28 Wirtschaft Sie lesen unsere Krankheiten und fahnden Im Herzen der W Der Novartis Campus forscht an der Medizin des 21. Jahrhunderts. Und aktiviert sämtliche Wirkstoffe, die Novartis, Ciba, Geigy oder Sandoz jemals entdeckt haben. Jörg Trappe muss den richtigen Wirkstoff gegen neue Krankheitserreger finden. « Hier befindet sich das Substanzarchiv, das Schatzkästlein der Novartis» Jörg Trappe, Head of the Hit Finding Unit RENÉ LÜCHINGER (TEXT) UND STEFAN BOHRER (FOTOS) Ä usserlich gleicht das jüngste Kind auf dem Novartis Campus, das im Mai 2015 in Betrieb genommene Gebäude Virchow 16, allen anderen auf dem Forschungsgelände an der Grenze zu Frankreich: Ganz in Weiss getaucht, im transparenten Open-Space-Design, verströmt es jene Aura, die hier allgegenwärtig ist, irgendetwas zwischen Forscher-Olymp und Akademie des Wissens. Erbaut wurde es von Rahul Mehrotra, einem Star seiner Zunft, dem indischen Architekten und Harvard-Professor für urbane Planung und Design. Im fünften Stock gibt es eine indisch angehauchte Kommunikationszone mit prächtigem Blick über die Rheinstadt Basel. Es sind denn auch keine Studenten, die hier im gedämpften Ton den Gedankenaustausch suchen, sondern höchstkarätige Forscher aus aller Welt. An diesem Ort vermählen sich auf wundersame Weise 250 Jahre Forschergeschichte der Vorgängerfirmen Ciba, Geigy und Sandoz mit der Gegenwart und Zukunft der nun zwanzigjährigen Novartis. Hier verschmelzen die Wissenschaften der Biologie und der Chemie zur Forschung des 21. Jahrhunderts. Untertags, in bunkerähnlichen, ganz in Weiss gehaltenen Gewölben, be- gegnet uns Jörg Trappe, ein unprätentiöser Typ voller Energie und Enthusiasmus: «Hier befindet sich das Schatzkästlein der Novartis!» Trappe verfügt über eine weltweit wohl einmalige Job-Bezeichnung: «Head of the Hit Finding Unit». Was ungefähr so viel heisst wie Kopf der Hit-Sucher. Nun ist er aber kein Rockstar, sondern Wissenschaftler, genau genommen Biochemiker. Was ja auch passt in diesem Haus, wo Biologie und Chemie zu einem grösseren Ganzen vernetzt werden sollen. Dennoch: Hit-Sucher? Für den Laien klingt das einigermassen rätselhaft, und Trappe reagiert mit breitem Lachen auf das verdutzte Gesicht des Besuchers. Schliesslich haben Aussenstehende hier gewöhnlich keinen Zutritt. Also malt der Wissenschaftler ein grosses Bild über die Wirkung seines Tuns. Die Suche nach den Hits beginnt ganz unten, im Minusbereich des Hauses sozusagen. Dort befindet sich das grosse Plus der Firma, das Substanzarchiv der Novartis, von den Forschern liebevoll «Schatzkästlein» genannt. Dabei handelt es sich nicht um Goldbarren oder Edelsteine, sondern um schlichte Reagenzgläser voll geballter Chemie, die hinter Glas von einem Roboter bewirtschaftet werden – sämtliche Wirkstoffe, die von sämtlichen zur Novartis verschmolzenen Basler Firmen jemals hergestellt worden sind, 1,7 Millionen potenzieller Wirkstoffe mitsamt den dazugehörigen Rezepturen. Die nächste Etappe unserer Reise findet ein paar Stockwerke höher statt. Dort blubbert hinter Glas eine bräunlich-flüssige Substanz. Kein Bier, sondern Insektenzellen, die mit genetisch veränderten Viren infiziert sind und fleissig menschliche Eiweissmoleküle produzieren, die wiederum als Ursache diverser Krankheiten bekannt sind. An diesem Punkt kommt die Chemie aus dem Substanzarchiv ins Spiel. Mil lionenfach werden die verschiedensten Substanzen auf diese Eiweissmoleküle losgelassen – robotergesteuert, menschenlos. Zeigt sich bei einer Substanz eine biologische Reaktion, ist eben dies jener Hit, aus dem sich die Jobbezeichnung Jörg Trappes ableitet: ein Ausgangspunkt für vertiefte For- 29 AKTUELL 6. März 2016 nach Erregern W issensindustrie schung, aus der sich im besten Fall nach rund 15 Jahren wissenschaftlicher Arbeit ein neues Medikament entwickeln lässt. Nur ein Stockwerk entfernt steht seit einem Monat eine Forschungsanlage der nächsten Generation, in welcher sich dieser Prozess nicht mehr mit künstlich hergestellten Proteinen, sondern mit lebendem Humangewebe, Blutoder Muskelzellen abwickeln lässt. Der Laie ahnt: Hier baut Novartis an der Medizin der Zukunft, und deshalb müssen die Grenzen zwischen Biologie und Chemie überschritten werden. Eine Metapher, die auch für Jörg Trappe gelten kann, den Chef: Er wohnt in Deutschland, sein Auto parkiert er ennet der Grenze in Frankreich, dann spaziert er in einigen Minuten über die Schweizer Grenze zu seinem Arbeitsplatz auf dem Campus. Ein paar Häuser weiter, an der Fabrikstrasse 10, geht es ähnlich kompliziert zu und her. Hier wird an der DNA-Sequenzierung geforscht. Vereinfacht gesagt, geht es dabei um die Abfolge von Grundbausteinen der menschlichen DNA, über die lebensnotwendige regulatorische Funktionen in Zellen ablaufen. Auch hier geht es offensichtlich um die Zukunft in der Medizin. Head Next Generation Sequencing Technologies nennt sich denn auch der Kopf der Abteilung, Edward James Oakeley. Frei übersetzt bedeutet sein Titel so viel wie Chef der Abteilung von Entschlüsselungstechnologien der nächsten Generation – ein enthusiastischer Wissenschaftler auch er, der für eine elementare Mission brennt. «Wir wollen das menschliche Erbgut verstehen, das geschützt im Zellkern verstaut ist», sagt er und breitet die Arme aus, als wollte er die Grösse der Aufgabe umreissen. «Die Zellen, die Organe, am Schluss den ganzen Körper, um dadurch die Krankheiten zu verstehen.» Da gibt es ordentlich viel zu tun: Edward James Oakeley vergleicht den Zellkern mit einer Bibliothek und das Genom mit einer Art Handbuch, nach welchem der menschlichen Körper zum Funktionieren gebracht wird. In dieser Anleitung stecken in exakt definierter Seitenabfolge drei Milliarden Buchstaben, und die Wissenschaftler sind der Edward James Oakeley fahndet nach Abweichungen in der DNA des Menschen. exakten Abfolge dieser Zeichen auf der Spur. Kein Mensch, keine Maschine ist in der Lage, sie am Stück zu lesen. Deshalb wird die DNA in kleine Sequenzen gestückelt. Computer tasten sie auf wiederkehrende Muster ab, die dann durch grosse Rechenleistungen zu grösseren Einheiten, einem Puzzle gleich, zum immer grösseren Bild zusammengesetzt werden. Wie das geht, zeigt der Wissenschaftler an einem Lesen Sie heute auf Blick.ch das Multimedia-Spezial «20 Jahre Novartis – 150 Jahre Basler Chemie» Rechner, auf dessen Bildschirm der Laie lediglich farbige Punkte erkennt – jede Farbe steht für einen Buchstaben. «Auf diese Weise», sagt Edward James Oakeley mit leichtem Pathos, «entschlüsseln wir das Buch des Lebens.» Es ist nicht bloss reines Erkenntnisinteresse, das den Forscher antreibt. Abweichende Muster können auf Krankheiten hindeuten, was wiederum Hinweise geben kann auf effektivere Behandlungsmethoden und Mittel. Da alle Menschen unterschiedliches Erbgut besitzen, ist Edward James Oakeley überzeugt: «Das ist der Schlüssel zur individuellen, persönlichen und damit effektiveren Medizin.» l « Die Sequenzierung des Erbguts ist der Schlüssel zur individuellen, persönlichen Medizin» Edward James Oakeley, Head Next Generation Sequencing Technologies
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