1 Vom Glück abstinent zu sein und nicht darunter zu leiden

Vom Glück abstinent zu sein und nicht darunter zu leiden – Betrachtung der Abstinenzforderung aus adaptiver Sicht Kann Adaption auch ohne Einhaltung der Abstinenz erfolgreich sein? Ist Abstinenz ein zeitgemäßes Qualitätskriterium in der Behandlung von Adaptionspatienten? Wie ist Abstinenz richtig? Gibt es weitere gleichwertige Faktoren für eine gelingende Re‐Integration ins Erwerbsleben. Es scheint, als stünden sich in dieser Diskussion zwei Kontrahenten gegenüber. In der einen Ecke des Rings der aus einem Jahrhundert Suchtkrankenhilfe tradierte Begriff der Abstinenz, in der anderen Ecke der pragmatische, aus einem Aufwand/Nutzen‐Verhältnis generierte Begriff der Erwerbsfähigkeit. Beide Kategorien ringen jedoch nicht miteinander. Sie verzahnen sich notwendigerweise vor dem Hintergrund sich wandelnder Arbeitswelten, demografischer Entwicklungen und Spezifika von Suchterkrankungen. Der Frage, ob die Teilhabechancen am Erwerbsleben sich unter der Einhaltung von Abstinenz für Patienten in der Adaptionsphase verbessern, soll in diesem Beitrag nachgegangen werden. Es ist Montagmorgen 8:00 Uhr, Wochenbeginn. Ein verschlafener Patient stolpert knapp verspätet in die Morgenrunde. Der Therapeut begrüßt die Patienten und fragt: Hatte einer von Ihnen am Wochenende einen Rückfall? Keine Antwort. Die werten wir als „Nein“. Dann eine zweite Frage: Warum sind Sie abstinent geblieben? Verblüfft sehen ihn die Leute an. Was bezweckt er mit der Frage? Das war doch selbstverständlich. Sie sind doch hier, um Sicherheit zu erfahren und um den persönlichen Abstinenzwunsch zu unterstützen. Die Institution bietet schließlich ein Korsett, in dessen Rahmen Abstinenz gehalten werden kann. Eine andere Sichtweise: Wären Er oder Sie rückfällig geworden drohte vielleicht das vorzeitige Ende der Adaption. Die Sorge vor möglichen Konsequenzen schiebt den Wunsch zu trinken, zu spielen, etwas einzuwerfen, vor sich her, bis das Ende der Behandlung erreicht ist. Am letzten Abend vor der Entlassung oder dann am Entlassungstag wird der Konsumwunsch möglicherweise in die Tat umgesetzt. Es ist hinreichend belegt, dass die Rückfallrate im ersten halben Jahr nach einer Entwöhnungsbehandlung am höchsten ist. Andererseits ist auch bekannt, dass Rückfälle nicht als Alleinstellungsmerkmal bei Suchterkrankungen auftreten. Psychische Erkrankungen, Depression, Krankheiten des schizophrenen Formenkreises, aber auch Krankheiten wie Krebs kennen hohe Rückfallzahlen. Betroffene können auch auf das mit dem Konsum verbundene Leiden zu blicken. Der Patient erinnert sich an Zeiten in seiner Matratzenburg, Isolation, an Not, an Verachtung oder an den oberflächlichen Rausch, der als Folge Kriminalität und Haft nach sich zog. Abstinenz als Haltung, Ziel, Prozess – für die einen ein unumstößliches Paradigma der Suchtbehandlung, für die anderen ein Relikt mit wenig Realitätsbezug. Schließlich können wir die Begegnung mit Suchtstoffen, mit Spielotheken, die Welt der Medien nicht abschaffen. Wir müssen uns auf geeignete Weise mit Verführungs‐ und Versuchungssituationen auseinandersetzen. In diese Diskussion gehören auch provokante Fragen. Ich zitiere einen Kollegen: Muss jemand unbedingt abstinent sein, um wieder erwerbsfähig zu sein? Ist die Erwerbsfähigkeit gefährdet, wenn ein Alkoholabhängiger gelegentlich Cannabis konsumiert? Ist jemand nicht auch deshalb abhängig, weil er lange arbeitslos ist und umgekehrt: Wenn er wieder Arbeit (+ Geld, soziale Anerkennung, Kontakte usw.) hat, erledigt sich die Abhängigkeit nicht von selbst? 1
Adaptionsinhalte: In der Adaption arbeiten wir in der Regel mit Personen mit einer langjährigen Abhängigkeitserkrankung. Diese Menschen sind nicht in der Lage, maß‐ und genussvoll zu konsumieren. Suchtkranke Patienten entscheiden sich im Verlauf ihrer Entwöhnungsbehandlung für eine Adaption, weil sie das Risiko, in den Suchtkreislauf zurückzukehren noch zu hoch einschätzen. Sie sind in der Regel nicht nur bezogen auf ein Suchtmittel oder süchtiges Verhalten abhängig. Häufig können sie sich schwer im Alltag selbst strukturieren, angemessen mit freier Zeit umgehen, Gefühle benennen, sich abgrenzen oder auf andere zugehen. Wenn diese konkreten Fähigkeiten fehlen, bildet auch eine mögliche Arbeit nur eine dünne Eisdecke, die beim kleinsten Konflikt bricht. Im Ergebnis sehen wir Patienten mit abgebrochenen schulischen und beruflichen Ausbildungen, die in der Lage sind, schnell Arbeit zu finden, diese aber nicht lange durchhalten. Adaptionspatienten brauchen Zeit, sich an eine abstinente Alltagsbewältigung zu gewöhnen oder um den Tag, des Auf sich selbst gestellt seins besser vorzubereiten. Es geht für viele unserer Patienten darum, die mit der Krankheit verbundenen Phänomene wie Arbeitslosigkeit, soziale Exklusion, defizitäre körperliche Konstitution, Störungen der Bildungsentwicklung mithilfe der Adaption zu überwinden. In den externen Berufserprobungen erfahren unsere Patienten neben lang entbehrter Wertschätzung, in wieweit sie in der Lage sind, die Anforderungen des Arbeitsmarktes zu erfüllen. Medizinisch werden Komorbiditäten wie: ‐ affektive Störungen; ‐ Persönlichkeitsstörungen; ‐ Störungen aus dem schizophrenen Formenkreis; ‐ Essstörungen und somatische Auffälligkeiten begleitet. Eine kurze Darstellung unserer Klientel unter Beachtung der regionalen Unterschiede: Für die vergleichbaren Jahrgänge 2010 und 2014 lässt sich in der Leipziger Adaption feststellen, dass sich die Wohnsituation bei Aufnahme in die Adaption verschlechtert hat –nur noch 55% der Patienten hatten eine Wohnung vor der Entwöhnung gegenüber 67% aus dem Jahr 2010. Vermehrt kommen Leute aus der Haft bzw. dem Obdachlosenhaus. Der Anteil von Betroffenen ohne abgeschlossene Berufsausbildung stieg von 28% auf 35% in 2014, höherwertige Abschlüsse verringerten sich von 11% auf 4,5%. Der Anteil von polytoxen Patienten stieg von 23% auf 41%. Das hat auch Auswirkungen auf den Behandlungserfolg. In 2014 brachen 20% der Patienten die Adaption ab. Die regulären Beendigungen nach Behandlungsplan gingen um 16% zurück. Die Klärung schwierigster sozialer Situationen bestimmt neben der therapeutischen Arbeit den Ablauf der Adaptionsphase. Eine umfassende und professionelle sozialarbeiterische und sozialtherapeutische Unterstützung dient als Basis zur Entwicklung einer Zufriedenheit, in deren Ergebnis Abstinenz plausibel erscheint. In Zusammenarbeit mit den Leistungsträgern werden Perspektiven der Reinklusion gebahnt, bspw. durch die Vermittlung in die Beratung für Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben. Nachsorgeeinrichtungen wie Betreutes Wohnen und Suchtberatungsstellen sind wichtige Kooperationspartner. Arbeitslosigkeit fördert das Erkrankungsrisiko. Die bspw. aus Bewegungsarmut, ungesunder Ernährung und Distress resultierenden Krankheiten erschweren eine Rückkehr in die Erwerbstätigkeit aus eigener Kraft. Das eigene Sein wird in Frage gestellt, mangelnde Ich‐
Stärke mit süchtigem Verhalten kompensiert. Letzteres verringert die Chance auf den Wiedereinstieg in ein gelingendes Berufs‐ und Alltagsleben. ALG 2‐Bezieher erleben häufig eine Verfestigung dieses Zustands über Jahre. Wir haben vor uns einen Kreisverkehr, in dem 2
der Fahrer scheinbar nur links abbiegt. Während der gesamten Adaptionsphase steht deshalb die Auseinandersetzung der Patienten mit dem zukünftigen Arbeitsleben an erster Stelle. Welcher Beruf kann ausgeübt werden? Wo sind Über‐ bzw. Unterforderungen zu erwarten. Welche Maßnahmen sind geeignet, die Zugänge zum Erwerbsmarkt zu erleichtern?‐ bspw. die Unterstützung des zukünftigen Arbeitgebers und des Patienten durch ein Coaching in Konflikten. Demgegenüber steht die Analyse der verschiedenen Vermittlungshemmnisse wie Langzeitarbeitslosigkeit, körperlichen Einschränkungen, fehlender Fahrerlaubnis und mehr. Effekte der Adaptionsphase: 11 Einrichtungen des Qualitätszirkels Adaption führten die Ergebnisse der 1‐Jahres‐
Katamnese für im Jahr 2012 behandelte Patienten zusammen. Bei einer Menge von 639 Patienten und einer Antworterquote von 30% lag die Abstinenzrate bei 128 Personen bzw. 20%. /// 45 Personen beschrieben, nach Rückfall abstinent zu sein. 54 Personen gaben an, weiterhin zu konsumieren. Zum Katamnesezeitpunkt sind 104 Personen erwerbstätig, etwa ein Sechstel der Gesamtprobe. Ein gewünschter Rückschluss wäre die Deckungsgleichheit von abstinenten und erwerbstätigen Personen. Welchen Effekt die Behandlung zeigt, sehen wir beim Vergleich der Erwerbssituation bei Aufnahme in die Adaption und zum Katamnesezeitpunkt. Gegenüber dem ersten Messpunkt hat sich die Erwerbsquote verdreifacht, die Erwerbslosenquote zugleich halbiert.1 Die Adaptionsbehandlung zeigt damit nachhaltig positive Effekte. 1
FVS_KAT_TABADAPTION2013.rtf
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Ein Merkmal für die Risiko‐Zuordnung in der Suchtbehandlung ist die Anzahl der in Anspruch genommenen Entgiftungen. Am Beispiel der Rückmelder, die nach einem Rückfall mindestens 30 Tage wieder abstinent waren, können wir feststellen: Die Behandelten, die bisher keine Entgiftung in Anspruch nehmen mussten, haben eine deutlich höhere Erfolgsaussicht zur Abstinenz als die Gruppe mit zwei und mehr Entgiftungen. Fortgesetzter Konsum, der ein medizinisches Eingreifen notwendig macht, verringert die Erfolgsaussicht, abstinent zu bleiben. Das hat Auswirkungen auf die Erwerbsfähigkeit und damit letztlich auch auf die Inklusion auf den Erwerbsmarkt. Adaptive Herausforderungen anhand dreier Vorstellungsgespräche: Max Spiegel stellt sich im Rahmen seiner Alkohol‐Entwöhnungstherapie vor. Er ist ca 40, trinkt seit 25 Jahren Alkohol und ist seit 1995 arbeitslos. Etwa 10 Jahre davon hat der Patient in Haft zugebracht. Während dieser Zeit, gibt er an, habe er nicht gearbeitet. Mike Dachs ist 1995 geboren. Seine Familie ist durch den Alkoholismus des Vaters zerrüttet, die Großeltern stammen aus dem Iran, seine Mutter ist Deutsche. Mike verbringt die ersten Lebensjahre im Kinderheim, raucht mit 9, kifft bald darauf, erlebt die erste Entgiftung im Alter von 12 Jahren. Im Alter von 13 zieht er für kurze Zeit zum Vater, dort beginnt er Kokain zu konsumieren. Er landet mit 14 Jahren in der Psychiatrie, nachdem er kriminell auffällig ist, wird auf Ritalin eingestellt, spielt pathologisch und wandert durch verschiedene Einrichtungen. Im Alter von 15 Jahren überfällt er bewaffnet einen Laden. Raub, Erpressungen und Körperverletzung gehören zu seinem Alltag. Mit 17 greift er zu Crystal und Tillidin. In einer Therapie wird er mehrfach spielrückfällig. Maria Gluck, Jahrgang 1966 ist von ihrer Belastungsfahrt auf dem Weg in ihre Klinik und stellt sich in der Adaption vor. Ihr Leben ist von Leistungsorientiertheit, vom Missbrauch durch ihren Onkel und von permanenter Überforderung geprägt. Tabletten und THC sowie Alkohol halfen ihr, Gefühle schlafen zu legen. In ihrer Wohnung liegt der betrunkene Ex‐
Freund, den sie in der letzten Behandlung kennen gelernt hat. Sie habe ihm den Schlüssel für ihre Wohnung abgenommen, aber er habe doch noch einen. Die Patientin benennt als Ziel, sich besser abgrenzen zu können. Mit welchen Modellen wir Sucht auch immer assoziieren, auf der Basis einer Entwicklungs‐, einer Konfliktpathologie oder zur Bewältigung traumatischer Ereignisse, in allen Formen wird dem Suchtmittel eine bestimmte Funktion zugeordnet. Ob es um Lusterzeugung, um Unlustvermeidung geht, um die Stabilisierung mangelhafter Ich‐Funktionen, die Betroffenen weisen bewusst oder unbewusst, dem Mittel oder süchtigen Verhalten eine Aufgabe zu. Erst wenn der gewünschte Zustand alternativ, also ohne dessen Einsatz erzeugt werden kann, wird Abstinenz leichter. Bis dahin scheint sie notwendiger Zwang zu sein ‐ eine Anpassung, damit die Person es schafft, sich mit den hinter der Sucht stehenden Problemen zu beschäftigen. Das in der Entwöhnungsbehandlung erworbene Wissen über die eigene Abhängigkeit, über Beziehungsgestaltungsmuster und Bewältigungsformen soll in der Adaption in den individuellen Alltag unserer Patienten integriert werden. Max Spiegel müsste sich mit seinen Ängsten oder seiner Unlust, sich um eine realistische Arbeitsperspektive zu kümmern, auseinandersetzen. Mike Dachs braucht Kontinuität in Beziehungen und er muss im Sinne der Nachreifung lernen, dass es in Ordnung ist, soziale Normen einzuhalten. Maria Gluck müsste die angemessene Distanz zu Mitteln und Personen, die ihr nicht gut tun, kennen lernen und konsequent leben. Abstinenz ist dann Voraussetzung, sich bewusst auf ein eigen verantwortetes Sein vorbereiten zu können. Die 4
Nichteinhaltung von Abstinenz, der erneute Konsum von Drogen, Alkohol usw. führen letztlich wieder zur Verantwortungsabgabe. Schwierig wird die Diskussion dann, wenn scheinbar keine medizinischen Gründe für den Verzicht auf ein Suchtmittel vorliegen. Es ist einfach, bei einer Leberzirrhose die vollständige Abstinenz von Alkohol für ein Weiterleben zu begründen. Wenn der Konsum von Crystal zu einem katastrophalen Zahn‐ und sonstigem schlechten Gesundheitszustand geführt hat, erscheint dem Konsumenten davon die Abstinenz plausibel. Was aber ist mit dem Drogenabhängigen, der vom Heroin runter ist, aber noch ab und an THC konsumiert? Vor dieser Realität können wir nicht die Augen verschließen. Es kann in diesen Fällen nur darum gehen, die Betroffenen für Gefährdungen zu sensibilisieren bspw, wenn andere Suchtmittel Substitutsfunktionen übernehmen. Vom Glück abstinent zu sein und nicht darunter zu leiden: dieser Titel lässt sich auf verschiedene Weise lesen. Bezeichnen wir den vom Abhängigen gewünschten Zustand als Glück, dann setzt er das Suchmittel ein, um diesen Zustand zu erreichen. Wer dieses Glück nicht braucht hat Glück. Abstinent bedeutet, einen gewünschten Zustand, Zufriedenheit, Gemeinschaftsgefühl, Anerkannt sein, die Vermeidung von Schuldgefühlen geplagt zu sein, mit Mitteln zu erreichen, die eben nicht krank machen, Beziehungen zerstören, Arbeitslosigkeit manifestieren usw. Zu diesen alternativen Denk und Handlungsweisen müssen wir unsere Patienten erst einmal befähigen. Eine innere Überzeugung, Krisen ohne den Einsatz von Suchtmitteln oder süchtigem Verhalten bewältigen zu können stärkt die Person in ihrem jeweiligen Umfeld und sichert darüber Erwerbsfähigkeit. 5
Schlussfolgerung: Abstinenz ist ein wesentlicher Faktor bei der Re‐Integration ins Erwerbsleben. Sie muss unter der Bedingung eines sich öffnenden, aber immer noch schützenden Rahmens von einem äußeren erforderlichen Korsett zur inneren Gewissheit werden. Der bewusste Verzicht, am Beginn der Abstinenzentwicklung eine Anstrengung, wandelt sich im positiven Fall zu einem Bedürfnis, zur Gewohnheit. Das geht nur, wenn die vorher durch Konsum und süchtiges Verhalten besetzten Funktionen alternativ und nicht mehr gesundheitsschädigend ausgefüllt werden. Fähigkeiten wie Abgrenzung, Entspannung, Umgang mit Konflikten, bilden eine Voraussetzung, die Anforderungen des Erwerbslebens angemessen zu bewältigen. Wenn Abstinenz nicht mehr Leistung sondern Gegebenheit, Selbstverständlichkeit ist, reden wir nicht mehr von der zufriedenen Abstinenz, sondern von abstinenter Zufriedenheit. Dr.phil. B. Fabricius 6