1 DEUTSCHLANDFUNK Hörspiel/Hintergrund Kultur Redaktion: Karin Beindorff Sendung: Dienstag, 09.06.2015 19.15 – 20.00 Uhr Kinderleben in einem preußischen Gefängnis Ehemalige Zöglinge des Durchgangsheims Bad Freienwalde fordern Rehabilitierung Von Charly Kowalczyk URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © Deutschlandradio - Unkorrigiertes Manuskript - 1 2 Atmo „Warum sind wir hier?“ – „Wir sind hier, wir sind laut, weil man uns die Rechte klaut“… im Chor, Straßenbahn, Leute im Hintergrund… „Wenn man so die Leute beobachtet, gucken die schon von weitem, na, die waren ja nicht umsonst da“... Ansage Kinderleben in einem preußischen Gefängnis Ehemalige Zöglinge des Durchgangsheims Bad Freienwalde fordern Rehabilitierung Ein Feature von Charly Kowalczyk Erzähler Samstag, 18. April 2015. Es ist stürmisch und kalt am Alexanderplatz in Berlin. An der Weltzeituhr treffen sich ehemalige Heimkinder, die in sog. „Spezialheimen“ der DDR groß wurden. Sie wollen auf ihr Schicksal aufmerksam machen und fordern Wiedergutmachung. Roland Herrmann ist einer von ihnen. Als 14-Jähriger wurde er von der Jugendhilfe ins Durchgangsheim Bad Freienwalde gebracht. O-Ton Roland Herrmann Bad Freienwalde war ein Amtsgerichtsgefängnis. Das wurde zu Kaisers Zeiten erbaut. Da war schon die GESTAPO drin. Danach hatte es die Volkspolizei benutzt und betrieben. Und 1968 wurde dieses Gebäude so wie es war in diesem Zustand der Jugendhilfe übergeben und die Jugendhilfe hat es für die Kinder genutzt. Erzähler Höchstens 14 Tage sollten in der DDR Kinder im Alter zwischen 3 und 18 Jahren in Durchgangsheimen bleiben. So lautete wenigstens die „Richtlinie über die Zweckbestimmung der Durchgangsheime und das Verfahren bei der Unterbringung Minderjähriger in diesen Einrichtungen vom 15. August 1958“. Innerhalb dieser Frist war zu klären, ob das Kind wieder nach Hause zurückkehren kann oder in einem Kinderheim oder Jugendwerkhof untergebracht werden soll. O-Ton Roland Herrmann Ich war über sechs Monate drinnen. Sechs Monate, neun Tage. 2 3 Erzähler Zuständig für die Jugendhilfe war von 1963 bis 1989 die Ministerin für Volksbildung, Margot Honecker. Atmo/Musik O-Ton Petra Morawe Das ist eine Seite aus dem Gruppenbuch und zwar mussten die Kinder einen missglückten Ausbruch bearbeiten… Man sieht aber ganz gut in der Zeichnung, die Kinder haben ihr Heim gezeichnet. Und man sieht ein Kind hinter Gittern ja. Alle Fenster sind vergittert. Und man sieht hier den Pfahl, wo der Stacheldraht dranhängt, ja… Erzähler Petra Morawe ist Referentin für Rehabilitierung und Entschädigungsfragen bei der „Landesbeauftragten für die Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur im Land Brandenburg.“ Sprecherin Heimordnung im Durchgangsheim Bad Freienwalde 1. Kein Minderjähriger darf im Heim rauchen. 2. Das Besitzen von persönlichem Eigentum ist nicht gestattet und kann von den Erziehern ohne Entschädigung abgenommen werden. 3. Es darf keine Schundliteratur gelesen werden. 4. Die Kleidung und die Möbel sind Volkseigentum und müssen schonend behandelt werden… O-Ton Petra Morawe (blättert in Unterlagen) Das hat ein Kind mit seiner Kindschrift hier reingeschrieben… also das hat niemand ausgedacht, sondern das ist die Abschrift der Heimordnung und das wurde geschrieben… aus meiner Erinnerung Anfang der 80er-Jahre… Und das bedeutet, dass man auch kein Einschlaftier, kein Lieblingsteddy… auch den durfte man nicht haben. Atmo/Musik Erzähler Petra Morawe zeigt mir die wenigen Akten und Unterlagen des Durchgangsheims in Bad Freienwalde, die nicht in Wendezeiten verschwanden. Im Kreisarchiv Märkisch-Oderland konnte sie diese Dokumente einsehen und kopieren: Kinderzeichnungen, 3 4 Arrestbücher, Dienstanweisungen… Atmo Erzähler Roland Herrmann lebt mit seiner Frau im eigenen Häuschen am Stadtrand von Fürstenwalde in Brandenburg. Er ist ein magerer Mann, trägt einen Hut wie Udo Lindenberg, im Mundwinkel immer eine Zigarette. Oft hält er mitten im Gespräch inne. Dann braucht er eine Pause, schöpft Kraft, bis er weiter erzählen kann. O-Ton Roland Herrmann Du siehst ja hier, alle Türen sind hier offen in meiner Wohnung, es gibt nicht eine Tür, die zu ist, außer der Eingangstür, das ist klar. Das sind alles solche verhaltensgestörten Sachen… Ich dachte, ich bin ganz normal. Bis die Ärzte dann festgestellt haben, als sie mich zum Psychologen geschickt haben… und der Psychologe hat dann mein Trauma bestätigt, dass ich schwer psychisch traumatisiert bin, zu 50 Prozent schwerbehindert und dadurch bin ich jetzt auch Erwerbsunfähigkeitsrentner geworden… Erzähler Der 50-jährige Vater eines Sohnes bekommt eine Erwerbslosenrente von monatlich 505 Euro. Für die Sanierung des Hauses, das er von der Großmutter geerbt hat, muss er noch Kredite abbezahlen. Atmo Schritte, Treppensteigen, Ich mache mal Licht an… na, denn komm… Erzähler Roland Herrmann zeigt mir sein Haus. Im Flur ein Bild vom Durchgangsheim in Bad Freienwalde - in Öl. Im Arbeitszimmer liegt eine Rolle Stacheldraht. Er hat sie vor ein paar Jahren auf dem Dachboden des Heimes entdeckt. Überall Stapel und Ordner mit Dokumenten und Briefen ehemaliger Zöglinge. Das Durchgangsheim ist Herrmanns Lebensthema geworden. Immer noch habe er seine Erzieher im Ohr: Exsoldaten der Nationalen Volksarmee, der NVA, die den Befehlston nicht ablegen konnten. Zack, zack, zack. Im Durchgangsheim wurden sie wieder ins zivile Arbeitsleben eingegliedert, es fehlte an Erziehern. Aber warum konnte Roland nicht bei seinen Eltern bleiben? 4 5 O-Ton Roland Herrmann Meine Mutter hat sich dann scheiden lassen, da war ich so zehn, elf Jahre, und ist dann mit einem Mann zusammen gekommen, der war ganz linientreu. Der war Direktor für Kader und Bildung, der hatte fünf Jahre lang in Moskau studiert, war Mitglied vom ZK der SED, Kreispartei, Schulleiter… und da ging nun gar nichts mehr mit ja Westfernsehen oder sonst so was… Also irgendwann hab ich bemerkt… mit den Eltern komme ich nicht klar, mit den Lehrern komme ich nicht klar, also wozu überhaupt noch zur Schule gehen. Dann hab ich angefangen mit Schule schwänzen… Und dann hatte ich mich auch an die Jugendhilfe gewandt, nicht nur ich, auch meine Mutter, laut meinen Jugendhilfen Akten wollte sie mich sowieso loswerden… Weil ich wahrscheinlich die Karriere des Stiefvaters gefährden würde. Atmo Sprecherin Auszüge aus der Heimordnung: 6. Wir haben das Recht alle acht Tage an unsere Eltern zu schreiben. 8. Wir haben das Recht auf einmal Schule in der Woche in den Fächern Deutsch, Mathematik und Staatsbürgerkunde. 14. Bei jeder Neuaufnahme ist eine Isolierung von drei Tagen notwendig, damit keine Krankheiten verschleppt werden. O-Ton Roland Herrmann Keine Angst, das ist ein ganz normales Kinderheim, wo Du zur Schule gehst… wird alles schick werden. Als wir in Bad Freienwalde ankamen, war ich wie geschockt. Da habe ich dieses graue Haus gesehen, dieses Metalltor, die Zellen, alles vergittert, die Fenster. Man packte mich an der Schulter. Ich wusste gar nicht, was mit mir geschieht. Ich war wie Stahl, ich konnte mich gar nicht bewegen. Und dann ab, rein da. Zack… Und dann saß ich mit 14 Jahren in einer Zelle, ohne Toilette, ohne Waschbecken, Wasser, ausgerüstet mit Doppelstockbett, ein Eimer mit Deckel für die Notdurft und einen Stuhl, wo man sich draufsetzen konnte, tagsüber. O-Ton Roland Herrmann Ich glaube die ersten drei Tage, ich hab geheult wie ein Schlosshund und ich verstand die Welt nicht mehr… Man hatte diese komischen Heimlumpen an… und man durfte auch nicht fragen: Wie lange bleibe ich hier? Was passiert mit mir? Wo komm ich hin? … In Arrest, da gibt´s kein Fernsehen, da gibt´s keine 5 6 Bücher oder sonst so irgendwie was... Man denkt auch sehr viel nach oder man sucht sich Tiere. Das heißt kleine Spinnen oder irgendwas was man kriegt oder mal eine Fliege oder was. Auch wenn man ihr die Flügel ausreißt, dass sie nicht mehr wegfliegen kann, aber man hat ein kleines Krabbeltier, um damit spielen zu können. Erzähler Wie sah ein ganz normaler Tag im Heim aus? O-Ton Roland Herrmann Das Licht ging in der Zelle an, man hörte den Wärter… Man hörte die Zellentür, die Schlüssel im Schloss, klack, klack, die beiden Riegel oben und unten befestigt von der Tür, klack, klack, und da musste man Meldung machen… und dann musste man raustreten auf den Flur. Und auf dem Flur, da waren dann unsere Sachen, die wir abends zuvor hinlegen mussten auf den Stuhl. Dann mussten wir uns ankleiden. Dann mussten wir in den Waschraum gehen, uns waschen, aber alles unter Aufsicht, sogar die Toiletten, da waren die Wände raus, ohne Türen alles, die standen frei, so dass der Aufseher immer uns beobachten konnte, uns immer unter Kontrolle hatte. Nach diesem Waschen mussten wir dann unsere Leo-Kübel, die Notdurft-Kübel entleeren. Das stank bestialisch… ah, ich weiß noch, ich hab auf dem Flur gestanden mit meinem Kübel, Luft anhalten, hab ich mir gesagt, Herrmann Luft anhalten: Reinrennen, auskippen, rausrennen - und dann wieder atmen. Also sonst hätte ich da mich zu Tode gekotzt. O-Ton Petra Morawe Sie hatten ja auch die Verpflichtung dort zu arbeiten ab zwölf Jahre, also unten im Erdgeschoss der Haftanstalt war so was Barackenprovisorisches, wo die eine Arbeitsstätte hatten und es gab, das haben wir eben auch gefunden in den Unterlagen, es gab richtige Verträge mit zwei Firmen über Produktionszahlen und ungefähr 20.000 Mark haben diese Kinder da im Jahr erarbeiten müssen in der Zeit, in der sie da im Heim waren, um das Heim mit zu unterhalten, wenn man so will. Atmo/Musik Erzähler Wenn die Hände von der Arbeit wund waren, bluteten, war kein Arzt für die Kinder und Jugendlichen da. Arbeitsschutz gab es auch nicht. Sprecherin Auszüge aus der Heimordnung 19. Besuch im Durchgangsheim ist nicht erlaubt. 6 7 20. Man darf keine Sachen verschenken, weil sonst mal eine Klage von den Eltern kommt. 21. Ich habe das Recht produktive Arbeit zu leisten. Erzähler Unterricht fand nur an einem oder zwei Vormittagen statt. Dann saßen Kinder und Jugendliche aller Altersgruppen in einem Raum zusammen. Gelernt hätten sie dabei kaum etwas, erzählt Roland Herrmann. Viele konnten diesen Bildungsrückstand im Laufe ihres Lebens nicht mehr aufholen. Denn der Unterricht in den Jugendwerkhöfen, wo die Jugendlichen nach dem Durchgangsheim meistens landeten, war auch nicht besser. Aber vor allem, so Herrmann, hätten sie an der Isolation gelitten. Nie durften sie das Durchgangsheim verlassen. Morgens im Hof Frühsport. Tagsüber eine Stunde Hofgang. Manchmal zusätzlich Gruppenbestrafung. Atmo/Musik O-Ton Roland Herrmann Wenn es eine Gruppenbestrafung war, musste die ganze Gruppe runter auf diesen Gefängnishof, auch im Winter, dann ging es los. Erst wurden ein paar Runden gerannt auf den Hof dort, immer schön im Kreis, dann ab runter Liegestütze, Hockstrecksprünge und Entengang. Entengang mit Hände richtig im Genick, vor allen hat es den Wärtern dort sehr viel Spaß gemacht im Winter, uns erst Liegestütze machen zu lassen, dass die Hände dann nass waren, und dann ab sofort in Entengang... diese kalten Hände im Genick an den Haaren, ah, das war graulich. Erzähler Roland Herrmann überlegte ständig, wie man den alten Mauern des preußischen Gefängnisses entkommen könnte. Er wollte keine Gitter mehr sehen. Nicht mehr in einer Zelle hocken. Mal wieder satt essen. Einfach weg. O-Ton Roland Herrmann Wir hatten ja gearbeitet… mit diesen Kisten, wo die Teile drinnen waren, was wir zusammengeschraubt haben. Diese Kisten standen immer im Gefängnishof direkt an diesem Gefängnisgebäude. Doch eines Tages standen die Kisten gestapelt neben der Schleuse, dieser Gefängnisschleuse, wo das Verwaltungsgebäude auch noch mit drangebaut ist. Und ich hatte 7 8 einen Zellenkamerad vorher reinbekommen, einen Tag zuvor, und wir schmiedeten Fluchtpläne… Komischerweise am nächsten Tag - wir hatten ja Schule, nach der Schulbeendigung runter unsere Stunde Hofgang - ist doch das Personal plötzlich verschwunden gewesen… Wir waren unbeaufsichtigt unten auf dem Gefängnishof. Zum ersten Mal. Komisch. Und dass die Kisten neben der Schleuse gestapelt standen. Komisch. Dietmar Busse sagte denn, Roland Herrmann, los, komm! Erzähler Also sind sie geflohen. Stahlen Mopeds. Brachen in Bungalows ein, sie hatten Hunger. Nach drei Tagen gaben sie auf. Roland wurde auf der Wache von Volkspolizisten verprügelt, anschließend landete er wieder im Durchgangsheim Bad Freienwalde – aber nun ohne Dietmar Busse: O-Ton Roland Herrmann Er brauchte gar nicht vor Gericht erscheinen. Ich wurde alleine für alles bestraft. Ich frage mich, war Dietmar Busse ein Spitzel? Einer von der Stasi, der durch meinen Stiefvater beauftragt worden ist, mich noch mehr in die Scheiße reinzureiten, dass man mich ganz wegsperren kann? Autor Hast Du diesen Dietmar Busse danach mal getroffen? O-Ton Roland Hermann Nein, wie vom Erdboden verschluckt. Keine Ahnung, wo er ist. Wahrscheinlich war das auch nur ein Deckname, nehme ich mal an. Nach sechs Monaten, neun Tage haben sie mich mit einem Auto zur Untersuchungshaftanstalt Frankfurt/Oder gebracht. Na Gottseidank. Ich hatte Wasser, ein Waschbecken und Toilette und das in einem Zimmer. Das war doch schon Luxus. Ich brauchte auch keinen Zwangssport mehr machen und keine Zwangsarbeit. Das war schön, ja. Atmo/Musik Erzähler Zu zwölf Monaten Jugendgefängnis wurde Herrmann vom Kreisgericht Bad Freienwalde verurteilt. Die saß er zuerst in Untersuchungshaft in Frankfurt/Oder ab, dann im Jugendgefängnis in Halle, im Stadtteil „Frohe Zukunft“. Sobald er wieder draußen war, versuchte er in den Westen zu fliehen. Mit fünfzehn war das eher eine Art jugendlicher Leichtsinn, so sieht er 8 9 das heute. Seine letzte Station wurde der Jugendwerkhof Freital in Sachsen, bis zum 18. Lebensjahr. O-Ton Roland Herrmann In drei Schichten haben wir gearbeitet, was für Jugendliche eigentlich gar nicht zulässig ist, noch nicht mal unter der DDRRegierung. Und wir haben die härteste Arbeit bekommen im Edelstahlwerk Freital, die normale Arbeiter nicht machen wollten. Eine Woche Frühschicht, eine Woche Spätschicht, eine Woche Nachtschicht. Dann hatten wir eine Woche Schule. Na ja die Schule mit ihrem Staatsbürgerkunde-Unterricht, ach, war das ein Graus! Ich wusste manchmal nicht, was ist schlimmer, sich diesen Quatsch anzuhören oder hart zu arbeiten. Ja, das war Freital. Erzähler Roland Herrmanns Antrag auf strafrechtliche Rehabilitierung wurde am 19.11.2007 vom Landgericht Frankfurt/Oder abgelehnt. O-Ton Roland Herrmann Ich musste erst mal anfangen zu beweisen… dass es ein Gefängnis war… Aber die Richter sagen trotzdem, der Einweisungsgrund zählt für eine Rehabilitierung und nicht die Unterbringung. Atmo „Wir sind hier, wir sind laut, weil man uns die Rechte klaut“, Im Hintergrund Straßenbahn, Züge, Stimmen Erzähler Ich bin auf der Suche nach Erzieherinnen und Erziehern, die im Durchgangsheim gearbeitet haben. Die Märkische Oderzeitung, kurz MOZ, veröffentlicht mein Anliegen. Niemand meldet sich. Immerhin: Ich finde in der MOZ einen Leserbrief von Helmut S. aus Bad Freienwalde, 20 Jahre lang war er Lehrer und Erzieher im Durchgangsheim: Sprecherin Unsere Arbeit bestand darin, den Umerziehungsprozess der Schüler und Jugendlichen einzuleiten, bevor sie in andere Heime und Jugendwerkhöfe verlegt wurden (…) Unsere Arbeit wurde auch ständig von der Heimleitung und den Mitarbeitern des Bezirkes kontrolliert. Daher gab es auch keine Quälerei, Misshandlung, Schikane, noch unmenschliche Bedingungen (…) 9 10 Auch solche Strafen wie Essenentzug, stundenlanges Stehen an der Wand und Liegestütze bis zur Erschöpfung habe ich nicht erlebt. Es war vielmehr so, dass selbst von den Schülern und Jugendlichen die Esseneinnahme verweigert wurde. Die tägliche und regelmäßige Essenausgabe war stets reichlich und auch schmackhaft zubereitet. Erzähler Ich fahre nach Bad Freienwalde, der Stadt an der Oder. Rund 12.000 Einwohner hat das direkt an der Grenze zu Polen gelegene Städtchen. Von ehemaligen Zöglingen weiß ich, dass sie sich am Gebäude des Durchgangsheims, das vor Jahren saniert wurde und im Augenblick wieder leer steht, eine Gedenktafel wünschen. Atmo Amtsgericht, Treppensteigen, alte Tür geht zu, Mann sitzt hinter der Scheibe… Guten Tag Kowalczyk vom Deutschlandfunk… ich mache eine Sendung über das ehemalige Durchgangsheim… „Was wollen Sie damit?“ „Ich wollte Sie fragen, ob ich einmal durchgehen kann, um ans andere Ende zu kommen?“ Da kommen Sie gar nicht hin… wir haben auch keinen Schlüssel dafür…“ Erzähler Früher konnte man vom Amtsgericht durch eine Verbindungstür zum Durchgangsheim gehen. Das Gebäude wurde privatisiert. Auf der Straße und im Garten vor ihren Häusern spreche ich Nachbarn an: Atmo Frau: Ich wohne seit 1981 hier, aber ich kann mich nicht erinnern, dass da Kinder drinne waren… Wenn man den ganzen Tag auf Arbeit ist, dann kümmert es einen auch gar nicht. Ich kann mich nicht mehr erinnern. In den sechziger Jahren wird nicht gerade zimperlich mit den Leuten umgegangen wurde. Und in den siebziger Jahren, ich kann mich gar nicht… vielleicht waren das schwer Erziehbare? Mann: Es war ein Erziehungsheim, Jugendknast. Aus welchen Gründen, die da reingesteckt wurden, da hat man sich keine Gedanken drüber gemacht… Man war froh, dass die ihre Raubzüge nicht weiter in der Gegend gemacht haben… es kann sein, dass der eine oder andere mal übers Knie gelegt wurde, auch das wird seine Berechtigung gehabt haben, waren ja teilweise rotzfreche Gören, aber dass da groß im Auftrag des 10 11 Staates geschlagen und umerzogen wurde, den Eindruck hatte ich zumindest nicht. Erzähler Ich bin mit dem Bürgermeister von Bad Freienwalde, Ralf Lehmann, verabredet. Doch der ist spontan eine Woche in Urlaub gefahren, wie ich überrascht im Rathaus feststelle. Stattdessen erwartet mich seine Stellvertreterin Marianne Beise. Sie ist zuständig für das Hauptamt, das die innere Verwaltung regelt – und ihr unterstehen die Finanzen der Stadt. Eigentlich möchte sie nicht in ein Mikrofon sprechen, sagt sie mir gleich, sie denke da mehr an ein Hintergrundgespräch. Aber dann redet Marianne Beise doch: O-Ton Marianne Beise Also die Denkmale, die Würdigungssteine oder die Erinnerungsorte, die legt bei uns die Stadtverordnetenversammlung fest… Und dem möchte ich natürlich nicht vorgreifen. Ich denke, dass es vielleicht im Augenblick verfrüht ist zu sagen, ja dort sollte was hin oder nicht… Autor Die Betroffenen sagen, sie hätten den Eindruck, die Mühlen der Stadt würden so langsam sein, dass sie manchmal das Gefühl haben, es ist gar nicht erwünscht, dass daran erinnert wird... Marianne Beise Ich kann die Skepsis nicht in Gänze nachvollziehen, zumal ich auf der Internetseite dieses Vereins war und gesehen habe, dass ein Gespräch beim Bürgermeister noch nicht stattgefunden hatte… und jetzt versuche ich einfach mal nochmal diesen Faden aufzunehmen und werde gucken, dass wir nochmal über das Gästebuch, was der Verein geschaltet hat, nochmal ins Gespräch zu kommen und ich denke mir, die anvisierte Veranstaltung, die im nächsten Jahr sein soll, die wird sicher nicht bis in den Dezember nächsten Jahres geschoben. Die wird sicher im ersten Halbjahr stattfinden. Erzähler Unser Gespräch fand im Dezember 2014 statt. Ein halbes Jahr später ist immer noch nichts passiert. Marianne Beise hat sich nicht beim Verein „Kindergefängnis Bad Freienwalde, Interessengemeinschaft ehemaliger Heimkinder Ost“ gemeldet. Auch sonst gab es keine Reaktion von offizieller Seite, erklärt mir 11 12 Roland Herrmann, der den Verein mit ehemaligen Heimzöglingen gegründet hat. Atmo/Musik Sprecherin Sicherheitsbestimmungen für Aufnahmeabteilungen Allgemeine Anforderungen, § 8 Einrichtung des Arrestraumes (1) Der Arrestraum soll eine Grundfläche von mindestens 6 m2 und einen Rauminhalt von mindestens 20 m3 haben (…) Das Fenster soll etwa 60 x 120 cm groß, hoch angebracht und aus Drahtglas sein. Zur Sicherung sind mindestens 12 mm starke Eisengitter allseitig in die Außenwand einzulassen. Die Tür soll aus starkem Material bestehen… (…) O-Ton Ulrike Poppe Was auch immer ein Kind oder ein Jugendlicher gemacht hat, wenn er strafmündig war und kriminell war, kam er ohnehin in Jugendhaft, aber wenn er einfach paar Mal die Schule schwänzte und den Direktor beleidigte, dann gibt es keinen Grund ihn in so ein Durchgangsheim zu sperren wie Bad Freienwalde es war. Erzähler Ulrike Poppe war nach der Wende auch im Westen als DDRBürgerrechtlerin bekannt, sie ist heute „Landesbeauftragte zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur im Land Brandenburg“. Erst seit 2010 können auch Heimkinder strafrechtlich rehabilitiert werden - in Ausnahmefällen. Die Bedingungen im Durchgangsheim Bad Freienwalde, sagt Ulrike Poppe, seien mit denen im geschlossenen Jugendwerkhof Torgau durchaus zu vergleichen. Und alle, die in Torgau untergebracht waren, wurden rehabilitiert. Atmo/Musik O-Ton Norda Krauel Ein ganz normaler Tag wäre gewesen früh: morgens um fünf Wecken… Wenn man den Riegel gehört hatte, musste der Erste schon rausspringen, weil, wir mussten in Linie hintereinander, mussten wir anstellen, und der Zellenälteste musste Meldung 12 13 machen. Also: „Vier Mann die Nacht ohne besondere Vorkommnisse überstanden“, so. Erzähler Norda Krauel kam mit 16 Jahren nach Bad Freienwalde, für sechs Monate. Auch sie kämpft um ihre Rehabilitierung. Wem das gelingt, der hat Anspruch auf eine Opferrente von monatlich 300 Euro. 51 ist sie jetzt. Sie erläutert mir, dass ihre Aufenthalte im Durchgangsheim Bad Freienwalde und anschließend im Jugendwerkhof Burg bei Magdeburg gegen DDR-Recht verstoßen hätten. Doch das Landgericht in Frankfurt/Oder, wie auch das Oberlandesgericht in Brandenburg/Havel lehnten ihren Antrag ab. Das Gericht erkenne keine politischen oder sachfremden Gründe, die für eine Rehabilitierung sprächen. Zwar seien die Maßnahmen „durchaus hart und rückständig“ gewesen, aber man müsse es für damals als eine ‘normale akzeptierte Jugendfürsorge-Maßnahme‘ ansehen. O-Ton Norda Krauel Aber mein Fokus liegt auf Bad Freienwalde… Folter ist zu DDR Zeiten nicht zugelassen gewesen an Kindern. Und das war Folter, was sie mit uns gemacht haben. Erzähler Am 11. September 2011 legte Norda Krauel Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe gegen das Urteil des Oberlandesgerichts in Brandenburg/Havel ein. Mit der Begründung, das Gericht habe sich bei seiner Entscheidungsfindung ausschließlich auf die Unterlagen der DDRJugendhilfe beschränkt. Und die seien einseitig. Warum führt sie diese Auseinandersetzung? Was hat sie in Bad Freienwalde erlebt, möchte ich wissen. Im Mai 1980 wurde sie dort eingewiesen: O-Ton Norda Krauel Man kam eben halt an, musste sich komplett entkleiden, nackt an der Wand stehen. Dort hat man dann gewartet, dass irgendwann mal ein Erzieher kam... und dann bekam man eben seine neue 13 14 Kleidung. Es wurde alles abgenommen, Brille, Schmuck, alles… und denn wurde man auf eine Zelle gebracht… Da war, wenn man denn in eine Zelle drin war, ungefähr ein Schritt von der Zellentür entfernt, war ein gelber Fleck gewesen und auf dem musste man drei Tage stehen mit den Händen nach unten an den Schenkel und man durfte nicht die Hände über die Brust nehmen oder mal hinters Genick, dass man sich so ein bisschen entspannt… Und in unregelmäßigen Abständen ist ein Erzieher vorbeigekommen und hat durch das berühmte Guckloch geguckt, ob man auch wirklich da noch steht. Ich habe den ersten Tag hab ich eigentlich nur Rücken und Schenkel und Po gehabt. Also (lacht) nur Schmerzen gehabt. Erzähler Ich besuche Norda Krauel in ihrer Wohnung in Fürstenwalde. Sie macht es sich bequem auf ihrem Sofa. Es wird ein langes Gespräch werden. Zuerst versagt ihr die Stimme. Sie schluckt. Immer und immer wieder. Die Aufregung, sagt sie. Doch dann auf einmal fließen die Worte. Ihr Mann ist auch dabei. Er solle ihr beistehen, wenn die Stimme wieder wegbleibt. O-Ton Norda Krauel Ich habe jetzt drei Tage Zeit zu überlegen, warum ich hier wäre. Und damit war die Sache abgeschlossen. Das war auch das einzige Gespräch innerhalb von drei Tagen und dadurch, dass es auch keinen Zugang zu Wasser gab, also die Zelle war ja wirklich nur Bett, Kübel, Fußboden… Man sollte halt überlegen, was man gemacht hat, aber der Grund war eigentlich gewesen, das habe ich auch alles später gelernt, Monate später, in den drei Tagen wird man gebrochen… Es wurde nicht jeder gebrochen, aber die meisten, die nach drei Tagen dort rauskommen, sind seelisch und körperlich fertig. Erzähler Norda war keine Rebellin. Die DDR - das war ihre Heimat. O-Ton Norda Krauel Ich hab die 10. Klasse gehabt…, hatte eine Lehrstelle, schon unterschrieben als Buchhändlerin. Das war mein Traum schon immer gewesen, Leseratte, und denn habe ich eine Woche/ 14 Tage später Post bekommen aus Berlin und sollte mich dort noch mal melden: Und bin da auch freudestrahlend hin, au ja kann mir alles noch mal angucken, wie es so ist, und denn sagte man mir, dass ich die Lehrstelle doch nicht bekomme. Also man würde den Lehrvertrag rückgängig machen, aufgrund dessen, da mein Vater, den ich aber nie kennengelernt habe, im Gefängnis war und 14 15 freigekauft wurde von der Bundesrepublik. Und meine Mutter, die war dann auch so eine kleine Wahlverweigerin, so ein bisschen zickig, nicht so linientreu, wie das halt sein sollte… Und dann ist das Jugendamt gekommen und hatte denn die glorreiche Idee, dass ich hier genau in Fürstenwalde im Reifenwerk als Buchhalter anfangen sollte zu arbeiten… Und… ich hab´s damals mit 16 als Angriff auf meine Persönlichkeit erachtet, vom Prinzip her. Erzähler Von ihrer Mutter und ihrem Stiefvater bekam sie keine Unterstützung oder Trost. Die 16-Jährige fühlte sich alleingelassen, unverstanden. Buchhalterin? Dabei hatte sie doch noch nie Interesse am Umgang mit Zahlen… O-Ton Norda Krauel Und dann habe ich so eine kluge Idee gehabt mit 16. Mein Onkel, der hat für die Staatssicherheit gearbeitet, fürs Ministerium. Ich dachte denn halt, jetzt ziehst du bei ihm ein und wenn du bei ihm wohnst, kriegst du diese Lehrstelle. Ja meine Lehrstelle habe ich nicht gekriegt, aber dafür habe ich eine Vergewaltigung gekriegt. Erzähler Das junge Mädchen zeigte den Onkel an und flüchtete sich zu einer Freundin nach Berlin, die eine Beziehung zu einem Kubaner hatte. Das machte die Behörde misstrauisch. Der kubanische Freund könnte Norda bei der Republikflucht helfen, so der Verdacht. Zwei Männer führten sie dann in Handschellen ab. Stundenlang wurde die 16-Jährige verhört, beschimpft, auf einem Stuhl nackt festgeschnallt. Nicht schön nach einer Vergewaltigung, kommentiert Norda Krauel heute lakonisch. Die Volkspolizei brachte sie zuerst ins Durchgangsheim Alt-Stralau, von dort nach Bad Freienwalde. O-Ton Norda Krauel Ich bin voll davon überzeugt, dass das über meinen Onkel ging… Weil ich glaube nicht, dass das Jugendamt damals diese Nachricht wirklich für sich behalten hat und ich kann mir nicht vorstellen, dass er das hätte anders außer mich wegzuschaffen unter den Tisch kehren können. Denn ich habe auch als ich in Bad Freienwalde war, da war eine sehr junge Erzieherin, die war auch sehr menschlich… Die hat sich wirklich dafür interessiert, warum 15 16 ich dort überhaupt bin. Dann habe ich ihr nur erzählt halt von meinem Onkel… Und dann ist auch Polizei gekommen, aber in dem Moment, wo sie dagesessen haben, hab ich gewusst, ob ich was sage oder nicht, dass das eigentlich niemand interessiert hat. Aber ich hab das halt gemacht, weil sie mir das sehr ans Herzen gelegt hat und ich bin ihr heute dafür noch dankbar, weil ich hab mich wirklich das erste Mal da in meinem Leben gewehrt. Erzähler Die besondere seelische Pein auch anderer Kinder und Jugendlicher wirkte noch zusätzlich verstörend… O-Ton Norda Krauel Da war ein junges Mädchen gewesen, die war ungefähr 16 Jahre alt und die war schwanger… sechster, siebter Monat war sie. Und sie hat immer wieder gesagt, sie braucht einen Arzt, sie braucht einen Arzt, sie hat Angst, sie ist so jung, sie weiß nicht wegen ihrem Baby, ob alles in Ordnung ist und die Aufseher haben ihr immer wieder einen Arzt verwehrt. Sie haben ihr wirklich klipp und klar gesagt, wer alleine bumst, der kann auch alleine sein Baby bekommen. Und dann hat sie angefangen erst innerhalb der Gruppe darüber zu reden, dass sie Selbstmord machen will. Das hat sie das auch vor den Aufsehern gesagt, wenn sie keinen Arzt bekommt, nimmt sie sich das Leben… Und sie hat es gemacht… Wir hatten dort so einen kleinen Arbeitsraum, wo Eimer, Wischmopp und Lappen und alles gestanden hat, und dort hat sie Reinigungsmittel getrunken… und denn habe ich auch geschrien, obwohl es ja verboten war, und denn mussten wir uns alle an die Wand stellen im Flur und mit dem Gesicht zur Wand und durften nicht mehr gucken. Und ja natürlich haben wir um die Ecke geguckt, als sie rausgebracht wurde, aber ... Wir mussten auch noch nachdem das Mädchen weg war, stundenlang an der Wand stehen… sie mussten uns ja unter Kontrolle halten… Und wir hatten zu meiner Zeit ein Protestlied, das hieß damals „Am Tag als Conni Kramer starb“. Wenn irgendwas ganz Schlimmes innerhalb dieses Gefängnisses geschehen ist, denn hat einer angefangen dieses Lied zu singen. Und dann hat das ganze Gebäude, hat geschallt. Erzähler Mit der Zeit seien alle im Durchgangsheim lieblos, egoistisch geworden, ohne jede Rücksicht. Aber das war nicht immer so: O-Ton Norda Krauel Innerhalb dieses Kindergefängnisses war allgemein klar gewesen, dass wir alle unter Hunger gelitten haben. Und dort war so ein kleiner Junge gewesen… In meinen Augen war er vier Jahre alt ... 16 17 Wenn ich da mit meinem Scheuerlappen angekommen bin, der hat immer an den Gitterstäben gestanden… und hat mit so kleinen, großen Augen geguckt. Auch nichts gesagt, gar nichts. Erzähler Wochenlang kletterte der magere Junge durch die Gitterstäbe, sobald Norda den Flur schrubbte und an seiner Zelle vorbeikam. Wortlos gab der kleine Roland ihr wochenlang von seinem Brot ab, obwohl von der Heimordnung streng verboten. Das Mädchen nahm den Kleinen auf den Arm. Immer mit der Angst, erwischt zu werden. O-Ton Norda Krauel Er kam halt auf meinen Arm und gedrückt und gemacht und denn hat er mich gefragt… stimmt´s, du könntest doch eigentlich meine Mutti sein. Und da hab ich so als 16-Jährige halt gesagt, klar mein Kleiner, ich kann auch deine Mutti sein, wenn du es möchtest. Wenn er morgens da gestanden hat, ist er auf meinen Arm und hat auch immer Mutti gesagt… Und eines Tages hat mich denn diese junge Erzieherin, von der ich schon sprach, erwischt, hat uns beide erwischt wie wir da gestanden haben… Und abends als es denn eigentlich Zeit war, um ins Bett zu gehen, hat die Erzieherin mich geholt und ich wusste, jetzt kommt was Schlimmes. Hat mich runter zum Keller geholt und mein Gedanke war eigentlich gewesen, jetzt werde ich mit kalt Wasser abgespritzt oder ich werde getreten oder irgend so was. Da musste ich auf die Kellerstufen hinsetzen und paar Minuten später kam sie denn mit dem kleinen Jungen an und hat mir den auf den Arm gesetzt. Erzähler Wenn diese Erzieherin Dienst hatte, durften Norda und der kleine Roland ein paar Minuten zusammen verbringen. Dabei musste sie dem Vierjährigen versprechen, dass sie immer zusammen bleiben würden. Doch Norda wurde urplötzlich abgeholt und zum Jugendwerkhof Burg bei Magdeburg gebracht. Dort blieb sie bis sie 18 war. Abschiede im Durchgangsheim kamen immer unvorbereitet, nie wurden die Kinder vorher informiert. O-Ton Norda Krauel Dann wurde ich zum Auto hin gezerrt, das ging ja immer nur mit zerren, schubsen, treten oder so und der kleine Junge hat ja 17 18 unterm Dach gewohnt. Und dann hat der am Fenster gestanden, weil man konnte sich ja auch nicht verabschieden und denn hat der ganz laut aus dem Fenster geschrien: „Nehmt mir doch nicht meine Mutti weg! Ihr könnt mir doch nicht meine Mutti wegnehmen! Mutti bleib hier!“ ... Alles, was ich erlebt habe in fast zwei Jahren, dieser Ruf aus dem Fenster war das Allerallerschlimmste, was ich erlebt habe. Erzähler Verletzungen werden sichtbar. Der Verlust von Leichtigkeit, das zwanghafte Misstrauen, die Kontrollsucht - und immer sind da Ängste. O-Ton Norda Krauel Es beeinträchtigt die komplette Familie, weil, es ist schwer jemand verständlich zu machen, auch mit meinem Mann nach 25 Jahren. Er macht die Tür in seinen Augen ganz normal zu. Aber für mich hat die Tür geknallt... Ich höre auch jedes Geräusch. Unsere Kinder hatten niemals in ihrem Leben die Chance… mal so unauffällig nachts nach Hause zu kommen… Ich bin nur auf Achtung, Aufpassen, ein Sicherheitsabstand… Niemals waren wir im Kino, nicht im Theater. Wir sind kein Bus gefahren, kein Zug. Urlaub wär ja auch mal ein Ding. Großes Einkaufszentrum unsicher machen. Oder ich möchte mal gerne alleine zum Friseur fahren (lacht) … Mein Mann muss zum Arzt mitkommen. Wenn ich Arzttermine hatte, die außerhalb von Fürstenwalde sind, denn muss er sich halt den ganzen Tag freinehmen, wenn es halt in Berlin war… dann kann ich halt nicht zum Arzt gehen. Ich kann es nicht. Erzähler Norda Krauel leidet an Migräne, Kopfschmerzen, Schwindel, Tinnitus, Rückenschmerzen, Tremor, also Bewegungsstörungen der Hände, Magen-Darm-Beschwerden... Folgen ihres Aufenthaltes im Durchgangsheim Bad Freienwalde. So sieht sie es. Als das Arbeitsamt sie aufforderte, eine Stelle in einer anderen Stadt anzunehmen, brach sie zusammen. Bisher hatte Norda Krauel immer eine Arbeit gefunden, die sie zu Fuß erreichen konnte. Wie sollte sie nun nach Frankfurt/Oder kommen? Anfahrtsweg rund 30 km? Schließlich beantragte sie die Erwerbsminderungsrente, auf Rat ihrer Therapeutin. Die Rente wurde sofort genehmigt, vorerst bis 2017. 18 19 Sprecherin Im Namen des Volkes gegen den Beschluss des Brandenburgischen Oberlandesgerichts vom 18. August 2011 hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts (…) am 18. Dezember 2014 einstimmig beschlossen. 1. Der Beschluss des Brandenburgischen Oberlandeslandesgerichts verletzt die Beschwerdeführerin Norda Krauel in ihrem Grundrecht (…) Er wird aufgehoben, soweit das Oberlandesgericht die Beschwerde gegen die Ablehnung der Rehabilitierung wegen der Unterbringung der Beschwerdeführerin in dem Durchgangsheim Bad Freienwalde als unbegründet verworfen hat. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache an das Oberlandesgericht zurückverwiesen. Erzähler Ein Etappensieg für Norda Krauel. Dennoch bleibt sie skeptisch. Ich bat den Justizminister von Brandenburg, Helmut Markov, um ein Interview. Er lehnte ab. Stattdessen ließ er erklären, dass „die mit den Rehabilitierungssachen befassten Gerichte des Landes keine „Abfertigung im Fließband“ erkennen ließen. In Ausschüssen des Brandenburger Landtages musste er jedoch zum Beschluss des Bundesverfassungsgerichts Stellung beziehen. Die grüne Landtagsabgeordnete Heide Schinowsky und Ulrike Poppe fordern eine Fortbildung für die Brandenburger Justiz. Erst mauerte der Justizminister auch hier, nun scheint Bewegung in die Sache zu kommen. O-Ton Ulrike Poppe Mit dem Justizministerium haben wir jetzt erst einmal vereinbart, dass wir eine Fachkonferenz machen wollen, eine gemeinsame… Wir werden Richter, Staatsanwälte, Anwälte… also wir werden Fachleute zusammen rufen aus verschiedenen Bereichen. Und noch mal im Einzelnen durchgehen, was man an den bisherigen Verfahrensweisen verbessern kann… und um mehr Gerechtigkeit möglich zu machen für die Betroffenen. 19 20 Erzähler Die DDR ließ 1987 fast alle Durchgangsheime schließen, auch das Heim in Bad Freienwalde. Begründung: Durchgangsheime „drohten zu Disziplinierungseinrichtungen zu verkommen“. So formulierte es Eberhard Mannschatz, von 1957 bis 1977 Leiter der Abteilung Jugendhilfe im Volksbildungsministerium der DDR, in einem Brief an Heimzöglinge. Atmo Heimkinder auf dem Alex, im Chor fordern sie: „Wir sind hier, wir sind laut, weil man uns die Rechte klaut“… Erzähler Für Norda Krauel ist es keine Frage: die Stigmatisierung von Heimkindern ist nicht nur ein DDR-Thema, das gab und gibt es ebenso im Westen. Und auch heute noch hätten es Heimkinder in der Gesellschaft schwer. O-Ton Norda Krauel Man möchte diesen Beweis haben, man möchte, dass die Menschen einem glauben, was ich schon oft, vielleicht tausend Mal zu meinem Mann gesagt habe. Ich weiß, dass du mir glaubst, aber jedes Mal, wenn ich irgendein Stück Papier finde, wo ein Stempel drauf ist, wo wirklich bewiesen wird von irgendeinem Jugendamt… bin ich die Erste, die zu meinem Mann rennt und sagt, siehste, siehste, hier hast Du den Beweis, das war wirklich alles so, wie ich dir erzählt hab. Und ich krieg immer wieder dasselbe zu hören, ich hab Dir doch geglaubt. Aber ich muss das alles schriftlich in der Hand halten, um zu beweisen, es war wirklich so. Atmo Heimkinder auf dem Alex, im Chor fordern sie: „Wir sind hier, wir sind laut, weil man uns die Rechte klaut“… Absage Kinderleben in einem preußischen Gefängnis Ehemalige Zöglinge des Durchgangsheims Bad Freienwalde fordern Rehabilitierung Ein Feature von Charly Kowalczyk Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks 2015 20 21 Es sprachen: Guido Lambrecht und Verena Plangger Ton und Technik: Wolfgang Rixius und Angelika Brochhaus Regie: Matthias Kapohl Redaktion: Karin Beindorff Atmo/Musik „Das war ein schwerer Tag, weil in mir eine Welt zerbrach.“ 21
© Copyright 2024 ExpyDoc