Beziehung - Das Interesse am andern Beziehung ist ein Lebenselixir für das Aufwachsen und ein menschliches Grundbedürfnis. Ein beziehungsloses Leben ist zwar vorstellbar, aber nur zu oft Quelle schwerer seelischer und gesundheitlicher Störungen. Der Grundausstattung des Kindes mit Beziehungsfähigkeit ist daher grösste Sorgfalt zu widmen. Menschen beiderlei Geschlechts sind von Natur aus soziale Wesen. Nicht nur, dass sie ohne Beziehungsnetz die ersten Lebensjahre nicht überleben könnten, auch für Gefühle von Lebenssinn, Wohlbefinden und Selbstwert bleibt Beziehung ein grundlegendes Bedürfnis und eine zentrale Erfahrung. Ein mehrdeutiges Wort Willst Du mit mir eine Beziehung? Hast Du gute Beziehungen? Er ist schon in einer Beziehung! Wer hat die bessere Beziehung zum Chef? Zwar geht es immer darum wie zwei oder mehr Menschen zueinander stehen, aber je nach Redewendung wird etwas recht unterschiedliches angesprochen. So ist „Beziehung“ denn auch sehr anfällig für Missverständnisse. „Vitamin B“ meint etwas ganz anderes als die oben angesprochenen Sehnsüchte. Der entscheidende Unterschied liegt darin, ob es mir in der Beziehung vordringlich um eigene Vorteile und Nutzen geht oder ob ich in Gefühlen und Gedanken dem anderen zugewendet bin. Selten geht es in den nachgefragten guten Beziehungen zum Chef um dessen Wohlergehen oder diesen Menschen, vielmehr richtet sich das Interesse an den Machtträger, und die Beziehung hat einem Ziel zu dienen. Sie ist Mittel zum Zweck. Martin Buber benannte diese Beziehungsart eine „Ich-Es-Beziehung“. Eine ganz andere Qualität erlangt die Beziehung, wenn der Kontakt, die Gefühle und die Gedanken sich für den andern Menschen interessieren: Wie geht es Dir? Was möchtest Du? Was erfreut dich; was ängstigt dich? In einer echten mitmenschlichen Beziehung mache ich die Sache des anderen zu meiner Sache. Buber nannte diese Beziehung eine „Ich-Du-Beziehung“. Qualitätswandel Die beschriebenen Qualitäten können oft recht deutlich unterschieden werden. Aber dennoch ist die Abgrenzung nicht immer so klar; zudem verändern sich Beziehungen meist andauernd. Nicht selten muss bei Ehekrisen festgestellt werden, dass aus einer ursprünglichen Ich-Du-Beziehung langsam immer mehr eine Ich-Es-Beziehung wurde. Das Interesse an der andern Person hat abgenommen; schliesslich sind es nur noch die Funktionen, die sie erfüllen, die das Paar zusammenhält: Es ist praktisch eine tüchtige Hausfrau zu haben; günstig über ein geregeltes Einkommen zu verfügen; für die Repräsentation an Empfängen macht es sich gut, einen eigenen Partner mitzubringen; als Sexualpartner erfüllt er/sie ihre Rolle zur Lustbefriedigung noch gut usw. Was hier schief läuft, ist die Verlagerung des Interessens nach aussen. Das Interesse gilt nicht mehr diesem Mitmenschen als einmalige und besondere Person - mit ihrem Erleben, ihren Gefühlen, Wünschen, Ansichten, Vorstellungen und Ängsten. Das Interesse gilt nur noch den Aufgaben und den eigenen Bedürfnissen, die der andere erfüllt. In einem solchen Moment braucht es natürlich nicht viel, bis die Beziehung ganz zerfällt; denn „Funktionsträger“ sind austauschbar. Sei es, dass ein anderer Mensch auftaucht, der diese Aufgaben ebenso gut oder besser zu erfüllen verspricht, sei es, dass der eine Partner nicht mehr bereit ist, das eigene Leben den Bedürfnissen des andern zu unterstellen oder in gleichbleibendem Trott zu erstarren. Rebelliert hier ein Ehepartner gegen die ihm zugedachte Rolle oder findet der eine eine „aufregendere“ Partie, bricht oft die Beziehung - scheinbar rasch - auseinander. Bei näherem Hinsehen kann es sich aber erweisen, dass die Beziehung schon längere Zeit tot war (evtl. gar nie gelebt hatte) und nur das Korsett des äusseren Scheines oder des scheinbaren Nutzens das Paar zusammenhielt. Äusserliche Faktoren haben in der heutigen Zeit kaum mehr die Kraft eine Familie zusammenzuhalten, wenn das Interesse am Innenleben des anderen erloschen ist. Von der Begegnung zur Beziehung Zu einer lebendigen Beziehung bedarf es also des Interesses am Innenleben des anderen. Nicht jede Freundschaft oder Beziehung muss gleich intim sein. Innerhalb der Ich-Du-Qualität lassen sich verschiedene Intimitätsabstufungen unterscheiden. Nicht jeder Mensch ist im gleichen Masse bereit, sein Innerstes zu zeigen und mitzuteilen und kann dennoch starke und tiefe Beziehungen eingehen. Wenn wir zuvor den Prozess der Entfremdung gezeichnet haben, gilt es hier den umgekehrten Weg zu beschreiben: Eine Beziehung entsteht nicht im einem Moment. Die berühmte „Liebe auf den ersten Blick“ ist eine romantische Fantasie, für die schon manches Paar oder meistens eben nur einer der Partner bitter büssen musste. Von dieser ersten Attraktion bis zur Beziehung durchläuft eine Partnerschaft einen langen und nicht selten stürmischen Prozess mit Hochs und Tiefs. Man muss fast sagen, wo die Tiefs nicht auftauchen, kann etwas mit dem Ich-Du nicht ganz stimmen; denn das Interesse am andern lotet alle Bereiche aus. Es wäre merkwürdig, wenn sich dabei nicht Widersprüche, Schwächen und Interessensgegensätze zwischen zwei Menschen finden würden. Es ist viel spekuliert worden darüber, ob Ehen besser halten, in denen sich die Beziehung langsam entwickelte oder solche die sich rasch fanden und schnell handelten. Aber dies lässt sich nie belegen. Sicher ist, dass Anlass und minimale Gemeinsamkeit stimmen müssen, damit überhaupt eine Aufmerksamkeit auf den andern entsteht. Der nächste Schritt ist die Überwindung der Scheu, d.h. die eigene Bereitschaft, sich zu exponieren, etwas von sich preiszugeben und sei es nur die Bekundung des eigenen Interessens am andern. Bei Liebe auf den ersten Blick ist dieser Schritt sicher leichter überwunden. Entscheidend ist dann aber, ob sich so viel Offenheit herstellen lässt, dass nicht Vorstellungen über die Wünsche des andern und Schamgefühle über eigene (vermeintliche) Schwächen dazu verführen, dem andern grosse Teile des Innenlebens vorzuenthalten oder diese sogar zu verleugnen. Das Meistern dieser Klippe ist für jede tiefere Beziehung von herausragender Bedeutung. In punktuellen Begegnungen lässt sich viel verbergen und viel vorgaukeln. Enttäuschung bedeutet ja, dass sich eine Vorstellung über den andern als Täuschung herausstellt. Stellen sich die ersten gewichtigen Enttäuschungen ein, erzeugen tiefe Gräben, je stärker das Gefühl entsteht, dass willentliche Vorspiegelungen stattgefundne haben. Daraus folgt oft zunehmende Distanz, so dass die Chancen für eine tragfähige Beziehung mit jedem Kontakt schwinden. Adoleszenz: Selbstfindung und Beziehung Die Entwicklungsaufgabe der Adoleszenz ist, sich einen eigenen Platz in der Welt zu suchen. Diese Aufgabe ist sehr verzwickt und vielschichtig; denn es gilt gleichzeitig durch Leistung, Sachinteresse und „kühlen Kopf“ einen Ort zu erobern, der für den eigenen Lebensunterhalt sorgt und - wenn möglich - auch die Befriedigung eigener Interessen gewährleistet; und andererseits sind in der Menge der Mitmenschen durch „günstiges Auftreten“, Interesse-weckender Erscheinung und klopfendem Herzen diejenigen zu finden, die die Beziehungsbedürfnisse zu befriedigen versprechen und die es wert sind, eine Beziehung zu ihnen zu wünschen! Oft wird dieser zweite Aspekt unterschätzt. Manchmal werden Beziehungswünsche als bloss egoistische Wünsche missverstanden oder nur so einseitig gesehen: Aber die Sehnsucht richtet sich nach jemanden zum gern haben, jemanden, der mir nicht gleichgültig sein soll. Für eine Beziehung reichen die eigenen z.B. sexuellen Bedürfnisse nicht aus. Obwohl dieser Aspekt als Kontaktpunkt und gemeinsames Interesse sehr wichtig ist, gehört er - gerade bei verfrühtem Sex - oft nur zum äusserlichen Interesse, d.h. dem Interesse an der Funktion Mann resp. Frau. Nicht selten führen solch äusserliche Interessen in eine Fehlentwicklung, wenn sie nicht in einen Beziehungswunsch eingebunden werden können. Funktionelle Befriedigungen (das können auch Prestigewünsche etc. sein) stellen erst eine Ich-Es-Qualität zwischen den beiden her. Aus dieser Qualität heraus in eine Ich-Du-Beziehung zu gelangen, wird dadurch massiv erschwert, dass meist beide oft Missachtung, Beschämung oder Angst aus den Erlebnissen ziehen, bevor sie eine gemeinsame Sprache für die eigenen Innenwelten entwickelt haben. Kommt hinzu, dass nicht selten bedeutende Missverständnisse entstehen, was wer vom andern wirklich will. So will er oder sie z.B. nur bestimmte Funktionen ausprobieren (die tolle Eroberung, die „schicke Braut“; den super Typen aufreissen, um die eigene Fähigkeiten zu testen), während Partner oder Partnerin sich bereits gefühlsmässig und gedanklich tief in die Person des andern eingelassen hat. Die Anforderungen an die Adoleszenten im Bereich „Beziehung“ sind mindestens so hoch wie die im Berufsleben: Wer kennt sich denn selber - zumal in dem Alter - schon so genau, dass sich die Bedürfnisse klar unterschieden lassen? Wie und wodurch soll ich den andern einschätzen, wie ehrlich er/sie ist? Wie ist ein Rückzug zu werten: Enttäuschung?; Abbruch?; Scham oder gerade tiefere Wünsche? Mehr Ernsthaftigkeit? Lösung und Bindung Zwei Jugendliche begegnen sich. Sie spüren, dass zu ihrem bevorstehenden Entwicklungsschritt gehört, die Beziehungen zur Herkunftsfamilie zu lösen. Aber wohin mit den Beziehungswünschen? Woher bekommen sie das Lebenselixir, das von zuhause zu beziehen nicht mehr zeitgemäss ist. Das Bedürfnis bleibt, aber die Quelle seiner Befriedigung ist mehr und mehr vergiftet. Eltern und Geschwister können den Platz nicht mehr bieten. Ihre Bereitschaft ist eher eine Versuchung, Kind zu bleiben. So verlockend das zeitweise ist, so merken die meisten Jugendlichen, dass es für ihre Zukunft, für ihren Stolz und ihr Selbstbewusstsein gefährlich ist. Ohne Abschied gibt es keinen neuen Lebensraum und so drängt die Entwicklungsaufgabe dazu, die alten Bindungen zu lösen. Vielleicht helfen sie sich gegenseitig den Entwicklungsschritt zu vollziehen, den ihnen keine Eltern und keine Erzieher abnehmen können. Manchmal entsteht eine dauernde Beziehung, manchmal erlischt sie nach erfolgreicher gegenseitiger Hilfe. Der Wechsel ist Teil der normalen psychischen Entwicklungsgeschichte. Wenngleich vielfach mit grossen Schmerzen verbunden, trägt er zur Selbstfindung bei. Die Erfahrung sich auf Zeit binden und ohne sich und dem andern bleibenden Schaden anzurichten auch wieder trennen zu können, ist ein grosser Schritt zur Entwicklung von Selbständigkeit. Dr. Rudolf Buchmann, Psychotherapeut SPV/ASP www.praxis-buchmann.ch
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