102 | MM09, 29.2.2016 | LEBEN Familie «Du hast nichts zu melden!» R afael explodiert: «Ich lasse mir von dir gar nichts sagen!» Der Ausbruch des 16-Jährigen gilt dem neuen Partner seiner Mutter. Angefangen hat alles damit, dass Rafael eine Auseinandersetzung mit der Mutter austrug, weil sie ihm ein Ausgehverbot ab 21 Uhr auferlegte. Und dann mischte sich auch noch ihr neuer Lebenspartner Simon ein und ergriff Partei für ihren Standpunkt ... Doch Simon Tschurr (55) stellt klar: «Die Streitereien, in denen mir dieser Satz an den Kopf geworfen worden ist, kann ich an einer Hand abzählen. Das ist hier im Haus nicht der dominierende Umgang. Und Auseinandersetzungen gehören sowieso zum Alltag, sogar in herkömmlichen Familien», sagt er. Ein Klima der Offenheit Simon Tschurr ist seit fünf Jahren mit Barbara Bamberger liiert. Sie ist Mutter von sechs Kindern im Alter zwischen 14 und 29 Jahren, hinzu kommen zwei Hunde und drei Katzen. «Es braucht Mut, sich als neuer Partner der Herausforderung einer Grossfamilie wie unserer zu stellen», meint die 49-Jährige, die als Kindergärtnerin arbeitet. «Bei uns ist es laut, jeder hat irgendein Bedürfnis. Nach Hause kommen und sagen: Jetzt will ich erst einmal eine Stunde lang meine Ruhe, das geht in unserer Familie nicht.» Die Grundhaltung in dieser Familie erleichterte Simon Tschurr den Zugang zu den Kindern: Die Bambergers sind offene Leute, die andere Menschen spannend finden. So hat Barbara Bamberger etwa auch schon Pflegekinder bei sich aufgenommen und Tageskinder betreut. Ihre älteren Söhne bringen Freundinnen mit nach Hause und sind es gewohnt, dass ihre Mutter sie respektiert. Für Barbara Bamberger stand deshalb stets ausser Frage, dass die Kinder ihr das gleiche Recht zugestehen würden. Sohn Lukas bestätigt: «Ich habe mir für meine Mutter immer gewünscht, dass sie jemanden findet, mit dem sie auch die angenehmen Seiten des Lebens geniessen kann.» Die erste Begegnung mit den Kindern seiner Partnerin hat Simon Tschurr in sehr positiver Erinnerung: Marco (29), Lukas (26), Jonas (23), Timon (21), Rafael (16) und Julia (14) gaben ihm das Gefühl, willkommen zu sein. Alltagsknatsch gab es erst später. Zunächst kamen Spannungen auf, weil man noch nicht wusste, wer der neue Partner war und wohin die Beziehung führen würde. Und auch Schwierigkeiten in der Schule gaben manchmal Anlass zu Streitereien. Den Dialog mittragen Doch Simon Tschurr ging behutsam auf die Kinder zu, brachte seine eigene Position schrittweise ein. Denn in erster Linie versteht er sich als Verbündeter ihrer Mutter. «Ich bin mir bewusst, dass ich nicht die angestammte Vaterrolle innehabe. Gleichwohl trage ich Verantwortung, also rede ich auch ein Wörtchen mit», sagt er. Geht es PatchworkFamilie: So klappts mit den Kindern Migmag.ch/ schweig Wenn die Mutter oder der Vater eine neue Beziehung eingeht, reagieren die Kinder nicht selten ablehnend und respektlos: Konflikte sind programmiert – aber nicht unlösbar. Text: Ernst Weber Illustrationen: Daniel Stolle um Alltagssituationen, um schulische Belange oder Regeln, trägt das Paar die Verantwortung gemeinsam. So erkundigt sich Simon Tschurr etwa, wie es mit den Hausaufgaben stehe. Um den Dialog mitzutragen, nimmt er an Schulgesprächen teil. Andererseits ist ihm klar: Er ist zwar Teil der Familie, aber die Mutter hat bei Entscheidungen immer das letzte Wort, auch wenn es seiner Meinung widerspricht. «Mit diesem Dilemma kann ich umgehen», sagt er. Diskutieren, bevor es eskaliert Von der Patchworksituation wa ren vor allem die drei jüngeren Kinder betroffen, weil sie mehr Zeit zu Hause verbrachten als ihre älteren Geschwister. Timon etwa war gut 16, als der neue Lebenspartner der Mutter auf den Plan trat. Was die Eltern taten, kümmerte ihn nicht; ihm war wichtig, dass sie ihn in Ruhe liessen. Timon erinnert sich an Konflikte, wie sie unter Brüdern eben entstehen und wie sie mit der Mutter sowieso üblich sind. «Ich war eigentlich immer zufrieden», sagt er rückblickend. Und Julia, die Jüngste, die da mals neun Jahre alt war, meint lakonisch: «Es war einfach neu.» Zur Bambergerschen Fami lienkultur gehört auch, dass alle gern miteinander reden. Also tauschten sich bald alle mit Simon aus, führten mit ihm angeregte Gespräche über die verschiedensten Themen und kreuzten die Klingen in harten Diskussionen, bei denen unterschiedliche Standpunkte aufeinandertrafen. Lukas, der Zweitälteste, erachtet solche Dispute als nötig, um zu erken nen, wer wo steht. «Dass wir un terschiedliche Meinungen aus diskutieren, bevor es zum Eklat kommt, ist eine Stärke unserer Familie», sagt der 26Jährige. Barbara Bamberger erträgt Streit ohnehin nur schlecht, und auch ihren Partner beschreibt sie als sehr ruhigen Menschen, der nur selten einmal laut wird. Ein nie endender Prozess Meinungsverschiedenheiten mit den Kindern löst das Paar, indem es sich zurückzieht, um die Dinge zu ordnen. Erst wenn die Positionen geklärt sind, gehen sie wieder auf die Kinder zu. «Der neue Partner bietet dann auch weniger Angriffs fläche, weil er als Teil des Gan zen erscheint», meint Barbara Bamberger. Ihr ist es wichtig, dass ihr Partner Position be zieht. Wie alle Menschen ist auch sie nicht immer gleich gut disponiert – zu wissen, dass jemand neben ihr steht, mit denkt und ihre Entscheidungen mitträgt, gibt ihr ein gutes Gefühl. Ist die Situation einmal verfahren, wird Familienrat gehalten, um das anliegende Problem auszudiskutieren. Wenn Simon Tschurr heute ein akzeptiertes Mitglied der Familie ist und hier eben doch etwas zu sagen hat, dann erklärt sich das aus seiner Geistesge genwart: «Das Zusammenleben in unserer Familie entwickelt sich stetig. Es ist ein Prozess, der nie abgeschlossen ist.» MM Das sagt die Expertin zum Thema: Seite 105 LEBEN | MM09, 29.2.2016 | 103 LEBEN | MM09, 29.2.2016 | 105 Katja Wichser «Viele Paare schlagen ein zu hohes Tempo ein» Katja Wichser, weshalb lehnen Kinder den neuen Partner der Mutter oder des Vaters oft ab? Die Kinder sind emotional immer noch auf Mami und Papi programmiert, auch wenn die Eltern nicht mehr zusammen leben. Die Stieffamilie entspricht nicht ihrem Familienideal. Wenn die Mutter eine neue Beziehung eingeht, befürch tet das Kind, ihre volle Aufmerksamkeit zu verlieren. Zudem stirbt damit die Wahrscheinlichkeit, dass der Vater wieder zurückkehrt. Beides löst Ableh nung gegenüber dem neuen Partner aus. Man darf nicht erwarten, dass er automatisch zum Familiensystem gehört. Das braucht Zeit. Wie kann der neue Partner diesen Knoten lösen? Wichtig ist, dass er neugierig auf das Kind zugeht, Ausdauer und Geduld hat. Viele Paare schlagen ein zu hohes Tempo ein. Die Paarbeziehung sollte schon gefestigt sein, bevor der neue Partner den Zugang zum Kind sucht. Dazu braucht es gemeinsame Erlebnis se, auch ausserhalb des Hauses, eine gemeinsame Geschichte. Erst mit der Zeit spielen sich Rituale ein und kristal lisiert sich die Rolle des neuen Partners heraus. Er muss also hintenanstehen? Er muss akzeptieren, dass er nicht überall dabei sein kann. Wenn die Mutter ohne ihn etwas mit den Kindern unternimmt, soll er nicht grollen, son dern Verständnis dafür aufbringen. Enttäuschungen für sich zu behalten, Emotionen zu kontrollieren, ist nicht einfach und erfordert umsichtiges Denken. Dabei sind alle Beteiligten aufgefordert, die gesamte Familienkon stellation im Auge zu behalten: Weder der leibliche Vater noch der neue Mann sollte eine Abwertung erfahren. Denn dies würde beim Kind unweigerlich zu einem Loyalitätskonflikt führen. In Erziehungsfragen darf der neue Partner aber mitreden, oder? Grundsätzlich sollte nicht die Erzie hung, sondern der Beziehungsaufbau im Vordergrund stehen. Erzieherische Einflussnahme setzt eine stabile Bezie hung voraus, die auf gemeinsamen Erfahrungen beruht. Sind sie nicht vorhanden, ist es verständlich, wenn der neue Mann den Satz «Du bist nicht mein Vater, du hast mir nichts zu sa Katja Wichser (32), Fach psychologin für Psycho therapie FSP, ist Erziehungs beraterin beim Kinder und Jugend hilfezentrum Bülach ZH. gen» zu hören bekommt. Wer will sich schon von fremden Leuten massregeln lassen? Die primären Erzieher sind nach wie vor die Eltern. Gibt es etwas, das sich der neue Partner nicht bieten lassen sollte? Handgreiflichkeit darf nicht toleriert werden. Da braucht es klare Regeln. Wortgefechte hingegen sind unver meidbar. Sind verletzte Gefühle vor handen, ist es normal, wenn manchmal unschöne Worte fallen. Die harmo nische Familie ist ein Wunschtraum. Weshalb? Die Familie ist ja gerade der Schauplatz, wo man streiten kann und sich wieder miteinander arrangieren muss. Bei Stieffamilien ist der Anspruch auf ständige Harmonie oft viel präsenter. Aber es führt kein Weg daran vorbei, auch immer wieder unangenehme Themen anzusprechen. Dabei ist es wichtig, dass sich die Erwachsenen be züglich der Regeln einig sind. Kommu nizieren sollte sie allerdings die Mutter respektive der Vater. Er oder sie zeigt die Grenzen auf und setzt diese durch. Kommt es vor, dass die Situation für alle unerträglich wird? Das gibt es vor allem bei Schnellschuss beziehungen, also bei Paaren, die über eilt zusammenziehen. Wenn sie dann merken, dass es schwierig wird, trennen sie sich ebenso schnell wieder, wie sie sich gefunden haben. Das bedeutet auch für das Kind einen weiteren Bezie hungsabbruch – eine negative Erfah rung, die auch lange Zeit nach dem Auszug des neuen Partners bestehen bleibt. Wir raten daher, die neue Fami lienkonstellation langsam aufzubauen, weil dann die Chance auf eine nach haltige, gute Beziehung zwischen den Beteiligten grösser ist. MM
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