TOP-THEMA VERTRETER IM AUSSENDIENST Handelsreisender oder Agent? Viele Unternehmen nutzen für den Vertrieb ihrer Produkte Vertreter, welche die Beziehungen zum Kunden aufbauen und pflegen. Oft ist unklar, ob diese Vertreter als Handelsreisende und damit als Arbeitnehmer oder als selbstständige Agenten anzusehen sind. Die wichtigsten Unterscheidungskriterien. Von Romina Carcagni Roesler, Fachanwältin SAV Arbeitsrecht Wirtschaftlich betrachtet, haben der Agent und der Handelsreisende dieselbe Funktion: Beide sind als Vertreter des Unternehmens mit der Kundenakquisition und -pflege betraut. Rechtlich gesehen, besteht aber ein wesentlicher Unterschied: • Der Agent ist selbstständiger Dienstleister und untersteht den Bestimmungen von Art. 418a ff. OR; • Der Handelsreisende ist Arbeitnehmer und untersteht den Bestimmungen von Art. 347 ff. OR. Fehlqualifikation birgt Risiken Der Handelsreisende profitiert als Arbeitnehmer von einem deutlich höheren Sozialschutz als der Agent (z.B. bezahlte Ferien, grosszügigere Lohnfortzahlung, Kündigungsschutz, Versicherungsschutz). Wird ein vermeintlicher Agent nachträglich vom Gericht als Handelsreisender qualifiziert, kann dies das Unternehmen deshalb teuer zu stehen kommen. Es kann aber auch vorkommen, dass der Vertreter ein Interesse an der Qualifikation als Agent hat; dies, wenn er Ansprüche geltend macht, die nur das Agenturrecht kennt (z.B. eine Karenzentschädigung für ein nachvertragliches Konkurrenzverbot nach Art. 418d Abs. 2 OR oder eine Kundschaftsentschädigung nach Art. 418u OR). Februar bis Dezember 2009 für die X AG tätig gewesen. Die Parteien hatten folgende Leistungen an Z vereinbart: • bis zu 10 Prozent Provision auf Verkäufen • Entschädigung für Bürokosten von CHF 1600.– pro Monat • Kreditkarte zur Deckung von Benzinkosten Während seiner Tätigkeit berichtete Z der X AG über 34 Besuche und Gespräche mit Kunden. Daraus resultierten schliesslich fünf Bestellungen. Nachdem Z im November 2009 auf Kontaktversuche der X AG nicht reagiert hatte, kündigte die X AG den Vertrag im Dezember 2009 fristlos. Z klagte hierauf auf Bezahlung von Provisionen, Spesenentschädigungen und Entschädigung wegen ungerechtfertigter fristloser Kündigung. Die kantonalen Gerichte qualifizierten Z als Handelsreisenden (und damit als Arbeitnehmer) und sprachen ihm insgesamt rund CHF 29 000.– zu. Da die Funktion des Agenten und des Handelsreisenden dieselbe ist und beide – im Vergleich zum «normalen» Arbeitnehmer – über grosse Autonomie in der Arbeitsausführung verfügen, ist die Grenzziehung in der Praxis oft schwierig. Dies zeigt auch der jüngste Entscheid des Bundesgerichts zu diesem Thema, BGE 4A_86/2015 vom 29. April 2015. Die X AG erhob Beschwerde beim Bundesgericht. Sie rügte vor allem, zwischen den Parteien sei zu Unrecht ein Arbeitsverhältnis bejaht worden; tatsächlich liege ein Agenturvertrag vor. Zur Begründung brachte sie vor, dass Z (i) nur ungenügende Tätigkeitsberichte und nur sehr wenige Bestellungen generierte, (ii) seine Arbeitszeit völlig frei und nach seinem Gutdünken organisieren konnte und (iii) während seiner Tätigkeit für die X AG Arbeitslosengelder erhielt und der Arbeitslosenkasse seine Tätigkeit nicht meldete. Insgesamt sei die Verbindung zwischen den Parteien zu lose gewesen, um ein arbeitsrechtliches Subordinationsverhältnis zu begründen. Bundesgerichtsentscheid vom 29.4.2015 Das Bundesgericht hatte zu entscheiden, ob die X AG mit ihrem Vertreter Z in einem Arbeits- oder Agenturverhältnis stand. Z war von Subordination als Abgrenzungskriterium Das Bundesgericht wies diese Argumente ab und bejahte wie die Vorinstanz das Vorliegen eines Arbeitsvertrags. Es stellte zunächst all- 8 ARBEITSRECHT NEWSLETTER 01 gemeine Überlegungen zur Abgrenzung Agent/ Handelsreisender an: Agent und Handelsreisender vertreten beide das Unternehmen gegenüber den Kunden. Aus dieser Funktion allein kann deshalb noch nicht auf den einen oder anderen Vertragstyp geschlossen werden. Entscheidend für die rechtliche Qualifikation des Vertragsverhältnisses ist das Kriterium der Subordination: Steht der Vertreter zum Unternehmen in einem Subordinationsverhältnis, liegt ein Handelsreisendenvertrag vor. Liegt hingegen kein solches Subordinationsverhältnis vor, ist der Vertreter als selbstständiger Agent anzusehen. Wann liegt ein Subordinationsverhältnis vor? Auf ein Subordinationsverhältnis deuten im Allgemeinen folgende Umstände: • Vorgaben des Unternehmens zur Arbeitsorganisation und Arbeitszeit des Vertreters; • Integration des Vertreters in der Hierarchieordnung des Unternehmens; • strenge Weisungsgebundenheit des Vertreters, verbunden mit der Pflicht, periodisch Bericht zu erstatten, eine bestimmte Mindestzahl von Kunden zu besuchen oder einen gewissen Mindestumsatz zu erwirtschaften; • Entschädigung des Vertreters für regelmässige, mit seiner Tätigkeit verbundene Auslagen. Der Handelsreisende hat einen zwingenden Anspruch auf Spesenersatz (Art. 327a i.V.m. Art. 355 OR), während beim Agenten eine solche Entschädigung nur geschuldet ist, wenn dies vereinbart wird (Art. 418n OR). Solche Vereinbarungen zugunsten des Agenten sind in der Praxis nicht verbreitet und können auf ein Subordinationsverhältnis deuten. All diese Umstände sind lediglich Indizien für das Vorliegen eines Handelsreisendenvertrags. Das Gericht muss stets sämtliche Umstände des Einzelfalls berücksichtigen. Im konkreten Fall des Vertreters Z anerkannte das Bundesgericht zwar, dass Z nur in sehr geringem Umfang für die X AG tätig gewesen war und seine Arbeit frei gestalten konnte. Gleichwohl lag nach Meinung des Gerichts ein Arbeitsverhältnis vor, denn: • Umfang und Qualität der Arbeit sind nicht massgebend, um den Agenten vom Handelsreisenden zu unterscheiden; • wie und ob Z seine Tätigkeit gegenüber Dritten (Arbeitslosenkasse) deklariert hat, ist irrelevant; • Z musste der X AG über seine Tätigkeit Bericht erstatten; und DEZEMBER 2015 / JANUAR 2016 TOP-THEMA VERTRETER IM AUSSENDIENST Heikle, aber wichtige Frage: Ist dieser Aussendienstmitarbeiter rechtlich als Agent oder als Handelsreisender einzuordnen? • Z erhielt eine monatliche Pauschalentschädigung von CHF 1600.– für Bürokosten. Diese Kosten würde ein Agent üblicherweise selbst tragen. Zudem sei die Entschädigung sehr hoch. Es sei deshalb denkbar, dass es sich nicht um eigentlichen Spesenersatz, sondern um ein festes Gehalt eines Handelsreisenden handle (vgl. Art. 349a Abs. 1 OR). Im Zweifel für den Handelsreisenden Das Ergebnis des Bundesgerichtsentscheids ist nachvollziehbar, doch nicht ohne Weiteres zwingend. Das Bundesgericht räumte selbst ein, dass der Fall «gewisse Zweideutigkeiten» aufweise. Dies vor allem darum, weil Z seine Tätigkeit nach eigenem Gusto organisieren und gestalten konnte und weder organisatorisch noch hierarchisch in die X AG integriert war. Dies deutet auf eine selbstständige Tätigkeit hin. Auch der Umstand, dass Z Bericht erstatten musste, spricht nicht ohne Weiteres für einen Handelsreisendenvertrag. Auch mit einem Agenten kann eine Berichterstattungspflicht vereinbart werden. Immerhin: Die Tatsache, dass Z über jede Tätigkeit berichtete und nicht nur über Geschäftsabschlüsse, deutet doch eher auf einen Handelsreisendenvertrag. Ausschlaggebend war wohl die hohe monatliche Spesenentschädigung, welche die ARBEITSRECHT NEWSLETTER 01 X AG dem Vertreter Z bezahlte. Eine solche Entschädigung ist für einen Agenten unüblich und könnte tatsächlich ein verdecktes Gehalt darstellen. Mit diesem jüngsten Entscheid ist für die Praxis wenig gewonnen: Die Rechtsunsicherheit bleibt gross. Es gibt keine abschliessende Checkliste, mit der man Vertreter in die Kategorie Agent oder Handelsreisender einordnen könnte. Massgebend ist immer die Würdigung sämtlicher Umstände durch das urteilende Gericht. Nur eines ist klar: Im Zweifel entscheiden die Gerichte zugunsten des höheren Sozialschutzes und damit für die Qualifikation als Handelsreisender. Vertragliche Voraussetzungen Gegenüber dem «normalen» Arbeitnehmer zeichnet sich der Handelsreisende dadurch aus, dass er überwiegend im Aussendienst tätig ist, also mehr als 50 Prozent seiner Arbeitszeit ausserhalb des Betriebs arbeitet, um auf fremde Rechnung Geschäfte abzuschliessen oder zu vermitteln. Beim Arbeitgeber muss es sich um ein nach kaufmännischen Grundsätzen geführtes Gewerbe handeln, also um einen Betrieb, der im Handelsregister eingetragen werden muss (Art. 347 OR). Sind diese Voraussetzungen erfüllt, liegt der «besondere» Arbeitsvertrag eines Handelsrei- senden vor, welcher den Regeln der Art. 347– 350a OR folgt (ergänzt durch die allgemeinen arbeitsvertraglichen Vorschriften von Art. 319 ff. OR). Erwähnenswert sind insbesondere folgende Punkte: 1. Schriftlicher Arbeitsvertrag Der Arbeitsvertrag muss schriftlich vereinbart werden (Art. 347a OR). Das gilt insbesondere für die Dauer und die Beendigung des Arbeitsverhältnisses, die Vollmacht des Handelsreisenden sowie die Vergütung und den Spesenersatz. Mündliche Abreden hierzu sind unwirksam und irrelevant. Fehlt eine schriftliche Vereinbarung zu diesen Punkten, werden die gesetzlichen Regeln oder die Übung in der betreffenden Branche angewandt. Mündliche Abreden sind nur bindend, soweit sie den Beginn der Arbeitsleistung oder die Art und das Gebiet der Reisetätigkeit regeln oder weitere Bestimmungen vorsehen, die dem Gesetz und dem schriftlichen Vertrag nicht widersprechen. 2. Angemessenes Entgelt Die Vereinbarung, dass der Handelsreisende vorwiegend oder ausschliesslich mit einer Provision entschädigt werden soll, ist gültig, sofern dies schriftlich verabredet ist und daraus ein angemessenes Entgelt resultiert (Art. 349a Abs. 2 OR). Nur während einer Probezeit von höchstens zwei Monaten kann der DEZEMBER 2015 / JANUAR 2016 9 TOP-THEMA VERTRETER IM AUSSENDIENST Lohn frei bestimmt werden. Was angemessen ist, wird im Einzelfall durch richterliches Ermessen bestimmt (möglicher Verdienst in betreffender Branche, Arbeitseinsatz, Ausbildung, Dienstjahre, soziale Verpflichtungen etc.). Diese Sondernorm des Handelsreisendenvertrags gilt übrigens analog auch für «normale» Arbeitnehmer (BGE 139 III 214). Provisionsanspruch bei Vertragsende Bei Vertragsende hat der Handelsreisende Anspruch auf folgende Provisionen (Art. 350a und Art. 339 OR): • Provisionen auf allen vom Handelsreisenden abgeschlossenen und vermittelten Geschäften und • Provisionen auf allen Bestellungen, die bis zum Vertragsende beim Arbeitgeber eingehen. Wann der Arbeitgeber die Geschäfte und Bestellungen genehmigt oder ausführt, ist irrelevant. Er kann den Provisionsanspruch nicht dadurch verhindern, dass er Genehmigungen aufschiebt. Solche «Verzögerungstaktiken» des Arbeitgebers bleiben wirkungslos. Die Provisionen werden grundsätzlich bei Vertragsende fällig (Art. 339 Abs. 1 OR i.V.m. Art. 355 OR). Mit schriftlicher Vereinbarung kann die Fälligkeit der Provision jedoch im Rahmen von Art. 339 Abs. 2 OR auf einen Zeitpunkt nach Beendigung des Arbeitsvertrags verschoben werden. Dahinfallen des Provisionsanspruchs Beim «normalen» Arbeitnehmer wie auch beim Handelsreisenden fällt der Provisionsanspruch nachträglich dahin, wenn das Geschäft vom Arbeitgeber ohne dessen Verschulden nicht ausgeführt wird oder wenn der Kunde den Vertrag nicht erfüllt (Art. 322b Abs. 3 OR). Lehnt der Arbeitgeber das Geschäft also aus sachlichen Gründen ab oder bezahlt der Kunde nicht, ist auch keine Provision geschuldet. Eine bereits bezahlte, nachträglich dahingefallene Provision kann diesfalls zurückgefor- dert oder mit noch offenen Leistungen verrechnet werden. Gilt diese allgemeine Regelung auch bei Vertragsbeendigung des Handelsreisenden, wo die Sondernorm von Art. 350a OR doch ausdrücklich den Provisionsanspruch zugunsten des Handelsreisenden regelt? Die Lehre und die Gerichtspraxis sind sich uneinig: Nach der einen Meinung kann auch beim Handelsreisenden eine Provision gemäss Art. 322b Abs. 3 OR nach Vertragsende dahinfallen. Nach der anderen Meinung steht dem Handelsreisenden bei Beendigung des Vertrags in jedem Fall die Provision nach Art. 350a OR zu; eine Rückforderung der ausbezahlten Provision ist in diesem Fall ausgeschlossen. Das Bundesgericht hat die Frage bislang noch nicht beurteilt. Keine Delkredere-Haftung möglich Die Frage des Dahinfallens des Provisionsanspruchs ist nicht zu verwechseln mit der sogenannten Delkredere-Haftung. Diese betrifft die Frage, ob der Handelsreisende für die Kosten, die dem Arbeitgeber aus unerfüllten Verträgen entstehen, einstehen muss. Können z.B. die Kosten für Betreibung des säumigen Kunden auf den Handelsreisenden überwälzt werden? Muss der Handelsreisende den Schaden, der dem Arbeitgeber aus einer Vertragsverletzung durch den Kunden entsteht, ersetzen? Die Antwort lautet Nein: Abreden, die den Handelsreisenden verpflichten, das sogenannte Delkredere zu übernehmen, sind grundsätzlich nichtig (Art. 348a Abs. 1 OR). Ausnahmen gelten in beschränktem Umfang bei Geschäften mit Privatkunden, wenn dies schriftlich vereinbart ist und der Handelsreisende eine angemessene Delkredere-Provision erhält. In diesem Fall kann sich der Handelsreisende verpflichten, für maximal 25 Prozent des Schadens zu haften (Art. 348a Abs. 2 OR). Besondere Regeln gelten für Versicherungsvermittler (Art. 348 Abs. 3 OR). Arbeitsgesetz nicht anwendbar Der Handelsreisende untersteht dem Arbeitsgesetz nicht (Art. 3 lit. g ArG). Die Vorschriften zur Höchstarbeitszeit, zu Pausen, Nacht- und Sonntagsarbeit oder auch zur Erfassung der Arbeitszeit gelten für diese besondere Kategorie von Arbeitnehmern also nicht. Es besteht auch kein zwingender Anspruch auf Entschädigung von Überzeit. Mit dem Handelsreisenden kann somit eine längere Arbeitszeit vereinbart werden als mit anderen Mitarbeitern. Mit schriftlicher Vereinbarung kann auch eine Entschädigung oder Kompensation von Überstunden ausgeschlossen werden (Art. 321c Abs. 3 OR). Arbeitgeber, die solche «liberaleren» Abreden prüfen, sind jedoch an die Fürsorgepflicht nach Art. 328 OR zu erinnern. Auch der Handelsreisende muss in seiner physischen und psychischen Integrität geschützt werden. Die Arbeitslast darf deshalb auch für diese Arbeitnehmer nicht zu gross sein, sondern muss genügend Erholung und Freizeit ermöglichen. Genaue Prüfung lohnt sich Die rechtliche Einordnung von Verkäufern und Vertretern im Aussendienst ist eine heikle Angelegenheit. So wurden in zahlreichen Gerichtsurteilen vermeintliche Agenten als Handelsreisende qualifiziert, meist mit finanziellen Folgen für den Arbeitgeber. Die gesetzlichen Sonderregeln für den Handelsreisenden sind vielen Unternehmen unbekannt. Gegenüber dem «normalen» Arbeitnehmer bietet dieser Vertragstyp einige Besonderheiten – auch solche, die sich zugunsten des Arbeitgebers auswirken, wie z.B. die Nichtanwendbarkeit des Arbeitsgesetzes. Nicht zuletzt deshalb lohnt sich eine sorgfältige rechtliche Prüfung. AUTORIN Romina Carcagni Roesler, Rechtsanwältin, LL.M. und Fachanwältin SAV Arbeitsrecht, ist in der auf Arbeitsrecht spezialisierten Anwaltskanzlei Blesi & Papa in Zürich tätig. 16. WEKA Arbeitsrecht-Kongress 2016 Mittwoch, 2. März 2016 – Technopark Zürich Frischen Sie Ihr Know-how zum Schweizer Arbeitsrecht auf 10 ARBEITSRECHT NEWSLETTER 01 Gleich anmelden! www.praxisseminare.ch DEZEMBER 2015 / JANUAR 2016
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