Leseprobe - henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag Berlin GmbH

Leon Engler
Das Gefunkel zu meinen Füßen
(c) henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag Berlin GmbH 2015. Als unverkäufliches Manuskript
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»Kurz zu sein strebe ich an und werde dunkel.«
Horaz
Da vorne, da vorne bei der Bushaltestelle, da können wir uns hinsetzen. Dort können wir
eine Weile sitzen, wenn du nicht mehr kannst, wenn deine Beine schwer werden, wenn
deine Augen zufallen, du siehst müde aus. Vielleicht hattest du einen anstrengenden
Tag. Auf der Bank da kann man sich gut ausruhen. Aber wenn kein Bus mehr fährt und
man trotzdem an der Bushaltestelle sitzt, macht man sich verdächtig, da müssen wir
vorsichtig sein, die Leute wissen sofort, was los ist. Sie sind blitzgescheit.
Als ich das letztes Mal dort saß, dachten alle: Der sitzt da, weil er nicht mehr so gut
kann, wie er sollte, er ist ein faules Schwein, sitzt an der Bushaltestelle, aber will
nirgendwo hin. Da an der Bushaltestelle sitzt ein Idiot, ein Bekloppter. Aber ich bin kein
Bekloppter, lass dir nichts erzählen. Wir sind keine Bekloppten. Wenn wir zu zweit dort
sitzen, dann sitzen wir da, weil die Liebe uns fertig gemacht hat, und wer das hört ist
still.
Das Licht der Laternen scheint gelblich und das des Mondes bläulich. Der Mond ist
384.400 Kilometer weit weg. Das Licht braucht vom Mond bis zu uns eins Komma drei
Sekunden. Wir setzen uns jetzt auf die Bank und warten eins Komma drei Sekunden auf
das Mondlicht, keine Sekunde länger, und dann wirds schon wieder gehen. Es geht doch
immer irgendwie, glaube ich zumindest.
Direkt gegenüber fällt eine Tür ins Schloss, Hausnummer 126. Das ist die gleiche Tür wie
bei Hausnummer 128, eine Flügeltür, dunkelgrün lackiert. Hausnummer 126: Das Licht
im Hausflur geht an, ein Paar geht die Treppe hoch. Sie geht vor ihm. Im zweiten Stock
greift er ihr mit der rechten Hand von hinten zwischen die Beine. Sie schreit auf, sagt,
dass er aufhören soll. Hast dus gesehen? Sie sieht sehr schön aus von der Ferne aus
betrachtet, aber nicht so schön wie du, nicht so schön wie du. Ich greife mir an den
Schwanz und merke, dass er hart ist, aber nicht wegen ihr, sondern wegen dir. Wenn wir
zusammen dort sitzen würden, da bei der Bushaltestelle, dann würde es schon wieder
gehen. Niemand wird sich was denken, wenn ich dort mit dir sitze, nachts ist man nun
mal müde, und die Liebenden sind immer doppelt müde, weil sie sich die Nächte immer
um die Ohren hauen, wie man so schön sagt. Darin sind sie Profis. Während der Rest der
Menschheit schläft, beißen sie sich die Lippen blutig und kratzen sich ihre Rücken
wund, da kann man schon mal müde von werden. Zeig mir mal deinen Körper, zeig mir
mal, was du nachts so treibst. Da vorne bei der Bushaltestelle, da können wir uns
hinsetzen, wenn es gar nicht mehr geht. Kurze Pause, um Luft zu holen. Dort kannst du
mir deine Wunden zeigen. Aber wenn dein Rücken zerkratzt ist von irgendwelchen
Fingernägeln, die nicht meine Fingernägel sind, dann lassen wir es lieber. Dann hast du
ja schon jemanden für die Nächte. Mehr als einen braucht man nicht.
Hörst du das? Von irgendwo kommt Musik. Ich glaube, aus einer Wohnung Hausnummer
130. Im zweiten Stock brennt noch Licht. Siehst dus? Vielleicht kommt die Musik von
dort, ja vielleicht von dort, ist schöne Musik. Da spielt einer Klavier, so spät noch. Nur
hässliche Menschen haben die Zeit, so gut in etwas zu werden, dass man sich wundert.
Den schönen Menschen greift eigentlich zu jeder Zeit jemand von hinten zwischen die
Beine, weißt du, wie ich meine? Da kommt man nicht zum Klavierüben. Vor allem nachts
haben die Schönen immer schon was vor, haben immer Termine, um sich ihre Rücken
zerkratzen zu lassen. Im selben Haus steht einer am Fenster und raucht, linke Hand am
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Eisengitter, Dampf vor seinem Gesicht. Der Mann nimmt noch einen Zug von seiner
Zigarette und schnippt sie dann auf die Straße. Die Zigarette fliegt ungefähr zwei Meter
weit und drei Meter tief. Der Mann schließt das Fenster.
Und du kommst aus dem Haus an der Ecke in der Rue Gustave Courbert. Du ziehst die
Haustür zu und biegst in die Pumpstraße. Jetzt läufst du auf der gegenüberliegenden
Straßenseite. Hast es ziemlich eilig, machst große Schritte.
Scheiße. Jetzt war ich kurz unkonzentriert, weil ich über die Flugbahn des
Zigarettenstummels nachgedacht habe. Es war ein waagrechter Wurf, die Kippe flog
parallel zum Horizont, damit vereinfacht sich die Gleichung, der Luftwiderstand bremst
proportional zur Geschwindigkeit im Quadrat. Rechts von mir hustet jemand, das waren
ungefähr dreiundfünfzig Dezibel. Das entspricht dem Geräuschpegel von Regen, heute
wird es nicht mehr regnen, dafür ist es zu kalt, vielleicht schneit es heute Nacht noch,
aber selbst dafür ist es wahrscheinlich zu kalt. Falls es heute Nacht noch schneit, dann
wird der Schnee sehr trocken sein, Pulverschnee, wie man so schön sagt. Damit kann
man keinen Schneemann bauen.
Von dir sehe ich jetzt nur noch den Hinterkopf. Du hast einen schönen Hinterkopf, lange
braune Haare. Du läufst immer schneller, wahrscheinlich musst du irgendwo hin. Soll
ich dich ein Stück begleiten? Das kann hier nachts schon ein bisschen wild werden, vor
allem in den engen dunklen Gassen, da ist es besser, wenn einer da ist, der einen
bringt, verstehst du? Einer, der auch mal zuhauen kann, wenns drauf ankommt. Du
rennst ja fast, vielleicht ist dir kalt, oder du magst es nicht, nachts alleine durch diese
Stadt zu laufen. Komm, ich geh ein Stück mit dir. Ich bring dich zur Metro. Nein, die
Metro fährt nicht mehr. Du kannst einen Nachtbus nehmen, aber du weißt ja, was sie
sagen von den Nachtbussen in dieser Stadt.
Manchmal habe ich das Gefühl, dass mir schwarz vor Augen wird, wenn mir eine Frau so
sehr gut gefällt wie du. Mit einer Haut wie deiner und Haaren wie deinen. (Du siehst aus
wie aus der Werbung), du bist ein richtiges Heilversprechen. Vielleicht merkst du, dass
ich dich beobachte und kriegst Angst oder so, weil du denkst, dass ich dir gleich von
hinten zwischen die Beine greifen will. Ist doch nichts dabei, ist doch das normalste der
Welt. Bin doch auch nicht geiler als die anderen Kerle auf der Pumpstraße oder in den
Nachtbussen, aber ich würds nur tun, wenn du das willst, nur wenn du willst! Das
unterscheidet mich von diesem Gesindel. Ich weiß, wie es läuft, ich weiß, man braucht
eine Genehmigung, so ist das auf der Welt. Man muss hoffen, dass einem der Antrag
genehmigt wird, und dann darf man von hinten zwischen die Beine. Das ist die
Reihenfolge, nicht andersrum. Nur nichts überstürzen. Selbst wenn man es einmal
durfte, heißt das nicht, dass man es noch einmal darf, sehr verwirrend.
Der Zigarettenstummel liegt noch genau da, wo er gelandet ist. Das Licht im Hausflur
Hausnummer 126 geht aus. Jetzt läufst du an dem leuchtenden Kreuz der Apotheke
vorbei. Dein Haar schimmert für einen Augenblick grünlich, dein Gesicht kann ich immer
noch nicht richtig sehen. Dreh dich doch mal her zu mir. Ab und zu setzt du mit deinem
rechten Fuß ganz komisch auf. Vielleicht willst du, dass es so aussieht, als ob du
humpeln würdest. Das soll mich wohl irgendwie beeindrucken oder anekeln, damit ich
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nicht auf die Idee komme, dir von hinten zwischen die Beine zu greifen. Aber ich halt
mich doch sowieso an die Reihenfolge. Solange du es nicht willst, hab ich die Hände in
den Taschen. Sieh her, Hände in der Jackentasche, ich weiß doch wie es läuft, bin doch
nicht bekloppt.
Du hast wirklich keine Ahnung mehr, wer ich bin. Das ist echt verletzend. Denkst ich wär
so ein einfacher Schwerenöter, der hier nachts rumhängt und sich die Eier krault.
Vielleicht hast du mich auch gar nicht gesehen, als du aus dem Haus in der Rue Gustave
Courbert kamst. Ich meine, du hattest es ja eilig, schnelle Schritte, genervter
Gesichtsausdruck. Und es ist ja auch scheiß dunkel hier. Nur das gelbe Licht von den
Laternen, dieses grüne Licht von der Apotheke und das blaue Licht des Mondes. Du hast
mich gar nicht gesehen, so muss es gewesen sein. Wenn du mich gesehen hättest, dann
würdest du so einen Scheiß gar nicht machen. Stimmt doch, oder? Und vielleicht
würdest du sogar wollen, dass ich dir von hinten zwischen die Beine gehe, ist doch
nichts dabei, kann doch schön sein. Es ist wichtig, wenn es kalt ist, so wie heute, ab und
zu mit den Händen da hin zu kommen, wo es warm ist, so schön warm wie dein Schoß.
Dein Schoß ist ein schöner Ort. Du würdest das nicht explizit sagen, dass du es willst.
Ich kenne mich aus. So wie das Mädchen im Treppenhaus es sicher nicht ausdrücklich
gesagt hat. Es ist hochkompliziert diese Genehmigung einzuholen, alle tun immer so
artig und geheimnisvoll. Du wirst sagen: „ Hör auf, nicht hier. “ Aber wenn ich aufhöre,
wirst du sagen. „ Warum hörst du auf? Warum nicht mal hier? Wenn mir einmal warm
wird in dieser kalten Nacht. Streichele meine Haare, knöpf meine Jeanshose auf. Fick
mich hart gegen die Wand! “ Hast du das grad gesagt? Dann tue ichs! Oder hab ich mich
verhört? Vielleicht wars der Wind, oder ein Mülleimer, der umgefallen ist. Wenn ich mir
das nur eingebildet habe, dann tu ichs nicht. Ist doch ganz klar, ganz klar, Ehrensache.
Hast dus nun gesagt? Ist doch nichts dabei.
Da kommt ein Mann, er kommt dir entgegen, sein Mantel geht ihm bis zu den Knöcheln,
der Mantel ist aus Lammfell, glaube ich. Er hat ein ernstes Gesicht, in der Mitte zwei
dunkle Knopfaugen, die aufdämmern, wenn das Laternenlicht sie erwischt. Er sieht ein
bisschen aus wie ein russischer Bauer, er hat irgendwas Bestialisches an sich. Ich
glaube, er könnte eine Kuh mit bloßen Händen ausnehmen. Der Mann weicht dir aus, du
blickst ihn nicht an, schau doch mal hin, sieht er nicht ein bisschen aus wie der letzte
Zar?
Du läufst einfach weiter. Blick auf deine Füße, Blick auf den nassen Gehweg. Vielleicht
hast du ja wirklich was mit deinem Bein, oder du kannst ihm einfach nicht ins Gesicht
schauen, weil das zu viel Hoffnung zuließe. Mitten in der Nacht, da ist das Hoffen leicht.
Hast ja Recht, schau nicht hin, schau ihm bloß nicht in die dunklen Augen. Der wird sich
was drauf einbilden, so sind die Menschen. Ein Blick und sie sind sofort zur Stelle. Willst
ja schön bleiben, anderseits, die Schönheit ist so schnell verbraucht, da lohnt es sich
kaum, so keusch zu tun, in einer so kalten Nacht, da muss man nicht die Unberührbare
spielen, da muss man zusehen, dass da eine Anderer ist, irgendeiner, der einen wärmt.
An so Tagen wie heute muss man zusehen, dass man nicht erfriert. Die Moral hilft einem
recht wenig, wenn einem die Zehen abfrieren.
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