48 S P O RT Luxemburger Wort Mittwoch, den 23. September 2015 Motorik, Sprache, Bildung: Warum Bewegung für Kinder so wichtig ist „Mit jedem Schritt wachsen wir“ Kleine Kinder lernen der Wissenschaftlerin Zimmer zufolge mit allen Sinnen VON ANDREA WIMMER Bewegung ist für jeden Menschen wichtig. Ganz besonders aber brauchen Kinder die Möglichkeit, krabbelnd, kletternd oder tobend die Welt zu erforschen. Körperliche Aktivität ist nicht nur essenziell für Muskeln und Knochen, sondern auch für das Gehirn: Bewegung macht schlau. Seit gut einer Woche hat sie der Alltag wieder. Luxemburgs Grundschüler sind zurück im Unterricht. In den europäischen Ländern sind die Sommerferien zu Ende. Und nach Ansicht der Sportund Erziehungswissenschaftlerin Prof. Dr. Renate Zimmer wird nun „der Körper stillgelegt“. Kinder sollen wieder lernen, konzentriert zuhören und natürlich sitzen. Schulanfang sei „der Beginn der Disziplinierung des Körpers“, findet die deutsche Expertin. Dabei gehören Lernen und Bewegung eigentlich untrennbar zusammen. Eine Konferenz im Rahmen der „Europäischen Woche des Sports“ in Luxemburg hat sich diesem Thema gewidmet. „Krabbel a Wibbel“, ein Projekt des Sportministeriums, soll helfen, die Motorik kleiner Kinder zu fördern, und wurde beim Treffen europäischer Sportdirektoren vorgestellt. Die Präsentation der bekannten Buchautorin Zimmer, Professorin für Sportwissenschaft an der Universität Osnabrück, bildete den Auftakt der Veranstaltung. Die Expertin für frühkindliche Entwicklung setzt sich seit Jahren in zahlreichen Initiativen für eine „bewegte Kindheit“ ein. Sie hat gute Argumente. Bewegung und Spiel – nicht allein Sport im engeren Sinne – bringen uns nicht nur motorisch, sondern in der gesamten Entwicklung voran. Und das schon ganz, ganz früh im Leben. Etwa 100 Milliarden Nervenzellen hat der Mensch bei der Geburt. „Die erste Aufgabe ist ihre Vernetzung“, so Zimmer. In den ersten Lebensmonaten entstehen bereits so viele Verknüpfungen (Synapsen) wie später nie mehr. Die menschlichen Nervenzellen speichern in den ersten zwei Lebensjahren so viele Eindrücke wie möglich, später wird auf diesen Erfahrungen aufgebaut. „Es kommt auf die ersten Lebensjahre an“, betont die Wissenschaftlerin. Was nicht heißt, dass man später nichts mehr dazulernt, denn dafür ist es nie zu spät. Aber entscheidende Grundlagen werden am Anfang des Lebens gelegt. Nie wieder sei der Mensch so aktiv wie „Nie mehr ist der Mensch so aktiv wie im Alter von null bis fünf Jahren“, und das ist auch gut so, findet Prof. Renate Zimmer. Denn in den ersten Lebensjahren werden die motorischen Grundlagen gelegt. (FOTO: SHUTTERSTOCK) im Alter von null bis fünf Jahren, so die Professorin. „Krabbelnd die Welt erfahren“ ist demnach zentrales Thema der frühkindlichen Entwicklung. „Bildung ist ein aktiver Prozess. Er wird durch forschendes und entdeckendes Handeln angeregt“, erklärt Zimmer und sagt in Anlehnung an einen berühmten Satz des Dichters Christian Morgenstern („mit jedem Wort wachsen wir“): „Mit jedem Schritt wachsen wir.“ Zwar gibt es je nach wissenschaftlicher Herangehensweise unterschiedliche Definitionen von Bildung. Erwiesen ist aber, dass der eigene Körper der Ausgangspunkt ist, wenn man die Welt um sich herum verstehen will. Kinder lernen „Selbstwirksamkeit“ Die sozial-emotionale, die kognitive und die sprachliche Entwicklung haben laut Zimmer viel mit Bewegung zu tun. Lässt man kleine Kinder spielen und herumtollen, wie sie es ohnehin von Natur aus gerne tun, erfahren sie, dass sie selbst etwas bewirken können. Zum Beispiel, einen Ball bewegen, stoppen oder hüpfen lassen. Was sich zunächst banal anhört, wirkt sich auf viele Bereiche des Lebens aus. Wer früh diese „Selbstwirksamkeit“ erfährt, wird eine schwierige Situation künftig vielleicht nicht als unüberwindbares Problem, sondern als besondere Herausforderung sehen – also „mit beiden Füßen fest im Leben stehen“, so Zimmer. Am meisten lernen wir, wenn wir etwas mit allen Sinnen erleben. Die Kleinen greifen, bewegen, fühlen, schmecken Dinge. Sie lieben es, mit dem Hausschlüssel zu rasseln und ihn immer wieder fallen zu lassen, sie springen in Wasserpfützen und spielen gern mit Matsch. Für Kinder ist das wichtig, auch wenn es Eltern schon mal nervt. „Man muss erst greifen, um etwas be-greifen zu können“, erklärt Zimmer. Wichtig ist auch die emotionale Komponente, nämlich Spaß an dem zu haben, was man tut. „Greifen führt nur dann zum Be-greifen, wenn man er-griffen ist.“ Viele Initiativen Hierzulande gibt es diverse Möglichkeiten, die frühkindliche Entwicklung zu fördern. Die „Initiativ Liewensufank“ beispielsweise bietet unter anderem Kurse in Babymassage, Babyschwimmen, PEKiP (Prager Eltern-Kind-Programm) sowie Spielgruppen nach den Erkenntnissen der Pädagogin Emmi Pikler an. Wenn die Kinder etwas größer sind, haben sie Freude an der Bewegung auf dem Airtramp, einem großen Luftkis- sen, das in verschiedenen Einrichtungen im Land zu finden ist. In vielen Kindertagesstätten wird Wert auf Bewegungsmöglichkeiten gelegt, zum Beispiel in den immer beliebter werdenden Waldkindergärten. Für Spielund Grundschulkinder bietet die Lasep (Ligue des Associations Sportives de l’Enseignement Primaire) Sport außerhalb des Unterrichts an. Auch zahlreiche Vereine haben Programme für kleine Kinder. Die Eltern als Vorbild Entscheidend sind laut Zimmer aber auch das Leben zu Hause und das Vorbild der Eltern. Zudem sieht die Wissenschaftlerin im täg- DREI FRAGEN AN Prof. Dr. Renate Zimmer. Die Professorin für Sportwissenschaft an der Universität Osnabrück ist gleichzeitig promovierte Erziehungswissenschaftlerin und international profilierte Expertin für Lernen durch Bewegung. Ihre zahlreichen Fachbücher wurden in viele Sprachen übersetzt. 1 Bewegen sich kleine Kinder heutzutage weniger als früher? Immerhin gehen viele Eltern mit ihnen zum Babyschwimmen oder in Krabbelgruppen. Kinder bewegen sich deutlich weniger als früher. Es gibt zwar heute mehr Angebote, aber der Alltag ist viel bewegungsärmer geworden. Und das ist das Problem. Es ist schön, wenn ein Kind in einen Kurs geht, zum Beispiel in eine Schwimmgruppe. Aber auch der Alltag ist entscheidend. Was geschieht in der Wohnung? Was passiert in der Freizeit? Gehen Sie mit dem Kind öfter mal in den Wald? Viele Menschen sind der An2 sicht, dass kleine Kinder auch gut mit Spielen auf dem Smart- phone oder dem Tablet lernen. Wie sehen Sie das? Ein Smartphone oder Tablet gehört nicht in die Hände eines kleinen Kindes. Sogar im Grundschulalter würde ich es noch relativieren und zeitlich ganz eng begrenzen. Vorschulkinder können das Smartphone mal nutzen, um die Oma anzurufen, aber nicht als Spielzeug oder Lernmittel. Kinder lernen nicht mit einem Bildschirm. Sie lernen in der Handlung. Wahrnehmung muss die dritte Dimension beinhalten. Was ein Baum ist, kann ich nicht in der Abbildung des Baumes erkennen. Ich muss ihn in der Wahrnehmung mit allen Sinnen erleben. Alle Sinne gehören zum Lernprozess. Gerade die körpernahen Sinne sind bei elektronischen Medien ziemlich ausgeschaltet. lichen Schulbetrieb Verbesserungsbedarf, wie eine Studie ihres Instituts zur Konzentrationsleistung von Schülern gezeigt hat. Die erste Gruppe erhielt „herkömmlichen“ Unterricht, die zweite lernte mit Bewegungspausen und die dritte mit „bewegtem Unterricht“. Letzterer sieht vor, dass zum Beispiel Präpositionen („an“, „auf“, „hinter“, „zwischen“) mit passenden Bewegungen im Raum eingeübt werden. Ergebnis des Experiments: In der ersten Gruppe ließ die Konzentration mit der Zeit messbar nach, in jener mit den Bewegungspausen blieb sie konstant. Und in der dritten wurde die Konzentrationsleistung im Verlauf sogar besser. Tausende Kinder in Europa 3 haben kaum Gelegenheit zu Sport und Spiel, weil sie mit ihren Eltern auf der Flucht waren oder sind. Wo sehen Sie Hilfsmöglichkeiten? Meine Studenten und ich gehen in die Flüchtlingsheime und spielen mit den Kindern, mit den Jugendlichen Fußball und mit den Kleineren Spiele. Wir versuchen, die Bewegung und das Spielen mit der Sprachbildung zu verbinden, ohne dass wir das Sprachbildung nennen. Wir haben feste Spielstunden, bringen Material mit, das wir ihnen nachher überlassen. Wenn die ersten Bedürfnisse wie Essen und Obdach gestillt sind, sollten sich die Kinder mit etwas für sie Sinnvollem beschäftigen können. Wir merken, dass sie dann auch mal loslassen können und dass wir so Zugang zu ihnen und den Eltern finden. Bewegung ist dabei ein ganz, ganz wichtiges Element. n Interview: Andrea Wimmer
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