das ganze tier ist aufgegessen

LUZERN, den 5. November 2015
15
HGZ
Eine Serie
zur Ganztierverwertung
NOSE
TO
TAIL
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No 35
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8
Alle bisher erschienenen
Artikel dieser Serie
können nachgelesen
werden auf:
schweizerfleisch.ch/
nosetotail
DAS GANZE
TIER IST
AUFGEGESSEN
D
as ganze Tier zu verwerten und nichts
wegzuwerfen, war einst eine Frage
des Überlebens. Dann, mit steigendem
Wohlstand, leistete sich der Mensch zunehmend
Edelstücke. Das kurzgebratene Filet ersetzte
den lange geschmorten Braten. Heute ist die
Ganztierverwertung in vielen Gastronomiebetrieben eine Frage der Ethik und des Respekts.
Fergus Henderson, von dem im ersten Teil dieser Serie die Rede war, betrachtet kein Fleischstück als zu minderwertig, um «etwas Köstliches» daraus zu kochen. Der studierte Architekt
und gelernte Koch gilt mit seinem viel beachteten Kochbuch «Nose to Tail Eating» (1999, deutsche Übersetzung 2014, Echtzeit Verlag) als Begründer einer neuen Bewegung.
«Konfierte Schweinsnieren
sind eine Delikatesse. Wir
servieren sie als AmuseBouche», sagte Adrian Zaugg
vom Berner Restaurant
Tredicipercento.
Und plötzlich liegen Innereien im Trend und
Schmorgerichte erleben eine Renaissance.
Ältere Köche erinnern sich an den Duft des
Sonntagsbratens und die jungen Wilden experimentieren mit nicht ganz alltäglichen
Fleischstücken. Ohren, Bauch, Leber und Blut
vom Schweizer Schwein waren dann auch Zutaten, welche die diesjährigen Finalisten des
Kochwettbewerbs «La Cuisine des Jeunes» für
ihre Kreationen verwendeten – gleichberechtigt
neben Karree und Filet.
Für die Serie «Nose to Tail», die in Zusammenarbeit von «Schweizer Fleisch» mit der Hotellerie Gastronomie Zeitung entstand, verrie-
Nach sieben Kapiteln «Nose to Tail Eating»
sind nur noch die Knochen übrig.
Jedes Stückchen Fleisch wurde,
entweder gebraten oder geschmort, zu
einem feinen Gericht verarbeitet.
ten Köche und Metzger in sieben Kapiteln ihre
liebsten Rezepte von Schweizer Gitzi, Kalb,
Rind, Poulet, Lamm und Schwein. Wer einen
Beitrag verpasste, kann diesen auf der Webseite
von «Schweizer Fleisch» in der Rubrik Gastronomie nachlesen.
Das ganze Tier verwerten, muss jedoch nicht
bedeuten, sich ein Kalb, Rind oder Schwein anliefern zu lassen und selber auszubeinen – obwohl dies viele Köche wieder tun. Der Metzger
des Vertrauens kann selbst noch so ausgefallene
Fleischstücke wie Schweinsohren, geräuchertes Kuheuter oder Zwerchfellmuskel vom Rind
in ausreichenden Mengen beschaffen. Häufig
reicht eine Vorbestellung von wenigen Tagen.
Die ersten sieben Kapitel der Serie stiessen
auf grosses Interesse. Einige Leser hatten Fragen oder haben ihre eigenen Erfahrungen niedergeschrieben und eingeschickt. «Wir haben
unser Alpsöili, das den ganzen Sommer im
Oberen Heiti, einer Alp oberhalb von Diemtigen, verbracht hat, gemetzget», schrieben Julia
Gurtner und Adrian Zaugg vom Restaurant und
der Weinhandlung Tredicipercento in Bern.
«Die Tage darauf gab es Selbstgewurstetes und
andere Leckereien vom Söili als Menü, natürlich immer mit den passenden Weinen dazu.»
Adrian Zaugg lieferte auch gleich ein «Nose to
Tail»-Rezept: Er schneidet die Schweinsniere
in nicht all zu dicke Scheiben, legt diese nebeneinander in einen Vakuumbeutel und gibt 100
Gramm Entenfett, drei Wacholderbeeren und
fünf schwarze Pfefferkörner dazu. Dann vakuumiert er den Beutel zu 100 Prozent und legt ihn
für vier Stunden ins 72 Grad heisse Sous-videBad. Die so konfierte Schweinsniere verwendet
Adrian Zaugg als Füllung für Pasteten und Terrinen oder serviert sie als Amuse-Bouche.
«Es war nicht einfach, das
richtige Fleischstück zu
finden. Doch schlussendlich
haben die ‹Kalbsmüsli›
meinen Gästen geschmeckt»,
sagte Benoît Pichonnaz,
Küchenchef im Heim Alpenruhe in Saanen.
Das «souris d’agneau», der untere Teil der
Lammhaxe am Knochen gegart, ist in der Romandie ein beliebtes Fleischstück. Für Verwirrung sorgten dann die als «souris de veau» korrekt übersetzten Kalbsmüsli – ohne Knochen
– aus dem Rezept von Jan Hofmann vom Café
Boy in Zürich. Denn als Benoît Pichonnaz, Küchenchef im Heim Alpenruhe in Saanen auf
Google nach dem ihm unbekannten Kalbsmüsli suchte, fand er nur Bilder von Lammhaxen mit Knochen. Zur Klärung: Beim Kalbsmüsli handelt es sich um den mittleren Teil des
Rosenstücks, das am unteren Ende des Stotzens vor der Haxe zu finden ist. Alles klar?
Wenn nicht, empfiehlt es sich, beim Metzger
eine Portion davon zu bestellen und das Rezept
nachzukochen.
«Aus Resten, die bei der
Metzgete anfallen, machen
wir eine schmackhafte Pâté»,
schrieb Sandro Marchesi von
der Macelleria Scalino in Li
Curt (Poschiavo).
In der Macelleria Scalino im südbündnerischen
Li Curt ist kein Gramm Fleisch wertlos. Alles,
was nicht als Schnitzel oder Ragout verkauft
wird, verarbeitet Sandro Marchesi zu «Furmagin da Cion». Dieses traditionelle Fleischgericht aus dem Val Poschiavo ist eine Kombination aus Wurst und Fleischkäse. Die Masse aus
Fleisch, Leber und vielen Gewürzen wird in ein
Schweinsnetz eingepackt und im Ofen gebacken. Früher hatte jede Familie ihr eigenes Rezept. Heute ist die Macelleria Scalino der letzte
Produzent. Um den «Furmagin da Cion» zu erhalten, gründete Slow Food ein Presidio und unterstützt damit den Metzger Sandro Marchesi,
einen regionalen Schlachthof sowie den Bio-BeGabriel Tinguely
trieb des Schweinemästers.
www.schweizerfleisch.ch/nosetotail