Abendessen um 14.00 Uhr Vom Alltag eines Gefängnisseelsorgers An jedem Wochentag wird es ab 14.30 Uhr ganz still in jenem Haus, in dem sich auch mein vergittertes Büro befindet. Eine halbe Stunde später beginnt bereits der Nachtdienst in der Justizanstalt Wien-Josefstadt..... . Es ist ein großes Gebäude, in das wenig Einblick geboten wird – das „Graue Haus“ in Wien, auch „Einser“ genannt. Mit dem Gruß „Gute Nacht!“ oder dem Wunsch „Schönes Wochenende!“ breitet sich nach der täglichen Abendessensausgabe um 14.00 regelmäßig ein langes Schweigen über das Haus. Im Unterschied zu mir können sich Gefangene am Wochenende nur mehr mit sich selbst beschäftigen – lesen, schreiben, schlafen, nachdenken. Dort, wo die Zeit des Wartens und Hoffens wie auch des Grübelns und Verzweifelns am größten ist – dort, bei den Untersuchungshäftlingen, beginnt meist mein beruflicher Alltag als Gefängnisseelsorger für den Großraum Wien Zuerst entnehme ich das wichtigste Arbeitsutensil, meinen Schlüssel, dem Safe im Wachzimmer, wechsle erste Worte mit einem Justizwachebeamten und gehe zu meinem Postfach, wo ich die aktuellen „Wunschzettel“ (das sind Gesprächsansuchen von Häftlingen) entdecke. Mit einer englische Bibel unter dem Arm wähne ich mich für den Tag gerüstet. Doch ich scheitere bei meinen ersten Versuchen, mit jenen Häftlingen in Kontakt zu treten, die ich schon kenne: in einer Abteilung ist der Spaziergang vorverlegt worden, woanders ist der eine oder die andere Insassin im Gespräch mit der Anwältin oder gar beim Zahnarzt. Erst beim dritten Anlauf klappt es. Ich begegne einem frisch inhaftierten, aber alteingesessenen „Kriminellen“, der nun – nach ca. 26 Jahren Haftzeit in mehreren Etappen – zum 14. Mal eingesperrt ist und sich „auskennt“. Er weiß, an wen er sich wenden kann, um die Lebensgefährtin von seinem Schicksal zu informieren, um eine Briefmarke zu erheischen oder gar ein paar Zigaretten zu schnorren. Schwierig bleibt oft die rechte Verteilung der zur Verfügung stehenden Mittel an Bedürftige. Doch trotz nötiger Skepsis überzeugt mich der gefundene Augenkontakt davon, dass ihm eine Zuwendung gut tun wird. Übrigens werden wir einander wohl wiedersehen beim Gottesdienst, der jeden zweiten Donnerstag um 7.30 gefeiert wird. ,. In derselben Abteilung begegnet mir ein als „Hausarbeiter“ beschäftigter Insasse, den ich schon vom Grüßen kenne. Die Frage um ein paar Minuten Zeit kann ich so schnell nicht ablehnen: seine geplante Hochzeit mit der Langzeitfreundin müsse wohl abgesagt werden, klagt er. Danach entfaltet er eine wechselvolle Lebensgeschichte mit vertanen Lebenschancen und missglückten Beziehungen. Der Tag geht weiter, von einer Abteilung zur nächsten erfahre ich viel über das aktuelle Geschehen, auch die Bediensteten möchten über die teils belastenden Routineabläufe reden. Das meiste der eigenen Vorhaben wie regelmäßige Absprachen mit hochrangigen Justizwachebediensteten oder der Briefverkehr mit Insassen außerhalb Wiens kann ich bis 14.30 Uhr erledigen, auch Besprechungen in Teams und der eigene Ärger über Mängel des österreichischen Strafvollzugs finden ihren Platz. Genauso übrigens wie einige Telefonate oder Gespräche in der Besuchswartezone mit Angehörigen. Wöchentliche Gruppengespräche mit Insassen auf der Sicherheitsabteilung sind mitunter sehr dicht, wenn einer erzählt, während andere mithören und sich in Geschichten von Tod, Wut und Trauer wiederfinden. Manches an den genannten Dingen wird freilich auf den nächsten Tag oder die nächste Woche verschoben. An vielen Tagen führt der Weg schließlich ja auch weiter zu einer anderen Justizanstalt, wo sich nur Strafhäftlinge befinden und nach ihrer Arbeit mit Fragen und gegenwärtigen Befindlichkeiten an einen Pfarrer wenden. Es sind ca. 70 evangelische InsassInnen, die in Wien angehalten werden und mit Freiheitsentzug ein ganz anderes Kapitel der Lebensgeschichte beginnen und abschließen werden, als der Großteil unserer Gesellschaft. Die Drogentherapiestationen, der Entlassungsvollzug für „Lebenslange“, die therapeutischen Maßnahmen an „geistig abnormen“ Rechtsbrechern bieten vieles, aber nicht alles was der Strafvollzug leisten kann. Die 7 katholischen und 2 evangelischen Wiener SeelsorgerInnen sind frei von Ansprüchen, vielmehr am Menschen in all seiner Gebrochenheit interessiert. Sie investieren gerne Zeit, um einen Menschen zu begleiten, gleich ob er oder sie ein Gewalt-, Betrugs-, Eigentums-, Sexual- oder anderes Delikt begangen hat. Einander in die Augen zu sehen, die Hände zu schütteln. Das können Erfahrungen werden, die mitten im Schatten der Kriminalität die grenzenlose Liebe Gottes wieder in Erinnerung rufen. Um die Stille und Einsamkeit im Gefängnis ab 14.30 Uhr zu wissen kann mir in meiner Tätigkeit schwer fallen, z.B. an einem strahlenden sommerlichen Nachmittag auf der Donauinsel. Die Gesichter der so genannten. „Verbrecher“ mit fragenden Stirnfalten, stummen Lippen und aufgewühltem Herzen gehören Menschen, die der alles überwindenden Liebe Gottes überlassen sind. Nicht immer ist klar, wer in der Begegnung mehr beschenkt wird - die Gefangenen oder ich.
© Copyright 2024 ExpyDoc