhardt, der sich anschickt, selbst zu den Robben ins
Wasser zu steigen.
116
Guido Dehnhardt, Henry und die anderen Robben
und – ja, das Wasser, das Meer: Das ist eine Einheit,
und sie besteht schon lange. Seit anderthalb Jahrzehnten erforscht der Biologe mit seinem Team
aus Mensch und Tier, wie manche Meeressäuger
sich visuell orientieren. Was zur Jahrtausendwende als von der Stiftung gefördertes „außergewöhnliches“ Projekt mit den Seehunden Henry, Malte
und Nick in der Eisbärenanlage des Kölner Zoos
begann – in direkter Folge mit Anbindung an die
Universitäten Bonn und Bochum –, fand 2008
seine Heimat in Warnemünde. Dort gründete der
findige Forscher das Marine Science Center. Das
am Übergang zum offenen Meer gelegene Areal
umfasst einen abgetrennten Teil an der Spitze des
Rostocker Jachthafens „Hohe Düne“. Das Herz, das
in dessen Mitte schlägt, heißt LICHTENBERG. Es ist
ein Schiff, oder besser: eine „schwimmende Forschungsstation“, die Dehnhardt nach der von der
Stiftung geförderten Professur benannt hat.
Die LICHTENBERG ist umgeben von Pontons. Auf
den schwimmenden Plattformen aalen sich gerade einige der Tiere des über die Jahre peu à peu
angewachsenen Bestands. Inzwischen leben hier
neun Seehunde, zwei kalifornische Seelöwen und
ein südafrikanischer Seebär; nicht zu vergessen
Geometrische Formen
können Seehunde nur
schwer erkennen. Bei
dem Versuch im Bild
unten links stupst die
Robbe mit der Schnauze nur dann gegen
den Monitor, wenn sie
ein ungleiches Paar
Formen erkannt hat.
Mitte: Die haptischen
Wahrnehmungsfähigkeiten der Meeressäuger werden getestet,
indem ihnen die Forscher Augen und Ohren
verschließen. Hier wartet Filou mit Augenmaske und Kopfhörern,
bis er für die Wahrnehmung einzelner Wirbelringe abtauchen darf.
Unterdessen trainiert
Biologin Yvonne Krüger
Seehund Malte in Vorbereitung für andere
Aufgaben.
Impulse 01_2016 117
Diego, Dehnhardts neuester Zugang. Der allerdings ist nicht Seehund, sondern Hund. Er hat es
gut getroffen hier, fühlt sich – gerettet aus einer
der berüchtigten Tötungsstationen für Hunde in
Spanien – offenkundig wohl.
Als ich aus dem Wasser steige, robbt neben mir
Seehund Henry – oder ist es Nick oder Moe? –
an Land und auf mich zu, stupst mich an. Kurz
berühre ich seine Barthaare, die Vibrissen, die hart
kratzen und doch unglaublich sensible Sensoren
sind. Jedes der etwa hundert Haare endet in einem
Nervenknäuel, das die Spur eines Fisches auch bei
rauer See zuverlässig herauszufiltern vermag. Das
Sinnessystem der Seehunde ist im Zusammenspiel
seiner Bausteine in der Lage, Meeresströmungen,
Schiffsbewegungen, Fischschwärme und die eigene Geschwindigkeit miteinander zu verrechnen –
ein perfektes Unterwasser-Navigationssystem.
Wie orientieren sich Seehunde im Wasser? Inzwischen weiß man: ganz anders als lange gedacht
Mit den Vibrissen tauchen wir direkt ein in die
Forschung des Lichtenberg-Teams. Gemeinsam
untersuchen sie seit Jahren die unterschiedlichen
Sinne, die es Seehunden ermöglichen, sich auf
dem offenen Meer zu orientieren. Bei der Jagd
folgt der exzellente Jäger den Fischen über die
Wasserspur, die diese beim Schwimmen hinterlassen – selbst feinste Verwirbelungen fühlt er mit
seinen Barthaaren. Inzwischen weiß man, dass
das Tier über einen perfekt abgestimmten Mix
aus Sinneswahrnehmungen vieles registriert. Es
schmeckt auch den Salzgehalt, und wenn der Seehund auftaucht, riecht er vom Phytoplankton freigesetztes Dimethylsulfit. Signalisieren Salzgehalt,
Planktondichte und ein paar andere Parameter
den richtigen Mix, weiß er: Hier gibt es Fisch.
Man überblickt kaum noch die Fülle an bahnbrechenden Erkenntnissen, die Dehnhardt und sein
Team veröffentlicht haben. In einem der jüngsten
Projekte, das gerade abgeschlossen wurde, gelangten die Wissenschaftler am Marine Science Center
am Ende einer langen Reihe von Experimenten
zum visuellen System der Seehunde wieder
einmal zu Aufsehen erregenden Ergebnissen:
„Seehunde sind in der Lage, Bewegungsmuster,
die durch die Eigenbewegungen der Tiere von der
sie umgebenden Umwelt im Auge entstehen, zu
interpretieren“, sagt Dr. Frederike Hanke. Dieses
als „Optischer Fluss“ bezeichnete Phänomen spielt
für die Orientierung in der Umwelt eine wichtige
Rolle, wird jedoch nur selten bewusst wahrgenommen. Er hilft dem Menschen beim Gehen das
Gleichgewicht zu halten und seine Position im
Raum zu erfassen. Am Schneetreiben lässt es sich
gut erklären: Der Schnee fällt senkrecht zur Erde,
aber beim Spazierengehen kommt es uns so vor,
als käme er uns entgegen. Das Gehirn verarbeitet
diesen widersprüchlichen Reiz; wurden Testpersonen vorübergehend entsprechend manipuliert,
verloren sie das Gleichgewicht und fielen hin.
Dank seiner extrem
sensiblen Barthaare
kann der Seehund unter
Wasser selbst schwache
Verwirbelungen wahrnehmen, wie sie etwa
ein Fisch erzeugt. Yvonne
Krüger hat für diesen
Versuch über hydrodynamische Reize Seehund
Malte die Augen blickdicht verschlossen (links).
Für Guido Dehnhardt
sind Dr. Sven Wieskotten
und der Physiker Dr.
Lars Miersch (unten,
von vorn) seit Jahren
ein fester Anker für das
Marine Science Center.
Die zahlreichen vom Lichtenberg-Team zu begleitenden Abschlussarbeiten im Zuge der neuen Studiengänge erforderten es, eine neue Tiergruppe zu
Forschungszwecken einzuführen: Kopffüßer. Mit Kraken (Bild) und Sepien arbeiten die Studierenden der
beiden Masterstudiengänge „Meeresbiologie“ und
Für Seehund Malte verlief
das Experiment so: In einem Verhaltenstest präsentierten ihm die Forscher auf einer Leinwand
Punkte, die eine Vorwärtsbewegung simulierten.
Nachdem ein Kreuz auf der Leinwand eingeblendet wurde, sollte der Seehund anzeigen, ob
das Kreuz deckungsgleich mit der Bewegungsrichtung der Simulation war oder nicht. Das
Tier erlernte den Umgang mit dem komplexen
optischen Reiz innerhalb kürzester Zeit. „Unsere Experimente zeigen, dass Seehunde generell
einen sehr guten Zugang zu großflächigen, nicht
still stehenden Punktreizen haben“, sagt Frederike
Hanke, die derzeit mit weiterer Forschung
zum Thema ihre Habilitation vorantreibt. „Und die unglaubliche
Genauigkeit, mit der das Tier
Abweichungen von der
Bewegungsrichtung
anzeigen konnte, ist
beeindruckend.“
Offenbar vermag der
Seehund also Umweltreize, wie sie beispielsweise entstehen bei einer
Bewegung durch partikelreiches Wasser, gemäß dem
Modell des Optischen Fluss’
zu verarbeiten. Diese Vorstellung erfordert ein Umdenken
hinsichtlich der Bedeutung von im
Wasser schwimmenden oder schwebenden Teilchen für die Fortbewegung
und Orientierung von Seehunden oder
anderen Meeresbewohnern. Bislang ging
man davon aus, dass Schwebstoffe im Wasser
die Sicht erheblich einschränken. Nun hat sich
gezeigt, dass demgegenüber zumindest Seehunde
regelrecht in der Lage sind, eine aufgrund von Partikelbewegungen entstandene visuelle Information zu verarbeiten und zu nutzen. „Insbesondere
bei der Futtersuche und zum Abschätzen zurückgelegter Wegstrecken ist diese Fähigkeit zweifellos von großem Vorteil“, sagt Hanke.
„Optischer Fluss scheint demnach eine Informationsquelle, auf die sich Seehunde und möglicherweise weitere aquatische Organismen zur Kontrolle der Orientierung und Fortbewegung verlassen
können“, fasst Dehnhardt zusammen. Auf dieses
Forschungsfeld – derzeit ein heißes Thema – will
er sich künftig als eines von zweien in seinem letzten „Lichtenberg-Jahr“ konzentrieren. So gelang
es Wissenschaftlern andernorts zu zeigen, dass
Bienen Entfernungen nicht wie bislang angenommen anhand ihres Energieverbrauchs bestimmen.
Stattdessen beruht ihre Schätzung auf dem Bewegungsmuster, das beim Vorbeiflug an Blumen
und anderen Objekten hervorgerufen wird – und
damit ebenfalls auf optischem Fluss.
Die schwimmende Forschungsstation, das Schiff LICHTENBERG, ist umgeben von Pontons,
auf denen sich die Meeressäuger des über die Jahre peu à peu angewachsenen Bestands
gern aalen. Inzwischen leben hier neun Seehunde, darunter Erik (links unten), ebenso die
beiden kaum auseinanderzuhaltenden und äußerst verspielten kalifornischen Seelöwen
Eric und Tenn (links oben einer von ihnen) und der südafrikanischer Seebär Finn (rechts).
„Diversität und Evolution“ der Universität Rostock.
„Es ist einfach an der Zeit, dass wir jetzt unsere
äußerst umfassenden Analysen zu der Fülle an
Wahrnehmungsspezialisierungen des Seehundes
bündeln“, bekräftigt Dehnhardt noch einmal die
geplante Fokussierung der Forschungsaktivitäten.
In der Tat ist bemerkenswert, welchen Fragen die
Wissenschaftler schon nachgegangen sind und
worauf sie Antworten fanden. Wie beispielsweise
sieht ein Seehund? Kann er Bild und Spiegelbild
verarbeiten? Auf der Suche nach Antworten sind
die Seehunde, versehen mit Strumpfmasken
oder Kopfhörern, routiniert und engagiert bei der
Sache. Sie signalisieren ihre Reaktionen durch das
Berühren farbiger Bälle. Bei anderen Versuchsansätzen geht es um die Frage, wie sich Seehunde im
Wasser zurechtfinden. Nutzen sie spezielle geografische Muster wie Riffe oder Felsformationen,
die sie womöglich aus unterschiedlichen Perspektiven als gleichen Ort erkennen können?
Sinneskünstler Seehund: Die Wahrnehmungsfähigkeiten der Robben faszinieren …
Eine Überraschung war, als Teammitglied Nele
Gläser vor einigen Jahren der Nachweis gelang,
dass sich Seehunde des Nachts am Sternenhimmel orientieren. Die Positionen einzelner Sterne
konnten sie sogar bedeutend besser bestimmen
als manche Zugvögel – erstaunlicherweise sogar
dann, wenn der „Bezugsstern“ für die Orientierung des Seehunds durch eine Wolke verdeckt
war. Die Biologin Jenny Byl wiederum hat sich
Akustik-Schall-Lokalisationen der Tiere vorgenommen. Robben können wie Menschen Geräusche, die von links und rechts kommen, blitz-
schnell
erfassen
und punktgenau orten. Doch
wie ist es, wenn der
Schall von vorn, hinten, oben
oder unten kommt – schließlich haben
die Tiere ja keine Ohrmuscheln, die Geräusche
zielgenau erfassen und zielgerichtet bündeln.
„Wir wollen den Hörmechanismus bei diesen
Tieren möglichst im Detail entschlüsseln“, sagt
Jenny Byl. Für den Versuch (siehe Abbildung auf
der nächsten Seite oben) legt sich der Seehund auf
einer „Bettstation“ auf die Seite und nimmt ein
Beißtarget ins Maul. „Wir simulieren ‚oben‘ und
‚unten‘, indem wir die Tonsignale von links oder
rechts auf dem stählernen Halbkreis präsentieren,
der den Seehund umgibt. Am ‚Bett‘ hat der Seehund zwei Antworttargets, mit denen er sagen
kann, ob der Ton von oben oder unten kam.“
Impulse 01_2016 121
Set-up von Doktorandin Jenny Byl. Sie untersucht, wie Seehunde unter Wasser Schall lokalisieren.
Unten: Forschung hautnah; Touristen mit Seehund Malte. In Zusammenarbeit mit einer Tauchschule
vor Ort haben Besucher die Möglichkeit, mit den Seehunden zu schwimmen. Wenn man über so viele Jahre ein solch breites
Forschungsfeld beackert, ist der Wunsch nach
Fokussierung ebenso sinnvoll wie verständlich.
„Wir wollen uns in den nächsten Jahren weiter
auf die visuelle und die hydrodynamische Wahrnehmung und Verarbeitung von Flussfeldern
konzentrieren.“ Letzteres meint: Wie verrechnet
der Seehund verschiedene Einflüsse wie beispielsweise eine Strömung, die von der Seite drückt,
oder Wirbel, die durch eigene Bewegungen oder
die anderer Meeresbewohner entstehen, sodass
am Ende seine Orientierung etwa bei der Jagd im
Meer dennoch stets zielgerichtet bleibt und er
das Ziel auch über große Distanzen punktgenau
erreicht? Die Einblicke, die die Meeressäuger den
Forschern gewähren, könnten auch Grundstein
sein für neue bionische Konzepte, also die Suche
nach „Erfindungen der belebten Natur, die als
übertragene Systeme auch für den Menschen hilfreich sein könnten“, wie Dehnhardt es formuliert.
Der mutige Sprung ins offene Wasser – werden
alle Tiere zurückkehren?
Zudem hat Dehnhardt „echte Orientierungsexperimente“ vor Augen; will sagen: Der nächste Schritt
führt die Tier-Mensch-Teams auf das offene Meer.
Seit Anfang 2016 laufen die Vorbereitungen dafür
auf Hochtouren. Prinzipiell haben Tiere drei Möglichkeiten, sich in ihrer Umwelt zurechtzufinden.
Manche kennzeichnen ihren Weg: die „Hänselund-Gretel-Strategie“. Einige Arten vermögen es
immerhin, sich nach einer mentalen Karte zu richten – so speichern manche Säugetiere und Vögel
ihre Umgebung als eine Art Landkarte im Gehirn.
Und dann gibt es ganz besondere Könner wie
etwa die Ameisen der Art Cataglyphis fortis, die in
Tunesien unter Afrikas Sonne leben. Auf Wegen,
die über Hunderte Meter kreuz und quer verlaufen
können, flitzen die Tiere auf dem heißen Boden hin
und her, um Futter für den Nachwuchs zu beschaffen. Sie entfernen sich dabei manchmal bis zu
einem halben Kilometer vom unterirdischen Nest
– bis sie auf dem kürzesten Weg, schnurgerade und
direkt, dorthin zurückkehren. Wollte der Mensch
eine ähnliche Leistung wie die Ameise erbringen, müsste er zig Kilometer im strukturarmen
Gelände umherlaufen und dann geradlinig zum
Ausgangspunkt zurückfinden: eine zweifelsohne
ausgesprochen schwierige Aufgabe.
Cataglyphis fortis nun nutzt die sogenannte Wegintegration: Die Ameisen sind in der Lage sich zu
„merken“, in welche Richtung und wie weit sie
sich vom Nest entfernt haben. Daraus „errechnen“
sie den direkten Rückweg. Und zwar bestimmen
die eleganten Wüstenbewohner ihre Laufrichtung
mittels eines Sonnenkompasses. Anhand des Polarisationsmusters des Sonnenlichtes, das sie mit
speziellen Sehzellen am oberen Rand ihrer Augen
wahrnehmen, können die Tiere erkennen, um wie
viel Grad ihr Weg jeweils vom Stand der Sonne
abweicht. Spezielle Kompassneuronen im Ameisenhirn verrechnen diese Informationen – und
ermöglichen so einen Rückweg auf kurzer Strecke. Wie die Insekten jedoch bestimmen, welche
Entfernung sie genau im Zuge ihrer „Ausflüge“
zurücklegen, ist noch nicht ganz geklärt, da sie
wohl nicht über einen optischen Kilometerzähler
verfügen wie etwa Bienen. Vieles deutet darauf
hin, dass bei ihnen eine Art Schrittzähler mitläuft.
Wie gelingt es nun aber den Seehunden, lange Zeit
im Meer herumzustreifen und dann auf direktem
Weg zurück zum Ausgangspunkt zu finden? Den
entsprechenden Experimenten sieht das Lichtenberg-Team jedenfalls mit Spannung und Vorfreude
entgegen. Die Wegstreckenversuche werde man
allerdings zu Beginn nicht mit jedem Tier riskieren,
schränkt Dehnhardt ein. „Ich bin mir eigentlich
sicher, dass alle zu uns zurückkommen, aber bei
dem einen oder anderen denke ich manchmal
doch: Wer weiß, vielleicht nutzt der die Gelegenheit und macht sich auf nach Schweden“, grinst er.
Die Versuchsaufbauten planen und bauen die
Wissenschaftler übrigens meistens selbst. „Jeder
muss hier mit Flex und Stahlbohrer umgehen können“, sagt er. Da trenne sich schon mal die Spreu
vom Weizen. Spreu seien dabei jene, die vor allem
Impulse 01_2016 123
„Seehunde sind in der
Lage, Bewegungsmuster,
die durch die Eigenbewegungen der Tiere von
der sie umgebenden
Umwelt im Auge entstehen, zu interpretieren“,
sagt Dr. Frederike Hanke
von der Robbenforschungsstation.
Worüber die Biologin
spricht, wird „Optischer
Fluss“ genannt. Auf dieses Untersuchungsfeld
will sich das Team künftig als eines von zweien
im letzten „LichtenbergJahr“ konzentrieren.
aus „romantischen Gründen“ kämen, um mit den
Tieren forschen zu wollen. „Doch das sind keine
Kuscheltiere“; eine gewisse Strenge im Umgang
sei stets notwendig. So braucht es Handfestigkeit
etwa beim täglichen Gesundheitscheck – eine
Zahnkontrolle erhält plötzlich ein anderes Gesicht,
hat man das Gebiss der Raubtiere einmal unmittelbar vor Augen oder die Finger dazwischen.
Auch das Abtasten von Körper und Flossen auf der
Suche nach möglichen Verletzungen oder Schmerzen gehört dazu und will ohne Angst erledigt sein.
Denn die spüren die Tiere sofort.
Vier bis sechs Wochen müssten potenzielle Teammitglieder daher erst einmal „zur Probe arbeiten
und forschen“, wie Dehnhardt es nennt, bevor
entschieden werde, ob jemand ins Team passt; ein
Team, das sich eben zusammensetzt aus Mensch
UND Tier. „Wir haben eine große Verantwortung
den Tieren gegenüber“, sagt Dehnhardt. „Das ist die
Schwelle, an der sich alles messen lassen muss!“
Engagement auch in der Lehre bis hin zum Aufbau
und zur Konzeption von Studiengängen
Dehnhardt hat viele angehende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in all den Jahren
betreut: Aktuell gehören vier Postdoktoranden,
sechs Doktoranden, drei Masterstudentinnen
sowie eine Staatsexamenskandidatin und ein
Bachelorstudent zum Team. Die Vielzahl der
durch die Bachelor- und Masterstudiengänge zu
betreuenden Abschlussarbeiten machte es erforderlich, dass Dehnhardt eine neue Tiergruppe zu
Forschungszwecken einführte: Kopffüßer. Sowohl
124
mit Kraken als auch Sepien arbeiten jene Studierenden, die – zumeist aus den beiden Masterstudiengängen „Meeresbiologie“ und „Diversität und
Evolution“ der Universität Rostock – den Weg zum
Marine Science Center finden.
„In eine gute Ausbildung der Studierenden zu
investieren, ist entscheidend“, betont Dehnhardt.
„Schließlich wollen wir und braucht die Gesellschaft exzellente Wissenschaftler und Forscher“.
Bei der Konzeption des Masterstudiengangs
„Diversität und Evolution“ sei ihm wichtig gewesen, dass umfassende Kenntnisse über den Artenreichtum, die Vielfalt organismischer Strukturen
und Baupläne sowie die ihnen zugrunde liegenden evolutionären Zusammenhänge vermittelt
werden. „Meine Kollegen und ich legen zudem
Wert auf grundlegende theoretische Kenntnisse
sowie für die Praxis erforderliches Methodenwissen der Taxonomie, Systematik und Morphologie
sowie der Molekularbiologie.“
Der Studiengang beinhalte dabei nicht nur den
zu erwartenden detaillierten Einblick in die
vielfältige Welt der Pflanzen und Tiere, sondern
bringe den Studierenden bereits früh ausgewählte Aspekte der Biodiversitätsforschung und der
evolutionären Morphologie nahe: etwa das Konzept der raum-zeitlichen Dynamik von Arten und
Lebensgemeinschaften oder aber, wie Lebewesen
mit ihrer Umwelt interagieren. „Wir vermitteln
den Teilnehmern die wissenschaftlichen Grundlagen, um tiefgreifende Veränderungen wie den
Artenschwund und Klimawandel einordnen und
verstehen zu können“, fasst der engagierte Lehrer
und Forscher zusammen.
Der Masterstudiengang „Meeresbiologie“ hingegen sei „hochgradig interdisziplinär“ angelegt.
„Wer Meeresbiologie studiert, ist meist äußerst
forschungs- und anwendungsorientiert ausgerichtet“, hat Dehnhardt beobachtet. „Diese jungen
Frauen und Männer kommen hierher, um wissenschaftlich und gesellschaftlich relevante Fragestellungen in den Bereichen globaler Klimawandel, Eutrophierung oder Meeresverschmutzung
zu untersuchen und zu den Problemlösungen
beizutragen.“ Großer Standortvorteil sei dabei
die enge Verzahnung mit Forschungsaktivitäten
weiterer universitärer und außeruniversitärer Einrichtungen als auch die mögliche Spezialisierung
im Bereich „regionale marine Ökologie“.
2016 wird’s noch mal auf neue Weise spannend: Dann plant
das Lichtenberg-Team „echte Orientierungsexperimente“.
Das heißt: Der nächste Schritt führt die Tier-Mensch-Teams
auf das offene Meer. Hier trainiert Biologin Yvonne Krüger
mit Malte und festigt so auch beider soziale Bindung.
Der jüngste Werftaufenthalt der LICHTENBERG wurde betreut von
Dr. Lars Miersch – auch er eine der Urkonstanten im Team. Der
Physiker und Ingenieur begleitete bereits 2007/08 den aufwändigen Um- und Ausbau des einstigen Fahrgastschiffes in Polen.
„Wir haben damals viele Eigenleistungen erbracht. Nur so konnten
wir einigermaßen im kalkulierten Kostenrahmen bleiben.“
Man merkt an zahlreichen Details: Vieles trägt
Dehnhardts Handschrift. Der Lichtenberg-Professor ist offenkundig auch im Universitätsbetrieb
ausgesprochen engagiert. So wartete er im Bachelorstudiengang Biologie mit Lehrveranstaltungen
auf, die auch heute noch nicht ganz selbstverständlich zum Ausbildungskanon gehören: Er
unterrichtet soft skills wie scientific writing oder
kreatives Schreiben und vermittelt nützliches und
praktisches Wissen im Bereich Wissenschafts-PR.
Und seit dem Wintersemester 2013 ist er zudem
Geschäftsführender Direktor der gesamten Biowissenschaften der Rostocker Hochschule, nachdem er zuvor bereits drei Jahre das Amt des Vorsitzenden des Promotionsausschusses innehatte.
Guido Dehnhardt
i
anderen wissenschaftlichen Einrichtungen der
Mittelmeeranrainer. Sie ergänzen bestehende
Kooperationen unter anderem zu den Universitäten in Edinburgh, Manchester und Bristol in
Großbritannien, Tallin in Estland, Lund in Schweden oder zur Texas AM University in den USA. Aber
auch mit Zoologischen Gärten wie dem Tierpark
Hagenbeck in Hamburg oder dem Nürnberger
Zoo arbeiten die Warnemünder zusammen. So ist
die schwimmende Forschungsstation zugleich zu
einem Zentrum der Meeresbiologie geworden, das
sich in immer mehr Farben und Facetten malt.
Guido Dehnhardt erhielt 2007 eine LichtenbergProfessur der VolkswagenStiftung, die er seit 2008 an
der Universität Rostock realisiert. In jenem Jahr zog
die gesamte Forschergruppe mit damals neun Seehunden in eine große Freiwasseranlage im Jachthafen Hohe Düne in Rostock-Warnemünde. Hier wird
nun die wissenschaftliche Arbeit, die zuvor viele Jahre
über die Universität Bonn und dann später über die
Universität Bochum im Kölner Zoo stattfand, weitergeführt. Im Fokus der Forschung stehen die Sinnesorgane sowie die kognitiven Fähigkeiten der Robben.
Hierbei interessieren insbesondere, wie die Sinnesorgane in Luft und unter Wasser funktionieren, welche
spezifischen Anpassungen speziell auch das Leben
im Wasser hervorbringt beziehungsweise bedingt
und vor allem, wie die Sinnesorgane zur Orientierung eingesetzt werden können. Die Besonderheit des
Lehrstuhls: Besucher können in der Saison täglich der
Forschungsarbeit und damit der Entstehung wissenschaftlicher Erkenntnisse zuschauen. Aktueller Tierbestand: neun Seehunde, zwei Kalifornische Seelöwen,
ein Südafrikanischer Seebär, Kraken und Sepien.
Und so bedingt eins das andere. Mehr akademischer Nachwuchs erfordert weitere Tiere, damit
genug geforscht werden kann – und über die Tiere
ergeben sich dann wieder neue Kontakte: durch
die Kraken und Sepien beispielsweise gen Italien
zur Zoologischen Station in Neapel, aber auch zu
126
Verschnaufpause für die LICHTENBERG:
Das Schiff wird überholt und kommt zur Kur
Und diese Station namens LICHTENBERG hat sich
nun nach gut sieben Jahren erstmals wieder vom
Fleck bewegt. Mitte November verließ sie ihren
Standort an der Warnemünder Ostmole und wurde die Warnow aufwärts in die Tamsen-Werft nach
Gehlsdorf geschleppt. „Das Schiff musste jetzt turnusgemäß überholt werden bis hin zu einem neuen Anstrich“, sagt Lichtenberg (Dehnhardt) über
LICHTENBERG (Schiff). „Eigentlich wird das Schiff
von Grund auf neu; nur der Name, der bleibt!“
Und von Grund auf heißt auch von Grund auf. Die
Technik werde teils kaum wiederzuerkennen sein;
die Arbeitsplätze der angehenden Forscherinnen
und Forscher werden modernisiert; das ins Deck
eingelassene Probebecken wird überdacht, um
Experimente standardisiert und vergleichbar auch
bei Regen durchführen zu können – und zudem
wird das ganze Schiff behindertengerecht umgebaut. „Dazu muss sogar die Reling komplett entfernt und weiter außen angebracht werden, damit
die Durchgänge an Deck breit genug auch für Rollstühle sind“, führt Dehnhardt aus. Geplant war ein
Aufenthalt von dreißig Tagen – und durchgeplant
ist alles. „Nur auf die Farbe für den neuen Außenanstrich haben wir uns immer noch nicht einigen
können“, sinnierte der Lichtenberg-Professor noch
an jenem Tag im November, an dem das Schiff
bereits in die Werft überführt wurde.
Betreut wird der gesamte Werftaufenthalt von
Dr. Lars Miersch – auch er eine der Urkonstanten
im Team. Der Physiker und Ingenieur begleitete
bereits 2007/08 den aufwändigen Um- und Ausbau des einstigen Fahrgastschiffes in Polen. „Wir
haben damals viele Eigenleistungen erbracht.
Nur so war es überhaupt möglich, einigermaßen
im kalkulierten Kostenrahmen zu bleiben“, sagt
Miersch. Auch diesmal sei es gut gewesen, möglichst viel selbst in der Hand behalten und den
Prozess direkt begleitet zu haben.
Die Tiere blieben in der Zeit in ihrem angestammten Areal im Wasser und wurden am Standort
weiter versorgt. Der „Standort“, wie er von allen
immer recht bescheiden genannt wird, ist im
Übrigen nicht nur einzigartig in Europa, sondern
auch weltweit inzwischen die größte Robbenforschungs- und -haltungsanlage. Kein Wunder, dass
Interessierte aus der ganzen Welt vorbeischauen.
Rund 45.000 Besucherinnen und Besucher strömten zuletzt zwischen April und November zur
Station an der Ostmole. Nach Anmeldung kann
man mit den Robben auch schwimmen und tauchen – eine wichtige Finanzierungsquelle für das
gesamte Projekt.
„Unser Konzept, Forschung hautnah live erlebbar
zu machen, ist aufgegangen“, freut sich Guido
Dehnhardt. Bis zum September 2016 läuft noch
die Förderung über die Lichtenberg-Professur der
VolkswagenStiftung, spätestens dann will man
finanziell autark sein. „Wir werden wohl auch
danach personell klarkommen“, ist der Chef der
Station überzeugt, der die Kosten für den eigentlichen Unterhalt der Station allerdings bei dieser
Einschätzung ausdrücklich nicht einbezogen hat.
Das Engagement der Mitarbeiter rund um Guido
Dehnhardt jedenfalls beeindruckt. Ein halbes Dutzend von ihnen ist von Beginn an oder den Großteil der Zeit „an Bord“, und man hat das Gefühl, sie
geben wirklich alles für die Tiere und die Station.
An einen geregelten Acht-Stunden-Tag denkt hier
niemand. Die Station ist rund um die Uhr besetzt;
die Wissenschaftler selbst sind es, die abwechselnd die Nachtschichten übernehmen. In manch
einem der vergangenen Winter hieß das dann
schon mal: alle zwei Stunden raus und Eis aufbrechen. „Man muss das schon lieben, um diese
Intensität hier auszuhalten“, bringt es einer aus
der Gruppe auf den Punkt.
Dehnhardt selbst merkt man in jedem Augenblick
an, dass die Nähe, das bedingungslose Vertrauen
im Team zueinander und die jahrelange Zusammenarbeit ihm sehr viel bedeuten und eines
der Qualitätsmerkmale all des Geleisteten sind.
„Sobald ich selbst hier loslege, wechsle ich die Perspektive, denke und sehe die Welt wie eine Robbe“,
schiebt er einen letzten Gedanken nach. Oder nein,
einen vorletzten. „Wenn ich dann Robbe bin, habe
ich für Vieles den richtigen Blickwinkel.“ – Dieser
allerletzte Zusatz, der muss noch sein!

November 2015: Die
LICHTENBERG wird in
die Werft geschleppt.
Dort war sie das letzte
Mal 2008. Seinerzeit
wurde das einstige
Fahrgastschiff der DDR
in Polen entkernt und in
Warnemünde neu aufgebaut. Die LICHTENBERG hat eine wechselvolle Geschichte – 1963
enterten 13 Frauen und
Männer aus Ostberlin
die damalige „Friedrich
Wolf“. Es gelang ihnen,
sich trotz Verfolgung
unter Beschuss durch
Grenzboote der DDR
nach Westberlin
abzusetzen. Keiner
der Flüchtenden kam
zu Schaden. Das Boot
wurde später wieder an
die DDR zurückgegeben,
bevor es dann über den
„Umweg“ nach Polen
seinen Heimathafen in
Warnemünde fand.
Impulse 01_2016 127
Schwerpunktthema
Ins Blaue hinein | OZEANE
Mit der Sonne
um die Erde
Knapp 120 Meter lang, Platz für 40
Wissenschaftler und 35 Mann Besatzung; die Baukosten: insgesamt rund
124 Millionen Euro. Das sind nur
einige Eckdaten der Ende 2014 vom
Stapel gelassenen SONNE, aktueller
Star in Deutschlands renommierter,
achtzügiger Forschungsflotte. Sie
gilt als weltweit modernstes Schiff
seiner Art. Seitdem das schwimmende
Hightech-Labor mit wechselnden
Forscherteams zu seiner Jungfernfahrt aufbrach, folgen Meldungen über
spektakuläre Entdeckungen und
Beobachtungen im Monatsrhythmus.
„Schwimmendes Hochleistungslabor” oder „die kleine Universität”: Die Ende 2014
im niedersächsischen Papenburg in der Meyer-Werft vom Stapel gelaufene SONNE
erntet nur positive Kommentare. Sie kann auf fast allen Weltmeeren operieren.
Impulse 01_2016 129
Polarstern
Text und Illustration (Idee): Christian Jung // Illustration (Umsetzung): Christian Smit
F
erdinand Magellan war ein kluger, ein findiger Mann. Im Jahr 1521 stand er mit alkoholischen
und womöglich (wenngleich wohl eher wenig
wahrscheinlich) anderen Getränken an Deck
seines Segelschiffs, das gerade durch die wohltemperierten Gewässer des tropischen Pazifiks
schipperte. Reichlich warm sollen sich die Flaschen angefühlt haben, und so lau wollte der erste
Weltumsegler seiner Mannschaft den wohlverdienten Dank nun wirklich nicht kredenzen. Was
tun? – Schließlich würde es noch 227 Jahre dauern,
ehe der Schotte William Cullen die erste künstliche Kühlung erfinden sollte. Nun, Magellan ließ
die Flaschen an Seilen befestigt Hunderte Meter
hinab in die Tiefen des Meeres. Dort unten, so
hatte er zuvor herausgefunden und beschrieben,
ist das Wasser immer eiskalt. Und in der Tat soll
das kostbare Nass gut gekühlt gewesen sein, als es
nach einiger Zeit wieder emporgezogen wurde.
Heute weiß man
über die tiefe See
weit mehr – und vor
allem: Man kann mit
modernen Geräten
unmittelbar Einblick
nehmen. Möglich
ist und wurde dies
nicht zuletzt durch
die SONNE; genauer:
zunächst durch die
alte und nun durch
ihre Nachfolgerin, die
neue SONNE. Dieses „schwimmende
Hochleistungslabor“
oder „die kleine Universität“, wie das
Ende 2014 im niedersächsischen Papenburg in der MeyerWerft vom Stapel
gelaufene Schiff
von vielen Wissenschaftlern genannt
wird, kann im
130
Grunde auf fast allen Weltmeeren operieren; die
Geräte an Bord ermöglichen dabei – unmittelbar
wie mittelbar – Einblicke bis in beeindruckende
Tiefen hinab. Das Boot löste zum Jahreswechsel
2014/15 das aus der Fahrt gehende 36 Jahre alte
Forschungsschiff gleichen Namens ab, das 1969
zunächst als Fischereischiff gebaut und 1977 für
den Wissenschaftsbetrieb umgerüstet worden
war. Auf zahlreichen Fahrten kreuzte es vor allem
im Pazifischen und im Indischen Ozean; dort ist
auch das Nachfolgemodell unterwegs.
An dem neuen Hightechschiff, dessen Heimathafen Wilhelmshaven ist, erinnert kaum etwas
an seinen legendären Vorgänger. Man hört das
Strahlen und auch Staunen in den Stimmen der
Wissenschaftler, wenn sie von ihrer Zeit an Bord
des neuen Spitzenfahrzeugs der Forschungsflotte berichten: „modernste Ausstattung; weltweit
einzigartig; Einblicke
in die Tiefsee wie
nie zuvor …“ – die
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senschaftler von überall her in begrenzten Zeiträumen von meist vier bis sechs Wochen mit den
Auswirkungen des Klimawandels auf die Ozeane,
den Folgen des Abbaus von marinen Rohstoffen
und Energieträgern; sie untersuchten zahlreiche
Einflussfaktoren auf die Ökosysteme und erfassten und analysierten deren Veränderungen.
Entdeckung Nummer eins: ein Feld mit mehreren
Schwarzen Rauchern von außergewöhnlicher Größe
Mitte 2015, der Monat Juli biegt schon mächtig auf
die Zielgerade ein, arbeitet sich die SONNE gerade
durch den Golf von Mexiko. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an Bord untersuchen
Kohlenstoffemissionen am Meeresboden, die von
vulkanischen Aktivitäten hervorgerufen werden.
„Solche Aktivitäten am Meeresboden sind weitgehend unerforscht. Sie stellen ein Risiko dar, können Tsunamis verursachen, Giftstoffe ins Wasser
abgeben, und sie bedeuten für die Lebensformen
drum herum eine echte Katastrophe“, sagt der
Fahrtleiter der „Expedition SO241“ Professor
Dr. Christian Berndt vom GEOMAR HelmholtzZentrum für Ozeanforschung Kiel.
Die Aktivitäten „seines“ Teams an Bord mit Forschern aus Deutschland, Mexiko, der Schweiz,
Norwegen und Taiwan stehen im Zusammenhang mit Beobachtungen zu klimatischen Veränderungen weltweit. Verlässliche Vorhersagen
sind nur möglich, wenn – nahezu – alle Faktoren
bekannt sind, die das Klima beeinflussen. Aussagen über die Zukunft kann dabei auch der Blick
in die Vergangenheit gewähren. Einer Hypothese
zufolge haben verstärkte vulkanische Aktivitäten
während der Öffnung des Nordatlantiks vor rund
54 Millionen Jahren eine schnelle Erwärmung ausgelöst – Fachleute bezeichnen dieses Ereignis als
Paläozän-Eozän-Temperatur-Maximum (PETM).
Belege für oder auch gegen diese Vermutung zu
finden, war Ziel von „Expedition SO241“, die dafür
das Guaymas-Becken im Golf von Mexiko aufsuchte. Es gilt als Modellregion für die Verhältnisse im Nordatlantik am Ende des Paläozäns.
118 m
Länge:
10,5 kn
Geschwindigkeit:
Seezeit:
75 Tage
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Wissenschaftl. Pers
50 Personen
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rd- und Südpolarmee
Einsatzgebiete: No
BMBF
Eigner:
Während sich der einmonatige Aufenthalt der
Wissenschaftler, die ganz unterschiedliche fachliche Expertise mitbringen, an Bord bereits dem
Ende zuneigt, ereilt die Gruppe eine kleine Sensation: Das Team spürt ein bisher unbekanntes
Hydrothermalfeld mit mehreren Schwarzen
Rauchern auf. Das Besondere – es sind außergewöhnlich große heiße Quellen. Das frisch entdeckte Feld ist rund 500 Meter lang und besteht aus
mindestens vier Ablagerungshügeln, jeder bis zu
70 Meter hoch. „Dieser Fund eines Hydrothermalfeldes mit mehreren Schwarzen Rauchern ungewöhnlicher Größe ist wirklich bemerkenswert“,
erklärt Geophysiker Berndt. „Er könnte unser Bild
davon ändern oder zumindest deutlich schärfen,
wie Kohlenstoff von Sedimentbecken in der Tiefsee abgegeben wird. Das hätte grundlegende Konsequenzen für die Abschätzung der Bedeutung
magmatischer Systeme auf das System Erde.“
Eigens für die Polarforschung konzipiert,
ist die POLARSTERN
ausgestattet für
Forschung in den
Bereichen Biologie,
Geologie, Geophysik,
Glaziologie, Chemie,
Ozeanographie und
Meteorologie. Der Vorlauf für Fahrtvorschläge liegt derzeit bei
drei bis vier Jahren. Sie
untersteht dem Bund
als Eigner – ebenso
wie die HEINCKE und
die METEOR.
Im Einzelnen stellt sich das wie folgt dar: Bricht
eine kontinentale Kruste frisch auf, folgt eine
Phase, in der am Meeresboden Vulkanismus stattfindet. Das magmatische Gestein dringt in die
bereits am Meeresboden abgelagerten Sedimente
Impulse 01_2016 131
Meteor
Als interdisziplinäre
Forschungsplattform
steht die METEOR Wissenschaftlern der maritimen
Meteorologie und Aero-
ein. Dort erhitzt dieses Gestein das Porenwasser
derart, dass große Mengen Kohlenstoff, der vorher zusammen mit den Sedimenten abgelagert
worden war, freigesetzt werden. Das mit dem
Kohlenstoff angereicherte Wasser beginnt zur
Oberfläche zu wandern; dort entweicht das Gas in
die Atmosphäre.
Das Forschungsschiff
HEINCKE wurde 1990
in Dienst gestellt und
gehört zu den mittelgroßen Schiffen. Sie
ermöglicht wissenschaftliche Projekte in
den Bereichen Biologie
und Hydrographie und
wird an rund 200 Tagen
im Jahr eingesetzt bei
einer Vorlaufzeit für
Buchungswünsche von
zurzeit einem Jahr.
Da solche Systeme während der Öffnung des
Nordatlantikbeckens vor rund 54 Millionen Jahren weit verbreitet waren, nehmen Forscher an,
dass sie für die als PETM bekannte rasante globale
Erwärmung zumindest mitverantwortlich sein
könnten. Bis jetzt war allerdings unklar, wie intensiv diese Systeme tatsächlich sind oder waren
und welche Arten von Kohlenstoffverbindungen
sie ausgestoßen haben. „Das Guaymas-Becken im
Golf von Mexiko könnte darauf Antworten liefern,
denn dort öffnet sich zurzeit ebenfalls ein noch
verhältnismäßig junges Ozeanbecken, in dem
die ersten vulkanischen Einträge in das Sedimentbecken stattfinden“, sagt Berndt.
Heincke
Das Team an Bord der SONNE identifizierte
mögliche Stellen von Flüssigkeitsaustritten am
Meeresboden auf der Basis seismischer Daten
und von Fächerlot-Messungen zur betreffenden
Unterwasserregion. Das Fächerlot ist eine Art
weiterentwickeltes Hightech-Echolot, bei dem
die Richtungsauflösung zwischen Sender (hohe
Auflösung in Vorausrichtung, breit in Querrichtung) und Empfänger (mehrere Empfangskeulen
durch elektronisches Schwenken der Richtkeulen
simultan für viele Richtungen) geteilt wird – eben
gleich einem Fächer. Sie erlauben im Unterschied
zu herkömmlichen Echoloten eine flächige Erfassung des Meeresbodens unter dem Schiff statt
wie bisher lediglich von Profillinien.
Die entsprechend ausgewählten Plätze wurden
dann mit dem Tiefseeroboter HYBIS eingehender
untersucht. Schon bei dessen erstem Tauchgang
fingen die HYBIS-Kameras Bilder eines ausgedehnten Hydrothermalfelds ein. Dort entweichen
mehrere Hundert Grad Celsius heiße Flüssigkeiten
dem Meeresboden, aus denen bei Kontakt mit
dem kalten Meerwasser sofort Mineralien ausfallen, die sich am Meeresboden ablagern. Die heißen Flüssigkeiten sind mit Methan angereichert,
das hoch in die Wassersäule transportiert wird.
Großer Andrang – die Forschungsaufenthalte
an Bord sind für die nächsten Jahre fest vergeben
Länge:
55 m
Geschwindigkeit:
12,5 kn
Seezeit:
Wissenschaftl. Pers
on
al:
21 Tage
12 Personen
Einsatzgebiete: No
rdsee und Nordatlant
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Eigner:
BMBF
132
„Solche heißen Quellen kennt man vor allem vom
mittelozeanischen Rücken. Ein Feld dieser Größe
abseits einer ‚Spreizungsachse‘ ist ungewöhnlich“, sagt Berndt. Die Größe und die Aktivität
des Systems sprächen dafür, dass hydrothermale
Quellen tatsächlich Einfluss auf das globale Klima haben könnten, sofern sie in sich öffnenden
Ozeanbecken in großer Anzahl aufträten. „Natürlich ist das jetzt nur ein erster Eindruck, und nach
der Expedition müssen wir die Proben und Daten
aus dem Guaymas-Becken schnellstmöglich
genau analysieren – ich bin aber sicher, wir erhalten faszinierende Ergebnisse“, fasst der Kieler
Wissenschaftler zusammen.
logie, der physikalischen
Ozeanographie, der
An Bord allerdings war für
angewandten Physik, der
ihn und „sein“ internationales
Meereschemie, der mariTeam am 24. Juli 2015 erst einnen Botanik, der Zoologie,
mal Schluss, dann erreichte die
der Bakteriologie und
SONNE den Hafen von Guayaquil
Mykologie, der Meeresin Ecuador – und dort warteten
geologie, der Sedimenschon ungeduldig die nächsten
98 m
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für Ozeanforschung Kiel – zu dieser
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Reise später mehr. Einen Monat
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danach dann, am 29. August,
schloss sich die renommierte Meeresforscherin Professorin Dr. Antje
startete
Boetius mit ihrem Team als „ExpeMitte Dezember 2014 und
dition SO242/2“ an; Verweildauer
hatte den auf halber Strecke zwischen Afrika und
immerhin bis Mitte Oktober 2015. Sie griff ArbeiAmerika gelegenen Mittelatlantischen Rücken
ten des Vorgängerteams an Bord auf und richtete
zum Ziel. Geleitet wurde sie vom Meeresbodenden Fokus auf die Zusammensetzung benthischer,
experten Professor Dr. Colin Devey vom GEOMAR
also in der Bodenzone des Meeres vorkommender
Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung in Kiel.
Gemeinschaften lebender Organismen sowie ent„Wir wollten herausfinden, wie Meeresböden entsprechende Ökosystemfunktionen. Zum anderen
stehen. Geht die Entwicklung homogen oder eher
standen detaillierte biogeochemische Untersusprunghaft vonstatten? Das Gebiet ist für solche
chungen auf dem Programm.
Untersuchungen sehr gut geeignet, denn hier verläuft die Trennlinie der Kontinente Amerika und
Und so nahtlos in der Belegung des Schiffes geht
Afrika, die sich immer noch voneinander wegbees immer weiter. Der Andrang ist groß: Noch
wegen“, sagt Devey.
bevor die neue SONNE im Dezember 2014 über-
haupt ihre erste Seemeile zurückgelegt hatte, war
sie schon bis Ende 2016 ausgebucht. Und kurz
nach der Jungfernfahrt reichten dann die Buchungen bereits bis tief ins Jahr 2017 hinein.
Entdeckung Nummer zwei: kegelgroße Knollen,
die seltene Metalle enthalten
Die Expeditionsteilnehmer brachten von bislang jeder Fahrt spannende Erkenntnisse und
spektakuläre Funde mit heim – gleich die erste
Forschungsreise SO237 machte von sich reden. Sie
An einem der vierzig Fahrttage, unterwegs mitten
im Atlantik, zogen die Forscher von SO237 wie
üblich eines jener modernen Forschungsgeräte,
das ständig im Einsatz ist, routinemäßig an Bord
– einen Epibenthosschlitten. Ihn hatte die Crew in
die Tiefe gelassen, um Proben von Sedimenten des
Meeresbodens hinaufzuholen. Doch statt der Sedimente brachte der Schlitten Manganknollen an
Deck. Die Planktonnetze, die zu den Netzbechern
führen, in denen die Proben gesammelt werden,
seien gefüllt damit gewesen, berichten Teilnehmer der Fahrt. Manche der Knollen seien so groß
Impulse 01_2016 133
Maria S Merian
MARIA S. MERIAN:
Sie zeichnet sich
gegenüber anderen
Forschungsschiffen
vor allem durch ihre
gewesen wie Golfbälle, andere gar wie Kegelkugeln. Manganknollen bestehen bis zu maximal
knapp einem Drittel ihres Volumens aus dem
Metall Mangan und lagern auf dem Meeresboden
in Tiefen zwischen 4000 und 6000 Metern. Sie
sind zunehmend begehrt wegen ihres Gehalts an
seltenen Metallen; Elemente wie Kupfer, Cobalt,
Zink und Nickel etwa enthalten sie regelmäßig,
wenn auch nur jeweils bis zu maximal einem Prozent. Der Eisenanteil liegt bei 15 Prozent.
Die ELISABETH MANN
BORGESE wird durch
das Leibniz-Institut
für Ostseeforschung
Warnemünde (IOW)
betrieben. Das IOW
führt die Begutachtung
von Fahrtvorschlägen
durch. Erhält man
einen Zuschlag, dauert
es etwa ein Jahr, bis
man an Bord gehen
und forschen kann. Eigner von ihr und ihrem
Schwesternschiff, der
MARIA S. MERIAN, ist
das Land MecklenburgVorpommern.
Zur gleichen Zeit an Bord, mit ganz anderen Forschungsfragen im Gepäck, ist damals die Meeresbiologin Angelika Brandt. Die Professorin an der
Universität Hamburg und ausgewiesene Expertin
für wirbellose Tiere will im Atlantik erkunden,
wie sich die Zusammensetzung der Meeresfauna
und -flora östlich und westlich des Mittelatlantischen Rückens unterscheidet. Auch ihre Begeisterung über den Manganknollenfund ist hörbar,
wenn sie von einer „absolut überraschenden
Entdeckung“ spricht. Der Anblick habe nicht nur
– das sei ja weniger überraschend – die Biologen
im Team elektrisiert, sondern gerade auch die
Geologen. Und die stimmen zu, denn bislang seien substanzielle Vorkommen von Manganknollen
nur aus dem Pazifik
bekannt gewesen.
Per Zufall nun war die
Crew im Atlantik auf
ein circa 5000 Meter
unter dem Meeresspiegel liegendes Feld dieser
Klumpen gestoßen.
Der Blog wird rege betrieben und hat zahlreiche
Leser. Viele Teilnehmer der Fahrten schreiben
regelmäßig über ihre Erfahrungen und Erlebnisse,
und beileibe nicht nur über Forschung. Der allererste Eintrag Mitte Dezember 2014 ist hier ebenso
wegweisend wie stilbildend: „Nachdem die Wissenschaftler am 14. Dezember in Las Palmas, Gran
Canaria, angekommen und vom Agenten auf das
neue FS SONNE gebracht worden waren, wurden
die Kammern verteilt. Nach dem Abendessen
wurden erst einmal die persönlichen Gegenstände verstaut. Als dann die Reisepässe aller Wissenschaftler von den örtlichen Behörden gescannt
worden waren, war um 20.30 Uhr Auslaufen des
FS SONNE, und alle, aber auch alle versammelten
sich auf den verschiedenen Decks, um das Auslaufen aus dem Hafen von Las Palmas und die Passage vorbei an verschiedenen großen Kreuzfahrtschiffen und Fähren hautnah zu erleben“.
Der Fund und Fang der Manganknollen während
der ersten Reise des
neuen deutschen
Tiefseeforschungsschiffs war übrigens
– wie so oft in der
Wissenschaft – eine
für alle Beteiligten
überraschende,
spektakuläre Beigabe. Eigentlich waren
Im Blog der Expeditidie Teilnehmer der
onsteilnehmer (www.
Expedition SO237
oceanblogs.org/so237) finausgefahren, um
det sich für jenen Tag folim Atlantik die Biogender Eintrag: „Gewöhnlogie und Geologie
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der „Vema Fracture
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Eigner:
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wie sich beide Gruppen über eine gemeinsame
Probennahme gefreut haben und in wissenschaftlicher Faszination vereint waren.“
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Mecklenburg-Vorpom
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Gebieten des Pazifiks
Sie alle sind
größere Vorkommen
sich einig: Der Einsatz
an Manganknollen
neuester Tiefseetechlagern, fiel schnell
nik an Bord der SONNE erbrachte sensaschon der Entschluss,
tionelle Bilder und Daten vom Meeresgrund.
exemplarisch einige dieser Orte mit der SONNE
Mithilfe des autonomen Unterwasserfahrzeugs
sogar noch in 2015 und dann intensiver in den
AUV ABYSS erstellten die Wissenschaftler eines
kommenden Jahren wissenschaftlich zu untersuder größten hochauflösenden Fotomosaike von
chen.
Tiefseeböden, die weltweit bis dato existieren.
„Sowohl die Technik, die wir eingesetzt haben, als
auch die Ergebnisse sind bemerkenswert“, resüFotomosaike von Meeresböden: faszinierende
miert Fahrtleiter Professor Dr. Jens Greinert.
„Kunstwerke“ aus 4000 Metern Tiefe
Denn ein solcher Fund weckt natürlich Begehrlichkeiten, und der Gedanke an eine mögliche
Ausbeutung solch eines Areals – Manganknollen enthalten wie beschrieben diverse seltene,
weltweit stark nachgefragte Metalle – liegt nahe.
Welche Folgen aber hätte der Abbau von Manganknollen in der Tiefsee?
Man stelle sich einfach vor, wie gewaltige unbemannte Raupenfahrzeuge sich auf vorprogrammierten Bahnen über den Meeresboden bewegen
und dabei den weichen Untergrund aufwühlen
bei der Suche nach Erzknollen. Welche Schäden
würde ein derartiger Bergbau anrichten? Wie
lange würde die Natur benötigen, die Wunden
wieder zu schließen? Mit möglichen Auswirkungen vor allem auf die Umwelt beschäftigte sich im
August 2015 unter Leitung von Professor Dr. Jens
Eisrandfähigkeit aus.
Benannt wurde das
Forschungsschiff nach
Maria Sibylla Merian,
der Begründerin der
deutschen Entomologie, die Ende des 17.
Jahrhunderts als erste
Frau Forschungsreisen
größeren Ausmaßes
per Schiff unternahm.
Wartezeit: zwei Jahre.
Arbeitsgebiet der Expedition mit der offiziellen
Nummer SO242/1 war das sogenannte DISCOLGebiet im über 4000 Meter tiefen Peru-Becken.
DISCOL steht für „DISturbance and re-COLonization
Experiment“. Bei diesem Langzeitexperiment
pflügten deutsche Wissenschaftler im Jahr 1989
in einem genau definierten, elf Quadratkilometer
großen Gebiet mit ausgeprägten Vorkommen an
Manganknollen am Meeresboden eine Fläche von
etwa 2,5 Quadratkilometern systematisch um.
Ziel war es, über lange Zeiträume zu beobachten,
welche Auswirkungen solche Störungen in der
Tiefsee haben und wie massiv gestörter Tiefseeboden wieder besiedelt wird. Um die Entwicklung
zu beobachten, fanden 1992 und 1996 weitere
Expeditionen in das Gebiet statt. Jetzt, rund zwei
Jahrzehnte nach der bis dato letzten Fahrt ins DISCOL-Gebiet, konnte das internationale Forscherte-
Impulse 01_2016 135
Poseidon
Die POSEIDON zählt
zu den mittelgroßen
Forschungsschiffen. Ihr
Namensgeber ist der
griechische Gott des
Meeres. Sie steht vor
allem Wissenschaftlern der Ozeanografie,
der Meeresbiologie
und der Geologie für
Forschungsreisen zur
Verfügung; sie brauchen
derzeit etwa zwei Jahre
Geduld, wenn sie einen
Buchungswunsch geäußert und einen Zuschlag
bekommen haben.
136
am auf der SONNE
erstmals wieder
den Meeresboden
dort genau unter
die Lupe nehmen.
„Mit ganz anderen
Möglichkeiten, denn
mittlerweile ist die
Tiefseetechnik zum
Glück viel weiter als
in den 1990er Jahren“, sagt Jens Greinert.
Bilder aber erkennen,
dass wenige Dezimeter neben den
Pflugspuren normales Tiefseeleben
61 m
vorhanden ist.
Länge:
09 kn
„Außerdem hat
Geschwindigkeit:
die Expedition
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gezeigt, dass
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Einsatzgebiete: No
sein muss.
Schleswig-Holstein
Eigner:
Wer immer
Zu den Technologien,
dort mit Bergbau
die damals noch nicht
beginnen sollte, dem
zur Verfügung stankönnte man genau auf
den, gehören autonodie Finger schauen. Die
me Unterwasserfahrerforderliche Technologie ist
zeuge wie das AUV ABYSS. Zwanzig Stunden lang
vorhanden“, betont der Experte für Tiefseemonikann es in bis zu 6000 Meter Wassertiefe einprotoring.
grammierten Wegen folgen und dabei den Meeresboden mit Fächerecholoten und Seitensichtsonaren präzise kartieren. „Eine zudem erst im
Ob im Innern des Schiffs oder außen:
vergangenen Jahr neu entwickelte Lichttechnik
Hightech, wohin der Blick fällt …
ermöglicht zusätzlich gestochen scharfe Farbbilder des Meeresbodens“, erklärt der Kieler WissenÜberhaupt wird bei einem Blick auf den Beleschaftler. Während der Expedition wurden mehregungsplan des Schiffes und die Zwecke und
re 100.000 Fotos des Meeresbodens aus wenigen
Ziele der Reisen schnell deutlich, wie breit das
Metern Entfernung geschossen und anschließend
Spektrum an Forschungsthemen ist. Damit diese
zu einem Fotomosaik in nie gekannter Auflösung
keine bloßen Wunschträume bleiben, verfügt die
zusammengesetzt.
SONNE über eine erlesene Zusammenstellung an
Gerätschaften und Infrastruktur an Bord. Die zahlNoch einen Vorteil bietet das AUV. Während das
reichen „Superinstrumente“ für die TiefseeforGerät in den Tiefen autonom seine Bahnen zieht,
schung rufen bei den Wissenschaftlerinnen und
kann die SONNE an anderer Stelle Proben nehWissenschaftlern regelmäßig Begeisterung hermen. So wird wertvolle Zeit gespart. „Wir haben
vor – Greifer, Bojen, Unterwasserroboter beispielsdie Fähigkeiten des Geräts während dieser Fahrt
weise, die man schon auf den ersten Blick sieht.
voll ausgereizt: Es hat sich fantastisch bewährt“,
Und der schweift ja anfangs nur außen herum …
schwärmt Greinert, der jetzt mit seinem Team,
zurück in Kiel, die gesammelten Daten, Karten,
Im Inneren des Forschungsschiffes dann noch
Fotos und Proben genauer analysiert. „Schon die
mehr Hightech. Das Neueste vom Neuesten,
ersten Eindrücke sind äußerst interessant“, sagt
wohin man schaut. Ein Hydroakustiklabor etwa:
er. Die Pflugspuren von 1989 sind nach wie vor
ein fensterloser Raum mit mehreren Bildschirmen
messerscharf zu sehen und die gestörten Bereiche
an den Wänden. Denn das Schiff verfügt über
noch nicht wieder besiedelt. Zugleich lassen die
hochauflösende Fächerlotanlagen und weitere
Lotanlagen, mit denen sich in Sedimente hineinschauen lässt. Experten für das Lesen und Auswerten der Daten findet man dort nahezu rund
um die Uhr, so scheint es. Innovatives wie schon
beschrieben auch beim Echolot, das am Boden
des Schiffes sitzt und von dort aus Ultraschall in
die Tiefe sendet. Dieser wird vom Meeresgrund
reflektiert, und die entsprechenden Echos fängt
das Gerät wieder auf. Das Resultat: eine genaue
Karte vom Meeresgrund. Jedoch: Bei Seegang können Luftblasen unter den Rumpf geraten und den
Ultraschall blockieren – ein altbekanntes Problem
der Schifffahrt. Um das zu verhindern, haben sich
die Konstrukteure einen Trick überlegt und den
Rumpf des Schiffes mit Vor- und Auswölbungen
versehen. Diese leiten Luft, die unter die Wasseroberfläche kommt, nach oben ab. Auch bei starkem Seegang sollen so die Echolotanlagen an Bord
der SONNE zuverlässig arbeiten.
James-Bond-Film denkt. Dort könnte der dreieinhalb Meter große Sensor für elektromagnetische
Felder zweifellos als eine jener in den Actionfilmen stets futuristisch anmutenden Erfindungen
seinen Einsatz gehabt haben. Das Gerät jedenfalls
kann bis in Tiefen von 5000 Metern hinab den
Meeresgrund scannen. Es wird nach und nach viel
über die Strukturen der Erdkruste verraten.
Wieder zurück an Deck, sieht man ein goldgelb
lackiertes Gebilde, das irgendwie an ein Fahrradmodell längst vergangener Zeiten erinnert, nur
überdimensioniert. Golden Eye heißt das Gerät,
bei dessen Bezeichnung man zunächst an einen
Zur Ausrüstung zählen darüber hinaus Forschungswinden mit Drähten und Kabeln von bis
zu zwölf Kilometern Länge. Das ermöglicht Messungen im äußersten unteren Rand des Weltmeeres. Nicht fehlen darf an Bord natürlich ein Unterwasserroboter, ein Remote Operated Vehicle – kurz:
ROV. Zwei Piloten steuern das System vom Schiff
aus. Mehrere Kameras am ROV liefern hochpräzise Fotos in bislang für solche Systeme unter Wasser nicht erreichter Qualität. Mit fremd gesteuerten Greifern wiederum lassen sich Proben vom
Meeresboden heraufholen und gleich an Bord
mithilfe zahlreicher Geräte analysieren – darunter
vieles, was die Wissenschaft derzeit an Neuestem
in Analyse und Experiment zu bieten hat.
Alkor
Bald schon soll Golden Eye im Indischen Ozean
zum Einsatz kommen und dort insbesondere
Mineralien am Meeresboden detektieren. Das Ziel
ist hier durchaus vornehmlich ein ökonomisches:
Es geht um Bodenschätze, es geht um Rohstoffe.
Denn im Indischen Ozean hat sich die Bundesrepublik Deutschland ein Lizenzgebiet gesichert, um
die Suche nach Kupfer, Kobalt, Indium und Selen
zu erforschen – sämtlich Elemente, nach denen
die heimische Industrie immer lauter ruft.
Die ALKOR zählt wie
ihr Schwesternschiff
HEINCKE zu den mittelgroßen Forschungsschiffen. Eigner ist
jedoch nicht der Bund,
sondern – wie bei der
POSEIDON – das Land
Schleswig-Holstein.
Auch Sport an Bord gibt’s: ein paar Angebote
für die wenige Freizeit – immerhin
Länge:
55 m
Geschwindigkeit:
12,5 kn
Seezeit:
Wissenschaftl. Pers
on
al:
Einsatzgebiete:
Eigner:
21 Tage
12 Personen
Neben hypermoderner Technik besticht das Schiff
durch relativ große Wohnräume, Bibliothek und
Besprechungszimmer nebst zahlreichen Aufenthaltsräumen. Sie sollen dazu beitragen, das Leben
der 35 Besatzungsmitglieder und von bis zu
vierzig Wissenschaftlern auf den wochenlangen,
Nord-und Ostsee
Land Schleswig-Holste
in
Impulse 01_2016 137
Son n e
Mit der Indienststellung der neuen SONNE Ende 2014 begann
technisch gesehen eine neue Ära. Das Schiff steht allen meereswissenschaftlichen Disziplinen zur Verfügung. Forscher müssen
sich derzeit auf zweieinhalb Jahre Wartezeit einstellen.
arbeitsintensiven Fahrten so angenehm wie möglich zu gestalten. Denn wenngleich die SONNE
zuallererst ein Arbeitsschiff ist, gibt es Angebote
für die wenige Freizeit wie etwa einen gut ausgestatteten Sportraum, Sauna und fürs Deck ein
nach Bedarf mobil aufbaubares Schwimmbad;
ebenso wenig fehlen eine Messe und eine Bar
samt Lounge. Ein bisschen Abwechslung braucht
es schließlich, kann doch die SONNE fast zwei
Monate lang ohne Unterbrechung auf See bleiben.
Erst dann muss sie einen Hafen anlaufen, um
Treibstoff und Vorräte zu bunkern.
Hintergrund
i
Die deutsche
Forschungsflotte
Deutschland verfügt über eine Flotte von acht Forschungsschiffen für den Einsatz auf allen Meeren
und Ozeanen weltweit. Die Palette reicht von kleinen, regional operierenden Einheiten für die Fahrt
entlang von Deutschlands Küsten bis hin zu modernen, hochseetüchtigen Spezialschiffen, die auch
die entferntesten Meeresgebiete erreichen können.
Unter „deutscher Forschungsflagge“ können zwei
weitere Schiffe neben der SONNE in allen Ozeanen
operieren: die POLARSTERN, die vor allem in den
Gewässern der Arktis und Antarktis unterwegs ist,
und die METEOR, die im Atlantik, im Mittelmeer und
im Indischen Ozean kreuzt. Fünf Schiffe hingegen
sind spezifisch regional im Einsatz, in Nord- und
Ostsee, Nordatlantik und Mittelmeer: die MARIA S.
MERIAN, die POSEIDON, die ELISABETH MANN BORGESE, die ALKOR und die HEINCKE. Insgesamt gilt
die deutsche Forschungsflotte im internationalen
Vergleich als sehr gut aufgestellt und mit führend.
Diese Flotte ermöglicht es Wissenschaftlern, die
Weltmeere umfassend zu bereisen und zu erforschen – egal, ob der Fokus sich auf biologische,
physikalische, geologische oder chemische Prozesse im Meer richtet. Wie kommen Interessierte an
ihre Tickets? Alle Wissenschaftler, die an öffentlich
finanzierten Forschungseinrichtungen arbeiten,
138
Nicht nur die Expeditionsteilnehmer zeigen sich
im Übrigen angetan von dem Schiff, dessen Komfort und Hightechgerätschaften. Auch die Crew
stimmt in den Chor der Begeisterten ein: „Das
Schiff hat nach meiner Einschätzung eines der
besten Verhalten auf See; vom Seegangsverhalten
her hat es eine ziemlich gute Seele“, sagen sie
alle so oder so ähnlich – bis hinauf zum Kapitän.
Dreißig Jahre soll die neue SONNE der deutschen
Wissenschaft nun als schwimmende Forschungsplattform vor allem im Indischen und Pazifischen
Ozean dienen.
Apropos schwimmende Forschungsplattform:
Mit dem hin und wieder durchaus mal unsteten,
schwankenden Boden unter den Füßen haben
offenbar nur einzelne der zumeist klassischen
Landratten unter den an Bord gehenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern Probleme.
Ein Mitglied der Crew fügt nach kurzer Pause noch
augenzwinkernd hinzu: Bei der ersten Fahrt habe
man beim Verlassen des Ärmelkanals stürmische
See gehabt, aber die SONNE habe so gut im Wasser
gelegen, dass es verblüffenderweise keine Ausfälle
aufseiten der Wissenschaftler gegeben habe.

können die genannten Schiffe für ihre Experimente nutzen. Dazu müssen sie Fahrtvorschläge beim
„Portal deutsche Forschungsschiffe“ einreichen.
Eine Begutachtung entscheidet dann darüber, wer
zum Zuge kommt (www.portal-forschungsschiffe.de).
Bei der Auftragsvergabe hatte sich die Tiefseeforschungsschiff GmbH – ein Zusammenschluss der
Meyer-Werft in Papenburg und der Bremer Reederei
RF Forschungsschiffahrt – in einem europaweiten
wettbewerblichen Ausschreibungsverfahren gegen
starke Konkurrenz durchgesetzt. Der Auftrag gab
nicht nur einen kräftigen Impuls für die deutsche
maritime Wirtschaft, er sicherte auch Arbeitsplätze
in der hiesigen Werftindustrie, der Reederei sowie
bei zahlreichen deutschen Zulieferbetrieben.
Die Kosten für die Finanzierung der Schiffe tragen
Bund und Länder. Das Prozedere lässt sich am Beispiel der SONNE gut aufzeigen. 2008 verständigten
sich der Bund und die Küstenländer Niedersachsen,
Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein,
Hamburg und Bremen auf den Bau des neuen Tiefseeforschungsschiffes. Der Wissenschaftsrat hatte
dies zuvor empfohlen und den geplanten Neubau in
die erste Kategorie der ohne Auflagen förderungswürdigen Forschungsinfrastrukturen eingeordnet.
Im August 2011 unterzeichneten die damalige Bundesforschungsministerin Annette Schavan und die
seinerzeitige niedersächsische Wissenschaftsministerin, heutige Bundesforschungsministerin Johanna Wanka auf der Neptun-Werft in Rostock-Warnemünde den Vertrag zum Bau und zur Bereederung
des neuen Tiefseeforschungsschiffes SONNE. Nach
einer Bauzeit von zwanzig Monaten und mehrwöchigen wissenschaftlichen Erprobungsfahrten
wurde Deutschlands jüngstes Forschungsschiff
schließlich Mitte November 2014 der Wissenschaft
übergeben. Es ist nach neuesten Standards ausgerüstet: nicht nur hinsichtlich benötigter ForschungsHightech, sondern auch mit Blick auf Energieeffizienz und ökologische Rahmensetzungen.
116 m
Länge:
12,5 kn
Geschwindigkeit:
Seezeit:
21 Tage
al:
on
Wissenschaftl. Pers
Einsatzgebiete:
40 Personen
Indik, Pazifik
Eigner:
Die Kosten in Höhe von 124,4 Millionen Euro übernahm das Bundesministerium für Bildung und Forschung zu 90 Prozent; die Küstenländer investierten
im Verbund zehn Prozent, wovon Niedersachsen
als Sitz des wissenschaftlichen Heimatinstituts an
der Universität Oldenburg und des Heimathafens
Wilhelmshaven mit sieben Millionen Euro allein
gut die Hälfte trägt.
Nach dem gelungenen Neubau der SONNE zeigt
derzeit Deutschlands größtes Forschungsschiff,
die vor 35 Jahren in Dienst gestellte POLARSTERN,
zunehmend Alterserscheinungen. Anfang 2015 musste eine Antarktisexpedition abgebrochen werden,
weil es Probleme mit dem Antriebssystem gab.
Die Ausschreibung für ein Nachfolgeschiff läuft
bereits; 2020 soll dessen Jungfernfahrt anstehen.
Und Anfang Oktober 2015 wurde beschlossen, die
tief in die Jahre gekommenen Schiffe METEOR und
POSEIDON ebenfalls zu ersetzen – und zwar durch
ein Schiff, dessen Heimathafen Kiel sein soll. Nach
BMBF
Expertenmeinung lassen sich die Forschungsaufgaben künftig auf nur einem Schiff konzentrieren, da
sich das Einsatzspektrum von Forschungsschiffen
heute dank modernster Technik deutlich erweitert
hat. Die Bauplanung für das neue Schiff beginnt
2016; entsprechend gibt es zu Größe und Kostenrahmen noch keine Zahlen.
Zurück zur SONNE: übereinstimmenden Einschätzungen zufolge absehbar das einzige europäische
Forschungsschiff, das noch permanent im Indischen
und im Pazifischen Ozean unterwegs ist. Damit wird
sein Einsatz für die Wissenschaft umso bedeutender, da beide Weltmeere großen Einfluss haben auf
das Weltklima, dessen Erforschung immer wichtiger
wird. Wissenschaftler an Bord der SONNE arbeiten
aber auch – das zeigt eine Auflistung geplanter Forschungsthemen – an der Beantwortung weiterer
wissenschaftlich und gesellschaftlich relevanter Fragen. Sie interessiert unter anderem die Versorgung
mit marinen Rohstoffen oder die Auswirkungen
menschlicher Eingriffe in die maritimen und küstennahen Ökosysteme. Für eine Meeresforschung im
Verbund ganz unterschiedlicher Disziplinen bietet
das neue Schiff jedenfalls beste Voraussetzungen.
Damit verfügt die deutsche Meeresforschung künftig in Europa über ein Alleinstellungsmerkmal.
Christian Jung
Link:
 www.deutsche-meeresforschung.de/de/forschung
Impulse 01_2016 139
Schwerpunktthema
Ins Blaue hinein | OZEANE
Steife Brise für
die Steckdose
Die Energiewende zu meistern,
stellt eine der wichtigsten Herausforderungen unserer Zeit dar. Im
Mix der Energieformen ist dabei die
Windenergie ein entscheidender
Baustein, Probleme der Energieversorgung zu lösen. Immerhin rund
ein Zehntel des Stromverbrauchs
in Deutschland wird von Windenergieanlagen gedeckt. Besonderen Herausforderungen sehen sich
Offshore-Anlagen ausgesetzt –
aber sie bieten auch große Chancen.
Hunderte Kilometer Küste, viel Wind, offenes Wasser: Deutschland scheint wie
geschaffen für das Erzeugen von Windenergie, vor allem offshore. Schon jetzt haben
die Energiekonzerne reichlich Windräder ins Meer gestellt. Zahlreiche Jobs sind entstanden. Doch für einen gelungenen, nachhaltigen Übergang zu „grüner“ Energieversorgung bleibt eine Menge zu tun. Forscher aus Niedersachsen sind vorn mit dabei.
Impulse 01_2016 141
Text: Christian Jung // Illustrationen: Dorota Gorski
I
rgendwie typisch, dieser Tag. Die Wolken
pressen, der Himmel hängt tief, das Wasser geht
schwer. Und dann dieser Wind. Er scheint die Wellen nach Willkür hin und her zu werfen und zu
schieben, als wollte er, wäre das möglich, jedem
einzelnen Wassermolekül die Luft abdrücken. Zwischendrin besonders heftige Böen. Ein gewöhnlicher Tag eben, hier, im Spätherbst, an der Nordsee.
Enorme Windstöße, Tornados inzwischen auch in
unseren Breiten, reichlich Regen und manchmal
Blitzeinschläge: Wovor der Mensch fliehen kann,
müssen Windenergieanlagen an vielen Tagen im
Jahr aushalten – und jene auf hoher See oft umso
heftiger und ungeschützter. Dort zerren zusätzlich
Wellen, Salzwasser und ungebremste Stürme mit
unglaublicher Kraft und Wucht an Material, Stabilität und Standfestigkeit von Stahlrohren und
Rotorblättern. Sie müssen diesen Unbilden der
Natur standhalten. Wie aber kann man wirklich
gewiss sein, dass die Technik sicher und zuverlässig läuft und das Material hält?
Sucht weltweit seinesgleichen: Das neue Testzentrum für Tragstrukturen mit riesigen Prüfanlagen
In Niedersachsen, Deutschlands Windstromerzeu­
gungsland Nummer eins, tut man einiges, solche
Fragen zu beantworten und generell Forschung
auf diesem Zukunftsfeld zu stärken. Ein enormer
Sprung gelang im Herbst 2014: Damals nahm in der
Landeshauptstadt eine der weltweit größten und
modernsten Versuchs- und Erprobungsanlagen
ihre Arbeit auf – das Testzentrum für Tragstrukturen Hannover (TTH). Die Anlage am Rande der
Halbmillioneneinwohnerstadt ist eines der spektakulärsten wissenschaftlichen Neubauprojekte
des Landes und wurde nach nur knapp zwei Jahren
Bauzeit eröffnet. Dort können Forscher unter definierten Bedingungen ganze Windräder oder deren
Komponenten gezielt auf den Prüfstand stellen.
Zwei europaweit einzigartige Großversuchsanlagen stehen ihnen dafür in dem Prüfzentrum mit
seiner rund zwanzig Meter hohen Versuchshalle
neben Laboren und Werkstätten zur Verfügung.
142
In dem Testzentrum für Tragstrukturen erwartet
die Forscher zum einen das 18,5 Meter lange und
zehn Meter breite „Spannfeld“. Es dient insbesondere der mehraxialen Prüfung von Strukturen und
realen Komponenten. Hier traktieren die Experten etwa ­Turmsegmente oder Stützstrukturen
mit enormen Kräften und stellen im Zeitraffer
die Belastungen nach, denen die Anlagen unter
Extrembedingungen – etwa durch Monsterwellen
und brachialen Wind – ausgesetzt sind. Die „Zutaten“ für solche Versuche: eine 200 Quadratmeter
große Betonplatte, an zwei Seiten begrenzt von
einer hohen rechtwinkligen Betonwand.
Zwischen beide, Boden und Wand, lässt sich
ein „Prüfling“ einspannen, zum Beispiel das
Stützrohr eines Windrades. 14 Hydraulikzylinder
ziehen dann quasi die Daumenschrauben an und
drücken, zerren und pressen auf Knopfdruck –
bis zu 200 Tonnen wirken so auf ein Testobjekt
ein. Wem das nicht reicht, der kann sein Objekt
in einer Klimakammer durch Temperaturwechsel im Zeitraffer künstlich altern lassen oder
befördert vorzeitige Materialermüdung durch
Besprühung oder Vernebelung mit Salzwasser.
Die zerstörerischen Kräfte wirken so lange, bis
der Prüfling – durch welche Kraft auch immer
– kaputt ist: sich biegt, bricht oder birst. Feinste
Messfühler zeichnen bis zum bitteren Ende alles
auf; auch Ultraschall lässt sich versuchsbegleitend zum Durchleuchten einsetzen.
In Anlage Nummer zwei, einer zehn Meter ­tie­fen
„Grundbauversuchsgrube“, erproben Forscher
an Modellen im Maßstab 1:10 zum Beispiel –
dazu später mehr – Ideen für anders geartete
Verankerungen von Windrädern im Meeresboden. In dem überdimensionierten Sandkasten
simulieren sie Vor- und Nachteile verschiedener
Bauverfahrenstechniken – dabei stets das wichtigste Ziel vor Augen, eine Windenergieanlage
so sicher und effizient wie irgend möglich im
Meeresgrund zu verankern. Ebenso gut lässt sich
hier das Tragverhalten zyklisch beanspruchter Strukturen untersuchen oder eine neue
Installationstechnik ausprobieren.
Insgesamt kostete der Bau des Testzentrums für
Tragstrukturen in Hannover-Marienwerder 26
Millionen Euro, rund zehn Prozent der Baukosten
stammen aus dem „Niedersächsischen Vorab“ von
Land und Stiftung. Substanzielle Unterstützung
steuerten auch der Bund und die Europäische
Union bei – und die Leibniz Universität Hannover
beteiligte sich mit 2,8 Millionen Euro. Die Errichtung der gesamten Anlage ist Teil einer umfassenderen Kooperationsvereinbarung zwischen
der Hochschule und dem Fraunhofer-Institut für
Windenergie und Energiesystemtechnik Nordwest (IWES); beide unterzeichneten unlängst
einen Kooperationsvertrag über gemeinsame
Aktivitäten im Bereich der Windenergieforschung.
Forschen für Sicherheit, Funktionsfähigkeit,
Kostenminimierung und sparsamen Verbrauch
Durch die im Zentrum für Tragstrukturen möglichen Tests unter realitätsnahen Bedingungen will
das Fraunhofer IWES mit seinen Projekten die Zeit
bis zur Anwendungsreife von Tragstrukturdesigns
deutlich verkürzen. „Gerade für Offshore-Windkraftanlagen lassen sich im Testzentrum viele
entscheidende Fragen rund um die Stabilität und
Haltbarkeit der zahlreichen Komponenten bearbeiten“, sagt Dr.-Ing. Maik Wefer. Der Leiter des
Bereichs Strukturkomponenten beim Fraunhofer
IWES hofft auf Auftraggeber aus der Industrie und
von der öffentlichen Hand. Aktuell untersuchen
Forscher im Laborversuch unter verschiedenen,
künstlich induzierten Bedingungen im Zeitrafferverlauf insbesondere die Beanspruchung von
Tragstrukturen aus den Materialien Stahl, Guss,
Beton sowie aus Hybridmaterialien. Ziel ist es,
Schäden verursachende Prozesse oder Gegebenheiten auch in der Realität frühzeitig zu erkennen
und Tragstrukturen weiter zu optimieren.
Im Wesentlichen sind es drei große zentrale Herausforderungen, die es bei Offshore-Windkraft
zu bewältigen gilt: die sichere und wirtschaftliche Verankerung der Anlage im Meeresboden,
umweltschonende Installationstechniken sowie
eine möglichst genaue Vorhersage der Lebensdauer. Wie wichtig die Suche nach richtigen Antworten ist, wird klar, wenn man sich vergegenwärtigt,
dass Funktionsfähigkeit und Sicherheit der Anlagen nicht nur ein hoher Wert an sich sind, sondern
eben auch jede einzelne Wartung und Reparatur
einer solchen Großanlage auf hoher See äußerst
kostspielig ist.
Im Herbst 2014 nahm
in Norddeutschland
eine der weltweit
größten und modernsten Versuchs- und
Erprobungsanlagen
die Arbeit auf – das
Testzentrum für Trag­
strukturen Hannover
(TTH). Dort können Forscher unter definierten
Bedingungen ganze
Windräder oder deren
Komponenten gezielt
auf den Prüfstand stellen. Zwei europaweit
einzigartige Großversuchsanlagen stehen
ihnen dafür zur Verfügung: das Spannfeld
und eine überdimensionale „Sandgrube“.
Impulse 01_2016 143
„Gerade der Einsatz von Anlagen in großer Wassertiefe erfordert für zahlreiche Fragen zuverlässige Lösungen auf aktuellem technischen Niveau“,
fasst Uwe Beckmeyer, der Parlamentarische
Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft und Energie, zusammen. Sein Ministerium
hat allein 17,8 Millionen Euro für die Errichtung
des Testzentrums bereitgestellt. Dort hält man
insbesondere die Erprobung alternativer Materialien und neuer Bauverfahrenstechniken für
wegweisend. „Die neue Großeinrichtung kann
mit ihren vielfältigen Möglichkeiten Herstellern,
Projektierern und Betreibern wertvolle Hinweise
liefern“, sagt Beckmeyer. All das ermögliche es, die
Kosten der Windenergienutzung zu senken und
dabei zugleich umweltschonend und nachhaltig
zu agieren als auch die Verfügbarkeit der Anlagen
zu erhöhen, führt er weiter aus. Und das wiederum
befördere eine erfolgreiche Energiewende. „Von
einem raschen Forschung-Praxis-Transfer profitiert zudem der Wirtschaftsstandort Deutschland!“
Das neue Testzentrum für Tragstrukturen in Hannover-Marienwerder kann zweifelsohne einen
wichtigen Beitrag leisten, die Windenergieforschung hierzulande noch weiter voranzubringen.
Umso mehr, als es Teil des übergreifenden Verbunds „ForWind“ ist. ForWind bündelt die Kompetenzen auf dem Gebiet der Windenergieforschung
der Universitäten Hannover, Oldenburg und
Bremen sowie des Fraunhofer IWES und des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt. Gegründet wurde die vereinte Windenergieforschung im
Jahr 2003. Da seinerzeit auch die Politik verstanden hatte, dass sich durch die längst anrollende
Energiewende die ganze Prozesskette der Energieversorgung immer schneller neu justierte, gelang
es, die unzweifelhaft vorhandene wissenschaftliche Expertise auch finanziell zu unterfüttern. Und
so wurde ForWind seitdem – einschließlich erster
vorbereitender Arbeiten – aus dem „Niedersächsischen Vorab“ bis heute, also Ende 2015 mit rund 20
Millionen Euro gefördert.
Eine erfolgreiche Energiewende
bedarf technologischer Innovationen. Entscheidende Schritte gab
es früher bereits von Zeit zu Zeit.
Die Windräder von heute erinnern
immerhin noch an ihre einstigen
Vorläufer, die Windmühlen, die
allerdings zuvorderst einem
anderen Zweck dienten.
144
Der Verbund ist als einziges Forschungszentrum
in verschiedene wissenschaftliche Begleitvorhaben aller drei bisher installierten deutschen
Offshore-Windparks eingebunden. „Wir untersuchen zum Beispiel, wie sich die Trägerstruktur
der Windräder verbessern lässt“, erklärt Stephan
Barth, Geschäftsführer von ForWind. Dabei gehe
es um deren sichere Verankerung im Boden, eine
längere Lebensdauer der Rotoren oder um günstigere Produktionskosten. Die Forscher tüfteln
unter anderem an einer neuen Generation von
Rotorblättern. Ziel ist es, dass Windenergieanlagen möglichst effizient und geräuscharm arbeiten
und letztlich ein optimales Zusammenspiel aller
Windräder in einem Windpark erreicht wird.
Im Blick des Forschungsverbunds „ForWind“:
die gesamte Prozesskette der Energieversorgung
Die Forschungsallianz leiste zweifelsohne weit
über die Grenzen des Landes hinaus einen herausragenden Beitrag zum Gelingen der Energiewende,
freute sich Niedersachsens Wissenschaftsministerin Gabriele Heinen-Kljajic, als ForWind unlängst
mit dem Norddeutschen Wissenschaftspreis 2014
ausgezeichnet wurde. Der Jubel war groß. Denn
mit 50.000 Euro prämiert wurde eine stabile
Zusammenarbeit von Energieforschern, die seit
mehr als einem Jahrzehnt ausgezeichnet funktioniert und die reichlich Früchte getragen hat.
Mit der Entscheidung würdigten die Wissenschaftsressorts der norddeutschen Länder die
„vorbildliche institutionenübergreifende und
interregionale Zusammenarbeit“ der Beteiligten,
hieß es anlässlich der Preisübergabe Ende November 2014 im Alten Rathaus Hannover. Immerhin
vereinigt ForWind die Aktivitäten von dreißig in
der Windenergieforschung engagierten Mitgliedsinstituten und Gruppen mit ihrer in Summe breit
gespreizten Expertise aus den Ingenieur-, Naturund Wirtschaftswissenschaften sowie der Informatik – verteilt über die Standorte in Bremen,
Hannover und Oldenburg. Das Netz verfügt über
weltweit einmalige Forschungsinfrastrukturen.
Auch aktuell sind die Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftler um ForWind erneut mit einem
Förderantrag erfolgreich: Fünf Millionen Euro
erhielt der Verbund in zwei Tranchen Ende 2014
und 2015 aus Mitteln des „Niedersächsischen Vorab“ für das Forschungsvorhaben „ventus efficiens“.
Mit den Geldern wollen die Windenergieforscher
über die eingebundenen Institutionen hinweg
ihren Blick auf die gesamte Prozesskette richten
und dabei alle wechselseitigen Abhängigkeiten
und Wirkungen prüfen – von der Energieerzeugung und -wandlung in der Anlage über Tragstrukturen und Triebstränge bis zur Anbindung ans
Stromnetz. Ihr besonderes Augenmerk gilt dabei
der Frage, an welchen Stellen in der gesamten
Prozesskette sich Kosten-Nutzen- oder AufwandErtrag-Relationen verbessern lassen. Denn obwohl
Windenergieanlagen heute bereits in hoher Qualität hergestellt, errichtet und betrieben werden,
ist eine kontinuierliche Steigerung ihrer Effizienz
möglich und unabdingbar. Nur so können die
Stromentstehungskosten weiter sinken.
„Ziel ist es, mit der Windenergie eine wichtige
Säule unserer künftigen regenerativen Energieversorgung zuverlässiger und kostengünstiger zu
machen“, sagt Professor Dr. Raimund Rolfes von
der Universität Hannover, Sprecher des ForWindVorstands. Und Geschäftsführer Dr. Stephan Barth
fügt hinzu, dass der Verbund dadurch Niedersachsen als führendes Land in Sachen Energiewende
voranbringe. „Insbesondere indem es gelingt, über
Erkenntnisse aus dem Projekt sowohl die Stromkosten zu senken, die Betriebsdauer zu verlängern
als auch die Qualität der erzeugten und ins Netz
abgegebenen Leistung zu steigern, wollen wir entscheidend zum erfolgreichen Umbau des europäischen Energiesystems beitragen“, betonen beide.
Das Projekt „ventus efficiens“, das federführend
gemeinsam getragen wird von Wissenschaftlern der Universitäten Oldenburg und Hannover,
unterstreicht erneut die Spitzenposition, die sich
der Nordwesten mit all dem im Verbund ForWind
zusammentreffenden Know-how in der Windenergieforschung inzwischen erarbeitet hat.
Impulse 01_2016 145
Weitere Projekte
i
„Die vielen Forschungsanstrengungen bei der
Windenergie im Allgemeinen und durch das
Engagement von ForWind im Besonderen zeigen
beispielhaft, wie Wissenschaft der Gesellschaft
dienen kann“, war als Jurystatement anlässlich
der 2014er Preisverleihung an den Verbund zu
hören. Doch während sich Politik und interessierte
Öffentlichkeit noch an den Erfolgen der Gegenwart
erfreuen, arbeiten die vielfach geförderten Forscher
längst an der Zukunft. Etwa jene im Testzentrum
für Tragstrukturen in Hannover-Marienwerder. Mit
ihnen kehren wir zurück ans und ins Meer.
Aktuell forschen die Ingenieurinnen und Ingenieure dort vor allem an schallarmen Konstruktionskonzepten, insbesondere an entsprechend
verbesserten Gründungssystemen für OffshoreWindparks. Ziel ist es, den beim Bau solcher
Anlagen unausweichlichen Krach möglichst zu
minimieren – bei 160 Dezibel liegt der Grenzwert
des unter Wasser maximal zulässigen Lärmpegels.
Besonders für Meeressäuger wie Wale oder Robben stellt die Lärmbelästigung ein großes Problem
dar (siehe auch Fotoreportage und begleitenden
Text dazu ab Seite 6 ff).
Längere Haltbarkeit von
Windrädern durch Plasma
Projektpartnerin Professorin Dr. Gisela Ohms von der
Universität Göttingen. Setzt man nun das Harz hinzu, können sich beide Komponenten stärker aneinander heften. „Die Verbundfestigkeit von Rotorblättern an Windkraftanlagen steigt, die Anfälligkeit
für Schäden sinkt“, fasst Leck zusammen.
Besonders erfreut ist Leck darüber, dass aus dem
Forschungsschwerpunkt bislang 36 Bachelor- und
16 Master- sowie drei Promotionsarbeiten zum
Thema Plasmabehandlung hervorgegangen sind.
Die Göttinger Forscher gelten als führend auf diesem Gebiet. Ihnen ist es gelungen, Plasmaquellen
so zu bauen, dass sie das Plasma atmos­phärisch
zünden können. Die Geräte müssen somit nicht
luftdicht verschlossen sein, und es muss kein spezielles Gas zugeführt werden. Das macht die Quellen kostengünstig und damit interessant für die
Industrie. „Unser Verfahren ersetzt latent umweltkritische, chemische Haftvermittler durch einen
physikalischen Prozess“, sagt Leck. Zudem brauchen
die Plasmaquellen nicht viel Platz oder geschulte
Fachkräfte. „Wir wollten ein anwendernahes Verfahren entwickeln“, ergänzt HAWK-Kollege Professor Dr.-Ing. Jens Peter Kärst. Bei so viel gebündelter
Expertise überrascht es nicht, dass ihr Projekt vor
einigen Jahren mit 800.000 Euro aus Mitteln des
„Niedersächsischen Vorab“ auf Spur gesetzt wurde.
Im Bereich der regenerativen Stromerzeugung jagt
in Deutschland derzeit ein Rekord den nächsten.
Durch die steigende Einspeisung von Wind- und
Solarstrom steigt allerdings auch die Komplexität
im Stromnetz. Im Rahmen des Verbundprojekts
AMSES (Aggregierte Modelle für die Simulation von
dynamischen Vorgängen in elektromechanischen
Energiesystemen) wollen Forscher jetzt untersuchen, was geschieht, wenn immer weniger große,
fossil befeuerte Kraftwerke mit ihren rotierenden
Turbinen, Generatoren und Schwungmassen benötigt werden. Denn die Schwung­massen wirken stabilisierend auf das Stromnetz – vergleichbar einem
drehenden Kreisel, der sich wieder aufrichtet, wenn
er aus seiner stabilen Lage ausgelenkt wird.
Die Technik ist so alltäglich, dass fast jeder Joghurtbecher und jede Plastiktüte entsprechend behandelt
werden: „Damit die Farbe beim Bedrucken haften
bleibt!“, sagt Professor Michael Leck von der Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst
Hildesheim/Holzminden/Göttingen (HAWK). Doch
Oberflächen mithilfe eines Plasmaauftrags zu verändern, ist ein Verfahren, das weitaus mehr zu leisten
vermag. „Es ist uns gelungen, die Lebensdauer von
Rotorblättern stromerzeugender Windräder zu verlängern“, sagt Leck, der das bereits einige Zeit etablierte Verfahren der „Plasmabehandlung“ mit entwickelt hat. Diese Schutzmöglichkeit macht aktuell
besonders für Offshore-Anlagen von sich reden.
25 Jahre halten die derzeit gängigen Rotorblätter im
Schnitt; alle sechs Jahre hat ein Windrad ein gravierendes Wartungsproblem. Für gewöhnlich bestehen
Rotorblätter aus einem Glasfasergewebe und einem
Epoxidharz. Problematisch an dieser Faserverbundtechnik ist, dass sich beide Komponenten nicht
optimal miteinander verbinden lassen. Hier greift
nun das Verfahren der Plasmabehandlung. Zunächst
setzt man das Glasfasergelege einem sogenannten
atmosphärischen Plasma aus. „Wir haben festgestellt, dass es nach einer Plasmabehandlung Veränderungen in der Oberflächenstruktur gibt“, berichtet
146
Vor sechs Jahren hat Michael Leck federführend den
Forschungsschwerpunkt „Plasmabehandlung von
Textilglasprodukten zur Performancesteigerung
von Verbundrotorblättern von Windkraftanlagen“
initiiert. Neben fünf Teams am Standort Göttingen
sind als Partner die Firmen Momentive Performance
Materials, Tigres und die PD Fibre Glass Group dabei.
210 Meter Höhe erreicht eine
Offshore-Windanlagen insgesamt: 40 Meter davon sind im
Boden versunken, 20 Meter
nimmt etwa die Wassertiefe.
Die Gondel samt Rotorblättern
thront dann 90 Meter über der
Nordsee; weitere 60 Meter Länge hat jedes der Rotorblätter.
Zum Vergleich: Der Kölner Dom
ist 157 Meter hoch, der Eiffelturm misst etwa das Doppelte.
Weitere Projekte: AMSES und NEDS
Wie also verändern sich derzeit die Stabilitätseigenschaften des Stromnetzes? Zu diesem Zweck
rechnen, modellieren und simulieren Forscher
Entwicklungsszenarien zur künftigen Stabilität des
Gesamtsystems. AMSES ist ein Verbundprojekt
mehrerer Institute der Leibniz Universität Hannover
unter Federführung vom Institut für Energieversorgung und Hochspannungstechnik. Eine Million Euro
aus dem „Niedersächsischen Vorab“ stehen bereit.
Bis zum Jahr 2050 könnte Deutschland nach neuesten Berechnungen problemlos mit Strom aus
regenerativen Energiequellen versorgt sein: Das niedersächsische Verbundprojekt NEDS (Nachhaltige
Energieversorgung Niedersachsen) will dazu beitragen, dass das ehrgeizige Vorhaben möglichst schnell
Realität wird. In den nächsten vier Jahren werden
die dort eingebundenen Wissenschaftler zumindest für Niedersachsen entsprechende Szenarien
durchspielen und Entwicklungspfade aufzeigen. Alle
Modellierungen unterliegen dabei grundsätzlich
einem umfassenden Verständnis von Nachhaltigkeit: Natur und Umwelt sind bei jeglichen Empfehlungen zu denkbaren Entwicklungen und Prozessen
zu schonen – das der Leitgedanke.
Im Detail geht es auf der einen Seite darum, in welchem Umfang und auf welche Weise der einzelne
Bürger die neuen technischen Möglichkeiten wie
beispielswiese Smart Home oder Smart Grid nutzt.
Dabei interessiert nicht zuletzt auch die gesellschaftliche Akzeptanz bestimmter Technologien.
Auf der anderen Seite gilt das Interesse der Forscher
technischen Fragen bis hin zum Sammeln harter
Daten und Fakten über spezifisches Verbraucherverhalten. An dem Vorhaben, das Mitte 2015 startete,
sind unter der Federführung der Leibniz Universität
Hannover auch die Universitäten in Braunschweig,
Oldenburg und Göttingen beteiligt. NEDS wird mit
2,5 Millionen Euro aus dem „Niedersächsischen Vorab“ der VolkswagenStiftung gefördert.
Christian Jung
Impulse 01_2016 147
Geräuschquellen gibt es viele: Schiffspropeller
wummern durch die Wellen, Ölbohrinseln drehen
kreischend ihre Fördertechnik in die Erdkruste;
allerorten werden für Gasförderung, Kies- oder
Sandabbau Gerätschaften in den Boden geschoben und gerammt. Anderswo graben Radbagger
Rinnen für Kabelkanäle in den Tiefseeboden – und
unter dem Meeresgrund wird nach neuen Rohstoffquellen gesucht, auch das nicht still und leise.
Allein das metallische Krachen und die Vibrationen in der Nähe von Bohrinseln erreichen einen
Schalldruck bis zu 180 Dezibel.
Lärm reduzieren zum Schutz der Meerestiere: neue
Offshore-Konstruktions­konzepte sind überfällig
Und unsere Windparks? Beim Rammen der Pfähle
oder Stützpfeiler für ein Windrad lässt sich noch
in 750 Metern Entfernung eine Lärmbelastung
von 170 Dezibel messen. Und pro Fundament
braucht es immerhin 2000 bis 3000 Schläge mit
der Ramme, bevor ein Stahlpfahl vierzig Meter tief
im Boden verankert ist. Der Geräuschpegel bei der
Errichtung von Offshore-Windparks überschreitet
den Hörtoleranzbereich eines Wals weit. Ihm droht
ein Gehörschaden, ein zeitweiliger oder vollkommener Hörverlust. Das kann schnell tödlich enden,
denn ohne Gehör können Wale weder kommunizieren noch sich orientieren oder jagen. Oft wird
der vom Wal ausgesendete Ton durch andere
Lärmquellen im selben Frequenzbereich derart
gestört, dass er nahezu ohne seinen wichtigsten
Orientierungssinn auskommen muss. Zudem
bildet sich manches durch menschliche Technik
bedingte Hintergrundgeräusch unter Wasser in
einem Frequenzbereich von 20 bis 300 Hertz ab;
ein Spektrum, das auch viele Wale nutzen.
Versucht eines der Tiere zum Beispiel, in diesen Tonlagen seine Gruppe zu rufen, hört es
als Antwort vielleicht ein Murmeln der Schiffe
ringsherum, eine Ölbohrinsel oder einen OffshoreWindpark – jedoch oft nicht mehr sein eigenes
Biosonar. Allein die schiere Lautstärke der „Nebengeräusche“ reicht oft aus, sein Rufen ungehört
verhallen zu lassen. Mal ganz abgesehen davon,
dass der zunehmende Lärm Stress bei den sich
akustisch orientierenden Tieren auslöst. Durch die
Dauerbelastung der Hörorgane mit Lärm wird das
Biosonar derart geschwächt, dass die Wale nicht
nur weniger Nahrung finden, sondern sich ohne
exakte Orientierung auch immer wieder verirren
und stranden. Da verwundert es nicht, dass auch
die von Walen aufgesuchten Rückzugsgebiete
schwinden, in denen sie Ruhephasen einlegen
und verharren oder ihre Kälber aufziehen können.
Gasvorkommen lokalisiert werden. Ihr Schall hat
einen Frequenzbereich von 100 bis 500 Hertz, bei
einem Schalldruck von bis zu 260 Dezibel. Zum
Vergleich: Ein Düsenjet, der dreißig Meter entfernt
startet, produziert einen Schalldruck von 120 bis
140 Dezibel, die menschliche Schmerzgrenze liegt
bei etwa 130 Dezibel. Da überrascht es nicht, dass
der Einsatz von Airguns wiederholt zu Walstrandungen geführt hat. Untersuchungen an toten
Tieren zeigten massive Verletzungen an der Lunge
sowie Blutungen im Innenohr und im Gehirn.
Besonders fatal sind Seesprengungen, wenn etwa
Minen entschärft werden. Mindestens ebenso arg:
der Einsatz von Airguns. Die Unterwasserschallkanonen werden genutzt bei seismographischen
Untersuchungen des Meeresbodens, wenn Öl- und
Geeignete Technologien, mit deren Hilfe sich der
überbordende Unterwasserlärm eindämmen
lässt, gibt es durchaus schon einige. Am meisten
erprobt sind sogenannte Blasenschleier, die – wie
eine Art „Schallmauer“ – in einem Kreis um die
Seit Langem gefordert, nun endlich auf dem Weg:
Lösungen zur Geräuschminimierung
Lärmquellen, die MeeAktuell forschen die
ressäuger belasten, gibt
Ingenieure vor allem
es viele: wummernde
an schallarmen Kon-
Schiffspropeller, krei-
struktionskonzepten
schende Ölbohrinseln,
für Offshore-Windparks. Ziel ist es, den
Rammungen in den
Boden. Besonders fatal
beim Bau solcher Anla-
sind Seesprengungen,
gen unausweichlichen
wenn etwa Minen ent-
Krach möglichst zu
schärft werden. Ebenso
minimieren – bei 160
Dezibel liegt der Grenzwert des unter Wasser
maximal zulässigen
arg: der Einsatz von
Airguns für seismographische Untersuchungen
des Meeresbodens. Ihr
Lärmpegels. Vor allem
Schall hat einen Fre-
für Meeressäuger wie
quenzbereich von 100
Wale oder Robben ein
bis 500 Hertz, bei einem
großes Problem. Eine
der Lösungen: Blasen-
Schalldruck von bis zu
260 Dezibel. Die mensch-
schleier, die Geräusche
liche Schmerzgrenze
absorbieren.
liegt bei 130 Dezibel.
148
Impulse 01_2016 149
Stützpfeiler gezogen werden. Mit einem Kompressor wird Luft durch einen perforierten Schlauch
geleitet. Entweicht diese Luft ins Wasser, steigen
Luftblasen auf, und die Schallwellen, die beim
Rammen der Stützpfeiler in den Meeresgrund entstehen, werden an ihnen gebrochen. So wird der
Geräuschpegel erheblich gesenkt – sofern sichergestellt ist, dass stets ein durchgehender Schleier
aus Luftblasen entsteht. Denkbar sind aber auch
große Rohre, die während des Rammens die Pfähle
ummanteln. Auch lässt sich der Ort, an dem etwas
in den Meeresgrund gerammt wird, vom umgebenden Wasser akustisch abschirmen durch einen
Weitere Projekte
i
All das fordert die Forscher im Testzentrum für
Tragstrukturen heraus. Ihre Idee: Statt die Fundamente lautstark in den Boden zu rammen und den
entstehenden Lärm etwa durch Blasenschleier
allenfalls zu mildern, könnte sich ein Windrad auch
mittels sogenannter Suction Buckets verankern
12,2 Millionen Euro für die Nachhaltigkeitsforschung
Grünes Licht für weitere sieben Verbundvorhaben
in dem Förderprogramm „Wissenschaft für nachhaltige Entwicklung“ unter dem Dach des „Niedersächsischen Vorab“. Die erfolgreichen Vorhaben der
nunmehr zweiten Wettbewerbsrunde werden bei
Projektlaufzeiten von drei bis vier Jahren mit einer
Million bis knapp drei Millionen Euro gefördert. Folgende Vorschläge setzten sich durch:
Mehr als fünfzig Millionen Bürger hierzulande
leben im ländlichen Raum. Sie haben oft sehr spezifische Bedürfnisse und Wünsche vor allem an die
Infrastruktur und die Versorgungsangebote – ob
für den Lebensmitteleinkauf oder mit Blick auf
Gesundheitsdienstleistungen. Die Forscher wollen
passgenaue, nachhaltig wirkende Lösungen für die
jeweiligen Herausforderungen finden.
Gestaltungskompetenz als Innovator für hochzuverlässige Organisationen im Gesundheitssystem
(Uni Osnabrück, FH Osnabrück, FU Berlin)
Welches sind die Ursachen für Fehler bei medizinischen Eingriffen – und: Nehmen Falschbehandlungen zu? Warum ließen oder lassen sie sich nicht
verhindern? Müssen Strukturen geändert werden?
Den Initiatoren des Vorhabens geht es um mehr
Patientenschutz und um deren Absicherung – auch
darum, dass mit Behandlungsfehlern angemessen
umgegangen wird. Ziel ist es, im Großen den Mitarbeitern im Gesundheitswesen mehr Flexibilität und
Entscheidungskompetenz zuzugestehen als auch im
Kleinen eine interaktive Lernumgebung für das Krankenhauspersonal zu entwickeln.
Metapolis – eine inter- und transdisziplinäre
Plattform für eine nachhaltige Entwicklung der
Stadt-Land-Beziehungen in Niedersachsen
(Universitäten Braunschweig und Hannover)
Große Städte, mittelgroße und kleine Siedlungen in
ländlicher Umgebung sind über Verkehrs-, Warenund Datenströme sowie Interaktionen der einzelnen
Menschen miteinander verbunden. Auf der Suche
nach Strategien für „nachhaltig wirkende Beziehungen“ fokussieren die Forscher städtebauliche und
stadtplanerische Aspekte sowie ökologische und
soziale Rahmensetzungen, zudem die Energie- und
Ressourcenversorgung sowie Fragen der Mobilität.
Ebenso interessiert sie, ob und inwieweit sich die
Konzepte politisch und gesellschaftlich durchsetzen lassen. Über eine interaktive Informations- und
Partizipationsplattform sollen die Erkenntnisse
allgemeinverständlich aufbereitet den Weg in die
Öffentlichkeit finden.
NEMo – Nachhaltige Erfüllung von Mobilitätsbedürfnissen im ländlichen Raum (Universitäten
Oldenburg, Braunschweig und Lüneburg)
150
leer gepumpten, „trockenen Kofferdamm“, der gut
isoliert. Doch trotz all dieser Möglichkeiten werden
die Meeressäuger nach wie vor ganz „klassisch“
vergrämt aus einem Gebiet, in dem beispielsweise
Rammungen anstehen – mithin also einfach aus
ihrem angestammten Lebensraum vertrieben.
lassen. Das muss man sich vorstellen wie überdimensionierte, umgedrehte Eimer im Sandkasten,
die durch Saugprozesse fest am Boden installiert
werden. Die spannende Frage ist nun, ob solch eine
Verankerung ausreichend stabil ist, also keine Verschlechterung gegenüber den gängigen Systemen
darstellt. Auf die Wissenschaftler warten also reichlich Detailfragen sowie Experimente, die es passgenau auszutüfteln und zu justieren gilt: Wie groß
beispielsweise müssen die Suction Buckets sein, um
maximale Standsicherheit zu gewährleisten – bei
zugleich noch akzeptablen Aufwendungen für
Material, Logistik und natürlich Kosten?
Hunderte Kilometer Küste, viel Wind, offenes
Wasser: Deutschland scheint wie geschaffen für
das Erzeugen von Windenergie, vor allem offshore. Schon jetzt haben die Energiekonzerne
reichlich Windräder ins Meer gestellt. Zahlreiche
Jobs sind entstanden, die Menschen freuen sich.
Und doch – für einen echten, gelungenen, nachhaltigen Übergang von schwarzer zu grüner Energieversorgung bleibt noch eine Menge zu tun,
hier ist nicht zuletzt auch die Politik gefordert.
Die Forscherinnen und Forscher jedenfalls sind
dran. Und international ganz vorn mit dabei
jene in Niedersachsen.

Bioökonomie 2.0: Innovationspotenziale von
Nebenströmen der Lebensmittelverarbeitung
(Universitäten Göttingen, Hannover und Vechta;
Hochschule Osnabrück, Deutsches Institut für
Lebensmitteltechnik Quakenbrück)
Lassen sich für die Lebensmittelproduktion neue
Wertstoffe gewinnen wie Ballast- und natürliche
Aromastoffe oder Proteine? Diese zum Beispiel
bei der Verarbeitung von Kartoffeln, Karotten
oder Raps anfallenden „Nebenprodukte“ sollen
künftig besser verwertet werden – wozu es aber
nicht zuletzt einer grundlegenden Neujustierung
der „Nutzpflanzenproduktion“ bedarf. Die neuen
Wertstoffe sollen in einem zweiten Schritt auf ihre
Marktfähigkeit und Akzeptanz getestet werden
unter Einbeziehung niedersächsischer Verbraucherinnen und Verbraucher.
„Diversity Turn“ in Land Use Science: Die Bedeutung
sozialer Diversität für nachhaltige Landnutzungsinnovationen am Beispiel des Vanilleanbaus in Madagaskar (Universität Göttingen)
Am Beispiel des Vanilleanbaus in Madagaskar
wollen Göttinger Forscher ein landwirtschaftliches
Nutzungskonzept entwickeln, das effiziente und
nachhaltige Bewirtschaftung, Umweltschutz und
gesellschaftliche Rahmenbedingungen in Einklang
bringt. Die Wissenschaftler gehen dabei konkret
auch der Frage nach, wie sich bestehende „Wertschöpfungsketten“, die kleinbäuerliche Haushalte
eng an international tätige Unternehmen binden,
auf Menschen und Umwelt des Landes auswirken.
Die Rolle der Hochschulen in der Ausbildung von
Schlüsselakteuren für die Nachhaltigkeitstransformation (Universität Lüneburg)
Im Fokus dieses Projekts stehen eine hochschulübergreifende Analyse und ein Vergleich von Kursangeboten zum Thema nachhaltige Entwicklung und
damit zusammenhängende gesamtgesellschaftliche
Veränderungsprozesse. Dazu werden unter anderem „Akteure im Nachhaltigkeitssektor“ interviewt:
Studierende, Absolventen, Lehrende, Studienberater,
Arbeitgeber. Eine Kooperation mit der Arizona State
University bereichert das Projekt.
Nachhaltigkeit als Argument: Suffizienz, Effizienz
und Resilienz als Parameter anthropogenen Handelns in der Geschichte (Universitäten Göttingen
und Hannover)
Manche Menschen müssen über den Sinn und
Zweck von Nachhaltigkeit informiert und von deren
Wert überzeugt werden; andere lehnen nachhaltiges Handeln sogar ab. Welche Nachhaltigkeitskonzepte gibt es, wie kamen diese zustande und
erhielten Einzug in praktisches Handeln? Im Blick
über die Jahrhunderte wollen die Forscher überprüfen, ob Nachhaltigkeit als Kerngedanke im menschlichen Verhalten nicht über alle Epochen hinweg
schon existiert hat.
Christian Jung
Impulse 01_2016 151
Publikationen
Was Sie schon immer über Kompromisse wissen
wollten, aber nirgends nachzulesen fanden …
Erneut geht eine „Opus magnum“-Förderung an die Universität Bielefeld: Die Philosophin
Véronique Zanetti beschäftigt sich mit der Frage, wie Kompromisse entstehen und was
diese ausmacht – das geplante Werk ist eines von insgesamt neun „Opera magna“ in 2015.
Véronique Zanetti hat
in Genf Philosophie,
Musikwissenschaft und
Anglistik studiert und
war als Wissenschaftlerin unter anderem in
Siegen, Bern, Fribourg
und New York tätig. Sie
promovierte über Kant
und analysierte in ihrer
Habilitation ethische
Aspekte der politischen
Intervention. Seit
2003 gehört Zanetti
der Eidgenössischen
Ethikkommission für
Biotechnologie im
Außerhumanbereich
an. 2004 erhielt sie den
Ruf auf die Professur
für politische Philosophie und Rechtsphilosophie an der Universität Bielefeld. Ein gutes
Jahrzehnt weiter nun
weiß sie diese spezielle
Stiftungsförderung, die
ihr Muße, Freiraum und
ein finanzielles Arbeitspolster bietet, sehr
zu schätzen – kann
sie doch nun in aller
Ruhe an ihrem Opus
magnum arbeiten.
Kompromisse: Was sind sie, und wozu sind sie
gut? Mit diesem Thema kann sich Professorin Dr.
Véronique Zanetti von der Universität Bielefeld
in den nächsten zwei Jahren wissenschaftlich
intensiv auseinandersetzen. Die Stiftung hat ihr
in der letztjährigen Auswahlrunde eine „Opus
magnum“-Förderung zugesprochen. Die Geförderte erhält mit dieser Unterstützung den notwendigen Freiraum und damit Muße und Zeit, ein
größeres wissenschaftliches Werk zu verfassen.
Es sei ein gutes Gefühl, dafür einfach den Rücken
frei zu haben, lacht Zanetti. Sie möchte die 24
Monate nutzen, das Thema „Kompromisse“ aus
philosophischer Sicht in unterschiedlichen Facetten wissenschaftlich zu betrachten: „Bei Themen,
die stark moralisch konnotiert sind, ist allgemein
verpönt, Kompromisse zu schließen. Wer so etwas
tut, wird für charakterschwach gehalten“, sagt sie.
„Gleichwohl sind Kompromisse in der Politik, bei
rechtlichen Entscheidungen und in vielen Alltagssituationen oft unvermeidlich, ja sogar Zeichen
einer konstruktiven Gesinnung zur friedlichen
Beilegung zwischenmenschlicher Konflikte.“
Kompromissen kann zudem entscheidende Bedeutung zuwachsen – etwa wenn unvereinbare Handlungsoptionen aufeinanderprallen. Das ist zum
Beispiel bei Normenkonflikten der Fall. Hier gibt es
oft keinen gemeinsamen Nenner. „Macht man sich
klar, welch unersetzliche Rolle Kompromisse im
Leben jedes Einzelnen und im sozialen Miteinander spielen, kann nur erstaunen, wie stiefmütterlich sie seitens der Forschung behandelt wurden!“
Zanetti will die verschiedenen Dimensionen des
Kompromisses analysieren und die Tragfähigkeit
ihrer Analyse anhand von zwei Beispielen belegen.
Im ersten geht es um den Übergang von der Apartheid zum demokratischen Regime und explizit um
das Problem der traditionellen Strafgerechtigkeit.
Die Frage, die sich dabei stellt, ist, ob die Opfer ein
moralisches Recht haben, die politischen Verbrecher bestraft zu sehen. Oder darf das pragmatische
Ziel der Befriedung und Herstellung politischer
Gerechtigkeit den Vorrang erhalten? Am Beispiel
der am Ende der Apartheid beschlossenen Gesetze will sie zeigen, dass in Sonderfällen der Friede
Vorrang vor der Gerechtigkeit haben und von streitenden Parteien eine Kompromissbildung verlangt
werden darf. Das zweite Beispiel ist der politische
Konflikt zwischen Israel und Palästina.
Die Universität Bielefeld kam schon häufiger bei
einer Opus-magnum-Förderung zum Zuge. So
erhielt im Jahr 2007 Professor Dr. Klaus-Michael
Bogdal von der Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft der Hochschule den Zuschlag.
Das Werk „Europa erfindet die Zigeuner. Eine
Geschichte von Faszination und Verachtung“,
das er einige Jahre später vorlegte, wurde 2013
bei der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet mit
dem Buchpreis zur Europäischen Verständigung –
einem der wichtigsten Literaturpreise in Deutschland. 2015 vergab die Stiftung neun Opera magna:
 Weitere Informationen unter:
www.volkswagenstiftung.de/foerderung/
personenundstrukturen/opusmagnum.html
Christian Jung
Publikationen
Neues über Völkerwanderungen? Wie regelt man
Konflikte? Große Werke werfen ihre Schatten voraus
„Eine spannende, gut geschriebene Geschichte –
eine außergewöhnliche Publikation!“
Die VolkswagenStiftung bewilligte 2015 rund 2,3 Millionen Euro für neun „Opera magna“: Geistesund Gesellschaftswissenschaftler erhalten mit dem außergewöhnlichen Angebot den nötigen
Freiraum, ein größeres wissenschaftliches Werk zu verfassen. Auch Nachwuchskräfte profitieren.
„Auftrag: Menschenraub. Entführungen von Westberlinern und Bundesbürgern durch das
Ministerium für Staatssicherheit der DDR" – Dr. Susanne Muhle erhält „Opus primum“Förderpreis für die beste Publikation eines Nachwuchswissenschaftlers im Jahr 2015 .
2015 hat die Stiftung neun
Opera magna vergeben
an herausragende
Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftler, die für
maximal zwei Jahre von
ihrer Universität freigestellt
werden – die Stiftung
Das Thema der Entführungen
durch die Stasi lässt
Opus-primum-Preisträgerin
Susanne Muhle nicht los.
Das Preisgeld soll bei dem
finanziert in dieser Zeit eine
nächsten Projekt Schub
Lehrvertretung. Die jährliche
geben: Sie möchte der Rolle
Fördersumme beträgt
maximal 100.000 Euro.
der westlichen Geheimdienste
nachspüren und in den USA
die Akten der CIA zu den
Entführungsfällen einsehen.
Ob in Italien, Großbritannien, den USA oder auch
hierzulande: Zahlreiche Bücher in dieser Reihe
haben inzwischen national wie international
renommierte Preise gewonnen. Die Rede ist von
„Opus magnum“: ein Angebot eher für die etablierteren Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen. Sie erhalten die Chance, versehen mit den
raren Gütern Muße und Freiraum, eine Monografie abzufassen, die die wissenschaftliche Arbeit
der vorangegangenen Jahre bündelt und Meilenstein sein soll für ein spezifisches Forschungsfeld
oder -thema. Auch im vergangenen Jahr stieß die
Initiative auf großes Interesse.
Im Jahr 2015 waren es neun geplante Buchprojekte, die überzeugen konnten und für die insgesamt
2,34 Millionen Euro bereitgestellt wurden. Die
geförderten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beschäftigen sich beispielsweise mit der
Reformation des Buchdrucks, Völkerwanderungen,
Konfliktregelungen in tibetischen Gesellschaften,
der Kulturalisiserung der Gesellschaft, weltlicher
Musik in deutschen Landen um 1500 – oder eben
dem Wesen von Kompromissen (siehe dazu die
ausführliche Buchvorstellung auf Seite 152).
Das Programm bietet herausragenden Geistesund Gesellschaftswissenschaftlern den nötigen
Freiraum, ein größeres wissenschaftliches Werk
zu verfassen. Während der Arbeit an ihrem Opus
magnum werden die Forscherinnen und Forscher von allen Lehrverpflichtungen befreit und
passgenau durch eine qualifizierte Nachwuchskraft vertreten. Auf diese Weise unterstützt die
Initiative auch junge Wissenschaftler und bietet
ihnen die Möglichkeit, sowohl Erfahrungen in der
Lehre zu sammeln als auch unter Beweis zu stellen, dass sie für eine Karriere in der Wissenschaft
geeignet sind. Folglich überrascht es nicht, dass
die attraktive Kombination aus der Unterstützung
einerseits erfahrener, andererseits junger Geistesund Gesellschaftswissenschaftler auch außerhalb
der deutschen Förderlandschaft große Resonanz
erfährt: So war es im vergangenen Jahr etwa der
Riksbankens Jubileumsfond in Schweden, der ein
vergleichbares Programm auflegte.
Seit Beginn der Initiative im Jahr 2005 hat die
VolkswagenStiftung einschließlich der Bewilligungen aus 2015 nun für insgesamt 75 Opera
magna 12,5 Millionen Euro bereitgestellt.
„Ein außergewöhnliches Buch“, lobten viele Jurymitglieder das Werk „Auftrag: Menschenraub …“.
Es hatte sich unter den zunächst sechzig, dann
nach der ersten Auswahlrunde verbliebenen zehn
Wettbewerbern langsam, aber zielsicher herausgeschält, wer 2015 der Gewinner des kommenden
Opus primum sein würde: Dr. Susanne Muhle.
Am 25. November erhielt sie die mit 10.000 Euro
dotierte Auszeichnung im Rahmen einer feierlichen Abendveranstaltung.
In ihrer Laudatio auf die Preisträgerin hob die Professorin für Integrationsgeschichte der Universität
Hamburg Gabriele Clemens vor allem die umfangreiche und sensible Quellenarbeit hervor. „Susanne
Muhle gelingt es, die systematische Analyse der
Entführungspraxis mit der Schilderung bewegender Einzelfälle zu verbinden und so eine äußerst
spannende, gut geschriebene Publikation vorzulegen, die nicht nur Fachwissenschaftler, sondern
auch ein breites Publikum anspricht.“
Die akribische, wissenschaftlich angelegte Recherche zu dem Buch sei Detektivarbeit gewesen, sagt
Muhle. Im Fokus der Geschichte stehen jene etwa
400 Menschen, die vor allem in den 1950er Jahren
im Auftrag des Ministeriums für Staatssicherheit
aus Westdeutschland in die DDR entführt wurden.
Opfer waren zum Beispiel Mitarbeiter westlicher
Geheimdienste oder aus der DDR geflohene Angehörige des Ministeriums für Staatssicherheit. Auf
breiter Quellengrundlage hat Dr. Susanne Muhle,
die als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der
Gedenkstätte Berliner Mauer arbeitet, zu Hintergründen und Tathergängen recherchiert. Sie hat
damit die erste systematische Studie zu diesem
Kapitel deutscher Geschichte vorgelegt.
Durch das Buch, das bis in die Tiefe hinab brilliert, weiß man nun, wie akribisch oft über Jahre
hinweg die Entführungsaktionen durch die Stasi
vorbereitet wurden: „Die Stasi-Akten lasen sich
teilweise wie Drehbücher für Spionagefilme“,
sagt Muhle. Bei aller Freude und allem Enthusiasmus an der Arbeit sei ihre Stimmung mehrfach
äußerst gedrückt gewesen; immer dann, wenn
sie auf persönliche Dokumente gestoßen sei:
So fand sie in den Akten Briefe von zu Tode
Verurteilten an deren Familien, die die Stasi nie
weitergeleitet hatte.
Publikationen
Schattenspiele in der Welt des Lichts –
aktuelle Reflexionen zu Goethes Farbenlehre
Frieden ohne Freiheit: 1815 endete der Wiener Kongress
– und dann schlug Metternichs große Stunde
Goethes Farbenlehre gilt allgemein als missglückter Ausflug in die Naturwissenschaften.
In einem im vergangenen Jahr vorgelegten Buch von Olaf L. Müller wird sie rehabilitiert.
Die Stiftung hat das Werk als „Opus magnum“ gefördert.
Begründete der Wiener Kongress vor 200 Jahren eine zukunftsfähige Friedensordnung? –
Oder begann damit in der Donaumetropole quasi schon der Erste Weltkrieg? Das
„Opus magnum“ des Historikers Wolfram Siemann von der LMU München gibt Auskunft.
Olaf L. Müller: „Mehr Licht“.
Goethe mit Newton im Streit
um die Farben. S. Fischer
Verlag, Frankfurt am Main
2015. 528 S., geb., 26,99 Euro.
ISBN 978-3-10-403071-5
Wolfram Siemann:
„Metternich – Stratege und
Visionär“. C. H. Beck Vderlag,
München. Eine Biografie.
2016. Rund 936 Seiten, ca. 50
Abbildungen. Gebunden. ISBN
978-3-406-68386-2
Auf seine Dichtung bilde er sich nichts ein, erklärte Goethe, wohl aber darauf, dass er in seinem
Jahrhundert „in der schwierigen Wissenschaft
der Farbenlehre als Einziger das Rechte weiß“. Er
war allerdings auch nahezu der Einzige, der seine
Leistung so einschätzte. Als 1810 seine 1400 Seiten
dicke Farbenlehre erschien, stieß sie auf höfliche
Reserviertheit oder verlegenes Schweigen: Die
Mehrheit der Gelehrten empfand das Werk als eine
Verirrung des Dichters ins Dilettantentum – eine
Einschätzung, die sehr lange Bestand hatte. Allenfalls den psychologischen Aspekten der Farbenlehre wurde wissenschaftlicher Wert zugemessen. Das
physikalische Herzstück jedoch gilt als gescheiterter Versuch, Intuition und Subjektivität in das kalte
Herz der exakten Naturwissenschaft zu pflanzen.
Goethe, lautete die vorherrschende Meinung, hatte
Phänomenologie mit Physik verwechselt.
„Falsch“, sagt jetzt Olaf L. Müller, der an der Humboldt-Universität Berlin Wissenschafts­theorie
und Naturphilosophie lehrt. Er präsentiert Goethe
als ernstzunehmenden Physiker, der empirisch
und methodisch auf der Höhe seiner Zeit war und
ihr wissenschaftstheoretisch sogar weit voraus.
Das Buch fokussiert vor allem auf jenen Aspekt
der Farbenlehre, der den stärksten Widerspruch
herausgefordert hat: Goethes harsche Kritik an der
Newton’schen Lehre, der zufolge sich das weiße
Sonnenlicht aus unterschiedlichen Spektralfarben
zusammensetzt. Goethe lehnte diese Theorie ab.
Zu den Stärken des Buchs gehören zweifellos die
Rückbindungen an die Empirie. Interessant sind
auch jene Stellen, in denen Autor Müller Goethe
nicht nur zu einem mit allen wissenschaftlichen
Wassern gewaschenen Kritiker akademischer Borniertheit stilisiert. Er schreibt ihm zugleich eine
sehr modern anmutende wissenschaftstheoretische Position zu. Die Lektüre macht deutlich, dass
für jede naturwissenschaftliche Theorie gilt: Aus
den Daten, auf denen sie beruht, lassen sich alternative Theorien genauso schlüssig herleiten.
Der Autor durchmisst durchaus anspruchsvolles
Gelände. Dabei nimmt sein Opus magnum den
Leser an die Hand, indem jeder Schritt kommentiert und reflektiert wird. Für die nötige Anschauung sorgen die Abbildungen der Experimente.
Einziger Wehrmutstropfen: Da und dort hätten
Straffungen das Lesevergnügen sicher erhöht.
Er war der selbst ernannte „Kutscher Europas“:
Clemens von Metternich, 1836 als Österreichischer Staatskanzler auf der Höhe seiner Macht.
Metternich gilt seit je als Inbegriff der Reaktion,
als rückwärtsgewandter Feind aller liberalen und
nationalen Kräfte. Ein Urteil über eine historische
Figur wie in Stein gemeißelt. Zutreffend? Oder –
eher – nicht?
Der Historiker Wolfram Siemann von der LudwigMaximilians-Universität München unternimmt
die Neubewertung einer Jahrhundertfigur anhand
etlicher bislang unberücksichtigt gebliebener
Quellen. Er zeichnet in seiner – nach Einschätzung
sowohl von Fachleuten als auch vonseiten erster
Leser – offenkundig grandiosen Biografie ein
fundamental neues Bild des Staatsmannes, der
für vier Jahrzehnte die Geschicke Europas prägte.
„Metternichs Denken war moderner, seine Diagnosen hellsichtiger und sein Wirken zukunftsweisender, als man ihm bisher zugestanden hat“, sagt Siemann, der Neuere und Neueste Geschichte lehrt.
„Ein Mann wie ich scheißt auf das Leben von einer
Million Menschen!“, erklärte Napoleon seinem
Gegenspieler Metternich im Jahr 1813. Clemens
Fürst von Metternich (1773-1859) erlebte die mehr
als zwanzig Jahre andauernden Kriege in Europa
als Zusammenbruch der Zivilisation. Fast prophetisch sah er voraus, dass der Freiheitsdrang der
Nationen in eine noch blutigere Katastrophe münden würde. „Nur vor diesem Hintergrund kann
Metternichs Friedensordnung von 1815 begriffen
werden“, streicht Siemann heraus. Das gelte sogar
für seine repressiven Maßnahmen gegen jeden
drohenden gesellschaftlichen Aufstand.
Auf der Grundlage zahlreicher auch überraschender Quellen lässt Wolfram Siemann in dieser
ersten großen Metternich-Biografie seit 90 Jahren
einen schillernden und vielschichtigen Mann
lebendig werden: Metternich war ein traditionsbewusster Reichsgraf und ein frühindustrieller
Unternehmer, ein Bewunderer der englischen Verfassung, ein scheiternder Reformer in einem fragilen Vielvölkerstaat und ein Verehrer der Frauen.
Das Fesselnde an seinem Opus magnum ist, dass
es nicht nur Metternich in ein neues Licht taucht,
sondern die Geschichte des 19. Jahrhunderts insgesamt flirrend aufblättert und wirkmächtig malt.
Veranstaltungen
Nachhaltige Entwicklung für alle:
Welche Rolle kann die Wissenschaft übernehmen?
Bei einem Herrenhäuser Symposium in Hannover diskutierten Forscher aus aller Welt,
welchen Beitrag sie leisten können, dass die von den Vereinten Nationen neu skizzierten
nachhaltigen Entwicklungsziele erreicht werden. Im Fokus: Küstenregionen.
An den Thementischen
des „Herrenhäuser
Symposiums“ zu den
nachhaltigen Entwicklungszielen stellten
Nachwuchsforscher
ihre Projekte vor; hier
sind gerade die Wissenschaftsjournalisten
Sibusiso Biyela aus Südafrika und die Kenianerin
Catherine Nyambura ins
Gespräch eingebunden
(oben). Mitte: Andrew
Stirlings (rechts) Keynote war ein gelungener
Auftakt; Anna-Katharina
Hornidge (Bild links,
rechts) moderierte die
erste Session mit Statements von Hart Nadav
Feuer (links) und Hildegard Westphal. Unten:
Stadtplaner Hendricus
Simarmata aus Indonesien (Bild links, rechts)
schilderte das FlutRisikomanagement in
Jakarta; Mariama Awumbila (Bild rechts, vorn
links) berichtete aus dem
Küstenforschungsprojekt in Ghana (ausführlicher Text ab Seite 42).
169 Unterziele, 193 eingebundene Länder und eine
Weltbevölkerung von 7,3 Milliarden Menschen, die
davon profitieren soll: Die im September 2015 verabschiedeten „17 nachhaltigen Entwicklungsziele“
der Vereinten Nationen sind ein Unterfangen, das
sowohl von der Dimension als auch der Komplexität der Herausforderungen her beispielhaft ist.
Konsens besteht, dass ein solches nur gelingen
kann, wenn es zu einer massiven Verstärkung
der globalen Partnerschaft kommt. Von gleicher
Bedeutung neben einer funktionierenden politischen Ebene ist, dass alle gesellschaftlichen Gruppen aktiv Verantwortung übernehmen müssen.
Welche Rolle der Wissenschaft dabei zufällt, diskutierten am 8./9. Dezember 2015 in Hannover Forscher beim Herrenhäuser Symposium „Sustainable
Development Goals and the Role of Research: A
Focus on Coastal Regions“. Sie vertraten eine große
Bandbreite an Disziplinen und Regionen (siehe
auch www.volkswagenstiftung.de/sdg).
Mit seiner Keynote entwarf Andrew Stirling von
der University of Sussex in Großbritannien eine
Hintergrundfolie für die weiteren Beiträge und
die lebhaften Diskussionen der Veranstaltung:
Nachhaltigkeit sei ohne politischen Kontext nicht
denkbar, große Veränderungen würden immer
von großen sozialen Bewegungen eingeleitet oder
zumindest begleitet, Partizipation und Demokratie seien zur Verwirklichung unabdingbar. Er
warnte davor, den Pfad „Wissenschaft-Technologie-Fortschritt“ rein linear zu betrachten. Um
die jeweils richtige beziehungsweise am meisten
nachhaltig wirkende Lösung finden zu können,
müssten auch die dynamischen Verzweigungen
von Forschung und Innovation bedacht und
ermöglicht werden. Dem stünde jedoch vielfach
das Beharrungsvermögen der etablierten Mächte
und Institutionen entgegen.
Dass sich viele der in den nachhaltigen Entwicklungszielen gespiegelten Herausforderungen gerade auch in den Küstenregionen der Welt zeigen,
begründete den thematischen Fokus des Symposiums. Und so reichte das Spektrum der Beiträge
von Governancefragen im Zuge von Konflikten bei
der Nutzung des Meeres über Migrationsprozesse,
die womöglich im Zusammenhang stehen mit
einer sich rasch – zum Negativen – verändernden
Umwelt an der Küste von Ghana (siehe auch Beitrag ab Seite 42) bis hin zu Strategien von Kampungbewohnern Jakartas, die wieder und wieder Hochwasser zu bewältigen haben.
Bei dem Symposium im Tagungszentrum Schloss
Herrenhausen mit dabei waren auch 16 junge
Wissenschaftler, die ihre eigene Forschung an
Thementischen zur Diskussion stellen konnten.
Sie hatten sich zuvor erfolgreich um ein Reisestipendium beworben und kamen aus Deutschland
(4), Ghana (3), Kanada (2), Australien, Malaysia,
Mauritius, Mosambik, Neuseeland, Uganda und
den Philippinen. Auch fünf junge Wissenschaftsjournalistinnen aus Algerien, Südafrika, Kenia,
Russland und den Philippinen waren auf Einladung der Stiftung Gäste des Symposiums.
Beate Reinhold
Veranstaltungen
Mit ihren derzeit fünf Veranstaltungsreihen im Schloss Herrenhausen in Hannover verfolgt
die Stiftung das Ziel, Wissen in die Gesellschaft zu tragen, Forschern ein Forum für ihren fachlichen Austausch zu geben und die Verbindung von Wissenschaft und diversen Zielgruppen
zu intensivieren.
Eine Übersicht aller Veranstaltungen sowie Anmeldemodalitäten sind zu finden unter
www.volkswagenstiftung.de/veranstaltungen. Einzelne Programmpunkte der – ansonsten als
Fachveranstaltungen geschlossenen – Herrenhäuser Konferenzen und Herrenhäuser Symposien
können für die Öffentlichkeit zugänglich sein. Hier ausgewählte Termine der nächsten Monate.
Januar
11.1.Herrenhäuser Forum für Zeitgeschehen EXTRA: „Karikatur und Terror – ein Jahr nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo“
14.1.Herrenhäuser Gespräch: „Gemeinsam im Hamsterrad? – Arbeitsalltag mit dem Kollegen
Roboter“
19.1.Feierliche Eröffnung des Leibniz-Jahres 2016
Februar
2.2.
Herrenhäuser Forum für Zeitgeschehen: „Vom ‚Uranverein‘ zum ‚Göttinger Manifest‘ –
Wissenschaft und Atomwaffen in Deutschland von 1938-1957“
3.2.-5.2. Statussymposium „Schlüsselthemen für Wissenschaft und Gesellschaft“
9.2.
Herrenhausen Late: „Trau Deinen Ohren nicht: Computer oder Orchester als Klangquellen“
11.2.Herrenhäuser Forum Mensch – Natur – Technik: „Der feine Unterschied: Was macht uns
Menschen aus?“
16.2.Herrenhäuser Forum für Zeitgeschehen EXTRA: „Leibniz über Schäden, Schulden und
Pensionen“
24.2.Öffentlicher Abendvortrag während der Symposienwoche: „Die Spuren der Geschichte in
der Natur. Goethe durchreist Landschaften.“
März
8.3.
Herrenhäuser Forum für Zeitgeschehen EXTRA: „Leibniz als Jurist und Rechtsphilosoph“
10.3.Herrenhäuser Gespräch: „Was bewegt den Menschen? Ein Blick aus der Perspektive des Tanzes“
17.3.Herrenhäuser Forum Politik – Wirtschaft – Gesellschaft: „Wir sind gefragt! Wege aus dem Flüchtlingsdilemma“
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Herrenhäuser Konferenzen
Die Herrenhäuser Konferenzen
sind Fachveranstaltungen. Sie
fokussieren mit besonderem
Aktualitäts- und Zukunftsbezug
wissenschaftliche Themen von
hoher gesellschaftlicher Relevanz
und öffnen neue Forschungsfelder.
PO
Herrenhäuser Symposien
Die Herrenhäuser Symposien –
ebenfalls geschlossene Fachveranstaltungen – bieten Forschern eine
Plattform, Ideen zu entwickeln und
neue Forschungsansätze zu diskutieren. Die Stiftung veranstaltet
auch eigene Symposien.
April
8.4.-9.4.
Forschungs- und hochschulpolitisches Werkstattgespräch: „Internationalisierungsstrategien
an deutschen Hochschulen“
11.4.
Leopoldina Lecture zur Quantentechnologie
12.4.Tagung: „Gesundheitspolitische Entscheidungen: Spielt der Patient überhaupt eine Rolle?"
14.4.Herrenhäuser Forum Mensch – Natur – Technik: „Wie viel ist Natur uns wert?“
26.4.Herrenhäuser Forum für Zeitgeschehen EXTRA: „Leibniz über die Vielfalt der Menschheit“
Mai
2.5.-4.5.
Symposium „A Tale of 100 Cities. Ideas, Conflicts, and Revolt in the 1960s”
2.5.-4.5.
Statussymposium „Makroskopische Funktionssysteme“
12.5.
Herrenhäuser Gespräch: „Wer Ohren hat – Wie wir das Hören neu lernen können“
12.5.-13.5. Nature Herrenhausen Symposium
23.5.
Acatech-Akademietag 2016
23.5.Herrenhäuser Forum Mensch – Natur – Technik EXTRA: „Mehr Licht – Goethe mit Newton
im Streit um die Farbe“
Juni
9.6.-11.6. Herrenhäuser Symposium: „World (Counter) Revolutions: 1917-1920 in a Global Perspective”
13.6.-15.6. Statussymposium „Forschung in Museen“
15.6.Herrenhäuser Forum Mensch – Natur – Technik: „Sie kriegen Dich! Wohin führt uns digitales Nudging?“
17.6.Ein Erfolg der Wissenschaftsförderung der VolkswagenStiftung: „Zwanzig Jahre selbstständige Nachwuchsgruppen“
27.6.-28.6. Symposium LehreN
Juli
18.7./22.7.
Auftakt- (18.7.) und Abschlussveranstaltung (22.7.) des X. Internationalen Leibniz-Kongresses
Ausblick
4.10.-6.10. Herrenhäuser Konferenz: „Religious Pluralisation – A Challenge for Modern Societies“
7.10.
„Neu gefördert! Die Freigeist-Fellows 2016 der VolkswagenStiftung“
10.10.-11.10. Alzheimertagung
19.10.-21.10. Symposium Engineering & Life
1.11.
Forum für Zeitgeschehen: „70 Jahre Land Niedersachsen“
3.11.-5.11.
Nature Herrenhausen Symposium
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Herrenhäuser Gespräche
Mit den Herrenhäuser Gesprächen
präsentieren die Stiftung und NDR
Kultur aktuelle Themen aus Wissenschaft und Kultur von Bedeutung
für die Gesellschaft. Adressat ist hier
zuvorderst die wissenschaftsinteressierte Öffentlichkeit.
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Herrenhäuser Forum
Mit verschiedenen Schwerpunkten
begeistert das Herrenhäuser Forum
ein breites Publikum für wissenschaftliche Fragen: zu Themen des
Zeitgeschehens und Aktuellem aus
„Politik – Wirtschaft – Gesellschaft“
und „Mensch – Natur – Technik“.
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Herrenhausen Late
„Herrenhausen Late – ScienceMusicFriends“ zielt auf ein junges Publikum. Experten unterhalten aus
überraschender Perspektive originell
über Wissensthemen. Der Festsaal
im Schloss verwandelt sich in eine
Lounge mit kleiner Bühne, DJ und Bar.
volkswagenstiftung.de
Veranstaltungen
Herrenhäuser Gespräche, Foren, Konferenzen …
hier finden Sie Informationen über die Vielzahl
unserer Veranstaltungen.
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präsentieren sich acht von der VolkswagenStiftung geförderte Projekte aus unterschiedlichen Fachdisziplinen. Film ab!
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Podcasts „ListenToScience“ und „ScienceUncut“
stellen wir Ihnen Audio-Mitschnitte unserer
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Videos bei wissen.hannover.de
Die Stiftung in Kürze
Die VolkswagenStiftung ist Projektpartner beim
Multimediaportal „wissen.hannover.de“. Unter dem
Motto "studieren.forschen.wissen" präsentieren
hier acht Hochschulen sowie weitere Partner aus
forschungsnahen Einrichtungen in kurzweiligen
und zugleich informativen Kurzfilmen ihre Forschungsprojekte und Angebote rund um Hannover.
Die VolkswagenStiftung ist eine eigenständige, gemeinnützige Stiftung privaten Rechts mit Sitz in Hannover.
Mit einem Fördervolumen von insgesamt etwa 150 Millionen Euro pro Jahr ist sie die größte private deutsche
wissenschaftsfördernde Stiftung und eine der größten
Stiftungen hierzulande überhaupt. In den mehr als fünfzig Jahren ihres Bestehens hat sie über 31.500 Projekte
mit insgesamt mehr als 4,6 Milliarden Euro gefördert.
Auch gemessen daran zählt sie zu den größten gemeinnützigen Stiftungen privaten Rechts in Deutschland.
Über 500 Beiträge sind bereits online – zu unterschiedlichen Themen: So erklärt die Universität
Hannover, wie Magnesiumpflaster Herzen heilen;
Popstar Smudo steigt in ein Bioconcept-Car, das die
Hochschule Hannover mit Studierenden entwickelte. Und die VolkswagenStiftung präsentiert unkonventionelle Einsatzmöglichkeiten für Spinnenseide
und stellt ein Forscherteam vor, das das Weltall
belauscht. Alle Projekte finden Sie unter wissen.
hannover.de/Einrichtungen/VolkswagenStiftung.
Das Gründungskapital der Stiftung wurde von Bund und
Land Niedersachsen im Rahmen des Privatisierungsprozesses der heutigen Volkswagen AG bereitgestellt.
Es handelt sich bei der VolkswagenStiftung jedoch nicht
um eine Unternehmensstiftung. Die Stiftungsgremien
sind autonom und unabhängig in ihren Entscheidungen.
Erwirtschaftet werden die Fördermittel der Stiftung einerseits – größtenteils zugunsten der „Allgemeinen Förderung“ – aus ihrem Kapital, derzeit circa 2,9 Milliarden Euro.
Andererseits stammen sie aus den vom Land Niedersachsen gehaltenen und mit einem Vermögensanspruch der
Stiftung versehenen gut 30 Millionen Volkswagenaktien
samt ihrer Dividende (Teil des „Niedersächsischen Vorab“).
Die VolkswagenStiftung fördert gemäß ihrer Satzung
Wissenschaft und Technik in Forschung und Lehre
und setzt durch die von ihr bewilligten Mittel gezielte
Impulse. Sie entwickelt mit Blick auf zukunftsweisende
Forschungsgebiete eigene Förderinitiativen. Diese bilden den Rahmen ihrer Förderaktivitäten und werden im
Weiteren als Teil des eigenen Veranstaltungsangebots
thematisch aufgegriffen. Mit der Konzentration auf eine
begrenzte Zahl von Initiativen sorgt die Stiftung dafür,
dass ihre Mittel effektiv eingesetzt werden.
Besondere Aufmerksamkeit widmet die Stiftung dem wissenschaftlichen Nachwuchs sowie jenen Forscherinnen
und Forschern, die im Zuge ihrer Arbeit und wissenschaftlicher Kooperationen inhaltliche, kulturelle und staatliche
Grenzen hinter sich lassen. Ein Hauptaugenmerk gilt
desgleichen der Verbesserung der Ausbildungs- und Forschungsstrukturen in Deutschland. Die Umsetzung der
Ziele erfolgt oft im Austausch mit anderen Stiftungen und
öffentlichen Einrichtungen der Wissenschaftsförderung.
Atempause
Nachdenken am Meer – ein Strandspaziergang
von Christian Jung
Es gibt diese Stunden, da tobt an der Küste eine
Bestie. Der Seewind wirbelt das Leben rings
umher durcheinander und verwischt die Konturen zwischen Wasser, Sand und Himmel. Hinter
den letzten Häusern in den Dünen wird die Welt
schwarz, und Meer und Land sind nicht mehr voneinander zu unterscheiden. Wohin man schaut, ist
es dunkel, körnig, wild. Alles scheint dicht.
Begierig saugen die Lungen Sauerstoff ein, den
gibt es hier im Überfluss. Man schmeckt die Luft;
die Sinne erfassen eine Würzmischung aus Holz,
Salz, Algen, nassem Stein, modriger Erde und ein
paar undefinierbaren Beigaben. Sie sagen uns
sofort: Du bist am Meer. Das Gesicht wächst dem
Geruch entgegen und der Sonne und der leichten
Brise, die sich inzwischen sanft entgegenstellt.
Dann wieder wirkt das Meer wie an Ketten gelegt.
Kein Kräuseln trübt die glatte Fläche, der Himmel
spiegelt sich glänzend wie in einer flachen, blank
polierten blauen Schale. Der Tag schwitzt gemächlich vor sich hin, und alles scheint sediert. Die See
gibt sich gezähmt. So wie jetzt.
Die Füße finden derweil den Weg wie von allein,
und der führt über den Strand ins Unbestimmte.
Eben das ist die Belohnung. Mehr und mehr spült
jeder Augenblick Euphorie ins Hirn; das lässt sich
nicht lange bitten und schüttet sofort Glückshormone aus. Die Sinne fließen über vor Wonne, und
allmählich versinkt die Seele in sich selbst.
Ich presche mit dem Hund durch die Reste ablaufenden Wassers, ziehe die Schuhe aus und versuche hinterherzukommen. Fühle mich beinahe wie
ein Kind. Die Zehen versinken bei jedem Schritt
leicht im zurückweichenden, sandigen Untergrund. Die Füße werden träge und allmählich
schwer und schwerer. Wir haben kein Ziel, wollen
nur sehen, wie weit wir kommen. Das Tempo pendelt sich bald schon in der richtigen Geschwindigkeit ein: nicht zu schnell, damit
der Kopf gemächlich den sich peu à peu wie
von selbst formenden Gedanken beiläufig nachhängen kann; nicht allzu langsam, damit nicht
ständig vorwurfsvolle Blicke aus Hundeaugen
auf mich geworfen werden. Allmählich folgt der
Rhythmus des Denkens dem Takt von Laufen,
Gehen und Innehalten.
Jeder kennt das: ein Tag am Meer, ein Strandspaziergang, ob bei gleißendem Sonnenschein, wenn
die See wie auf Leinwand gespannt scheint, oder
bei heftigem Sturm, wenn Wellen sich meterhoch
türmen – da gibt es Momente, die anders sind.
Meine Zehen fühlen den festen Grund, und doch
bewege ich mich leicht schwankend, als wolle
der Boden signalisieren, wie leicht man ihn unter
den Füßen verlieren kann. Ich schaue aufs Meer,
von dem die Sprache sagt, man wage sich dorthin
hinaus; nie formulierte man so, wollte man in den
Wald oder auf eine Wiese oder in die Stadt gehen.
Hier aber wartet offensichtlich das Unbekannte,
lauert gar Bedrohliches. Man fühlt sich klein, ausgeliefert womöglich, ein wenig schutzlos allzumal.
Nicht du bist es, der hier die Verhältnisse klärt, so
lässt es dich spüren: Nein, ich bin es, das Meer.
Und doch – oder gerade deshalb – ist es Sehnsuchtsort. Allein der Gedanke an Tage am Meer flutet
ganz bestimmte Bilder und Wortfetzen in den Kopf:
Bockwurst auf der Fähre, Milchreis an der Strandbar, Segelboote weit draußen über einer glitzernden
Welt, Muschelscherben in der Fußsohle, der Geruch
von Sonnenmilch mit Kokosaroma, glänzende Körper, verschwitzte Haut, griechischer Wein versus
Chianti. Ebenso: Shanty-Musik, Grog und Ostfriesentorte, Strandkörbe, Kurtaxe, Souvenirläden mit
Kitsch as Kitsch can, einsame Spaziergänge an der
Küste im Novembersturm, der zum Orkan anhebt
und Wolken schleift – begleitet von einem Anflug
an Melancholie, der einen durchweht; flatternde
Anoraks, kreischende Möwen, Halligen und Sturmfluten und dann wieder Ebbe und das Wattenmeer
tut sich auf; „Moin, Moin“, „schweres Wetter heute“
– und ja, am Strand weht wieder mal die rote Fahne.
Auch das allerdings: angeschwemmter Müll, leere
Dosen und Plastik, Spuren von Öl im Sand und all
das Bangen um Wirkungen des Klimawandels. Gedanken an Nachhaltigkeit. Darüber, dass man auch
die Vergangenheit lesen muss, will man Gefahren
und Herausforderungen von heute sehen und verstehen, um Vorhersagen für das Morgen und Übermorgen zu wagen mit dem Ziel, vielleicht ein wenig
Zukunft mitzuformen. Doch statt solcher Anstrengung erlebt man eher eine um mehr Bequemlichkeit, etwa um – gut, leicht überzeichnet – frühzeitig
mit Handtüchern zu reservierende Liegen. Was
treibt sie bloß alle an, jene Zeitgenossen, die nicht
ans Meer fahren, ohne zuvor gedanklich Jägerzaun
und Gartenzwerg in den Koffer gepackt zu haben?
Und auch das müssen wir mit dem Meer verbinden:
Menschen, die in ihm versinken. Die einen wagen
sich zur Erholung hinaus, die anderen aus Not.
Die einen haben ihren Spaß auf dem Wasser mit
Hightech-Gerät, die anderen verlassen auf der Suche
nach einem besseren Leben ihre Gestade in einer
seeuntauglichen Nussschale mit vielleicht einem
Dutzend Schwimmflügel und einem Rettungsring,
die sie sich im Notfall zu Hunderten „teilen“ müssen.
Die einen sind auf alles vorbereitet, die anderen
allem ausgeliefert. Die einen sind auf gelangweilter
Suche, die anderen auf angespannter Flucht. Die
einen baden und planschen, wie es ihnen in den
Sinn kommt; die anderen winken und ringen um ihr
Leben. Die einen machen einen Ausflug, die anderen
werden ausgesetzt. Die einen erleben mal schnell
was Neues, die anderen finden mal eben den Tod.
Auch das also gehört zum Meer. Daran sollten wir
bei unseren Strandspaziergängen hin und wieder
denken. Wenn wir zur Ruhe kommen, wenn die
ganze Zeit über nichts anderes zu hören ist als das
sanfte Plätschern der Wellen oder aber die Gischt
so zischt, dass das Geräusch unsere Worte schluckt
und wir Gespräche nicht mehr mit anderen führen
können, sondern nur noch mit uns selbst. Wenn
die inneren und äußeren Schichten aus Wunsch
und Wirklichkeit, Träumen und Trauma, aus
Unvorhersehbarem und Unerwartetem einander
begegnen und sich zu überlagern beginnen und
allmählich etwas Neues entsteht. Dann, wenn wir
ganz auf uns selbst zurückgeworfen sind.
Aber nicht nur dann.
Vorgestellt!
Kompliziertes einfach zu erklären – eine Leidenschaft von Dr.
Heidrun Riehl-Halen. Sie studierte zunächst Medizin, schnupperte parallel dazu in die Medienwelt hinein, schrieb für Tageszeitungen und engagierte sich beim Institut für den Wissenschaftlichen Film in Göttingen, wo sie auch ihre Doktorarbeit platzierte.
An der Hochschule für Musik und Theater Hannover lernte sie
anschließend im Ergänzungsstudiengang Journalistik das Handwerkszeug einer (Wissenschafts-)Journalistin. Heute schreibt sie
Texte nicht nur für Magazine wie die „Impulse“, sondern bedient
weitere Printmedien und den Online-Sektor. Außerdem lehrt
sie als Dozentin an Hochschulen oder Gesundheitsfachschulen
und hält Vorträge über historische Medizinfilme. Beruflich vor
Anker gegangen ist sie mit ihrem Büro im Bremer Medienhaus,
wo sie seit vier Jahren mit anderen Medienleuten im Verbund
auch schwerpunktmäßig in der Kommunikation für Verbände,
Gesundheits- und Forschungseinrichtungen arbeitet.
Aufgewachsen in Hannover als Kind tschechischer Einwanderer,
studierte Daniel Pilar an der Fachhochschule Hannover Kommunikationsdesign mit dem Schwerpunkt Fotojournalismus. 2006
schloss er das Studium mit dem Diplom ab. Nach drei Jahren als
Redaktionsfotograf bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
(FAZ) zog es ihn zurück nach Hannover. In der Leinemetropole
lebt Daniel Pilar heute mit seinen zwei Söhnen, von hier aus
arbeitet er als freier Fotograf unter anderem für Magazine und
Verlage sowie Hilfsorganisationen, zudem weiterhin für die
FAZ. Er ist gleichermaßen gefragt als Fotograf von Themen aus
Wirtschaft und Politik als auch für Porträts oder fotografische
Dokumentationen wie etwa Reportagen – dies zudem weltweit
und auch in Krisenregionen.
Forschungsförderung in Niedersachsen ist untrennbar mit
einem Begriff verbunden: „Niedersächsisches Vorab“. In enger
Abstimmung mit dem Land Niedersachsen kümmert sich bei
der VolkswagenStiftung ein Team um jene „Vorab-Erträge“,
die ausschließlich der niedersächsischen Hochschul- und Wissenschaftslandschaft zugute kommen. Der Physiker Dr. Franz
Dettenwanger leitet – neben der Betreuung der Förderinitiative
„Integration molekularer Komponenten in funktionale makroskopische Systeme“ – das entsprechende Referat in der Stiftung
und wird unterstützt von Regina Buch und Simone Künnecke
(rechts). Sie berichten an die neue Abteilungsleiterin für den
Bereich der Wissenschaftsförderung der Stiftung, Dr. Henrike
Hartmann (links). Die Lebenswissenschaftlerin gehört zugleich
der vierköpfigen Geschäftsführung der VolkswagenStiftung an.
Bildnachweis
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Die Fotos und Abbildungen wurden – soweit unten nicht anders
angegeben – dankenswerterweise von den jeweiligen Instituten
beziehungsweise Hochschulpressestellen zur Verfügung gestellt.
Seiten 1, 16-17 (unten): Dr. Timo Moritz/Meeresmuseum Stralsund
Seite 3: Dennis Börsch, Hannover
Seiten 4 (oben), 33-38, 40, 41: Felix Seuffert, Kapstadt/Südafrika
Seiten 4 (Mitte), 53, 78-87: Christian Burkert, Hannover
Seiten 4 (unten), 117, 120, 121, 122 (oben), 127: Guido Dehnhardt, Rostock
Seiten 5-17 (oben), 20, 23, 25: Daniel Pilar, Hannover
Seiten 18, 19: Stephan Sahm, München
Seite 21: Andreas Ruser/Tierärztliche Hochschule Hannover (Standort Büsum)
Seite 22: Uwe Kierdorf/Universität Hildesheim
Seite 27 (oben, unten): Jan-Peter Kasper/Universität Jena
Seite 27 (Mitte): Georg Pohnert/Universität Jena
Seite 28: Rodrigo Costa/Algarve University Faro, Portugal
Seite 29: Fotolia 88114511
Seite 30: von/über Julia Schroeder, Seewiesen
Seite 31: Daniel Schmidt, Oldenburg
Seiten 43, 45 (oben links; unten), 46, 48 (oben), 49, 51: Nyani Quarmyne/VISUM
Seiten 45 (oben rechts), 48 (unten): Felicitas Hillmann/Freie Universität Berlin
Seite 51 (Kasten): Birthe Annkathrijn Pater/Universität Mainz
Seite 52: Jan Schuster/Kulturwissenschaftliches Institut (KWI), Essen
Seiten 54-63, 66: Johannes Arlt, Hamburg
Seite 64: Felix Rösch, Kiel
Seiten 65 (Kasten), 69: Museum Haithabu, Schleswig
Seite 68: Conny Fehre für das Museum Haithabu, Schleswig
Seite 71: Oliver Wings, Hannover/Jens Lallensack, Bonn
Seite 72: Eisenhans/Fotolia
Seite 73: Sudok/Fotolia
Seite 74: Michael Ströck via Wikimedia Commons
Seite 75: Eberhardt/Universität Ulm
Seite 76 (links): Mirko Krenzel, Hannover
Seite 76 (rechts): Elmar Behrmann, Bonn
Seite 77: Franz Bischof, Hannover
Seite 80: Thorsten Balke/Universität Oldenburg
Seite 89: Adam Burton/Corbis
Seiten 90, 92 (rechts), 93: Cira Moro, Stuttgart
Seite 91: Ross Wanless und Andrea Angel
Seite 92 (links): Lutz Bunger/University of Edinburgh, Großbritannien
Seiten 94, 98, 103: Christoph Edelhoff, Kiel
Seiten 95, 99 (oben): Olivia Roth/Geomar, Kiel
Seite 96: Marta Barluenga, Madrid, Spanien
Seite 99 (unten): Bernd Egger/Universität Basel, Schweiz
Seiten 100, 101: Miguel Landestoy, Hispaniola
Seite 102: Martin Menkhoff, Hannover
Seiten 105 (oben rechts), 115, 116, 118, 119, 122 (unten), 125 (oben), 126: Fabian Fiechter, Hannover
Seite 105 (unten): Jens Steingässer, Darmstadt
Seiten 106, 159: Sven Stolzenwald, Hannover
Seite 107 (links): Noel Tovia Matoff, Bremen
Seite 107 (rechts): Marc Frey/Bundeswehr-Universität München
Seite 108: Ricarda Menn/Goethe-Universität Frankfurt am Main
Seite 107: Goethe-Universität Frankfurt am Main
Seite 110: Tryfonov/Fotolia
Seite 112: CRTD, Dresden
Seite 113 (links): Ulrich Dahl/Technische Universität Berlin, Pressestelle
Seite 113 (rechts): Felix Schmitt für VolkswagenStiftung
Seiten 120, 121 (Bullaugen): istock
Seiten 124, 125 (unten): Angelika Heim, Rostock
Seite 128: M. Hartig/Meyer-Werft, Papenburg
Seite 131: Folke Mehrtens/Alfred-Wegener-Institut, Bremerhaven
Seite 132: Kristina Baer/Alfred-Wegener-Institut, Bremerhaven
Seite 133: A. Müller-Michaelis, Universität Hamburg
Seite 134: Leitstelle Deutsche Forschungsschiffe
Seite 135: N. Verch, Universität Hamburg
Seite 136: Jens Greinert/Geomar, Kiel
Seite 137: Daniela Krellenberg/Geomar, Kiel
Seite 139: Thomas Badewien/ICBM, Oldenburg
Seiten 140-151: Dorota Gorski, Hannover
Seite 153: Universität Bielefeld, Pressestelle
Seite 154: Istock
Seite 155: Helen Buhler/Stiftung Berliner Museen
Seite 156: S. Schalk
Seite 157: Photoresque/Augsburg
Seite 166 (oben): André Kallinke, Bremen
Seite 166 (Mitte, unten): Ina-Jasmin Kossatz, Hannover
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Wir stiften Wissen
VolkswagenStiftung
Kastanienallee 35
30519 Hannover
Telefon 05 11/83 81-0
Telefax 05 11/83 81-344
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