Annett Gröschner, Walpurgistag: Text passages for translation Category: Schools pp. 329-30 ‚Zigeunerin‘ Paul beobachtet eine Frau mit bunten Röcken und einem Kopftuch, die sich dem Rotkreuzcontainer an der Ecke nähert. Im Arm hat sie ein kleines Kind. Kurz vor dem Container lässt sie es herunter. Es ist ein Junge. Er hüpft herum, während die Frau die Klappe auf- und zumacht, ohne einen Sack mit Kleidung hineinzuwerfen. Pauls Neugier ist jetzt geweckt. Die Frau beugt sich nach unten, fängt den hüpfenden Jungen ein, hebt ihn hoch, sagt ihm etwas ins Ohr, legt ihn dann in die Ablage und schiebt den Hebel blitzschnell nach oben. Der Junge verschwindet im Rotkreuzcontainer. Paul möchte hinrennen und der Frau einen Faustschlag verpassen, aber er ist wie erstarrt. Die Frau hat das Ohr an den Kasten gelegt und spricht mit dem Blech in einer fremden Sprache, Sätze, die in Fetzen zu Paul herüberfliegen. Aus dem Container kommt ein Geräusch, das Paul an den Märchenfilm erinnert, in dem in einer Szene ein Kind aus einem Brunnen spricht. Die Frau betätigt erneut den Hebel, um die Ablage verschwinden zu lassen, innen brummt es erst und klappert dann, sie betätigt den Hebel, was ihr jetzt schwerer fällt, und der Junge erscheint in der Ablage, einen Sack eng an den Bauch gepresst. Die Frau hebt den Jungen herunter, nimmt den Sack und kippt ihn auf dem Gehweg aus. Sie wühlt in den Sachen, greift nach einer Bluse, hält eine Hose ans Licht. Schließlich nimmt sie einen pinkfarbenen Kinderanorak und steckt ihn in ihre Umhängetasche. Den Rest lässt sie auf der Straße liegen. Sie hebt ihr Kind auf den Arm und geht bei Rot über die Straße in Richtung S-Bahnhof Frankfurter Allee. Ein alter Mann schüttelt seine Faust und schreit hinter ihnen her: „Scheißzigeuner“. Dann beugt er vorsichtig den Rücken, bis seine Fingerspitzen an die Sachen reichen, räumt den Beutel wieder ein und schiebt ihn in die Ablage, wo eben noch das Kind war. Der Sack verschwindet. Paul holt tief Atem. Category: Undergraduates pp. 251-252 Trude Menzinger und ihr Hund Stalin Intro: The scene introduces three old ladies who have recently moved into a house providing flats for old people on Kollwitzplatz in Berlin Mitte (formerly in East Berlin). Frau Menzinger has invited Frau Schweickert to join her and Frau Köhnke in her flat. They speak in broad Berlin accents. (Frau Menzinger öffnet die Tür und horcht ins Treppenhaus). Frau Menzinger: Wat bringen Sie denn da mit? Frau Schweickert (von draußen): Na, meinen Stuhl. Brauch ja oben was zum Sitzen. (Der Hund von Frau Menzinger, ein Spitz, bellt in den Hausflur) Frau Menzinger: Still, Stalin. Hältst du mal die Fresse? Det is Gerda, die lernste ooch bald kennen. Schnupper mal, und denn aber jut, husch ins Körbchen. Komm Se doch kurz mal rein, den Stuhl könn Se stehen lassen, hier klaut keener. Frau Schweickert: Heißt Ihr Hund wirklich Stalin? Frau Menzinger: Ja, weil er so kleen ist. Am Anfang hieß er Schnuppi, aber Stalin klingt besser. Kann man die Westler schön ärgern auf’m Kollwitzplatz, wenn ick schreie: ‚Stalin, bei Fuß!‘, und det Würstchen denn anjetrottelt kommt, denn kriejen die Angst. Frau Schweickert: Hm. Frau Menzinger: Vor mir, nich vor’m Hund. Aber nich, dass Se denken, ick wär Kommissarin oder so wat jewesen. Frau Schweickert: Was war’n Sie denn von Beruf? Frau Menzinger: Hortnerin. Aber zu einer Zeit, als die Jungs noch nicht mit Pumpguns bewaffnet in die Schule jekommen sind, um Angestellte der Volksbildung über’n Haufen zu schießen. Frau Köhnke: Hör’n Sie nur auf davon, schreckliches Thema. Frau Schweickert: Spitzbart wär aber besser gewesen für einen Spitz. Frau Menzinger: Det verstehn die Westler nich, det is wie Perlen vor die Säue. Herzlich willkommen erstmal. Category: Postgraduates pp. 13-14 Alexanderplatz, Weltzeituhr Der Alexanderplatz ist ein Kältepol. Nur Herumlaufen wärmt. Schon zehnmal habe ich den Weg vom Brunnen bis zur Weltzeituhr zurückgelegt. Ich weiß jetzt, wie spät es in Phnom Penh ist und welche Zeit die Armbanduhren der Moskauer anzeigen. Mich befällt der Wunsch, in das Zeitgefüge der Welt einzugreifen. Mit großer Geste die Planeten anzuhalten und die Uhren um einen Tag vorzustellen. Vielleicht würde ich mich daran aufwärmen können. Den ganzen Winter über habe ich nicht so gefroren wie heute Nacht. Also wieder von vorn. Der Weg ist das Ziel, der Weg ist ein Spiel. Ich achte dieses Mal streng darauf, beim Gehen nicht auf die Ritzen der Gehwegplatten zu treten. Und suche dabei nach Sätzen, die rhytmisch zu meinen Schritten passen. Lie-ber A-lex-an-der-platz, schenk mir ei-nen gu-ten Satz. Der Alexanderplatz schweigt. Ich blicke mich um und finde „Richtig leben. Ab jetzt können Sie es!“ am Schaufenster der Sparkasse. Richtig leben. Ausgerechnet die müssen mir das sagen. Dieser Satz lässt sich nicht gut erlaufen. Zwischen „Leben“ und „Jetzt“ stockt der Schritt. Wahrscheinlich sehe ich bei diesem Satz aus wie ein Storch, der durch den Salat stakst. Ich probiere es mit: Mo-na-den ha-ben kei-ne Fen-ster. Ich weiß nicht, warum ich beim Wort Monade automatisch den Alexanderplatz sehe, egal, wo ich bin. Und zwar den von 1986. Blick von der Selbstbedienungsgaststätte im Sockelgeschoss des Interhotels Stadt Berlin in Richtung Alexanderhaus, noch mit den gestreiften Markisen über den Fenstern des Berliner Kaffeehauses, das schon lange nicht mehr existiert. Kurz vor der Weltzeituhr machen die Gehwegplatten schwarzen Basaltköpfen Platz. Der gepflasterte Kreis um die Uhr ist drei Männerschritte breit und beim besten Willen nicht mit einem Satz zu überspringen, nicht einmal mit Anlauf. Ich bräuchte jemanden, der mich durch das Basaltmeer bis zum kreisrunden Mosaikboden unter der Weltzeituhr trägt. Aber es ist kein Mensch in der Nähe, nur hinten am Eingang des Kaufhauses am anderen Ende des Platzes sitzen ein paar Punks mit ihren Hunden. Auch wenn sie in meiner Nähe wären, würden sie mir wohl den Vogel zeigen. Category: Others pp.108-110 Kaffeemaschine 6.20Uhr Eine Kaffeemaschine erweckt Aso Aksoy und ihre Tochter Emine zu neuem Leben und hat selber schon sechs gehabt So eine Kaffeemaschine hat gut reden. Sie räuspert, röchelt eine Weile ohne Auswurf, spuckt schließlich das heiße Wasser in einen Filter, ungebleicht, mit locker darin verteiltem Kaffee, zwischen dessen Krümeln das Wasser seinen Weg nach unten sucht und sich dabei braun färbt, schließlich in den drei Löchern am Grund des Filtergefäßes verschwindet, um sich endlich im weiten Rund der gläsernen Kanne als Kaffee zu sammeln. Die Kaffeemaschine ist die Domina der Küche. Sie lässt nicht zu, dass noch irgendetwas andere zu hören ist, bis sie sich ausgeröchelt hat. Danach pufft sie nur noch leise vor sich hin, als sei sie beleidigt, weil niemand die schwere Arbeit, die sie vollbracht hat, würdigen will. […] Die Kaffeemaschine war für den Export ins nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet vorgesehen, der Weg in den Westen dauerte dann etwas länger und verlief im Zickzack und ohne dem Staat die dringend notwendigen Devisen zu sichern. Der Export fand aus im Folgenden dargelegten Gründen etliche Jahre später statt, zu einem Zeitpunkt allerdings, wo man von Export nicht mehr reden kann. An einem Maiabend des Jahres 1984 schlendert Uwe Peschel etwas nervös an der Mauer des VEB Getränkeautomaten Berlin, Betrieb der VEB Handelstechnik, in der Bruno-Bürgel-Straße entlang. Es ist eine Stunde vor Ende der Spätschicht, draußen ist es lau, ein leicht penetranter Geruch von Spreewasser liegt in der Luft. Plötzlich hört er einen kurzen Pfiff, springt zur verabredeten Stelle, wo das kleine Loch in der Mauer ist. Ein kurzer Blick, ein Pfiff zurück, und ein gepresstes „Achtung!“ von der anderen Seite, dann fliegt ein Karton durch die Abenddämmerung von Schöneweide, wie ein Schatten, und geradewegs in die Arme des Facharbeiters für Fleischerzeugnisse, Uwe Peschel. Das ist ein Glück, nichts schlimmer, als wenn der Karton gefallen wäre. Jetzt hat er noch eine Rechnung offen mit dem Uwe auf der anderen Seite (als hätten die Eltern sich damals abgesprochen, ihre Jungen Uwe zu nennen). Am anderen Tag wirft Peschel zu Beginn der Nachtschicht ein halbes Schwein in Portionen zu je zwei Kilo über die Mauer des VEB Zentral-Vieh- und Schlachthofs an der Hausburgstraße, wo der Kaffeemaschinenmonteur Uwe Franke die gekühlte Ware auffängt. Der feiert Hochzeit, zu kurzentschlossen, als dass sich noch ein halbes Schwein auf legalem Weg bestellen ließe. Also wechseln Schwein und Kaffeemaschine ihre illegitimen Besitzer. Haustrunk nennt sich das im Betriebsjargon des VEB Getränkeautomaten, wenn man eine Maschine mitgehen lässt. (Im Fleischkombinat heißen die Diebstähle Mundraub.) Die Stichproben bei Schichtende am Tor haben in letzter Zeit zugenommen. Also gibt es nur noch den Weg über die Mauer oder seltener, weil man dazu einen Kahn braucht, über die Spree. Das lohnt sich erst ab fünf Kaffeeautomaten und wird nur von Arbeitern mit hoher krimineller Energie praktiziert, die sich vor allem auf die großen Geräte für den Gesellschaftsbedarf spezialisiert haben.
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