Darum helfe ich Flüchtlingen nicht... Bitte echauffieren Sie sich nicht

Darum helfe ich Flüchtlingen nicht...
Bitte echauffieren Sie sich nicht schon ob der Überschrift, sondern lesen Sie. Wenn Sie
Fragen haben, fragen Sie gerne nach. Höflich bitte, ohne Beleidigungen. Und bitte auch
sachlich, ohne Unterstellungen.
In den vergangenen Tagen wurde ich mehrfach von verschiedenen Menschen kontaktiert,
die für Flüchtlingskinder spenden wollten. Ich lehnte freundlich dankend ab. Mit dem
Hinweis, dass meine Initiative "Hamburgs frohe Kinderaugen" ausschließlich mit den
offiziellen Träger der Kinder- und Jugendhilfe in Hamburg zusammen arbeitet und diese
sich bei Spenden an den jeweiligen tatsächlichen Bedarfen ihrer Schützlinge orientieren.
Ergo kann ich nur zusichern, dass Spenden da ankommen, wo sie gebraucht werden und
Freude bereiten. Wo und bei wem genau erfahre ich im Regelfall nicht. Nettes Feedback
gibt es durchaus, aber eben nicht personalisiert.
Ein Anrufer, ein potentieller Spender aus dem Hamburger Umland, fand das "erbärmlich"
von mir. Mir würde doch wohl kein Zacken aus der Krone fallen, wenn ich bei ihm
vorfahren und seine Spenden abholen würde. Was ich mir überhaupt einbilden würde,
wer ich bin. Er ließ noch einen Schwall übler Schimpfwörter los und kündigte sich an, er
werde sich über mich beschweren. Es gab dann noch den einen oder die andere, die zwar
nicht so drastisch auftraten, deren Tenor auf den Hinweis mit der "Kernkompetenz" aber
recht identisch war.
Ich bleibe aber dabei, ich helfe den Flüchtlingen nicht und habe dafür gute Gründe, die es
offenbar zu erläutern gilt.
(Nein, Sie sollten sich noch immer nicht aufregen. Atmen Sie ruhig durch und lesen Sie
weiter.)
Mein ehrenamtliches Engagement - zeitlich als auch monetär - reicht bis in das Jahr 2007
zurück, als ich "Hamburgs frohe Kinderaugen" ins Leben rief. In diesen vergangenen
acht Jahre habe ich nicht nur ein paar Tausend Spenden vermittelt, sondern auch ganze
Menge lernen dürfen und müssen.
Als allererstes, dass gut gemeint noch lange nicht gut gemacht ist. Jegliche Aktion und
Hilfe muss mit Sinn und Verstand erfolgen - um keine unrealistische Erwartungen zu
wecken, die sodann enttäuscht werden. Man muss Grenzen erkennen und akzeptieren
können.
Engagement bedeutet vor allem aber auch, Verantwortung zu übernehmen. Langfristig
und zuverlässig. Ohne sich dabei selbst zu überschätzen.
Last but not least MUSS sich jegliches Engagement an der Realität orientieren. Das dürfte
so ziemlich das schwierigste sein, denn die Realität ist nicht immer offensichtlich und der
ungeschönte Blick darauf nicht immer gewünscht. Die Realität erfordert oft starke
Nerven, denn sie zeigt Missstände auf, ohne deren Kenntnis wir viel unbeschwerter Leben
können. Derlei Verdrängung ist übrigens völlig normal - es sei denn, man hat diese
Missstände selbst mit zu verantworten. Dann ist es nicht nur unaufrichtig, sondern
schlicht falsch und gefährlich.
Ein paar Fakten über die Situation in Hamburg:

Im Jahr 2014 haben die Behörden in Hamburg 2 045 vorläufige
Schutzmaßnahmen für Kinder und Jugendliche veranlasst, das sind fast zehn
Prozent mehr als im Vorjahr, so das Statistikamt Nord.
Über die Hälfte der vorläufigen Schutzmaßnahmen (53 Prozent) erfolgte aufgrund
der unbegleiteten Einreise von Minderjährigen aus dem Ausland. Weitere häufige
Anlässe waren Überforderung der Eltern oder eines Elternteils (17 Prozent),
Integrationsprobleme im Heim oder in der Pflegefamilie (neun Prozent),
Beziehungsprobleme (acht Prozent) und Anzeichen von Misshandlung (sieben
Prozent).
51 Prozent der in Schutz genommenen jungen Menschen waren 16 bis unter 18
Jahre alt und 26 Prozent waren 14 bis unter 16 Jahre alt. In den meisten Fällen
wurden die Betroffenen vorübergehend in einer Betreuungseinrichtung
untergebracht. 1

Im Jahr 2014 haben die Jugendämter in Hamburg 1 002 Kindeswohlgefährdungen
festgestellt. In drei Vierteln der Fälle fanden sich Anzeichen für Vernachlässigung,
so das Statistikamt Nord. Bei 15 Prozent der betroffenen Kinder und Jugendlichen
gab es Hinweise auf körperliche Misshandlungen. Psychische Misshandlungen
waren bei 14 Prozent und sexuelle Gewalt bei fünf Prozent Ursache der
Gefährdung (Mehrfachangaben pro Fall möglich).
In 52 Prozent der Fälle wurde eine eindeutige Gefährdung des Kindeswohls
ermittelt („akute Gefährdung“) und bei 48 Prozent war eine Gefährdung nicht
auszuschließen („latente Gefährdung“).
Mit Abstand am häufigsten (65 Prozent) meldeten Polizei, Gerichte oder
Staatsanwaltschaft die Gefährdung. Weitere Hinweise gingen anonym (zehn
Prozent) oder von Kindertagesstätten und Schulen (acht Prozent) ein.
Insgesamt schlossen die Jugendämter 1 801 Verfahren zur
Gefährdungseinschätzung ab. Dazu machen sich die Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter einen unmittelbaren Eindruck von dem Kind beziehungsweise
Jugendlichen sowie seiner Lebenssituation. In 56 Prozent aller Verdachtsfälle (1
002 Verfahren) wurde tatsächlich eine akute oder latente Kindeswohlgefährdung
festgestellt. Bei 22 Prozent (396 jungen Menschen) lag keine
Kindeswohlgefährdung vor, es bestand aber dennoch Hilfebedarf. Bei weiteren 22
Prozent aller abgeschlossenen Gefährdungseinschätzungen (403 Fälle) erwies sich
der anfängliche Verdacht auf Kindeswohlgefährdung als unbegründet. 2

In Hamburg sind im Jahr 2014 insgesamt 6 974 neue Wohnungen mit einer
Wohnfläche von 619 790 Quadratmetern (m2) fertig gestellt worden. Damit stieg
die Zahl neu fertig gestellter Wohnungen gegenüber dem Vorjahr um 8,9 Prozent.
Gleichzeitig verfügten diese Wohnungen jedoch über eine insgesamt 5,2 Prozent
geringere Wohnfläche als die im Jahr 2013 fertig gestellten Wohnungen, so das
Statistikamt Nord. Die durchschnittliche Größe der neuen Wohnungen verringerte
sich damit von 102,1 m2 im Jahr 2013 auf 88,9 m2 im Jahr 2014.
Mit 1 051 fertig gestellten Wohnungen in Ein- und Zweifamilienhäusern reduzierte
sich der Eigenheimbau in Hamburg um fast ein Drittel. Im Geschosswohnungsbau
1
2
Statistikamt Nord Nr. 102/2015
Statistikamt Nord Nr. 117/2015
(Gebäude mit drei und mehr Wohnungen) wurden dagegen mit 5 035 Einheiten
15,3 Prozent mehr neue Wohnungen bezugsfertig als im Jahr 2013.
Weiterhin wurden 55 Wohnungen in Neubauten von Nichtwohngebäuden (zum
Beispiel Büro- oder Betriebsgebäude) und 833 Wohnungen durch Baumaßnahmen
an bestehenden Gebäuden fertig gestellt. 3

In Hamburg sind im Jahr 2014 insgesamt 954 Mio. Euro für Sozialhilfeleistungen
nach dem Zwölften Sozialgesetzbuch (SGB XII) ausgegeben worden. Das sind gut
sechs Prozent mehr als im Vorjahr. Im mittelfristigen Vergleich zu 2009 betrug
der Zuwachs 28 Prozent, so das Statistikamt Nord.
44 Prozent aller Bruttoausgaben (417 Mio. Euro) entfielen auf Eingliederungshilfen
für behinderte Menschen. Für die Grundsicherung im Alter und bei
Erwerbsminderung wurde gut ein Viertel (248 Mio. Euro) der Gesamtausgaben
aufgewendet. Die Hilfe zur Pflege machte knapp ein Fünftel (180 Mio. Euro) aus.
Hilfen zur Gesundheit und Erstattungen an Krankenkassen schlugen mit 48 Mio.
Euro zu Buche und Hilfen zum Lebensunterhalt kosteten 44 Mio. Euro. Weitere 17
Mio. Euro entfielen auf andere Unterstützungsleistungen. 4

Im Jahr 2014 haben die Strafgerichte in Hamburg 18 248 Personen verurteilt, das
sind 0,5 Prozent mehr als im Vorjahr, aber gut 15 Prozent weniger als im Jahr
2009, so das Statistikamt Nord.
Die Zahl der schuldig gesprochenen Jugendlichen (Alter zur Tatzeit 14 bis unter 18
Jahre) sank zwischen 2009 und 2014 um fast 41 Prozent. Ebenso wurden deutlich
weniger Heranwachsende (18 bis unter 21 Jahre) als fünf Jahre zuvor verurteilt
(minus 39 Prozent). Bei den Erwachsenen (ab 21 Jahren) betrug der Rückgang
gut zwölf Prozent. Während die Zahl der verurteilten Ausländerinnen und
Ausländer um fast neun Prozent anstieg, wurden 25 Prozent weniger Deutsche als
fünf Jahre zuvor schuldig gesprochen. Die Entwicklung bei Männern (minus 16
Prozent) und Frauen (minus 14 Prozent) zeigte nur geringe Unterschiede.
Im Jahr 2014 waren gut drei Prozent aller Verurteilten Jugendliche, etwas mehr
als fünf Prozent Heranwachsende und gut 91 Prozent Erwachsene. Der Anteil der
schuldig gesprochenen Ausländerinnen und Ausländer belief sich auf rund 37
Prozent. 63 Prozent der Verurteilten hatten demgegenüber die deutsche
Staatsangehörigkeit. 82 Prozent aller Verurteilten waren Männer und 18 Prozent
Frauen. 5
3
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5
Statistikamt Nord Nr. 94/2015
Statistikamt Nord Nr. 122/2015
Statistikamt Nord Nr. 120/2014
Bittere Realität in Zahlen, die vom derzeit regierenden Senats ignoriert und
totgeschwiegen wird. Wovon sich ebenjene Realität jedoch nicht verändern lässt. Wie
mögen sich all diese "Problemfälle" fühlen, wenn ein Senator Rabe über die dpa verlauten
lässt, dass "Flüchtlingskinder eine Bereicherung für diese Stadt" sind. "Ohne diese Kinder
wären Hamburgs Schulen öd und leer, und unsere Zukunft wäre finster."? Derlei
Aussagen verleugnen nicht nur den bestehenden und sukzessive steigenden Hilfebedarf
und die ungelösten Probleme in Hamburg, sie sind für die Betroffenen ein gnadenloser
Schlag ins Gesicht.
Dieses unaufrichtige Heile-Welt-Spiel fand nun seine Fortsetzung in der Begrüßung von
Flüchtlingen. Unter tosendem Applaus wurden diese, natürlich nicht nur in Hamburg,
begrüßt. Willkommen! Hurra, da seid ihr ja endlich! Man mochte ob dieser Szenarien gar
meinen, es handle sich um den Erlöser höchst selbst. Oder zumindest den
Herzallerliebsten, welcher endlich von der zwölfjährigen Spaceshuttle-Mission
zurückgekehrt ist.
So schön und herzlich derlei Begrüßung auch ist, so falsch ist sie. Sie suggeriert genau
diese falsche Realität, dieses Bild unserer Stadt, das es so definitiv nicht gibt und in
absehbarer Zeit sehr wahrscheinlich auch nicht geben wird. Das freundliche Willkommen
ist ein Versprechen, das nicht eingehalten werden kann und damit gänzlich
unverantwortlich gegenüber all den Menschen, denen es gegeben wurde. Verständlich
auch, dass all jene, die im guten Glauben dieses Versprechen abgegeben haben, ohne
sich seiner Wirkung und den Folgen in letzter Konsequenz bewusst zu sein, nun
enttäuscht sind. Doch sie kämpfen weiter, plündern ihre Kühlschränke und
Speisekammern oder Kleiderschränke und gerne auch Tablettenschränkchen. Sie
versorgen und entertainen all jene Menschen verschiedenster Kulturen und Mentalitäten,
die nun zusammengepfercht unter miesesten Bedingungen irgendwo vor sich darben.
Doch all diese Hilfsbereitschaft wird merklich nachlassen, wenn die Eventstimmung,
welche die Helfer momentan noch trägt, langsam schwindet, wenn die Lust zur Last und
die Kürz zur Pflicht wird. Die nicht vorhandenen Strukturen werden zu
Konkurrenzkämpfen zwischen den Helfer und letztlich zum totalen Chaos führen.
Es ist nach meinem Dafürhalten aber eben auch nicht die Zivilbevölkerung für die
Versorgung all der Flüchtlinge verantwortlich. Es ist ein weiteres Armutszeugnis für den
Hamburger Senat, noch immer konsequent nicht zu handeln. Er muss endlich die
Verantwortung übernehmen, alles andere ist nicht nur grob fahrlässig, sondern gefährlich
für alle Beteiligten. Der Senat muss schnell konkrete Lösungen finden, mit der
gegenwärtigen Situation so umzugehen, dass sie nicht vollends zur Katastrophe wird.
Allererste Voraussetzung hierfür ist Ehrlichkeit, im Zweifelsfall auch das ehrliche
Eingeständnis der eigenen Unfähigkeit.
Mit "Hamburgs frohe Kinderaugen" halte ich mich weiterhin an das Versprechen
gebunden, Kinder und Jugendliche verschiedener Nationalitäten und Abstammung in
Hamburg über die Träger der Kinder- und Jugendhilfe zu unterstützen. Wenn deren
Existenz, ihre Nöte und Bedürfnisse vom regierenden Senat schon geleugnet werden,
dann finde ich es besonders wichtig, weiterhin zu ihnen zu stehen und sie auch künftig zu
unterstützen. Das zumindest verstehe ich unter Verantwortung.
Wenn Sie mich übrigens jetzt noch weiter hassen möchten, dann nur zu. Ich glaube
nämlich, dann wäre aus einer gemeinsamen Mission ohnehin nichts geworden, weil wir
gänzlich unterschiedliche Vorstellungen von Toleranz und Verantwortung haben.
Sollten, trotz der durchaus ausführlichen Erläuterung, noch Fragen sein, so kontaktieren
Sie mich gerne per E-Mail an [email protected].
Ihre
Marion Hackl