30 Jahre Schengener Abkommen - Rede von Martin

President des Europäischen Parlaments Martin Schulz
30 Jahre Schengener Abkommen - Rede von Martin Schulz, Präsident des
Europäischen Parlaments
Schengen
13-062015
Sehr geehrter Herr Premierminister Xavier Bettel,
Sehr geehrter Herr Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker,
Sehr geehrter Herr Bürgermeister Ben Homan,
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich bin sehr froh, heute hier bei Ihnen in Schengen zu sein und mit Ihnen die Unterzeichnung
des Schengener Abkommen vor 30 Jahren feiern zu dürfen. Denn kaum etwas verkörpert für
mich so sehr die Errungenschaften der europäischen Einigung wie die offenen Grenzen.
Schengen liegt, wie meine Heimatstadt Würselen auch, in einem Dreiländereck. Für uns alle, die
wir in einer solchen Grenzregion aufgewachsen sind, war die Erfahrung mit Grenzen prägend.
Ich bin überzeugt: diese Erfahrung hat uns zu so etwas wie Instinkteuropäern gemacht. Weil wir
immer gespürt haben, dass diese Grenzen brutal trennen, was eigentlich zusammen gehört.
In einer Nachbarstadt von Würselen gibt es eine Straße. Auf Deutsch heißt sie Neustraße in
Herzogenrath. Auf Holländisch Niewstraat in Kerkrade. Über die Jahrhunderte waren
Herzogenrath und Kerkrade zu einer Stadt zusammengewachsen. Die Straße verband
Menschen miteinander. Doch dann kam der Wiener Kongress und die 2 km lange Straße wurde
zur Staatsgrenze zwischen Deutschland und den Niederlanden erklärt. Die Stadt war von nun an
geteilt. Zunächst durch einen Zaun. Später auch durch eine Mauer.
Doch die menschlichen Verbindungen ließen sich nicht so einfach kappen. In Notzeiten wurden
Freunde und Verwandte weiterhin mit Essen versorgt. Man mag das Schmuggel nennen. Oder
einfach tatkräftige Solidarität.
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Erst 1993 erfüllte sich der Wunsch der Menschen auf beiden Seiten: die Straße, die solange
Grenze war, verband endlich wieder Menschen Die Städte konnten wieder zusammenwachsen.
Zu verdanken hatten die Menschen das der leisen Revolution, die am 14. Juni 1985 hier in
Schengen angestoßen wurde. Europa, das sollte nicht mehr nur der freie Verkehr von Waren,
Kapital und Dienstleistungen sein. Europa, das war von nun an auch die Freizügigkeit von
Menschen. Jeder sollte in Europa studieren, arbeiten und leben, wo er will!
Nur vier Jahre später, 1989 rissen mutige Männer und Frauen weitere Grenzen in Europa
nieder. In diesem "Jahr der Wunder" entflammte der Funke der Freiheit ganz Europa.
Die Solidarnosc stürzte das polnische Regime.
Die Ungarn zerschnitten den Stacheldrahtzaun an der Grenze mit Österreich, der Eiserne
Vorhang wurde durchlässig.
Von Vilnius über Riga bis Tallinn standen fast zwei Millionen Menschen Hand in Hand und
sangen sich der Unabhängigkeit entgegen.
Mutige Männer und Frauen rissen, "Wir sind das Volk!" rufend, die Berliner Mauer nieder.
Eine Mauer, die Familien trennte, ein Mauer, die ein Volk in Ost und West teilte, eine Mauer, die
Europa willkürlich entzwei riss.
1989 war das Jahr der Freiheit.
Zu den wirkmächtigsten Bildern dieses Jahres - Bilder die keiner von uns je vergessen wird gehören die Bilder, wie Menschen Grenzen überwanden:
Schlagbäume wurden geöffnet, Grenzposten überrannt, Zäune erklommen, Mauern
niedergerissen - in einer friedlichen Revolution.
Kein Panzer rollte. Kein Schuss fiel. Kein Blut floss.
Seine Erfüllung fand dieses Freiheitsjahr mit dem "Big Bang" der Osterweiterung 2004 - die
Wiedervereinigung Europas, die Rückkehr der zentral- und mitteleuropäischen Völker in die
Mitte Europas. Die Freiheit wurde grenzenlos in Europa.
Ein Menschheitstraum ist in Erfüllung gegangen: Wir Europäerinnen und Europäer können uns
frei in diesem Europa bewegen.
Die Grenzen, für deren Verlauf in der Vergangenheit blutige Kriege geführt wurden;
die Grenzen, die Familien brutal entzwei rissen,
die Grenzen, an denen vor nicht allzu langer Zeit Menschen bei dem Versuch sie zu überwinden
starben, gibt es nicht mehr. Wir haben diese Grenzen überwunden.
Doch, meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn wir heute,
30 Jahre nachdem wir mit dem Schengener Abkommen unsere Binnengrenzen öffneten;
25 Jahre nachdem wir die Berliner Mauer niederrissen und den Eisernen Vorhang bezwangen,
wenn wir ein Jahrzehnt nach der Osterweiterung,
eine unheimliche Wiederkehr der Grenzen in Europa erleben, dann bestürzt mich das.
Wie leichtfertig wird mit der Wiedereinführung von Grenzen innerhalb Europas geliebäugelt!
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Und wie viele Menschen sterben fast täglich an unseren Außengrenzen bei dem Versuch nach
Europa zu gelangen!
Was für eine Geschichtsvergessenheit! will man jenen entgegenrufen, die unsäglich
populistische Debatten anzetteln. Einen Ansturm sogenannter Armutsmigranten auf die
Sozialkassen prophezeien. Und dabei Fakten verdrehen. Und die Wahrheit verfälschen.
Und wegen sicherlich lösbarer Probleme wieder Grenzen in Europa hochziehen wollen.
Ich bin stolz, dass das Europäische Parlament sich den Attacken der damaligen
Regierungschefs Sarkozy und Berlusconi auf Schengen in den Weg stellte. Und dass wir diese
Chance nutzten, um Schengen endlich mehr zu vergemeinschaften.
Deshalb müssen die Staaten jetzt auch die gemeinsamen Regeln genauer anwenden.
Das ist wichtig, denn die berechtigten Sorgen und tatsächlich entstehenden Probleme können
mit den existierenden Regeln gelöst werden. Aber wer Hand an die Freizügigkeit legen will, der
legt Hand an die europäische Einigung. Das ist antieuropäische Hetze! Mit mir ist das nicht zu
machen. Die Freizügigkeit ist nicht verhandelbar!
Sehr geehrte Damen und Herren,
aber auch nach außen will so mancher Grenzen verfestigen, Europa gar zur Festung ausbauen.
Populisten skandieren: „Das Boot ist voll. Macht die Schotten dicht. Lasst niemanden herein.“
Das Mittelmeer ist bereits heute die tödlichste Grenze der Welt.
5000 Menschen sind im vergangenen Jahr auf dem Weg nach Europa ertrunken.
Sie flohen aus ihrer Heimat vor Krieg und Verfolgung, Hunger und Armut.
In der Hoffnung, Schutz in Europa zu finden, begaben sie sich in die Hände skrupelloser
Seelenfänger, die Kapital aus der Not von Menschen schlagen. Doch sie fanden nur den Tod.
Die Menschlichkeit gebietet es, Ertrinkenden die rettende Hand zu reichen. Die Seenotrettung
muss deshalb unsere höchste Priorität sein.
Wir müssen aber eben auch die Herausforderung annehmen, die sich aus der Freizügigkeit im
Inneren ergibt: das Management unserer Außengrenzen ist unsere gemeinsamen Aufgabe. Die
Freizügigkeit nach innen und die Verantwortung für die Außengrenzen sind zwei Seiten
derselben Medaille! Dieser Herausforderung müssen wir uns stellen. Auch um nicht Populisten
in die Hände zu spielen, die die Uhr zurückdrehen wollen!
Deshalb: die europäische Solidarität gebietet es, die Mittelmeeranrainer bei der Rettung und
Aufnahme von Flüchtlingen zu unterstützen. Die europäische Solidarität gebietet es aber auch,
dass wir endlich europäische Quoten für die Verteilung von Flüchtlingen einführen.
Derzeit geht die überwältigende Mehrheit der Asylbewerber in nur wenige Länder. Die EU hat
aber 28 Mitgliedsstaaten. Dieses System ist unfair. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker
hat hier einen wichtigen und richtigen Vorschlag gemacht, den das Europäische Parlament voll
und ganz unterstützt!
Sehr geehrte Damen und Herren,
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Seit 20 Jahren haben wir zwar die Freizügigkeit nach innen - aber keine echte europäische Asylund Migrationspolitik!
Seit 20 Jahren scheitert der Versuch effektive und humane Lösungen in der Migrationsfrage zu
finden am Egoismus einzelner nationaler Regierungen.
Wir brauchen in Europa endlich einen dreigliedrigen Ansatz.
Erstens, ein System des temporären Schutzes für Flüchtlinge, die vor Krieg und Gewalt fliehen,
aber sobald Frieden in ihre Heimat einkehrt dorthin zurückkehren wollen. Etwa Menschen aus
Syrien. Bislang haben wir fünf Prozent aller syrischen Flüchtlinge aufgenommen. Libanon, ein
Land mit fünf Millionen Einwohnern beherbergt eine Million syrische Flüchtlinge. Ich muss
sagen: das beschämt mich.
Zweitens, brauchen wir ein System der legalen Einwanderung, wie es auch andere Regionen
haben: die Vereinigten Staaten, Kanada oder Neuseeland. Ein System mit klaren Regeln, wer
kommen darf, und wer nicht; mit klaren Kriterien, die sich nach unserem ökonomischen und
gesellschaftspolitischen Bedarf richten.
Drittens, brauchen wir auch weiterhin ein System des politischen Asyls. Aber ein Asylsystem,
dass sich nicht länger mit Menschen beschäftigen muss, die vor Krieg fliehen oder eine Arbeit in
Europa suchen - denn dafür war es ja auch nie vorgesehen; sondern politisch verfolgten
Menschen Asyl bietet.
Sehr geehrte Damen und Herren,
wir stehen vor der Frage, in was für einem Europa wir eigentlich leben wollen.
Wenn wir in einem Europa leben wollen, dass solidarisch, human und effektiv mit der
Migrationsfrage umgeht, dann brauchen wir endlich eine echte europäischen Asyl- und
Migrationspolitik. Und dann wären wir gut beraten, den skizzierten Dreischritt zu gehen.
Wenn wir in einem Europa leben wollen, in dem es keine Europäer erster und zweiter Grenze
gibt, in dem sich keine langen Schlangen an den Grenzen bilden, weil Menschen wieder ihre
Pässe vorzeigen müssen, indem Unternehmen keine wirtschaftlichen Verluste einfahren, weil
die Freizügigkeit von Waren, Kapital und Dienstleistungen eingeschränkt wird, dann sollten wir
Schengen schätzen und schützen.
Es erfordert großen Mut, Grenzen zu öffnen und Mauern nieder zu reißen. Lassen wir es nicht
zu, dass jetzt aus Angst neue Grenzen und Mauern errichtet werden.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Für weitere Informationen:
[email protected]
Armin Machmer
Spokesperson
+32 479 97 11 98
Kirsten Wolfrat
Press assistant
[email protected]
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