Deutschkurse reichen nicht

LEBENSFÄDEN
Jung und allein
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PARZIVAL-ZENTRUM
Arbeit mit minderjährigen Flüchtlingen im waldorfpädagogischen Parzival-Zentrum
Unbegleitete minderjährige
Flüchtlinge
Deutschkurse reichen nicht
Seit Beginn des Schuljahres 2014/15 werden am waldorfpädagogischen Parzival-Zentrum Karlsruhe unbegleitete
minderjährige Flüchtlinge in eigens eingerichteten Flüchtlingsklassen beschult und traumapädagogisch begleitet. Der
Schulleiter Bernd Ruf ist Sonderpädagoge und hat seit 2006
den Bereich der Notfallpädagogik bei den Freunden der
Erziehungskunst Rudolf Steiners aufgebaut und als eigenes
Konzept entwickelt. Info3-Redakteurin Laura Krautkrämer
sprach mit ihm über seine Erfahrungen.
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Von Laura Krautkrämer
ie Anfrage kam vom Land, genauer gesagt vom Regierungspräsidium in Karlsruhe: Angesichts stetig wachsender Flüchtlingszahlen wurden dringend Schulen für
unbegleitete minderjährige Flüchtlinge gesucht. „Wir sind in Baden-Württemberg die einzige freie Schule, die vom Land unbegleitete minderjährige Flüchtlinge geschickt bekommen hat“, erzählt Ruf. „Das liegt wohl daran, dass wir seit zehn Jahren als
Kollegium über die Auslandseinsätze der ‚Freunde der Erziehungskunst’ interkulturelle und traumapädagogische Erfahrungen mit Kindern und Jugendlichen gesammelt haben.“ Das Regierungspräsidium trägt die Kosten der Beschulung, das Jugendamt
bezuschusst die traumatherapeutischen Angebote. Inzwischen
besuchen rund 90 Kinder und Jugendliche mehrere Flüchtlingsklassen, die meisten sind zwischen 14 und 17 Jahren alt. Nur
etwa 30 Jugendliche sind kontinuierlich dabei, es gibt eine starke Fluktuation. „Die Jugendlichen kommen hier an und werden
in Obhut genommen, doch viele verschwinden wieder. Manche
werden aus den Erstaufnahmestellen weiterverlegt, manche gehen auf eigene Faust andere Wege“, berichtet Ruf. Die Herkunfts-
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Kinder und Jugendliche, die ohne Sorgeberechtigte auf der Flucht sind, haben als sogenannte
„Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge“ einen
Sonderstatus. Laut § 42 des Sozialgesetzbuches
VIII und Artikel 20 der UN-Kinderrechtskonvention erhalten sie Schutz durch Inobhutnahme. Dafür sind die Jugendämter zuständig, die in
einem sogenannten Clearingverfahren den Hilfebedarf der Jugendlichen feststellen und einen
Vormund bestellen.
Die Inobhutnahme können freie oder öfentliche Träger durchführen. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge leben, betreut von Trägern
der Jugendhilfe, in Flüchtlingswohnheimen, Jugendhilfeeinrichtungen, Plegefamilien oder bei
Verwandten. Sie haben ein umfassendes Recht
auf Bildung, das u.a. in Artikel 26 der UN-Menschenrechtskonvention festgeschrieben ist. Da
in Deutschland eine gesetzliche Schulplicht besteht, sind sie zum Schulbesuch verplichtet.
Red./lk
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Arbeit mit minderjährigen Flüchtlingen im waldorfpädagogischen Parzival-Zentrum
länder sind weit gestreut, Schwerpunkte liegen im Nahen Osten
und Nordafrika sowie in den Balkanstaaten.
Da sein, wenn‘s brennt
Notfallpädagogik der Freunde der
Erziehungskunst
Der Sonderpädagoge Bernd Ruf (Bildmitte) ist langjähriger Vorstand der Freunde der Erziehungskunst Rudolf
Steiners und hat dort den Bereich der Notfallpädagogik
entwickelt. Ausschlaggebend dafür war seine Begegnung
mit traumatisierten Kindern in einem Flüchtlingslager in
Beirut während des Libanonkrieges 2006.
Hauptanliegen ist es, den durch das Trauma entstandenen Schock und seelische Verhärtungen behutsam zu
lösen. Dies geschieht nicht konfrontativ, sondern indirekt
durch pädagogische Interaktionen, die den Betrofenen
wieder neue Sicherheit vermitteln. Zahlreiche Notfalleinsätze der „Freunde“ in Kriegsgebieten oder in von
Naturkatastrophen betrofenen Regionen haben auf diese
Weise Kindern und Jugendlichen geholfen, ihre traumatischen Erfahrungen zu verarbeiten. In Zusammenarbeit
mit der UNICEF oder dem UNHCR wurden und werden
außerdem Helfer vor Ort geschult und für die besonderen Erfordernisse dieser Arbeit sensibilisiert.
Red./lk
Mehr Informationen:
https://www.freunde-waldorf.de/
notfallpaedagogik.html
Wie die anderen Flüchtlinge haben auch unbegleitete Minderjährige in der Regel ein ganzes Bündel traumatischer Erfahrungen im Gepäck. Die Jugendlichen sind komplett auf sich gestellt, ohne ihr bisheriges soziales Netzwerk. „Die meisten haben
Furchtbares erlebt“, so Ruf. „Armut, politische, ethnische oder religiöse Verfolgung haben sie zur Flucht getrieben. Kinder haben
überdies noch eigene Gründe zur Flucht: Da sind die Zwangsrekrutierungen, das Drama der Kindersoldaten, Versklavungen
und sexuelle Ausbeutung.“ Hinzu kommen traumatische Erlebnisse während der Flucht: auf dem Wasser, an den Grenzzäunen,
in den Lagern. „Wer meint, dass man die Probleme dieser Menschen allein durch Deutschkurse lösen kann, der wird wahrscheinlich in der Zukunft sein blaues Wunder erleben“, ist Ruf
überzeugt. „Die Traumatisierungen werden erst hier, im Laufe der Jahre, in Erscheinung treten. Ich sage nicht, dass alle Betrofenen Traumatherapie brauchen, aber sie brauchen eine traumapädagogische Versorgung: geschulte Pädagogen, verlässliche
Strukturen, Sicherheit.“
Selbstverständlich sei auch der Deutschunterricht für den Integrationsprozess wichtig. Doch traumatisierte Kinder sind nach
Rufs Erfahrung innerlich wie eingefroren und so ixiert, dass sie
nicht imstande sind, Neues zu lernen. „Solange diese Blockade
existiert, sind Lernprozesse kaum möglich. Deshalb muss man
zunächst diese Blockaden bearbeiten – nicht durch direktes Angehen des Traumas, sondern indirekt“, erklärt Ruf. Rhythmen,
die gestört sind, neu anzulegen, die Konzentration schulen, den
Kontakt zum eigenen Körper wiederherstellen – fundamentale
Grunderfahrungen, die verloren gegangen sind. Die Schule als
einen sicheren Ort zu erleben, an dem diese Erfahrungen möglich sind, ist deshalb die Voraussetzung für alle weiteren Lernprozesse. Das schulische Angebot umfasst künstlerisch-musischen Fächer wie Malen, Plastizieren und Musik, Rollenspiele
oder Theaterprojekte. Handwerklich-praktischer Unterricht und
verschiedene Bewegungsangebote ergänzen den Lehrplan. Bei
Verlustängsten und Bindungsstörung stellt sich oftmals die Tierpädagogik als fruchtbarer Ansatz heraus: „Manchmal hat die
Wertezerstörung durch Entmenschlichung solche Formen angenommen, dass überhaupt nur noch Tiere in der Lage sind, diese
Verhärtungen zu lösen“, sagt Ruf. Tiere als Entwicklungshelfer –
deshalb gibt es am Parzival-Zentrum tiergestützte Interventionen unter anderem mit Pferden, Eseln, Kühen, Ziegen, Hühnern
und Bienen.
NAIVITÄT HILFT NICHT WEITER
In Deutschland gibt es derzeit rund 400 von den waldorfpädagogischen „Freunden“ ausgebildete Notfallpädagogen, hinzu kommen noch einmal so viele im Ausland. „Mit diesen Menschen
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BLOCKADEN LÖSEN
„Mit traumatisierten Menschen naiv umzugehen, das geht selten gut.“
können wir Hilfe leisten, aber es fehlen die nötigen Ressourcen und die Infrastruktur, um diese doch beachtliche Anzahl an
Helfern noch besser zu koordinieren“, bedauert Ruf. Er ist froh,
dass das Flüchtlingsthema nun ins öfentliche Bewusstsein gerückt ist, sieht jedoch auch Probleme aufziehen: „Man sieht, die
Menschen wollen helfen, aber viele gehen unglaublich naiv an
diese Aufgabe heran“, gibt er zu bedenken. „Mit traumatisierten Menschen naiv umzugehen, das geht selten gut, viele Helfer werden ganz schnell frustriert sein. Wenn sich die traumatische Erstarrung der Flüchtlinge löst, wird die Lage erst einmal
schwieriger. Solange man eingefroren ist, funktioniert man einfach. Wenn die Jugendlichen sich jedoch sicherer fühlen, treten
Probleme wie Lernstörungen, komplexe Sozialstörungen oder
Aggressionen auf.“ Während die depressiven Phasen eher übersehen werden, sorgen die aggressiven für handfeste Probleme –
insofern ist die traumapädagogische Arbeit in zweifacher Hinsicht wichtig: Für die individuell Betrofenen, aber auch für den
gesellschaftlichen Integrationsprozess. „Jeder Jugendliche, der
sich aufgrund seines Traumas vom Opfer zum Täter wandelt, ist
eine Belastung für die gesellschaftliche Akzeptanz der Flüchtlinge“, gibt Ruf zu bedenken.
ERWEITERUNG DES NETZWERKS
Seitdem die Flüchtlingswelle auch Mitteleuropa erreicht hat,
häufen sich die Anfragen an die „Freunde“, nicht nur in den Herkunftsländern, sondern auch in den europäischen Durchgangsländern, wo Waldorinitiativen und andere Stellen sich für den
Umgang mit Flüchtlingen schulen lassen wollen. Im Gespräch
sind Noteinsätze in den Transitländern Griechenland, im Balkan,
in Ungarn oder Österreich. Doch auch aus Deutschland kommen
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zahlreiche Anfragen von Waldorfschulen, staatlichen Schulen
und Hilfsorganisationen, die Fortbildungen für ihre Mitarbeiter durchführen möchten. Ende Oktober wird deshalb eine zweitägige Fortbildung zum Thema „Notfallpädagogik für traumatisierte Flüchtlinge“ stattinden. Schon jetzt gibt es außerdem eine
erste Ausweitung der notfallpädagogischen Arbeit in Deutschland, so in der Landeserstaufnahmestelle in Karlsruhe oder in
Hamburg, wo die „Freunde“ mit der Organisation „Erzähler ohne
Grenzen“ zusammenarbeiten. Auch für München ist ein notfallpädagogisches Projekt in Planung. ///
Mehr Informationen:
Seminar „Flucht-Trauma-Schule“, 31.10./01.11.2015, Karlsruhe, ParzivalZentrum
Kosten: 150€/110€ ermäßigter Beitrag, 22 € Verplegung
Anmeldung unter: [email protected]
Spendenkonto der Freunde der Erziehungskunst:
GLS Bank Bochum, IBAN DE06 4306 0967 0800 8007 00
BIC GENODEM1GLS
Stichwort „Notfallpädagogik“
Zum Weiterlesen:
Bernd Ruf: Trümmer und Traumata. Anthroposophische Grundlagen
notfallpädagogischer Einsätze. Ita Wegman Institut 2012, 272 Seiten,
Broschur, € 28,-
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