Mit jedem Schritt wachsen wir

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S P O RT
Luxemburger Wort
Mittwoch, den 23. September 2015
Motorik, Sprache, Bildung: Warum Bewegung für Kinder so wichtig ist
„Mit jedem Schritt wachsen wir“
Kleine Kinder lernen der Wissenschaftlerin Zimmer zufolge mit allen Sinnen
VON ANDREA WIMMER
Bewegung ist für jeden Menschen
wichtig. Ganz besonders aber brauchen Kinder die Möglichkeit, krabbelnd, kletternd oder tobend die
Welt zu erforschen. Körperliche Aktivität ist nicht nur essenziell für
Muskeln und Knochen, sondern
auch für das Gehirn: Bewegung
macht schlau.
Seit gut einer Woche hat sie der
Alltag
wieder.
Luxemburgs
Grundschüler sind zurück im Unterricht. In den europäischen Ländern sind die Sommerferien zu
Ende. Und nach Ansicht der Sportund Erziehungswissenschaftlerin
Prof. Dr. Renate Zimmer wird nun
„der Körper stillgelegt“. Kinder
sollen wieder lernen, konzentriert
zuhören und natürlich sitzen.
Schulanfang sei „der Beginn der
Disziplinierung des Körpers“, findet die deutsche Expertin. Dabei
gehören Lernen und Bewegung eigentlich untrennbar zusammen.
Eine Konferenz im Rahmen der
„Europäischen Woche des Sports“
in Luxemburg hat sich diesem
Thema gewidmet. „Krabbel a
Wibbel“, ein Projekt des Sportministeriums, soll helfen, die Motorik kleiner Kinder zu fördern, und
wurde beim Treffen europäischer
Sportdirektoren vorgestellt. Die
Präsentation der bekannten Buchautorin Zimmer, Professorin für
Sportwissenschaft an der Universität Osnabrück, bildete den Auftakt der Veranstaltung. Die Expertin für frühkindliche Entwicklung setzt sich seit Jahren in zahlreichen Initiativen für eine „bewegte Kindheit“ ein. Sie hat gute
Argumente.
Bewegung und Spiel – nicht allein
Sport im engeren Sinne – bringen
uns nicht nur motorisch, sondern
in der gesamten Entwicklung voran. Und das schon ganz, ganz früh
im Leben. Etwa 100 Milliarden
Nervenzellen hat der Mensch bei
der Geburt. „Die erste Aufgabe ist
ihre Vernetzung“, so Zimmer. In
den ersten Lebensmonaten entstehen bereits so viele Verknüpfungen (Synapsen) wie später nie
mehr. Die menschlichen Nervenzellen speichern in den ersten zwei
Lebensjahren so viele Eindrücke
wie möglich, später wird auf diesen Erfahrungen aufgebaut. „Es
kommt auf die ersten Lebensjahre
an“, betont die Wissenschaftlerin.
Was nicht heißt, dass man später
nichts mehr dazulernt, denn dafür
ist es nie zu spät. Aber entscheidende Grundlagen werden am Anfang des Lebens gelegt. Nie wieder sei der Mensch so aktiv wie
„Nie mehr ist der Mensch so aktiv wie im Alter von null bis fünf Jahren“, und das ist auch gut so, findet Prof. Renate Zimmer. Denn in den ersten
Lebensjahren werden die motorischen Grundlagen gelegt.
(FOTO: SHUTTERSTOCK)
im Alter von null bis fünf Jahren,
so die Professorin.
„Krabbelnd die Welt erfahren“
ist demnach zentrales Thema der
frühkindlichen Entwicklung. „Bildung ist ein aktiver Prozess. Er
wird durch forschendes und entdeckendes Handeln angeregt“, erklärt Zimmer und sagt in Anlehnung an einen berühmten Satz des
Dichters Christian Morgenstern
(„mit jedem Wort wachsen wir“):
„Mit jedem Schritt wachsen wir.“
Zwar gibt es je nach wissenschaftlicher Herangehensweise unterschiedliche Definitionen von Bildung. Erwiesen ist aber, dass der
eigene Körper der Ausgangspunkt
ist, wenn man die Welt um sich herum verstehen will.
Kinder lernen „Selbstwirksamkeit“
Die sozial-emotionale, die kognitive und die sprachliche Entwicklung haben laut Zimmer viel mit
Bewegung zu tun. Lässt man kleine Kinder spielen und herumtollen, wie sie es ohnehin von Natur
aus gerne tun, erfahren sie, dass
sie selbst etwas bewirken können.
Zum Beispiel, einen Ball bewegen,
stoppen oder hüpfen lassen. Was
sich zunächst banal anhört, wirkt
sich auf viele Bereiche des Lebens
aus. Wer früh diese „Selbstwirksamkeit“ erfährt, wird eine
schwierige Situation künftig vielleicht nicht als unüberwindbares
Problem, sondern als besondere
Herausforderung sehen – also „mit
beiden Füßen fest im Leben stehen“, so Zimmer.
Am meisten lernen wir, wenn
wir etwas mit allen Sinnen erleben. Die Kleinen greifen, bewegen, fühlen, schmecken Dinge. Sie
lieben es, mit dem Hausschlüssel
zu rasseln und ihn immer wieder
fallen zu lassen, sie springen in
Wasserpfützen und spielen gern
mit Matsch. Für Kinder ist das
wichtig, auch wenn es Eltern schon
mal nervt. „Man muss erst greifen,
um etwas be-greifen zu können“,
erklärt Zimmer. Wichtig ist auch
die emotionale Komponente,
nämlich Spaß an dem zu haben,
was man tut. „Greifen führt nur
dann zum Be-greifen, wenn man
er-griffen ist.“
Viele Initiativen
Hierzulande gibt es diverse Möglichkeiten, die frühkindliche Entwicklung zu fördern. Die „Initiativ Liewensufank“ beispielsweise
bietet unter anderem Kurse in
Babymassage, Babyschwimmen,
PEKiP (Prager Eltern-Kind-Programm) sowie Spielgruppen nach
den Erkenntnissen der Pädagogin
Emmi Pikler an. Wenn die Kinder
etwas größer sind, haben sie
Freude an der Bewegung auf dem
Airtramp, einem großen Luftkis-
sen, das in verschiedenen Einrichtungen im Land zu finden
ist. In vielen Kindertagesstätten
wird Wert auf Bewegungsmöglichkeiten gelegt, zum Beispiel
in den immer beliebter werdenden Waldkindergärten. Für Spielund Grundschulkinder bietet die
Lasep (Ligue des Associations
Sportives de l’Enseignement Primaire) Sport außerhalb des Unterrichts an. Auch zahlreiche Vereine haben Programme für kleine
Kinder.
Die Eltern als Vorbild
Entscheidend sind laut Zimmer
aber auch das Leben zu Hause und
das Vorbild der Eltern. Zudem
sieht die Wissenschaftlerin im täg-
DREI FRAGEN AN
Prof. Dr. Renate Zimmer. Die Professorin für
Sportwissenschaft an der Universität Osnabrück
ist gleichzeitig promovierte Erziehungswissenschaftlerin und international profilierte Expertin
für Lernen durch Bewegung. Ihre zahlreichen
Fachbücher wurden in viele Sprachen übersetzt.
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Bewegen sich kleine Kinder
heutzutage weniger als früher? Immerhin gehen viele Eltern
mit ihnen zum Babyschwimmen
oder in Krabbelgruppen.
Kinder bewegen sich deutlich
weniger als früher. Es gibt
zwar heute mehr Angebote,
aber der Alltag ist viel bewegungsärmer geworden. Und das
ist das Problem. Es ist schön,
wenn ein Kind in einen Kurs
geht, zum Beispiel in eine
Schwimmgruppe. Aber auch der
Alltag ist entscheidend. Was geschieht in der Wohnung? Was
passiert in der Freizeit? Gehen
Sie mit dem Kind öfter mal in
den Wald?
Viele Menschen sind der An2
sicht, dass kleine Kinder auch
gut mit Spielen auf dem Smart-
phone oder dem Tablet lernen. Wie
sehen Sie das?
Ein Smartphone oder Tablet gehört nicht in die Hände eines
kleinen Kindes. Sogar im Grundschulalter würde ich es noch relativieren und zeitlich ganz eng begrenzen. Vorschulkinder können
das Smartphone mal nutzen, um
die Oma anzurufen, aber nicht als
Spielzeug oder Lernmittel. Kinder
lernen nicht mit einem Bildschirm. Sie lernen in der Handlung. Wahrnehmung muss die
dritte Dimension beinhalten. Was
ein Baum ist, kann ich nicht in der
Abbildung des Baumes erkennen.
Ich muss ihn in der Wahrnehmung mit allen Sinnen erleben.
Alle Sinne gehören zum Lernprozess. Gerade die körpernahen
Sinne sind bei elektronischen
Medien ziemlich ausgeschaltet.
lichen Schulbetrieb Verbesserungsbedarf, wie eine Studie ihres
Instituts zur Konzentrationsleistung von Schülern gezeigt hat. Die
erste Gruppe erhielt „herkömmlichen“ Unterricht, die zweite lernte mit Bewegungspausen und die
dritte mit „bewegtem Unterricht“.
Letzterer sieht vor, dass zum Beispiel Präpositionen („an“, „auf“,
„hinter“, „zwischen“) mit passenden Bewegungen im Raum eingeübt werden. Ergebnis des Experiments: In der ersten Gruppe ließ
die Konzentration mit der Zeit
messbar nach, in jener mit den Bewegungspausen blieb sie konstant.
Und in der dritten wurde die Konzentrationsleistung im Verlauf sogar besser.
Tausende Kinder in Europa
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haben kaum Gelegenheit zu
Sport und Spiel, weil sie mit ihren
Eltern auf der Flucht waren oder
sind. Wo sehen Sie Hilfsmöglichkeiten?
Meine Studenten und ich gehen
in die Flüchtlingsheime und
spielen mit den Kindern, mit
den Jugendlichen Fußball und
mit den Kleineren Spiele.
Wir versuchen, die Bewegung
und das Spielen mit der
Sprachbildung zu verbinden,
ohne dass wir das Sprachbildung nennen. Wir haben feste
Spielstunden, bringen Material
mit, das wir ihnen nachher
überlassen. Wenn die ersten
Bedürfnisse wie Essen und Obdach gestillt sind, sollten sich
die Kinder mit etwas für sie
Sinnvollem beschäftigen können. Wir merken, dass sie dann
auch mal loslassen können und
dass wir so Zugang zu ihnen
und den Eltern finden. Bewegung ist dabei ein ganz, ganz
wichtiges Element.
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Interview: Andrea Wimmer