Praxis
Wenn der Kollege
betrunken ist
Suchtmittelmissbrauch und Alkoholabusus gehören zu
den häufigsten Einsatzindikationen des Rettungsdienstes.
Doch auch unter den Beschäftigten des Rettungsdienstes
häufen sich derartige Fälle – wie in allen medizinischen
Berufen. Wie Betroffenen geholfen werden kann.
D
ass der Missbrauch von Suchtmitteln unter Angehörigen der
Gesundheitsfachberufe massiv
zugenommen hat, ist eine allgemein bekannte Tatsache. Wissenschaftlich untersucht wurde sie jedoch bislang kaum.
Experten sehen den Rettungsdienst als
besondere Risikogruppe. Grund ist das
vielfältige berufliche Belastungsprofil.
Wissenschaftler gehen daher bei Rettungsfachkräften von einer deutlich höheren Prävalenz aus als in der Durchschnittsbevölkerung.
Nicht selten gelingt es Betroffenen, ihr
Suchtproblem vor Kollegen und Führungskräften zu verbergen. Doch selbst
wenn der Suchtmittelmissbrauch am
Arbeitsplatz vor Ort wahrgenommen
wird, sind sich Kollegen und Führungskräfte unsicher, wie sie damit umgehen
können.
Der Umgang mit Suchtmittelkonsum
und -missbrauch am Arbeitsplatz steht
häufig in einem Spannungsfeld zwischen Ignorieren oder Ansprechen sowie Unterstützung und zugleich „Grenzen setzen“.
Prävalenz der Abhängigkeit
Hilfreich wäre eine Betriebs- oder
Dienstvereinbarung unter dem Titel
„Gesundheit und Suchtprävention“.
Sie würde alle in diesem Zusammenhang relevanten Regelungsbereiche und
Interventionsmöglichkeiten umfassen.
Außerdem könnte sie die nötige Handlungsorientierung für Beschäftigte und
Führungskräfte bieten, Betroffenen
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Rettungs-Magazin
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entsprechende Hilfen ermöglichen und
die Gefahr von Arbeitsunfällen infolge
Suchtmittelkonsums deutlich senken.
Noch aber sind solche Dienstvereinbarungen eine Ausnahme.
Die häufigsten Formen der Abhängig-
keit von psychotropen Substanzen sind
die Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit. Nach Angaben der Deutschen
Hauptstelle Sucht (DHS) sind zirka 1,8
Millionen Menschen in Deutschland
behandlungsbedürftig
alkoholkrank,
während schätzungsweise 1,4 bis 1,5
Millionen Menschen von Medikamenten mit Suchtpotenzial abhängig sind.
1,1 bis 1,2 Millionen Menschen sind
von Benzodiazepinderivaten und weitere 300.000 bis 400.000 Menschen von
anderen Arzneimitteln abhängig.
In Deutschland gibt es jährlich etwa
Die häufigsten Formen der
Abhängigkeit von psychotropen Substanzen sind die Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit. Zirka 1,8 Millionen
Menschen in Deutschland gelten als behandlungsbedürftig
alkoholkrank.
Suchtmittelkonsum unter Rettungsfachkräften
74.000 Todesfälle durch Alkoholkonsum. 74 Prozent werden durch den Konsum von Tabak und Alkohol, 26 Prozent
sind auf den ausschließlichen Konsum
von Alkohol zurückzuführen. Eine
durch Alkohol hervorgerufene psychische oder verhaltensbezogene Störung
wurde im Jahr 2012 als zweithäufigste
Einzeldiagnose in Krankenhäusern mit
345.034 Behandlungsfällen diagnostiziert.
Der aktuelle Gesundheitsreport der
DAK-Versicherung geht davon aus,
dass knapp drei Millionen Berufstätige
in Deutschland bereits verschreibungspflichtige Medikamente genommen
haben, um im Beruf leistungsfähiger zu
sein und Stress zu bewältigen. Dabei hat
der Missbrauch von Medikamenten, um
im Job fit zu sein, innerhalb der letzten
fünf Jahre stark zugenommen: von 4,7
auf 6,7 Prozent der Beschäftigten. Das
entspricht einer Steigerung von 40 Prozent.
Die Einschätzung von Experten,
wonach der Missbrauch und die Abhängigkeit von psychotropen Substanzen im Rettungsdienst deutlich höher
liegen dürften, ist nachvollziehbar.
Gründe hierfür finden sich in den Arbeitsbedingungen, den physischen und
psychischen Einsatzbelastungen mit
den einhergehenden Umgebungsgefahren sowie im Schichtdienst. Auch
organisationsbedingte Belastungen und
der vielfach empfundene Mangel an
Wertschätzung durch Vorgesetzte, den
Arbeitgeber, Notärzte, Klinikpersonal,
Angehörige oder Patienten spielen eine
große Rolle.
Das „Netzwerk Psychosoziale Notfallversorgung“ identifiziert bei durchschnittlich jedem vierten Hilfesuchenden aus dem Rettungsdienst einen Alkoholabusus über einen längeren Zeitraum. In mindestens der Hälfte aller
Fälle legt diese eine bereits vorhandene
Abhängigkeit nahe.
Folgen des Missbrauchs
Der betriebliche Schaden, der durch
Suchtmittelmissbrauch am Arbeitsplatz
angerichtet werden kann, ist enorm.
Dies belegen Zahlen der DHS: Alkoholabhängige bleiben 16-mal häufiger
vom Arbeitsplatz fern, sind 2,5-mal
häufiger krank und fehlen 1,4-mal länger nach Unfällen. Zudem erbringen sie
nur etwa 75 Prozent ihres Gehalts in
Gegenleistung. Sie arbeiten ineffizient,
und sowohl die Arbeitsqualität als auch
-quantität leiden. Sie verursachen eher
Schäden an Fahrzeugen, technischen
Geräten und im schlimmsten Fall auch
Personen. Gerade dem letztgenannten
Aspekt kommt im Rettungsdienst eine besondere Bedeutung zu. Experten
schätzen zudem, dass bei 25 bis 30 Prozent aller Arbeitsunfälle die Betroffenen
unter Alkoholeinfluss standen.
Das Abhängigkeitssyndrom wird umgangssprachlich auch als Abhängigkeit,
Missbrauch oder Sucht bezeichnet. Es
handelt sich um eine Störung durch
Drogen (psychotrope Substanzen). Die
Weltgesundheitsorganisation
WHO
definiert „Abhängigkeit“ als einen seelischen, eventuell auch körperlichen
Zustand, der dadurch charakterisiert
ist, dass ein dringendes Verlangen oder
unbezwingbares Bedürfnis besteht, sich
die entsprechende Substanz fortgesetzt
und periodisch zuzuführen.
Zur Diagnose des Abhängigkeitssyndroms müssen nach ICD-10 mindestens
drei der folgenden Kriterien während
des letzten Jahres gemeinsam erfüllt gewesen sein:
1. Zwanghaftes Verlangen nach
dem Konsum von psychotropen
Substanzen,
2. Übermaß, Nicht-mehr-aufhörenkönnen,
3. körperliche Entzugssymptome
bei Beendigung oder Reduktion
des Konsums,
4. Benötigen immer größerer Mengen,
damit Wirkung eintritt,
5. großer Zeitaufwand für Beschaffung,
Konsumieren und dem Sich-davonerholen,
6. fortdauernder Gebrauch der Substanz(en) wider besseren Wissens und
trotz eintretender schädlicher Folgen.
Gesetzeslage
Im Arbeitsschutzgesetz Paragraph 3
sind die Grundpflichten des Arbeitgebers wie folgt beschrieben:
1. Der Arbeitgeber ist verpflichtet, die erforderlichen Maßnahmen des Arbeitsschutzes unter Berücksichtigung der
Umstände zu treffen, die Sicherheit
und Gesundheit der Beschäftigten
bei der Arbeit beeinflussen. Er hat die
Maßnahmen auf ihre Wirksamkeit zu
überprüfen und erforderlichenfalls sich
ändernden Gegebenheiten anzupassen. Dabei hat er eine Verbesserung
von Sicherheit und Gesundheitsschutz
der Beschäftigten anzustreben.
2. Zur Planung und Durchführung der
Maßnahmen nach Abs. 1 hat der
Arbeitgeber … Vorkehrungen zu treffen, dass die Maßnahmen erforderlichenfalls bei allen Tätigkeiten und
eingebunden in die betrieblichen Führungsstrukturen beachtet werden und
die Beschäftigten ihren Mitwirkungspflichten nachkommen können.
☆
In den Paragraphen 7 und 15 der Vorschrift BGV A1 und GUV V A1 werden
die Interventionen bei Einschränkung
der Arbeitsfähigkeit und Arbeitssicherheit beschrieben:
Paragraph 7 (2): Der Unternehmer darf
Versicherte, die erkennbar nicht in der
Lage sind, eine Arbeit ohne Gefahr für
sich oder andere auszuführen, mit dieser Arbeit nicht beschäftigen.
Paragraph 15 (2): Versicherte dürfen
sich durch den Konsum von Alkohol,
Drogen oder anderen berauschenden
Mitteln nicht in den Zustand versetzen,
durch den sie sich selbst oder andere
gefährden können.
Paragraph 15 (3): Absatz 2 gilt auch für
die Einnahme von Medikamenten.
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▶
Praxis
Der Missbrauch von
Medikamenten, um im Job
fit zu sein, hat
innerhalb der
letzten fünf
Jahre stark
zugenommen.
Suchtprobleme erkennen
Hinweise auf einen kritischen Suchtmittelkonsum können sein:
l Häufig einzelne Fehltage und/
oder unbegründete Abwesenheit
vom Arbeitsplatz,
l Unzuverlässigkeit und
Entschuldigung durch Dritte,
l Leistungsabfall und
Leistungsschwankungen,
l Überforderung bei Aufgaben und
Bevorzugung von Routinearbeiten,
l Konzentrationsschwierigkeiten,
erhöhte Reizbarkeit, Nervosität und
Stimmungsschwankungen,
l Vernachlässigung der eigenen
Körperhygiene,
l Schwitzen und Hände-Zittern,
l Versuch, Alkoholgeruch zu tarnen.
Hinweise auf eine bereits vorhandene
Abhängigkeit können sein:
l starke Bindung an das Suchtmittel,
l Toleranzentwicklung (es bedarf
immer größerer Mengen),
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der Fall sein: Einige Abhängige sind der
Umwelt gegenüber „wehleidig“ und bemitleiden sich selbst. Sie möchten als
„arme Opfer“ ihrer Abhängigkeit wahrDiese werden ergänzt durch die folgenommen werden.
genden, häufig auftretenden VerhaltensKontrollverlust: Abhängige verlieren
muster:
die Kontrolle über ihr Verhalten. Das
Leugnung der Abhängigkeit: Zur Abkann zu völlig maßlosem Verhalten fühhängigkeitserkrankung gehört häufig das
ren, sodass beispielsweise bis zum UmLeugnen der Krankheit vor sich selbst
fallen getrunken wird. Der eigene Kontund anderen. Es werrollverlust ist für Abden manchmal simphängige meist beschä„Knapp drei Millionen
le („ich trinke/rauche
mend, da sie scheinBerufstätige in Deutschaus purem Genuss“),
bar nicht (mehr) im
land haben bereits
oft auch skurrile bis
Besitz ihrer vollen
verschreibungspflichtige
absurde
Ausreden
geistigen Kräfte sind.
(„Mein Arzt hat mir Medikamente genommen, So kommt es zu masum im Beruf leistungsmehrere Liter Bier
siven Verleugnungen
am Tag verordnet, für
und Vertuschungen
fähiger zu sein.“
die Nieren“) benutzt,
vor sich selbst und
um das eigene, durch die Abhängigkeit
der Umwelt. Beispiel: jedes Bier sofort
dominierte Verhalten zu rechtfertigen.
bezahlen, damit man nicht wirklich
Dazu gehören oft auch das Relativieren
weiß, wie viel getrunken wurde. Deshalb
und Herunterspielen der konsumierwird Kritik von außen als unangenehm
ten Menge und der Konsumhäufigkeit.
wahrgenommen.
Auch das Gegenteil von Leugnung kann
Craving: Für viele Abhängige muss
l Abstinenzunfähigkeit und
Entzugserscheinungen bei Absetzen,
l Problemflucht.
Suchtmittelkonsum unter Rettungsfachkräften
Die häufigsten Fehlreaktionen
Wenn Kollegen…
…Probleme verheimlichen
…Arbeit übernehmen
…Fehler decken
Wenn Führungskräfte…
…Hinweisen nicht
nachgehen
…dem Thema ausweichen
…Fehlverhalten tolerieren
…Fehltage in
Überstundenfrei
oder Urlaubstage
umwandeln
…den Mitarbeiter
gegenüber Dienstvorgesetzten decken
Wenn der
Personalverantwortliche…
…Hinweisen nicht
nachgeht
…mit unrealistischen
Konsequenzen droht
…angekündigte
Konsequenzen
nicht einhält
Wenn der Betriebsrat…
…versucht, den Mitarbeiter
vor möglichen Konsequenzen zu schützen
…sich als Arbeitnehmervertreter zu Solidarität
mit dem Suchtverhalten
hinreißen lässt
In Anlehnung an: Baumann, H. (2014): Umgang mit auffälligen Beschäftigten im Betrieb
(Präsentation der Lukas-Werk Gesundheitsdienste GmbH, Fachambulanz Goslar)
ICD-10-Klassifikation nach Substanzen
ICD
F10.2
F11.2
F12.2
F13.2
F14.2
F15.2
F16.2
F17.2
F18.2
F19.2
Abhängigkeitssyndrom: Psychische und Verhaltensstörungen durch…
…Alkohol
…Opioide
…Cannabinoide
…Sedativa oder Hypnotika
…Kokain
…andere Stimulanzien, einschließlich Koffein
…Halluzinogene
…Tabak
…flüchtige Lösungsmittel
…multiplen Substanzgebrauch und Konsum anderer psychotroper Substanzen
Quelle: ICD-10 online (WHO-Version 2012)
die Befriedigung des Verlangens nach
der Substanz (engl. Craving) möglichst
sofort erfolgen. Vergangenheit und Zukunft verlieren häufig ihren bedeutungsgebenden Einfluss auf die Gegenwart.
Zukunftsplanung reduziert sich oft zunehmend auf die Organisation der Abhängigkeit. Die Lebenseinstellung der
Erkrankten wird in vielen Fällen in übermächtiger Weise augenblickszentriert.
Doppelleben: Sind entsprechend feste
Strukturen im Leben vorhanden wie eine Arbeit, kann es vorkommen, dass Abhängige jahrelang nicht auffallen oder
ein Doppelleben führen. Das Handling
kann die Reduktion, das Verbergen oder
der Verzicht auf die Suchtmittel zu bestimmten Begebenheiten umfassen. So
erscheint der Betroffene nach außen als
gesund.
Die Abhängigen haben ihre Krankheit
unter erheblichem Kontrollaufwand in
ihren Alltag integriert. Klassische Beispiele dafür sind die so genannten Pegeltrinker oder Ärzte mit Morphinabhängigkeit. Eine Funktionseinschränkung
kann ohne weiteres zunächst nicht festgestellt werden. Riskant ist die Thematik
allerdings zum Beispiel beim Bedienen
von gefährlichen Maschinen – oder der
Verantwortung für Menschenleben.
Verlagerung der Abhängigkeit: Um
„in der Gesellschaft weiterhin zu funktionieren“, wird zum Teil viel Disziplin
aufgebracht und oft extreme Kraftanstrengungen gemeistert. So wird der
Konsum zum Beispiel eingeschränkt
oder das von der Abhängigkeit gesteuerte Verhalten den Erfordernissen des
Alltags zeitweise angepasst. Betroffene verlagern dann die Abhängigkeit
auf eine andere Substanz. Fachleute
sprechen hier von einer Abhängigkeitsverlagerung. Oder es kommt zu einer
Polytoxikomanie. Hierbei nutzen die
Betroffenen weitere Substanzen, sodass
eine Abhängigkeit von mehreren Substanzen entsteht.
Gesellschaftlich anerkannte Arbeit
kann in Form von Workaholic als
Deckmantel dienen, um einen „Kick“
zu bekommen, während in der Freizeit
ein anderer „Suchtmechanismus“ gelebt
wird.
Im Falle eines beobachteten oder vermuteten Suchtmittelmissbrauchs am
Arbeitsplatz sind sich Kollegen und
Führungskräfte unsicher, wie sie damit
umgehen können. Sie wollen nicht, dass
ihre eigene Fürsorge für einen Kollegen
oder Mitarbeiter als üble Nachrede verstanden wird. Oftmals entstehen Gewissenskonflikte. Es besteht die Sorge,
etwas falsch zu machen.
Fehlreaktionen im Umfeld
Viele wollen helfen, ohne den Kollegen oder Mitarbeiter bloßzustellen. Sie
wollen sich nicht verantwortlich fühlen
müssen für etwaige Konsequenzen. Die
Gefahr ist jedoch, aus falsch verstandener Fürsorge nichts zu sagen, den Kollegen zu „decken“ und sich damit zum
„Co-Abhängigen“ zu machen.
Es stellt sich letztlich die Frage, was
das höhere Gut ist: Das vertrauliche
Verhältnis zum Kollegen? Oder die Sicherheit und Gesundheit von Kollegen
und Patienten?
Sowohl das Arbeitsschutzgesetz als
auch die Vorschrift BGV A1 (Gewerbliche Berufsgenossenschaften) und GUV
V A1 (Gemeindeunfallversicherung)
zeigen in diesem Zusammenhang den
rechtlichen Rahmen auf.
Vereinfacht zusammengefasst heißt
es dort: Arbeitnehmer verpflichten sich,
am Arbeitsplatz punktnüchtern und
nicht unter Einfluss von Drogen zu stehen. Arbeitgeber haben die Verpflichtung, auf die Einhaltung dieser Regelung zu achten und dies gegebenenfalls
zu kontrollieren.
Irrtümlicherweise wird immer wieder
das Thema „Sucht“ zum Gegenstand
betrieblicher Interventionen gemacht.
Es ist jedoch wichtig zu berücksichtigen,
dass nicht das Thema „Sucht“ an sich
Gegenstand betrieblicher Interventionen
ist, sondern…
…die Arbeit unter dem Einfluss von
Drogen und die damit verbundenen
Auswirkungen und Gefahren,
…die Verletzung von berufsständischen,
arbeitsrechtlichen und haftungsrelevanten Regeln und Standards sowie
…die Fürsorge seitens des Arbeitgebers
bzw. der Dienstvorgesetzten und Personalverantwortlichen.
Somit geht es auch nicht darum, dass
Vorgesetzte oder Betriebsräte eine DiRettungs-Magazin
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▶
Praxis
agnose stellen und „Sucht erkennen“
müssten. Gesprächsgegenstand ist vielmehr die Sorge um den betroffenen
Mitarbeiter und die daraus resultierende
notwendige Veränderung. Dies betrifft
die Wiedererlangung der Arbeitsfähigkeit des Betroffenen und Sicherstellung
der betrieblichen Abläufe.
Wenn Vorgesetzten der Gedanke an
kritischen Suchtmittelkonsum oder
-missbrauch kommt oder sie vonseiten
der Kollegen eines Betroffenen Kenntnis davon erhalten, besteht Handlungsbedarf. Es gilt, diesen Verdacht oder
Hinweis ernst zu nehmen und auszusprechen. Meistens kommen diese Gedanken oder Hinweise „nicht einfach
so“. Die Vorgesetzten müssen auf einer
Veränderung des Status Quo bestehen
und sollten dem Betroffenen Unterstützung anbieten.
Wichtig ist: Die Fürsorge am Arbeitsplatz schuldet den Versuch, nicht
den Erfolg! Am Ende ist der Betroffene
selbst verantwortlich für sein Tun und
Handeln.
Rückspiegelung von wahrgenommenen
Veränderungen beim betreffenden Mitarbeiter. Andererseits hat sie das Ziel,
ein bedarfsgerechtes Hilfsangebot zu
übermitteln. Sie hat demnach keinen
disziplinarischen Charakter.
Bei wiederholter Vernachlässigung
arbeitsvertraglicher Pflichten oder Stö-
Frühinterventionen
Bei Auffälligkeiten am Arbeitsplatz,
die zu Störungen im Arbeitsablauf und
Umfeld führen (können), ist es sinnvoll, mit dem betreffenden Mitarbeiter
ein Fürsorgegespräch zu führen. Darin
wird dem Beschäftigten frühzeitig signalisiert, dass er Unterstützung vonseiten
des Arbeitgebers bzw. des Vorgesetzten
erhalten kann, wenn er das wünscht.
Das Gespräch soll der Verfestigung einer Problemsituation und einer unpassenden Bewältigung durch möglichen
Suchtmittelkonsum vorbeugen. Diese
Gesprächsform dient einerseits der
rungen im Arbeitsablauf und -umfeld
wird ein Klärungsgespräch geführt. Dabei werden die Pflichtverletzungen in
Zusammenhang mit gesundheitlichen
oder sozialen Problemen des Beschäftigten zur Sprache gebracht, bei denen
Suchtmittelkonsum oder suchtbedingtes
Verhalten nicht ausgeschlossen werden
Ein Joint zum Entspannen nach dem Einsatz? Im Falle eines beobachteten oder vermuteten
Suchtmittelmissbrauchs am Arbeitsplatz sind sich Kollegen und Führungskräfte oft unsicher,
wie sie damit umgehen sollen.
Beispielstufenplan*
Stufe I
Stufe II
Stufe III
Stufe IV
Stufe V
Erstgespräch
direkter Vorgesetzter &
betroffener Mitarbeiter
nach 4-8 Wochen
direkter Vorgesetzter,
betroffener Kollege,
Personalchef, Betriebsrat*
*wenn vom Betroffenen
gewünscht
nach 4-8 Wochen
direkter Vorgesetzter,
betroffener Kollege,
Personalchef, Betriebsrat
nach 4-8 Wochen
direkter Vorgesetzter,
betroffener Kollege,
Personalchef, Betriebsrat
nach 4-8 Wochen
direkter Vorgesetzter,
betroffener Kollege,
Personalchef, Betriebsrat
kein Eintrag in die
Personalakte,
Beobachtung,
Empfehlung
Hilfsangebote
Eintrag in die
Personalakte,
Aufforderung,
Hilfsangebote in
Anspruch zu nehmen
1. Abmahnung
2. Abmahnung
Kündigungsverfahren
* orientiert an Vorlagen der Deutschen Hauptstelle Sucht
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Suchtmittelkonsum unter Rettungsfachkräften
kann. Zielsetzung des Klärungsgesprächs ist es,
Der Leitfaden muss allen Beschäftigten
bekannt sein.
Der Stufenplan sieht in Abhängigkeit
1. eine Rückmeldung zu den
zur
Größe eines Betriebes eine Abfolge
Auffälligkeiten zu geben,
von vier bis fünf Gesprächen vor. An2. die Erwartungen an das künftige
lass für die Einleitung der Intervention
Verhalten zu benennen und
mit Stufengesprächen ist immer, dass
3. konkrete Schritte zu vereinbaren
bei Auffälligkeiten von Beschäftigten
sowie
am Arbeitsplatz Hinweise auf riskan4. konkrete Beratungs- und
ten Suchtmittelgebrauch oder suchtbeUnterstützungsangebot aufzuzeigen.
dingtes Verhalten vorliegen, denen ein
Verstoß gegen arbeitsvertragliche bzw.
Vorgehen in der akuten Situation
dienstrechtliche Pflichten oder deren
Bei dem Verdacht, dass Beschäftigte
Vernachlässigung zugrunde liegt.
unter Einfluss von berauschenden MitZiel der Interventionskette ist es, die
teln stehen, sollte der Betreffende vonErfüllung der Pflichten des Arbeitnehseiten der Kollegen darauf angespromers aus dem Arbeitsvertrag bzw. dem
chen werden. Sofern der unter Verdacht
Dienstvertrag wiederherzustellen. Dem
stehende Kollege sich nicht selbst als arBeschäftigten wird konkrete Unterstütbeitsunfähig meldet, muss der Verdacht
zung offeriert, und er wird auf externe
seitens der Mitarbeiter unverzüglich
Hilfeangebote aufmerksam gemacht.
dem Vorgesetzten mitIm Durchlauf mehrerer
„Die Fürsorge am
geteilt werden. Dieser
Stufen wird eine Rückmuss entscheiden, ob
meldung auf positive
Arbeitsplatz
der Beschäftigte seine schuldet den Versuch, Verhaltensänderungen
Arbeit fortsetzen kann.
gegeben und diese wird
nicht den Erfolg!“
Dies gilt auch für den
gewürdigt. Es ist aber
durch die eigene Beobachtung des Vorauch vorgesehen, Sanktionen einzuleigesetzten entstehenden Verdacht.
ten, sofern erneute Pflichtverletzungen
Kriterium für die möglicherweise darsichtbar werden.
auf folgende Entscheidung, Beschäftigte
Verhalten in der Praxis
vom Arbeitsplatz zu entfernen, ist der so
genannte „Beweis des ersten Anscheins“
Im Umgang mit Suchtmittelkonsum
und die allgemeine Lebenserfahrung
und -missbrauch bedarf es aufgrund der
des Vorgesetzten. Der Vorgesetzte zieht
verantwortungsvollen Tätigkeit im Retzwecks Beweishilfe mindestens eine weitungsdienst eines gewissenhaften und
tere Person als Zeugen hinzu.
klaren Vorgehens im Falle von AuffälDer Beschäftigte hat die Möglichkeit,
ligkeiten Beschäftigter. Gegenstand besich zum Gegenbeweis einem Test auf
trieblicher Interventionen ist nicht die
Suchtmittelgebrauch zu unterziehen.
mögliche Sucht eines Beschäftigten.
Bei Medikamenten kann er sich die EigVielmehr stehen die Arbeit unter dem
nung für die Tätigkeit (betriebs-)ärztlich
Einfluss von Drogen und die damit verbestätigten lassen.
bundenen Auswirkungen und Gefahren
Wird der Beschäftigte nach Hause
sowie die Verletzung von berufsständientlassen, trägt die Dienststelle die Verschen, arbeitsrechtlichen und haftungsantwortung für den sicheren Heimweg.
relevanten Regeln sowie Standards im
Der Betroffene hat die Kosten des HeimMittelpunkt.
transports zu tragen.
Liegt Suchtmittelmissbrauch oder
Ist der Beschäftigte durch eigenes
-konsum am Arbeitsplatz vor, ist folVerschulden an seiner Dienstleistung
gendes zu tun:
verhindert, besteht für die ausgefallene
Vorgesetzte und PersonalverantwortArbeitszeit kein Anspruch auf Bezüge.
liche: Die Fürsorge von Vorgesetzten
und Personalverantwortlichen erfordert
Interventionsleitfaden
ein Handeln, das neben dem Wohl des
Im Umgang mit möglichen VerhaltensBetroffenen auch das Wohl des gesamauffälligkeiten im Kontext von Suchtten Betriebes im Blick behalten muss.
mittelmissbrauch und stoffgebundenem
Es sollte dem eigenen Verdacht sowie
Suchtverhalten am Arbeitsplatz bietet
Hinweisen von Beschäftigten nachein Interventionsleitfaden nach einem
gegangen werden. Bei Auffälligkeiten
Stufenplan Orientierung und Sicherheit.
muss ein Fürsorgegespräch geführt,
bei wahrnehmbarer Einschränkung der
Arbeitsfähigkeit der Beschäftigte nach
Hause entlassen werden. In der Folge
sollte nach dem beschriebenen Stufenplan vorgegangen werden.
Beschäftigte: Kollegen des Betroffenen suchen das Gespräch mit diesem.
Sie äußern, sofern der Betreffende sich
selbst nicht als arbeitsunfähig meldet,
ihren begründeten Verdacht gegenüber
ihrem Vorgesetzten. Auch hier gilt es,
zum Wohle des Betroffenen, aber auch
zum Wohle der Patienten und anderen
Kollegen zu handeln.
Eine Betriebsvereinbarung zum Thema Suchtprävention und Umgang mit
Suchtmittelkonsum und -missbrauch
am Arbeitsplatz bietet allen Beschäftigten, Führungskräften und Betriebsräten
die nötige Handlungsorientierung und
entlastet den Einzelnen in seiner Entscheidung.
Unser Autor: Michael Steil, Diplom Theologe,
Notfallpsychologe und Rettungsassistent,
Institutsleitung Institut für Human
Resources – www.ihr-institut.de,
Vorstand Netzwerk PSNV –
www.netzwerk-psnv.de (Text)
Markus Brändli (Fotos)
Informationen
l Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (www.dhs.de und www.suchtam-arbeitsplatz.de); Kontaktadressen
zu bundes- oder landesweit tätigen
Institutionen, den Landesstellen der
DHS und den Verbänden der freien
Wohlfahrtspflege,
l Netzwerk Psychosoziale Notfallversorgung; bietet bundesweit
psychosoziale Unterstützung und
E-Mail-Beratung unter einsatzkraft@
netzwerk-psnv.de für belastete Einsatzkräfte an,
l bundesweite Sucht- und DrogenHotline 01805/313031 – bei Fragen
zum Thema Alkohol, Belastung durch
eigene Alkoholprobleme oder die
Alkoholprobleme von Angehörigen,
Freunden, Mitarbeitern oder Kollegen,
l Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, BZgA-Info-Telefon
0221/892031; persönliche Beratung
und Vermittlung an lokale Beratungsstellen,
l Unfallkasse des Bundes
(www.uk-bund.de)
l Blaues Kreuz Suchthilfeverband
(www.blaues-kreuz.de/)
Rettungs-Magazin
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