Leon Engler Das Gefunkel zu meinen Füßen (c) henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag Berlin GmbH 2015. Als unverkäufliches Manuskript vervielfältigt. Alle Rechte am Text, auch einzelner Abschnitte, vorbehalten, insbesondere die der Aufführung durch Berufs- und Laienbühnen, des öffentlichen Vortrags, der Buchpublikation und Übersetzung, der Übertragung, Verfilmung oder Aufzeichnung durch Rundfunk, Fernsehen oder andere audiovisuelle Medien. Werknutzungsrechte können vertraglich erworben werden von: henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag Berlin GmbH Alte Jakobstraße 85/86 10179 Berlin [email protected] Tel.: 030 - 4431 8888 »Kurz zu sein strebe ich an und werde dunkel.« Horaz Da vorne, da vorne bei der Bushaltestelle, da können wir uns hinsetzen. Dort können wir eine Weile sitzen, wenn du nicht mehr kannst, wenn deine Beine schwer werden, wenn deine Augen zufallen, du siehst müde aus. Vielleicht hattest du einen anstrengenden Tag. Auf der Bank da kann man sich gut ausruhen. Aber wenn kein Bus mehr fährt und man trotzdem an der Bushaltestelle sitzt, macht man sich verdächtig, da müssen wir vorsichtig sein, die Leute wissen sofort, was los ist. Sie sind blitzgescheit. Als ich das letztes Mal dort saß, dachten alle: Der sitzt da, weil er nicht mehr so gut kann, wie er sollte, er ist ein faules Schwein, sitzt an der Bushaltestelle, aber will nirgendwo hin. Da an der Bushaltestelle sitzt ein Idiot, ein Bekloppter. Aber ich bin kein Bekloppter, lass dir nichts erzählen. Wir sind keine Bekloppten. Wenn wir zu zweit dort sitzen, dann sitzen wir da, weil die Liebe uns fertig gemacht hat, und wer das hört ist still. Das Licht der Laternen scheint gelblich und das des Mondes bläulich. Der Mond ist 384.400 Kilometer weit weg. Das Licht braucht vom Mond bis zu uns eins Komma drei Sekunden. Wir setzen uns jetzt auf die Bank und warten eins Komma drei Sekunden auf das Mondlicht, keine Sekunde länger, und dann wirds schon wieder gehen. Es geht doch immer irgendwie, glaube ich zumindest. Direkt gegenüber fällt eine Tür ins Schloss, Hausnummer 126. Das ist die gleiche Tür wie bei Hausnummer 128, eine Flügeltür, dunkelgrün lackiert. Hausnummer 126: Das Licht im Hausflur geht an, ein Paar geht die Treppe hoch. Sie geht vor ihm. Im zweiten Stock greift er ihr mit der rechten Hand von hinten zwischen die Beine. Sie schreit auf, sagt, dass er aufhören soll. Hast dus gesehen? Sie sieht sehr schön aus von der Ferne aus betrachtet, aber nicht so schön wie du, nicht so schön wie du. Ich greife mir an den Schwanz und merke, dass er hart ist, aber nicht wegen ihr, sondern wegen dir. Wenn wir zusammen dort sitzen würden, da bei der Bushaltestelle, dann würde es schon wieder gehen. Niemand wird sich was denken, wenn ich dort mit dir sitze, nachts ist man nun mal müde, und die Liebenden sind immer doppelt müde, weil sie sich die Nächte immer um die Ohren hauen, wie man so schön sagt. Darin sind sie Profis. Während der Rest der Menschheit schläft, beißen sie sich die Lippen blutig und kratzen sich ihre Rücken wund, da kann man schon mal müde von werden. Zeig mir mal deinen Körper, zeig mir mal, was du nachts so treibst. Da vorne bei der Bushaltestelle, da können wir uns hinsetzen, wenn es gar nicht mehr geht. Kurze Pause, um Luft zu holen. Dort kannst du mir deine Wunden zeigen. Aber wenn dein Rücken zerkratzt ist von irgendwelchen Fingernägeln, die nicht meine Fingernägel sind, dann lassen wir es lieber. Dann hast du ja schon jemanden für die Nächte. Mehr als einen braucht man nicht. Hörst du das? Von irgendwo kommt Musik. Ich glaube, aus einer Wohnung Hausnummer 130. Im zweiten Stock brennt noch Licht. Siehst dus? Vielleicht kommt die Musik von dort, ja vielleicht von dort, ist schöne Musik. Da spielt einer Klavier, so spät noch. Nur hässliche Menschen haben die Zeit, so gut in etwas zu werden, dass man sich wundert. Den schönen Menschen greift eigentlich zu jeder Zeit jemand von hinten zwischen die Beine, weißt du, wie ich meine? Da kommt man nicht zum Klavierüben. Vor allem nachts haben die Schönen immer schon was vor, haben immer Termine, um sich ihre Rücken zerkratzen zu lassen. Im selben Haus steht einer am Fenster und raucht, linke Hand am 5 Eisengitter, Dampf vor seinem Gesicht. Der Mann nimmt noch einen Zug von seiner Zigarette und schnippt sie dann auf die Straße. Die Zigarette fliegt ungefähr zwei Meter weit und drei Meter tief. Der Mann schließt das Fenster. Und du kommst aus dem Haus an der Ecke in der Rue Gustave Courbert. Du ziehst die Haustür zu und biegst in die Pumpstraße. Jetzt läufst du auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Hast es ziemlich eilig, machst große Schritte. Scheiße. Jetzt war ich kurz unkonzentriert, weil ich über die Flugbahn des Zigarettenstummels nachgedacht habe. Es war ein waagrechter Wurf, die Kippe flog parallel zum Horizont, damit vereinfacht sich die Gleichung, der Luftwiderstand bremst proportional zur Geschwindigkeit im Quadrat. Rechts von mir hustet jemand, das waren ungefähr dreiundfünfzig Dezibel. Das entspricht dem Geräuschpegel von Regen, heute wird es nicht mehr regnen, dafür ist es zu kalt, vielleicht schneit es heute Nacht noch, aber selbst dafür ist es wahrscheinlich zu kalt. Falls es heute Nacht noch schneit, dann wird der Schnee sehr trocken sein, Pulverschnee, wie man so schön sagt. Damit kann man keinen Schneemann bauen. Von dir sehe ich jetzt nur noch den Hinterkopf. Du hast einen schönen Hinterkopf, lange braune Haare. Du läufst immer schneller, wahrscheinlich musst du irgendwo hin. Soll ich dich ein Stück begleiten? Das kann hier nachts schon ein bisschen wild werden, vor allem in den engen dunklen Gassen, da ist es besser, wenn einer da ist, der einen bringt, verstehst du? Einer, der auch mal zuhauen kann, wenns drauf ankommt. Du rennst ja fast, vielleicht ist dir kalt, oder du magst es nicht, nachts alleine durch diese Stadt zu laufen. Komm, ich geh ein Stück mit dir. Ich bring dich zur Metro. Nein, die Metro fährt nicht mehr. Du kannst einen Nachtbus nehmen, aber du weißt ja, was sie sagen von den Nachtbussen in dieser Stadt. Manchmal habe ich das Gefühl, dass mir schwarz vor Augen wird, wenn mir eine Frau so sehr gut gefällt wie du. Mit einer Haut wie deiner und Haaren wie deinen. (Du siehst aus wie aus der Werbung), du bist ein richtiges Heilversprechen. Vielleicht merkst du, dass ich dich beobachte und kriegst Angst oder so, weil du denkst, dass ich dir gleich von hinten zwischen die Beine greifen will. Ist doch nichts dabei, ist doch das normalste der Welt. Bin doch auch nicht geiler als die anderen Kerle auf der Pumpstraße oder in den Nachtbussen, aber ich würds nur tun, wenn du das willst, nur wenn du willst! Das unterscheidet mich von diesem Gesindel. Ich weiß, wie es läuft, ich weiß, man braucht eine Genehmigung, so ist das auf der Welt. Man muss hoffen, dass einem der Antrag genehmigt wird, und dann darf man von hinten zwischen die Beine. Das ist die Reihenfolge, nicht andersrum. Nur nichts überstürzen. Selbst wenn man es einmal durfte, heißt das nicht, dass man es noch einmal darf, sehr verwirrend. Der Zigarettenstummel liegt noch genau da, wo er gelandet ist. Das Licht im Hausflur Hausnummer 126 geht aus. Jetzt läufst du an dem leuchtenden Kreuz der Apotheke vorbei. Dein Haar schimmert für einen Augenblick grünlich, dein Gesicht kann ich immer noch nicht richtig sehen. Dreh dich doch mal her zu mir. Ab und zu setzt du mit deinem rechten Fuß ganz komisch auf. Vielleicht willst du, dass es so aussieht, als ob du humpeln würdest. Das soll mich wohl irgendwie beeindrucken oder anekeln, damit ich 6 nicht auf die Idee komme, dir von hinten zwischen die Beine zu greifen. Aber ich halt mich doch sowieso an die Reihenfolge. Solange du es nicht willst, hab ich die Hände in den Taschen. Sieh her, Hände in der Jackentasche, ich weiß doch wie es läuft, bin doch nicht bekloppt. Du hast wirklich keine Ahnung mehr, wer ich bin. Das ist echt verletzend. Denkst ich wär so ein einfacher Schwerenöter, der hier nachts rumhängt und sich die Eier krault. Vielleicht hast du mich auch gar nicht gesehen, als du aus dem Haus in der Rue Gustave Courbert kamst. Ich meine, du hattest es ja eilig, schnelle Schritte, genervter Gesichtsausdruck. Und es ist ja auch scheiß dunkel hier. Nur das gelbe Licht von den Laternen, dieses grüne Licht von der Apotheke und das blaue Licht des Mondes. Du hast mich gar nicht gesehen, so muss es gewesen sein. Wenn du mich gesehen hättest, dann würdest du so einen Scheiß gar nicht machen. Stimmt doch, oder? Und vielleicht würdest du sogar wollen, dass ich dir von hinten zwischen die Beine gehe, ist doch nichts dabei, kann doch schön sein. Es ist wichtig, wenn es kalt ist, so wie heute, ab und zu mit den Händen da hin zu kommen, wo es warm ist, so schön warm wie dein Schoß. Dein Schoß ist ein schöner Ort. Du würdest das nicht explizit sagen, dass du es willst. Ich kenne mich aus. So wie das Mädchen im Treppenhaus es sicher nicht ausdrücklich gesagt hat. Es ist hochkompliziert diese Genehmigung einzuholen, alle tun immer so artig und geheimnisvoll. Du wirst sagen: „ Hör auf, nicht hier. “ Aber wenn ich aufhöre, wirst du sagen. „ Warum hörst du auf? Warum nicht mal hier? Wenn mir einmal warm wird in dieser kalten Nacht. Streichele meine Haare, knöpf meine Jeanshose auf. Fick mich hart gegen die Wand! “ Hast du das grad gesagt? Dann tue ichs! Oder hab ich mich verhört? Vielleicht wars der Wind, oder ein Mülleimer, der umgefallen ist. Wenn ich mir das nur eingebildet habe, dann tu ichs nicht. Ist doch ganz klar, ganz klar, Ehrensache. Hast dus nun gesagt? Ist doch nichts dabei. Da kommt ein Mann, er kommt dir entgegen, sein Mantel geht ihm bis zu den Knöcheln, der Mantel ist aus Lammfell, glaube ich. Er hat ein ernstes Gesicht, in der Mitte zwei dunkle Knopfaugen, die aufdämmern, wenn das Laternenlicht sie erwischt. Er sieht ein bisschen aus wie ein russischer Bauer, er hat irgendwas Bestialisches an sich. Ich glaube, er könnte eine Kuh mit bloßen Händen ausnehmen. Der Mann weicht dir aus, du blickst ihn nicht an, schau doch mal hin, sieht er nicht ein bisschen aus wie der letzte Zar? Du läufst einfach weiter. Blick auf deine Füße, Blick auf den nassen Gehweg. Vielleicht hast du ja wirklich was mit deinem Bein, oder du kannst ihm einfach nicht ins Gesicht schauen, weil das zu viel Hoffnung zuließe. Mitten in der Nacht, da ist das Hoffen leicht. Hast ja Recht, schau nicht hin, schau ihm bloß nicht in die dunklen Augen. Der wird sich was drauf einbilden, so sind die Menschen. Ein Blick und sie sind sofort zur Stelle. Willst ja schön bleiben, anderseits, die Schönheit ist so schnell verbraucht, da lohnt es sich kaum, so keusch zu tun, in einer so kalten Nacht, da muss man nicht die Unberührbare spielen, da muss man zusehen, dass da eine Anderer ist, irgendeiner, der einen wärmt. An so Tagen wie heute muss man zusehen, dass man nicht erfriert. Die Moral hilft einem recht wenig, wenn einem die Zehen abfrieren. 7
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