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Alles eine Frage der Ausfallwahrscheinlichkeit:
Condition-Based Maintenance
Marcel Loher, Harold Tiemessen
Institut für Modellbildung und Simulation, Fachhochschule St.Gallen
Präventiv warten heisst einen Zielkonflikt bewältigen: Möglichst spät eingreifen - aber
früh genug, um ungeplante Ausfälle zu vermeiden. Den richtigen Moment für
präventive Wartung zu finden, ist mit modernen Methoden der
Wahrscheinlichkeitsrechnung möglich. Eine Forschungsarbeit der FHS St.Gallen
zeigt, dass damit massiv Kosten eingespart werden.
Das Auto brauchts. Die Ski am Saisonende auch. Die Zähne sowieso: Wartung, und zwar
bevor der Wagen stehen bleibt oder Zähne ausfallen. Vorbeugende Wartung ist in der
Industrie in den letzten Jahren zu einem zentralen Thema geworden. Prozesse sind stark
vernetzt und so optimiert, dass keine Zeitreserven bleiben. Die Folge: Wenn ein einziges
Element ausfällt, wird ein ganzes Produktionssystem lahmgelegt. Dabei entstehen
Folgekosten bis hin zu Konventionalstrafen, die den Preis der fehlerhaften Komponente
schon mal um den Faktor 100 übersteigen i.
Der Zielkonflikt
Bei gut gewarteten Systemen ist das Ausfallrisiko geringer. Dabei stellt sich die Frage nach
dem Mass. Auch vorbeugende Wartung kostet, und deshalb müssen Ausfallrisiko und
Ausfallkosten den Kosten für die vorbeugende Wartung gegenüber gestellt werden. Diesen
Zielkonflikt optimal zu lösen ist eine anspruchsvolle Aufgabe.
Oft behilft man sich deshalb mit periodischem Austausch und ist zufrieden, wenn keine
Ausfälle auftreten: Alle 20‘000 Kilometer in die Garage oder alle 12 Monate zum Zahnarzt.
Solche einfachen Konzepte greifen für industrielle Ansprüche viel zu kurz. Meist sind sie
übervorsichtig, und man verschenkt wertvolle Betriebszeit.
Alles eine Frage der Ausfallwahrscheinlichkeit
Optimal präventiv warten wäre ja ganz einfach, wenn der Ausfallzeitpunkt einer Komponente
vorab bekannt wäre. Der Ausfallzeitpunkt ist aber zufällig. Deshalb ist das erste Ziel, ihn
wenn schon nicht genau, dann doch mit grösstmöglicher Schärfe zu prognostizieren. Dazu
wird alle verfügbare Information über die betrachtete Komponente verwendet. Je mehr man
über die Komponente weiss und je besser diese Information genutzt wird, desto
zuverlässiger die Ausfallprognose.
Zwei Informationsquellen sind wichtig:
• a priori-Information, das heisst gemessene verschleissbedingte Lebensdauern
• Zustandsinformation (z.B. Laufgeräusch, Wärmeentwicklung, Stromaufnahme)
Diese beiden Informationsstränge werden mit modernen Ansätzen aus der
Wahrscheinlichkeitsrechnung ii iii(präziser: mit Hilfe des Theorems von Bayes) zu einer totalen
Ausfallwahrscheinlichkeitsdichte verarbeitet. Daraus kann die kumulierte
Ausfallwahrscheinlichkeit berechnet werden, die angibt, mit welcher Wahrscheinlichkeit die
Komponente im Zeitintervall zwischen 0 und t ausfällt.
1
kumulierte Ausfallwahrscheinlichkeit
0.8
0.6
0.4
0.2
0
0
20'000
40'000
60'000
t/Standard-Betriebsstunden
Abbildung 1: Aus der kumulierten Ausfallwahrscheinlichkeit lässt sich die
Wahrscheinlichkeit ablesen, dass eine Komponente – hier am Beispiel einer
Hauptspindel – die Betriebsdauer t nicht erreicht.
gemessene Lebensdauern
Modellrechnung
Die gemessenen Lebensdauern sind vertraulich und wurden für diese Darstellung
verfälscht.
Optimierungskriterium: Total Cost of Maintenance
Die quantifizierte Ausfallwahrscheinlichkeit reicht noch nicht für einen Entscheid über den
optimalen Austauschzeitpunkt. Optimal ist ein Austauschzeitpunkt, wenn die Total Cost of
Maintenance minimal ist iv. Diese Definition dient als Kriterium um zu entscheiden, ob eine
Komponente jetzt, das heisst nach der Betriebszeit tnow oder später, nach dem nächsten
Zeitintervall tdelay, ausgetauscht werden soll. Wenn zur Zeit tnow kein präventiver Austausch
vorgenommen wird,
• entsteht eine Einsparung, weil mit einer buchhalterisch bereits abgeschriebenen
Komponente weiter produziert wird, sozusagen mit Stundensatz null
• besteht während der Zeit tnow das Risiko eines ungeplanten Ausfalls, das durch
Ausfallwahrscheinlichkeit und Schadenhöhe quantifiziert wird.
Für jede denkbare Verzögerung tdelay werden diese beiden Beiträge summiert. Aus der
resultierenden Kurve kann für jede Verzögerung tdelay der mutmassliche Gewinn – oder auch
Verlust – abgelesen werden, der entsteht, wenn nicht jetzt, sondern um tdelay verzögert
gewartet wird.
Beispiel Werkzeugmaschine
Bei einer Werkzeugmaschine eines renommierten Schweizer Herstellers wurde mit der
Hauptspindel eine Schlüsselkomponente identifiziert, die für den Betrieb unerlässlich ist. Bei
einem ungeplanten Ausfall entstehen Kosten, die um einen Faktor 4.6 1 höher liegen als bei
einem geplanten Austausch: Der Betriebsunterbruch dauert länger, kurzfristig muss
Ersatzkapazität organisiert werden und die Wartung nach einem Ausfall ist aufwendiger.
Imageverluste wegen allfälliger nicht eingehaltener Liefertermine sind dabei nicht mal
eingerechnet.
In einem von der Kommission für Technologie und Innovation (KTI) geförderten Projekt
wurden gemessene Lebensdauern und Einschätzungen des Betreibers über die Restlaufzeit
so verarbeitet, dass klar ist, ob jetzt oder im nächsten Servicezeitpunkt präventiv
ausgetauscht werden soll. Basis von Abbildung 2 sind 11 gemessene Betriebsdauern, die
zwischen 6‘000 und 40‘000 Stunden liegen, eine bisherige ausfallfreie Betriebszeit von
10‘000 Stunden sowie die Aussage eines Experten, der einen Ausfall in den nächsten 1000
bis 3‘000 Betriebsstunden erwartet (10% und 90% kumulierte Ausfallwahrscheinlichkeit). Die
dünne dunkelblaue Gerade stellt die Einsparung auf Grund des verzögerten Austauschs dar.
Die wahrscheinlichkeitsgewichteten Ausfallkosten sind als grüne Kurve dargestellt. Diese
Kurve kann auch als faire Versicherungsprämie gegen einen ungeplanten Ausfall interpretiert
werden. Die fette rote Kurve ist die Summe dieser beiden Beiträge.
Aus der Abbildung können klare Aussagen abgelesen werden:
1. Ein Austausch jetzt (nach 10‘000 Betriebsstunden) führt zu gleichen Totalkosten wie
ein Austausch nach zusätzlichen 2‘500 Betriebsstunden.
2. Alle dazwischen liegenden Austauschzeitpunkte sind vorteilhafter.
3. Ein Austausch nach zusätzlichen 1900 Betriebsstunden ist optimal. Gegenüber
einem Austausch im jetzigen Zeitpunkt werden CHF 19‘000.- eingespart.
Abbildung 2: Risiko-/Nutzenanalyse am Beispiel einer Hauptspindel, die 10‘000
Betriebsstunden im Einsatz war. Die Kosten eines ungeplanten Ausfalls sind um den
Faktor 9.2 höher als jene eines geplanten Austauschs. Die Rechnung legt eine
konservative Maintenance-Politik nahe, d.h. einen Austausch nach weiteren 2000
Betriebsstunden nahe.
11
Diese Angabe ist aus Vertraulichkeitsgründen verfälscht.
Das Potential
Wenn heute präventiv gewartet wird, erfolgt dies weitestgehend nach einem intuitiven
Konzept. Mit der hier erarbeiteten Software können Entscheidungen auf einer rationalen
Ebene gefällt werden. Ausfallwahrscheinlichkeiten und Kosten führen zu eindeutigen
Aussagen, wie intensiv gewartet werden soll. Dabei kann die Wartung condition-based
erfolgen, das heisst unter Einbezug von Information über den Zustand der Komponente.
Aber selbst ohne Zustandssensor spart die Software viel Kosten. Erfahrungsgemäss werden
einerseits die Zusatzkosten eines Ausfalls intuitiv unterschätzt, und anderseits wird häufig
über-konservativ gewartet. Und nur mit viel Glück kompensieren sich die beiden Effekte.
Eine saubere Rechnung ist allemal besser als sich auf dieses Glück zu verlassen.
i
JARDINE, Andrew, DAMING Lin, BANJEVIC Dragan: A review on machinery diagnostics
and prognostics implementing condition-based maintenance. Mechanical Systems
and Signal Processing 20 (2006) 1483–1510
ii
KRUSCHKE, John. Doing Bayesian data analysis: A tutorial introduction with R. Academic
Press, 2010.
iii
HACKING, Ian. An introduction to probability and inductive logic. Cambridge University
Press, 2001.
iv
NEUGEBAUER, R., FISCHER, J. PRAEDICOW, M.: Condition-based preventive
maintenance of main spindles. Proc. Eng. Res. Devel. (2011) 5: 95-102