Emma Roth - und Geschichtsverein Bad Emstal eV

Lebensbilder – Leidensbilder – Frauenbilder
Emma Roth
7.6 Emma Roth (1846 – 1941)
Emma Roth hat
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Vorwort
Im Frühjahr 2015 erreichte den Kultur- und Geschichtsverein Bad Emstal e. V. eine
Recherche zu der Patientin Emma Roth, die in Merxhausen gelebt hatte und am 13. Juni
1941 „auf behördliche Anordnung“ nach Eichberg verlegt wurde. Von dort wurde Emma
Roth am 3. Juli 1941 „in eine andere Anstalt“, ohne Angabe des Ortes, verlegt.
In 2013 konnte der Todestag der Emma Roth nach der Recherche von Frau Maili Hochhuth,
Berlin, in Hadamar eindeutig bestimmt werden.
„Von Eichberg gelangte Frau Roth in einem Transport mit 103 weiteren Patienten am
3. Juli 1941 nach Hadamar. Da die Patienten eines solchen Transportes in der Regel
noch am Tag der Ankunft in die im Keller der Anstalt befindliche Gaskammer geschickt
und ermordet wurden, ist der 3. Juli 1941 als Todestag von Frau Emma Roth zu
betrachten. Das damals offiziell mitgeteilte Todesdatum (in diesem Fall der 15. Juli
1941) und die Todesursache wurden falsch angegeben, um Angehörige und Behörden
zu täuschen.“(Hochhuth, 2013, Skript siehe weiter unten)
Frau Emma Roth gehört zu den hunderten von Frauen, die von Merxhausen aus in Hadamar
oder anderswo getötet wurden. 30 Jahre war sie Mitbürgerin Merxhausen.
Der Kultur- und Geschichtsverein Bad Emstal e.V. veröffentlicht die Recherche von Frau
Hochhuth ungekürzt. Der Verein bedankt sich bei Frau Hochhuth für die Überlassung des
Skripts zur Veröffentlichung, um das Schicksal vieler Frauen aus Merxhausen dem Vergessen
zu entreißen.
Bad Emstal, April 2015, Hartwin Neumann, Vorsitzender
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Emma Roth - geboren 1876 in Worms - ermordet 1941 in Hadamar
Von Maili Hochhuth
Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. Wir
trennen es von uns ab und stellen uns fremd.
(Christa Wolf, Kindheitsmuster)
Abbildung: Unten rechts der gefälschte Eintrag aus Hadamar
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Spurensuche
Im August 2012 las ich in der Berliner Zeitung die Kolumne des Historikers Götz Aly: „Opfer
ohne Namen“. Er erinnerte an den 1. September 1939, den Tag des Kriegsbeginns, und
gleichzeitig an den Tag, an dem Hitler erlaubte, Geisteskranken und Behinderten von Staats
wegen den ‚Gnadentod‘ zu gewähren. Das kostete bis 1945 mehr als 200 000 Menschen das
Leben, weil sie als „Erbkranke“ oder „nutzlose Esser“ ermordet wurden. Aly schrieb, dass bis
heute die Namen dieser Getöteten verschwiegen werden, mit Rücksicht auf die noch
lebenden Verwandten. Und er fragte: „Wissen oder ahnen Sie etwas von einem solchen
ermordeten Verwandten? Wäre es nicht gut, Sie könnten einfach in einer Gedenkdatei
nachschauen und sich Gewissheit verschaffen? Ist es nicht ein Gebot der Menschlichkeit,
den Ermordeten ihren Namen zurückzugeben?“
Da fiel mir ein, dass mein Vater vor vielen Jahren von der Ermordung einer Großtante
erzählte, die in einer psychiatrischen Klinik gelebt hatte. Menschen aus der Generation, die
darüber noch etwas erzählen könnten, leben in unserer Familie nicht mehr. Also begann ich
zu suchen, in Dokumenten, Berichten und Büchern meines Vaters und Großvaters. Beide
haben viel geschrieben, auch über die Nazizeit. Aber ich fand nichts, keinen Hinweis, keinen
Namen, nichts. Soweit ich mich erinnern konnte, sollte es wohl jemand aus der Familie
meines Großvaters gewesen sein, also vielleicht eine Schwester von ihm. Warum habe
eigentlich ich damals meinen Vater nicht genauer nach dieser Tante befragt, was sie für ein
Mensch war, warum sie in eine Anstalt kam, in welcher Anstalt sie war, wo ihr Grab sein
könnte?
Es gibt eine kleine Ahnentafel der Familie Roth. Die Aufstellung ist so angelegt, dass nur die
direkten Vorfahren, also Eltern, Großeltern, Urgroßeltern, aufgeführt sind, aber nicht deren
Geschwister. Doch dann fand ich bei nochmaligem Suchen ein kleines braunes Heft, den
Ahnenpass mit Hakenkreuz meiner Tante Leni, die diesen Pass als Arier- Nachweis für ihre
Arbeitsstelle hatte ausfüllen müssen. In diesem Pass wird auch nach den Geschwistern der
Eltern gefragt. Sie hat hinter dem Namen ihres Vaters, Alfred Roth, seine Geschwister
eingetragen: „Frieda + Emma Maria Willi + “. Von diesen spärlichen Informationen bin ich
bei meiner Recherche ausgegangen. Gekannt habe ich nur meinen Großvater Alfred Roth
und seine Schwester Maria („Dada“). Über die anderen Geschwister wusste ich nichts, weder
wo sie geboren, noch wo sie gestorben sind.
Nach und nach habe ich über die verschiedenen Standesämter in Worms, St. Goar, Hersfeld
und Homberg die Geburts-und Todesdaten der Geschwister meines Großvaters erfahren und
konnte auch die vielen Wohnortwechsel nachvollziehen. Solche Recherchen sind natürlich
heute durch das Internet viel einfacher geworden. Trotzdem musste aber immer ein
Standesbeamter in den entsprechenden Büchern nachschlagen und suchen. Die kleinen
Kreuze hinter den Namen von Frieda und Willi ließen mich vermuten, dass Emma die
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Großtante war, die in eine Anstalt gekommen ist. Mit ihrer Geburtsurkunde aus Worms
erhielt ich gleichzeitig die Mitteilung über ihren Tod 1941 in Hadamar. Von der
Gedenkstätte Hadamar bekam ich auf meine zweite Anfrage folgende Antwort:
„ Mit Ihrer Hilfe konnten wir jetzt Emma Roth eindeutig identifizieren. Folgendes können wir
Ihnen aus unseren Unterlagen mitteilen: Ihre Großtante, geb. am 13. Januar 1876 in Worms,
wurde am 20. Juni 1911 in die Landesheilanstalt Merxhausen aufgenommen. Am 13. Juni
1941 wurde sie in die Landesheilanstalt Eichberg / Rheingau verlegt. Während des
Nationalsozialismus wurde Eichberg im Rahmen der Mordaktion an Menschen mit
Behinderungen und psychischen Erkrankungen zu einer so genannten "Zwischenanstalt" für
die Tötungsanstalt Hadamar. Von Eichberg gelangte Frau Roth in einem Transport mit 103
weiteren Patienten am 3. Juli 1941 nach Hadamar. Da die Patienten eines solchen
Transportes in der Regel noch am Tag der Ankunft in die im Keller der Anstalt befindliche
Gaskammer geschickt und ermordet wurden, ist der 3. Juli 1941 als Todestag von Frau Emma
Roth zu betrachten. Das damals offiziell mitgeteilte Todesdatum (in diesem Fall der 15. Juli
1941) und die Todesursache wurden falsch angegeben, um Angehörige und Behörden zu
täuschen. Des Weiteren konnten wir feststellen, dass sich die Patientenakte Ihrer Großtante
im Bundesarchiv in Berlin befindet (Signatur: R 179 / 20041).“
Im Bundesarchiv in Berlin konnte ich die Akte einsehen und kopieren. Sie war vorwiegend in
schwer lesbarer Sütterlinschrift, nur die letzten Seiten mit Schreibmaschine geschrieben.
Während dieser Monate der Spurensuche nach Emma habe ich mehrere Bücher über
„Euthanasie“ gelesen und Gedenkstätten in der Berliner Umgebung besucht. Im April (2013)
haben mein Mann und ich die drei hessischen Anstalten aufgesucht, in denen Emma gelebt
hatte und getötet wurde. Alle drei Kliniken gibt es noch, alle drei gehören heute zu den
Vitos-Kliniken für Psychiatrie und lassen die Kontinuität der Geschichte erkennen: von den
ehemaligen Klöstern über Korrektionsanstalten, Irrenhäuser, Landeshospitäler zu den
heutigen Kliniken. Allen drei Einrichtungen sind - weithin sichtbar - forensische Abteilungen
angegliedert, in Hadamar sogar mit wulstigen Stacheldrahtzäunen umgeben. Überhaupt war
Hadamar kaum zum Aushalten, eine riesige Anlage mit großen Parkplätzen, dann der schon
etwas verfallene Gedenkfriedhof, die Gedenkstätte, und die authentischen Kellerräume. Bei
Fragen nach Akteneinsicht wurde man auf den umständlichen Weg durch die deutsche
Bürokratie gewiesen.
In Eichberg hat mich besonders berührt, an der Weggabelung zu stehen, von der aus die
grauen Busse abfuhren (s .Fotos). Auch dort gibt es im Keller eine kleine Ausstellung. Wir
hatten das Glück, in Eichberg von einer Frau, die für Öffentlichkeitsarbeit zuständig ist,
begleitet zu werden, die sehr einfühlsam auf unsere Spurensuche einging. So ließ mich auch
der Besuch des KuZ, des Kulturzentrums Eichberg mit einer kleinen, von Behinderten
betriebenen Gaststätte, wieder etwas klarer die Notwendigkeit solcher Einrichtungen
erkennen und die Verbesserungen gegenüber früheren Zeiten sehen.
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Merxhausen, in der Nähe von Kassel, die ehemalige Landesheilanstalt für Frauen, kam mir
dann doch so vor, als hätten meine Großtante Maria und mein Großvater die beste damals
mögliche Wahl für ihre Schwester Emma getroffen.
Und noch etwas wurde mir deutlich: Wenn man sich mit Geschichte beschäftigt, ist es etwas
ganz Anderes, wenn es um die eigene Familie geht, nicht nur wegen des gleichen Namens.
Emmas Geschichte
Meine Großtante, Emma Roth, wurde am 13. Januar 1876 in Worms am Rhein geboren. Sie
war das zweite Kind von Philippine und Jakob Roth. Der Vater, von Beruf Kaufmann und
Schneidermeister, hatte schon im Alter von zwanzig Jahren am Deutschen Krieg von 1866
teilnehmen müssen. In einem Familienbericht wurde Jakob Roth als „ein stiller, innig
gläubiger, durch Leiden geläuterter Mann“ beschrieben. Auch die ältere Schwester Emmas,
Friederike, genannt Frieda, wurde 1874 in Worms geboren.
Nun zog die Familie um nach St. Goar, dort kamen die drei jüngeren Geschwister zur Welt:
1878 Maria, die „Dada“. Sie hatte für uns Kinder große Bedeutung, konnten wir doch immer
zu ihr kommen, sie hat uns getröstet, wenn wir Probleme hatten und uns abends lange
Geschichten vorgelesen. Für Emma wurde diese Schwester zur wichtigsten Bezugsperson in
ihrem Leben. Der Bruder, Alfred, mein Großvater, wurde 1882 geboren. An ihn kann nur
noch ich mich etwas erinnern, er war für mich ein ruhender Pol, und ich habe gern auf
seinem Schoß gesessen. 1885, bei der Geburt von Emmas jüngstem Bruder, dem kleinen
Willi (Wilhelm), muss seine Mutter Philippine schon sehr krank gewesen sein, denn sie starb
nur zehn Monate später an Lungentuberkulose. Nun stand der Vater mit den fünf Kindern
allein da. Aber auch Willi war nicht kräftig genug für das Leben, er wurde nur drei Jahre alt.
Emma war also schon mit neun Jahren Halbwaise. Die einzige Information über ihre Kindheit
habe ich dem Bericht des Hausarztes aus Homberg von 1911 entnommen. Als Kleinkind soll
Emma häufig Krämpfe und Ohrenentzündungen gehabt haben. Sie war schwerhörig, stark
kurzsichtig, und ihre Zunge stieß beim Sprechen an. Überhaupt hatte sie erst spät sprechen
gelernt und blieb in ihrer Entwicklung zurück. Nach dem Bericht des Arztes muss Emma in
ihrem Verhalten und im Umgang mit anderen Menschen schon als Kind sehr schwierig
gewesen sein, sie hatte „abwechselnd heitere und trübselige Stimmungen“.
In zweiter Ehe heiratete Jakob Roth Maria Breul aus Hersfeld, die der Baptistengemeinde
angehörte. Die Familie verlegte ihren Wohnsitz nach Hersfeld. Doch schon kurze Zeit später,
1889, starb auch der Vater an Lungentuberkulose. Die Stiefmutter, Maria Roth, konnte nach
seinem Tod mit den vier Kindern im Haus der Baptistengemeinde in Hersfeld, Neumarkt 608,
unterkommen.
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Mein Vater beschrieb die damalige Familiensituation so: „ Gewiss war die Stiefmutter
fürsorglich (als ‚Oma‘ mir noch bekannt, gestorben 1917). Doch der Umzug nach Hersfeld
kam den Kindern als Verbannung aus dem romantischen Rheintal in ein graues Hinterland
vor, und die Baptistengemeinde, der die neue Mutter angehörte, erschien ihnen eng und
kleinkariert. Krankheit, Verlassenheit und materielle Armut waren die Gefährten der
Kinderjahre.“
2013, Bad Hersfeld, Neumarkt 26 (früher Neumarkt 608, unter dem Dach könnte die Familie gewohnt haben)
Über die ältere Schwester Frieda gibt es keine Informationen. Sie ist im Jahr 1896 mit 22
Jahren an Lungenschwindsucht, also dem alten Familienleiden, gestorben.
Das waren keine guten Bedingungen für heranwachsende Kinder, und schon gar nicht für ein
behindertes Kind. Emma ging zunächst in St. Goar und später in Hersfeld zur Schule. Über
ihre Jugend wissen wir nur, was sie selbst bei ihrer Aufnahme in Merxhausen erzählte. Bis sie
vierzehn Jahre alt war, ging sie zur Schule, blieb aber weit zurück und konnte die drei oberen
Klassen der Volksschule nicht mehr besuchen. Weiter berichtete sie: „Selbständig in eine
Stelle zu gehen, bringe ich nicht fertig, sagten meine Leute immer, früher war ich
Aufwärterin, einmal drei Jahre und sieben Monate in einer Stelle (Hersfeld). Jetzt bin ich fünf
Jahre in Homberg ohne Stelle. Ich habe alle Hausarbeit gemacht, nur freie Hausarbeit kann
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ich nicht, früher war ich aber auch besser.“ (20.6.1911 Aufnahmebericht Merxhausen). Als
junge Leute lösten sich mein Großvater und seine Schwester Maria aus der engen
Verbindung mit der Freikirche und schlossen sich der Landeskirchlichen Gemeinschaft an.
Dieser Schritt muss mit vielen Auseinandersetzungen verbunden gewesen sein, da Alfred
und Maria ja im Haus der Baptistengemeinde wohnten, aber noch nicht alt und selbstständig
genug waren, um ihren eigenen Weg zu gehen. In unseren Familienunterlagen steht, dass
die Baptistengemeinde urteilte: „Wir mussten die Geschwister ‚hinaustun‘, denn sie hatten
die Welt liebgewonnen.“
Die beiden fanden in der landeskirchlichen Gemeinschaft eine neue Heimat.
Mein Großvater bildete sich im Selbststudium weiter. Er hatte keine Möglichkeit, ein
Studium zu machen oder auch nur einen Beruf zu erlernen. Im Jahr 1905 übernahm er mit 23
Jahren die Stelle eines Predigers der Landeskirchlichen Gemeinschaft in Homberg/Efze und
zog mit seiner Familie in das Haus für Gemeinschaftspflege im Stellbergsweg.
Überrascht war ich, als ich bei meinen Nachforschungen erfuhr, dass nicht nur die Schwester
Maria, sondern auch Emma und die Stiefmutter mit nach Homberg kamen. Bisher war ich
davon ausgegangen, dass nur mein Großvater und seine Schwester Maria nach Homberg
zogen. So fühlte sich Alfred Roth, als einziger Sohn, schon in jungen Jahren für Schwestern
und Mutter verantwortlich. Ganz abgesehen von der besonderen kirchlich/religiösen
Prägung war das Leben in Homberg sicher auch in wirtschaftlicher Hinsicht in den Jahren zu
Beginn des 20. Jahrhunderts eine schwere Zeit. In Homberg heirateten meine Großeltern,
dort wurden auch meine Tante Frieda („Do“) und mein Vater geboren.
Im Jahr 1911 war wohl das Zusammenleben in der Familie mit Emma so schwierig geworden,
dass für sie um Aufnahme in die Landesheilanstalt Merxhausen gebeten wurde. Emma war
inzwischen fünfunddreißig Jahre alt. In der Überweisung des Homberger Arztes von 1911
heißt es: „Die Hände fühlen sich kühl und feucht an. … Sie läßt sich in der Familie nicht
lenken, macht heftige Szenen, schlägt um sich, droht mit Selbstmord. Eine Heilung erscheint
bei dem langjährigen Bestehen des Leidens und seiner Art (Idiotie) ausgeschlossen.“ So muss
Emma schon zuhause oft unglücklich gewesen sein.
Abb.: Kloster Merxhausen mit Verwaltungsgebäude 2013
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Am 20. Juni 1911 wurde Emma in Merxhausen aufgenommen: „ Kommt früh mit Bruder und
Schwester hier an. Tritt allein ins Zimmer, antwortet willig, weint beim Abschied, folgt ohne
Widerstreben nach Abt. VIII“ (Aufnahmebericht). Wie mit allen neuen Kranken wurde auch
mit ihr ein Test durchgeführt. Sie beantwortete alle Fragen zu ihrer Person, zu ihrer
bisherigen Lebensgeschichte und zum täglichen Leben klar und genau. Sie sagte das ‚Vater
unser‘ und christliche Lieder auswendig auf, einfache Rechenaufgaben rechnete sie richtig.
Bei der Frage, was am 2. September gefeiert wird, antwortete sie: „Da wird Sedan gefeiert.
Da ist eine Schlacht geschlagen, man ist schon lange aus der Schule.“
Abb.: Erste Seite der Akte aus Merxhausen
Ihre psychische Situation schätzt Emma so ein: „Ich bin weiter nicht krank, ich habe es nur an
den Nerven.… Manchmal wird einem etwas gesagt, das passt mir nicht. Da rege ich mich
manchmal so auf, daß ich einem eine geben könnte, aber das tue ich nur, wenn es ganz
schlimm kam. ... Manchmal bilde ich mir auch Sachen ein, zum Beispiel, ich sei Eisenbahn
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gefahren, oder ich hätte aufgewaschen und dann ist es gar nicht mehr. … Manchmal sind
meine Gedanken heller, manchmal trüber. Meist vor Mitternacht quälen mich Gedanken, da
bin ich oft ganz niedergeschlagen, was will die Zukunft bringen, was soll im Leben aus einem
werden? … Ich habe oft Leibschmerzen, sehr selten Kopfschmerzen. Anfälle habe ich aber
nicht. Dann bin ich sehr leicht zu erschrecken, mir ist, als führe plötzlich ein Gedanke durch
den Kopf.“ Sie fragt mit der Hoffnung, bald wieder entlassen zu werden: „Wie ist es denn,
nicht wahr, es steht nicht schlimm mit mir?“
Genau dreißig Jahre lang lebte Emma Roth in Merxhausen, von ihrem 35. bis zu ihrem 65.
Lebensjahr, von 1911 bis 1941. Die Patientenakte über diese Zeit, insgesamt 17 Seiten,
besteht aus dem Aufnahmebericht und Tagesnotizen: Eintragungen, oft nur in Halbsätzen, zu
Emmas Gesundheitszustand und zu ihrem Verhalten in der Abteilung. An den verschiedenen
Schriftarten erkennt man, dass natürlich über die vielen Jahre hin mehrere Personen diese
Notizen geschrieben haben. Ihre Grundaussagen zu Emma, mal mehr oder weniger
drastisch, sind allerdings durchgehend ähnlich. Sie galt immer als schwierige
Patientin, unbeliebt und ungeliebt bei den anderen Patientinnen und dem Pflegepersonal.
Abb: 1910; Hauptgebäude Haus 6, davor die Ems mit Eisenzaun und Irr-oder Tobgarten
In der Akte steht, dass Emma nur 1,50 m groß war, von blasser Hautfarbe, schwerhörig und
mit reichlichem Fettpolster (wohl nur in den ersten Jahren). Ihre Nahrungsaufnahme muss
sehr unregelmäßig gewesen sein. Mal aß sie kaum etwas, wollte nur Brei haben, dann aß sie
wieder viel und nahm anderen das Essen weg. Sie fühlte sich häufig schwach, litt unter
verschiedenen Schmerzen und war anfällig für Erkältungskrankheiten. Durch ihre
Schwerhörigkeit wurde sie misstrauisch anderen gegenüber und nahm immer alles sehr
schwer. Über die Jahre hin wird in den Berichten darüber geklagt, dass sich Emma während
der Visiten bei den Ärzten einschmeichle, kindlich zutraulich sei und die Ärzte immer wieder
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mit Fragen belästige. Sie sei leicht erregbar, schlage sich manchmal selbst an den Kopf,
breche leicht in Tränen aus und drohe mit Selbstmord. Ab und zu musste sie „wegen
Erregung“ einige Zeit im Bett liegen.
Im Jahr 1935 wurde Emma aus Platzgründen in eine andere Abteilung verlegt, in der sie sich
sehr unwohl fühlte. Hier muss sie sehr gekämpft haben und hat es tatsächlich erreicht, dass
sie nach vier Monaten wieder in ihre alte Abteilung, zurück nach Haus 6, verlegt wurde. Ein
Lichtblick war für sie vielleicht die Arbeit im Nähsaal, oben in Haus 6. Manchmal heißt es,
dass sie eifrig strickte oder stickte. Doch diese Aussagen wurden immer mit dem Zusatz
kommentiert, dass sie dabei langsam und umständlich sei und nicht viel leiste. Zeitweise half
sie auch bei Reinigungsarbeiten mit.
Abb.: 1928, Nähsaal in Haus 6 (Ich stelle mir Emma so vor wie die Frau ganz vorne links.)
Während der 30 Jahre, die Emma in Merxhausen lebte, hatte sie Kontakt mit ihrer Familie,
vor allem mit ihrer Schwester Maria. Mehrmals wird auf den regelmäßigen Briefverkehr mit
ihr hingewiesen und festgestellt, dass Emma sich immer sehr über Nachrichten und
Zeitschriften freute. Die Briefe wurden natürlich gelesen.
In den ersten Jahren, in denen Emma immer noch die Hoffnung hegte, wieder zu ihrer
Familie zurückkehren zu können, heißt es: „Schreibt viel Briefe frommen, ergebenen Inhalts
nach Hause, verspricht ordentlich zu sein, wenn man sie hole“ (Sommer 1913). Mehrmals
wird darauf hingewiesen, dass sie sich sehr zu ihrer Familie hingezogen fühlt und sich
Gedanken über deren Ergehen macht.
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Sowohl in ihren Briefen als auch bei den Besuchen der Schwester beschwerte sich Emma
häufig über schlechte Behandlung und klagte über ihr Leben in Merxhausen. Diese Besuche
müssen für beide Schwestern aufwühlend gewesen sein. Manchmal liest man aber auch in
der Akte, dass sie sich gut mit ihrer Schwester unterhalten habe. Auch Spaziergänge waren
offensichtlich möglich. „Die Bewegungsfähigkeit des Beines hat sich inzwischen weiterhin so
sehr gebessert (Emma hatte ihren Knöchel verstaucht), daß Pat., wenn sie von ihrer
Schwester besucht wird, bis Sand gehen kann“ (1940).
Wie häufig sie Besuch ihrer Schwester bekam, lässt sich nicht nachvollziehen. Die Fahrten
von Homberg oder Hersfeld nach Merxhausen waren umständlich, später, als die Familie in
Kassel wohnte, wurden sie einfacher. Emma beschrieb ihre erste und einzige Fahrt nach
Merxhausen so: „Von Homberg nach Wilhelmshöhe sind wir mit der Bahn gefahren, dann
nochmal bis Sand, dann zu Fuß hierher“ (Aufnahmebericht).
Leider geht aus der Akte nicht hervor, wie das tägliche Leben in der Landesheilanstalt
Merxhausen ablief, und wie die Betreuung und Versorgung war. Daher möchte ich ein paar
Einblicke in die Zeit geben, während Emma dort lebte.
Aus dem ehemaligen Augustinerkloster Merxhausen wurde 1533 mitsamt seinem
Grundbesitz ein Landeshospital für die arme Landbevölkerung. Erst im Jahr 1881 wurde das
Hospital auch für Kranke aus den Städten geöffnet. Um 1900 verfügte Merxhausen über
große landwirtschaftliche Güter und war von unzähligen Gärten umgeben. Wie die meisten
Klöster liegt auch Merxhausen in landschaftlich schöner Gegend; es wird von der Ems
durchflossen und gehört heute zur Gemeinde Bad Emstal in Nordhessen.
Das Haus 6 (Abt. 6) – nur für Frauen bestimmt - in dem Emma die meiste Zeit lebte, wird
folgendermaßen beschrieben: 1881 „wurde das erste Hauptgebäude für 200 ruhige, rüstige,
arbeitsfähige Kranke, die tagsüber in den verschiedenen Betrieben arbeiteten, eingerichtet…
Das große Haus hatte im Erdgeschoß zwei „mächtige“ Säle, die als Speise- und Arbeitssaal
dienten. Der Arbeitssaal wurde auch als Festsaal benutzt. In den zwei Etagen darüber gab es
je zwei gleich große Schlafsäle zu 50 (!) Betten“(Erckenbrecht, S.33). Abb.: 1963, Haus 4 vor dem
Umbau
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In einem Zeitzeugenbericht heißt es: „Im allgemeinen war das Betreten des Geländes
zwischen den Anstaltsgebäuden (Abteilungen) unerwünscht. Die Abteilungstüren waren
stets verschlossen. Nur in Abteilung 6 mit dem Nähsaal gelangten wir, wenn Theater- oder
die ersten Filmvorführungen stattfanden“ (Erckenbrecht, S. 8).
Wie die Verpflegung in Merxhausen war, geht aus Emmas Akte nicht klar hervor. Mehrmals
heißt es, dass sie unregelmäßig aß, aber auch anderen Patientinnen Essen wegnahm. Dass
sie vielleicht einfach Hunger hatte, wird nicht erwähnt. Emma hat ja schon den 1. Weltkrieg
in Merxhausen erlebt und während der Hungerjahre 1914-18 gab es auch in dieser Anstalt
eine Unterversorgung.
Allgemein wird berichtet, dass ab 1933 die Verpflegung der Patienten in den
Landesheilanstalten systematisch und bewusst reduziert wurde. Ich hatte gehofft, dies sei in
Merxhausen durch die dazugehörigen landwirtschaftlichen Betriebe nicht der Fall gewesen.
Aber 1939 heißt es in Emmas Akte: „Geht langsam körperlich zurück, ohne daß sich ein
bestimmter krankhafter Befund erheben ließe… Ist kindlich in ihrem Wesen, dementer
Gesamteindruck.“
Im Jahresbericht des Merxhäuser Direktors steht für das Rechnungsjahr 1939/40: „Die durch
Vereinfachung der Beköstigung bei nicht wenigen Kranken der II. Verpflegungsklasse
bedingte Gewichtsabnahme machte sich in diesem Berichtsjahr in verstärktem Maße
bemerkbar.“ Und weiter heißt es: „Auch in diesem Berichtsjahr verstarben auffallend viele
Kranke. 1937/38: 57, 1938/39: 114, 1939/40: 165. Bei zahlreichen dieser Verstorbenen,
die meist der II. Verpflegungsklasse angehört hatten und keineswegs alle sehr bejahrt waren,
mußte als Todesursache ‚allgemeiner körperlicher Verfall‘ festgestellt werden.“ Diese Sätze
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waren durchgestrichen worden, aber noch lesbar (M. Klüppel, S. 81). Die Mangelernährung
sollte bewusst den Tod der Patienten herbeiführen, sollte sie langsam verhungern lassen.
Auch von Platzproblemen und Überbelegungen steht nichts in Emmas Akte. Dass die
Patientinnen nicht einmal einen Nachttisch für ein paar eigene Sachen neben ihren Betten in
den riesigen Schlafsälen hatten, lässt sich auf den Fotos erkennen. Aber ob jede Patientin
1941 überhaupt noch ein eigenes Bett hatte? 1937 begann aus wirtschaftlichen Gründen
eine große Verlegungsaktion von Patienten aus kirchlichen Anstalten in Landesanstalten. So
wurden 1938 aus Bethel 31 Frauen und aus Hephata mehr als 100 Frauen nach Merxhausen
verlegt (Klüppel, S.21 u. 37). 1939 kamen aus der Anstalt Merzig im Saarland noch einmal
500 Patienten nach Haina und Merxhausen. Daher hatte Merxhausen im November 1939
einen Höchststand von 1206 Patienten, trotz der vielen Todesfälle durch „Vereinfachung der
Verköstigung“. Im Juli des Jahres 1941 lebten nur noch 345 Patienten in Merxhausen
(Klüppel, S. 47). So war genügend Platz geschaffen für das Reservelazarett, das ab dem 1. 9.
1941 in die Landesanstalt verlegt wurde.
Weitere Maßnahmen zur Kostenreduzierung gegenüber diesen „lebensunwerten“ Menschen
waren die Abordnungen von Ärzten und Krankenschwestern, auch ihre Gehälter wurden
gekürzt. Ein individuelles Eingehen auf die einzelnen Patienten konnte also nicht mehr
erfolgen.
In Merxhausen wurde die Patientenakte von Emma am 13. 6. 1941 mit einem Stempel und
dem Vermerk beendet: „Wird auf behördliche Anordnung in die LHA Eichberg verlegt.“
Emma Roth war eine der 525 Patientinnen, die 1941 von Merxhausen aus Opfer der
„Euthanasie“ - Verbrechen wurden, wie auf der Tafel am Verwaltungsgebäude zu lesen ist.
Daneben hängt eine größere schwarze Tafel: „Augustinerkloster und Hospital in
Merxhausen“, auf der die Geschichte seit 1213 beschrieben ist. Die beiden letzten Daten
beziehen sich auf die Jahre 1929 und 1957; die Nazizeit ist nicht erwähnt. Später wurde eine
kleine Tafel darunter geschraubt mit dem Vermerk: „Die Zeit des Nationalsozialismus wurde
hier nicht berücksichtigt. Es wird daher auf die Gedenktafel rechts verwiesen.“
„Wir erinnern uns der Patientinnen der Landesheil-und Pflegeanstalt Merxhausen,
ihr Leben galt den Nationalsozialisten als „lebensunwert“, hier wurden Menschen
zwangssterilisiert, viele wurden verschleppt und umgebracht.
Ab 1937-1945 wurden die Lebensbedingungen drastisch verschlechtert, viele
Patientinnen starben.
1940 wurden 13 jüdische Patientinnen abtransportiert und an unbekanntem
Ort ermordet.
1941 kamen 506 Patientinnen nach Hadamar und wurden dort Opfer der
„Euthanasie“ - Verbrechen.
1943/44 wurden mindestens 6 psychisch kranke Zwangsarbeiter aus Polen und der
Sowjetunion mit unbekanntem Ziel deportiert und vermutlich ermordet. Leben und
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Tod dieser Menschen sind uns Mahnung und Verpflichtung. Abb.: Ausschnitt aus der
Tafel zu den Opfern des Nationalsozialismus
Die Opfer des Nationalsozialismus in Merxhausen haben keine Namen bekommen. Zuerst
wurden sie gar nicht erwähnt, später nur auf einer Gedenktafel ohne Namen. Ihre Namen
sind aber bekannt. „Mit peinlicher Korrektheit legte man in Merxhausen eine 51 Seiten
umfassende Liste der verlegten Patienten an. Sie trägt die Überschrift „Stellen, die für eine
Benachrichtigung in Frage gekommen wären“. Neben dem Namen und dem Wohnort des
Patienten sind Adressen der Angehörigen, der Staatsanwaltschaften, der
Bezirksfürsorgeverbände etc. festgehalten“ (Klüppel, S. 56/57). Emma Roth ist in dieser Liste
mit der „Nr. 209“ eingetragen und als Angehöriger wurde die Adresse des Bruders: „Alfred
Roth, KasselWilh., Kaiser-Friedrichstr. 7“ (Akte LWV) angegeben. Aus dem Aufnahmebuch
geht hervor, dass keine der verlegten Patientinnen jemals wieder nach Merxhausen
zurückkehrte (Klüppel, S.47).
Ich möchte mich dafür einsetzen, dass in Merxhausen an einem würdigen Ort, ein
Gedenkbuch mit Namen und Daten dieser Opfer ausgelegt wird.
Seit 1939 liefen in Berlin die Vorbereitungen für die nationalsozialistische ‚Euthanasie‘Aktion. Sie basierten auf dem von Hitler unterschriebenen „Ermächtigungserlass“ (der auf
den 1. September 1939 datiert war): „Reichsleiter Bouhler und Dr. med. Brandt sind unter
Verantwortung beauftragt, die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu
erweitern, dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung
ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann“ (zitiert nach: Verlegt nach
Hadamar, S. 69). Die Verwaltungszentrale des Krankenmordes befand sich in Berlin, in der
Tiergartenstraße 4 und tarnte sich mit dem Namen „Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und
Pflegeanstalten“. Diese Adresse lieferte den Namen für die ‚Aktion T4‘. Zwischen Januar
1940 und August 1941 kamen in den sechs T4 Gasmordanstalten mitten in Deutschland und
Österreich mehr als 70 000 Menschen ums Leben.
Die Zentrale in Berlin verschickte Meldebogen, mit denen alle Patienten in den Heilanstalten
des Reiches erfasst wurden. Merxhausen erhielt die Meldebogen 1940. Sie mussten unter
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Zeitdruck ausgefüllt und zurück nach Berlin geschickt werden. Gutachter trugen auf dem
Meldebogen in einem Kästchen ein + für Tod oder ein - für Leben ein, ohne die Patienten
jemals gesehen zu haben. Wenn in den Meldebogen „arbeitsunfähig“, „mindestens 5 Jahre
in der Anstalt“, „kein Kontakt zu Angehörigen“ oder „jüdischer Herkunft“ angekreuzt war,
bedeutete dies das Todesurteil. Die Heilanstalten hatten die Möglichkeit, Patienten
zurückzustellen und ihnen damit das Leben zu retten. So wurden auch in Merxhausen einige
wenige Patienten vor den Transporten bewahrt (Klüppel, S.28 u. 42/43).
Die Patienten wurden zunächst in sogenannte Zwischenanstalten gebracht. Diese dienten
zur Verschleierung der Transporte in die eigentlichen Tötungsanstalten. Die Angehörigen
wurden erst später über die Verlegungen informiert. „ Die Abgabeanstalten geben weder
den Angehörigen noch den Kostenträgern Mitteilung von der Verlegung“ (Niederschrift der
Besprechung vom 21. 4. 1941, Akte LWV). Die Landesheilanstalten Eichberg und Herborn
waren „Zwischenanstalten“ für die Patientinnen aus Merxhausen auf dem Weg nach
Hadamar. Personalakten und Meldebogen wurden bei der Verlegung der Kranken
mitgegeben.
Von Emma Roth ist der Meldebogen nicht mehr erhalten. Aber in ihrer Merxhäuser Akte
findet man nun den Stempel von Eichberg: „13. Juni 1941: „Landes-Heilanstalt, Eichberg im
Rheingau, Post u. Bahnstation, Hattenheim a/Rh“
Auch die Landesheilanstalt Eichberg im Rheingau ist schön am Hang gelegen, in der Nähe des
Klosters Eberbach. Emma wurde am 12. und 13. Juni 1941, zusammen mit 202 anderen
Patientinnen (Klüppel S.43) nach Eichberg verlegt. Die Namen und Vornamen mussten den
Patientinnen „mit Tintenstift auf die vorher angefeuchtete Hautstelle zwischen den
Schulterblättern“ geschrieben werden (Brief vom 26.5.1941 aus der LH Herborn), damit sie
schneller identifiziert werden konnten. Die Merxhäuser Patientinnen wurden –
wahrscheinlich mit Lastwagen – zur 3 km entfernt liegenden Bahnstation der Kleinbahn
Kassel-Naumburg nach Sand gebracht. Dies geschah am hellen Tag, und sowohl die
Bevölkerung von Merxhausen und als auch von Sand hat mitbekommen, dass – ganz
ungewöhnlich – eine so große Anzahl von Patientinnen die Landesheilanstalt mit kleinem
Gepäck verlassen musste.
Ich vermute, dass Emma während der 30 Jahre in Merxhausen nie weiter als bis nach Sand
gekommen ist. Was hat sie sich schon aufgeregt, wenn sie nur von einer Abteilung in eine
andere verlegt wurde. Augenzeugen solcher „Verlegungen“, auch aus anderen Kliniken,
berichten übereinstimmend, dass sich unter den alles schweigend über sich ergehen
lassenden Menschen immer einige befanden, die sich wehrten, die versuchten wegzulaufen,
die wussten oder ahnten, was ihnen bevorstand und dies auch ausdrückten. Ich weiß nicht,
ob Emma ahnte, wohin diese Fahrt ins Ungewisse führte; aber dass sie nichts Gutes
bedeutete, das war ihr sicher klar. Es muss eine lange und beschwerliche Zugfahrt quer
durch ganz Hessen gewesen sein.
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Das Pflegepersonal brachte die Patientinnen bis zu den Zwischenanstalten nach Herborn und
Eichberg und kehrte dann sofort wieder nach Merxhausen zurück. Was sie wohl gewusst
haben, all diese Menschen in der Verwaltung, bei Bus und Bahn, in Küche und
Landwirtschaft, die Ärzte, Pfleger und die jungen Krankenschwestern hier auf dem Foto?
Abb.: Schwestern aus Merxhausen auf dem Bahnhof von Herborn am 30. Mai 1941 (1. Transport)
In einem Brief von Merxhausen an die Reichsbahn in Kassel vom 11.6.1941 heißt es: „Aus der
hiesigen Anstalt werden am 13.6.1941 – 81 Geisteskranke durch 8 Begleiterinnen in die
Landesheilanstalt Eichberg überführt. Die entstehenden Transportkosten von Kassel nach
Hattenheim werden von der Transportleiterin, Oberpflegerin Fr. M., bei der Stationskasse
Kassel eingezahlt“ (Akte LWV).
Die Zeit vom 13. Juni bis 3. Juli verbrachte Emma nun zusammen mit den Frauen aus
Merxhausen und den vielen Patienten aus anderen Anstalten in der ‚Landesheilanstalt‘
Eichberg. „In den Zwischenanstalten wurden die verstörten und irritierten psychisch Kranken
und geistig Behinderten als sogenannte Durchgangskranke behandelt und getrennt von den
restlichen Insassen untergebracht“ (Hadamar, S. 84). Mehr als 2 200 Patienten sind allein im
Jahr 1941 in der Zwischenanstalt Eichberg gesammelt und von dort aus nach Hadamar in die
Gaskammer geschickt worden.
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„3. Juli 1941 Verlegt in eine andere Anstalt“
Abb.:1941, Abfahrt der grauen Busse von Eichberg nach Hadamar
2013 Eichberg
Dies war der letzte Stempel in Emmas Akte, er stammte aus Eichberg. Von hier aus wurde sie
mit einem Bus nach Hadamar bei Limburg transportiert. Die früheren Postbusse waren grau
lackiert worden, auch die Fensterscheiben hatte man mit Farbe bestrichen, damit niemand
weder hinaus- noch hineinschauen konnte. Die Fahrt von Eichberg nach Hadamar führte
durch bergiges Gelände.
In der Tötungsanstalt angekommen, fuhren die Busse direkt in eine dafür gebaute Garage, in
der drei Busse Platz fanden. Erst nachdem die Tore verschlossen waren, durften die
Patienten aussteigen: damit sie nicht fliehen, damit sie von niemandem gesehen werden
konnten. Sie wurden durch einen Schleusengang direkt in das Anstaltsgebäude gebracht.
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Abb.: Blick auf den Klosterbau und den Tötungstrakt mit Busgaragen rechts 1941
Dort wurden die Opfer vom Begleitpersonal ausgezogen, bekamen einen alten Militärmantel
umgehängt und wurden von einem Arzt kurz begutachtet. Dieser Arzt legte fest, welche der
verschiedenen falschen Todesursachen auf den Totenschein geschrieben werden sollte. Zum
Schluss wurden die Patienten noch fotografiert.
Ich weiß nicht, ob Emma jemals fotografiert wurde. In unserer Familie gab es weder ein Foto
von Emma, noch von ihrer Schwester Frieda oder dem kleinen Bruder Willi. Und vielleicht ist
es auch gut, dass diese letzten Fotos aus Hadamar vernichtet worden sind.
Es wurde vorgegeben, die Kranken zum Duschen zu führen. Man brachte sie hinunter in die
Gaskammer im Keller, jeweils bis zu 60 Personen zusammen, und ermordete sie mit
Kohlenmonoxyd. Durch ein kleines Fenster konnte ein Arzt die Ermordung beobachten. Von
Januar bis August 1941 kamen auf diese Weise 10 000 Menschen in Hadamar ums Leben.
Die Toten wurden zu zwei Krematorien gezerrt und dort verbrannt. Vorher brach man ihnen
noch die Goldzähne aus und entnahm bei einigen zu „Forschungszwecken“ die Gehirne.
Abb.: Rauchender Schornstein des Krematoriums mitten in der Stadt Hadamar 1941
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Die ganze Stadt sah die rauchenden Schornsteine jeden Tag und die grauen Busse, die durch
die Straßen fuhren. Kinder nannten die Busse „Mordkisten“ und bedrohten sich: „Du
kommst in den Backofen von Hadamar“ (Hadamar, S.95).
Das geschah mitten in Deutschland. Groß war der Verwaltungsapparat, der zur Anstalt
gehörte. Neben den Aufnahmeräumen für die Opfer gab es ein eigenes illegales Standesamt
mit einer Abteilung für das Erstellen von „Trostbriefen“ an die Angehörigen und mit einer
Abteilung für den Urnenversand. In den Urnen befand sich natürlich niemals die Asche des
betreffenden Toten.
Das Stadtarchiv Worms hat mir die Kopie von Emmas Geburtsurkunde zugesandt (s. erste
Seite). Unten rechts ist der Eintrag zu lesen: „Gestorben 15.7.1941, Nr.194/1941, Hadamar.“
Der Archivamtmann aus Worms schrieb im Begleitschreiben: „Der Hinweis auf ihren Tod
bezieht sich auf einen Eintrag im Sterbebuch des Standesamts Hadamar.“
Aber nicht der 15. Juli, sondern der 3. Juli ist nachweislich Emma Roths Todestag (Opferliste
Hadamar). Dieser zwölf Tage spätere Eintrag des Todesdatums wurde von dem extra
geschaffenen Standesamt in Hadamar willkürlich so festgelegt, einmal der Verschleierung
wegen, und zum anderen, um noch länger Pflegegeld kassieren zu können. Aus der
Pflegekostenrechnung der Zentralverrechnungsstelle von Berlin vom 27. Sept. 1941 geht
hervor, dass für Emma Roth für die Zeit vom 3.7. – 15.7.1941 dreißig Reichsmark bei einem
Tagessatz von 2,50 RM gezahlt werden mussten. Bei ihrer Verlegung nach Hadamar hatte sie
noch ein Barvermögen von 1,23 RM (Akte LWV).
Den sogenannten „Trostbrief“ konnte ich bei den Unterlagen meines Vaters und Großvaters
nicht finden, genauso wenig wie ich ja sonst irgendeinen Hinweis auf Emma gefunden habe.
Um solche „Trostbriefe“ zu verfassen, waren extra Leute eingestellt worden. Die Briefe
wurden an die nächsten Angehörigen gerichtet und lauteten etwa so: „Leider müssen wir
Ihnen zu unserem Bedauern mitteilen, dass Ihre Schwester, Emma Roth, am 15. 7. 1941
unerwartet an Lungentuberkulose gestorben ist.“ Ich zitiere einen Ausschnitt aus einem
„echten“ Trostbrief aus Hadamar: „Ihre Verlegung in unsere Anstalt stellt eine
Kriegsmaßnahme dar und erfolgte aus mit der Reichsverteidigung im Zusammenhang
stehenden Gründen. - ...um den Ausbruch und die Übertragung ansteckender Krankheiten zu
vermeiden … wurde die sofortige Einäscherung der Leiche und die Desinfektion des
Nachlasses verfügt. Einer Einwilligung der Angehörigen usw. bedarf es in diesem Fall nicht. …
Falls Sie die Urne auf einem bestimmten Friedhof beisetzen lassen wollen – die Überführung
der Urne erfolgt kostenlos – bitten wir Sie, uns unter Beifügung einer
Einverständniserklärung der betreffenden Friedhofsverwaltung zu benachrichtigen. Sollten
Sie uns diese nicht innerhalb von 14 Tagen zusenden, werden wir die Beisetzung
andersweitig veranlassen, wie wir auch annehmen würden, dass Sie auf den Nachlass
verzichten, wenn uns nicht innerhalb gleicher Zeit hierüber eine Mitteilung zugehen sollte.
Zwei Sterbeurkunden, die Sie für eine etwaige Vorlage bei Behörden verwenden können,
fügen wir bei“ (Trostbrief aus Hadamar vom 20. Mai 1941).
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Ob unsere Familie die Urne mit der falschen Asche Emmas angefordert hatte, ob eine
Beisetzung vielleicht in Kassel-Wilhelmshöhe auf einem Friedhof erfolgte, weiß ich nicht. Die
Kasseler Friedhofsverwaltung schrieb: „…nach intensiver Recherche müssen wir Ihnen leider
mitteilen, dass die Daten über Ihre Tante Emma Roth nicht auffindbar sind. Möglicherweise
sind die Beerdigungsbücher bei den Bombenangriffen im Jahr 1943 zerstört worden.“
Vielleicht deutet ein so ins Allgemeine gezogener Hinweis meines Vaters auf die
Todesbenachrichtigung über Emma hin: „Unser Vater, der eine parteiamtliche verlogene
Todesbenachrichtigung gelesen hatte, war wütend über diese Methode und konnte sein
Entsetzen im Gespräch mit anderen nicht immer zügeln“ (W. Roth, Farbtupfen, 1987 S. 3/2).
Emma Roth hatte kein Grab - Emma Roth hatte keinen Namen
Was tun?
Ich möchte mich dafür einsetzen, dass Emma Roth, zusammen mit den etwa 200 000
„Euthanasieopfern“, in einer öffentlich einsehbaren Gedenkdatei wenigstens ihr Name
zurückgegeben wird.
Gedenkdatei
In Hadamar gibt es seit 2006 eine digitale Opferdatenbank. Über diese Datenbank habe ich
nach Antrag die ersten Informationen über Emma Roth erhalten. Aber diese Datei ist leider
nicht frei zugänglich. Es gibt auch ein Opferbuch, das man auf Anfrage einsehen kann. Aus
Schutz der Privatsphäre der Opfer, vor allen Dingen aber der Angehörigen, sind diese
Dateien nicht öffentlich zugänglich.
Eine öffentliche Datei allerdings gibt es, und in ihr habe ich auch den Namen und das
Geburtsdatum von Emma Roth gefunden. Götz Aly schreibt: „Die Namen und Geburtsdaten
von 30 076 Menschen, die in der ersten Phase der Morde, also bis August 1941, in
Gaskammern starben, kann man auf der Webseite www.iaapa.org.il/46024/Claims#
nachsehen. ... Die Krankenakten zu den in dieser Datei aufgeführten Namen verwahrt das
Bundesarchiv im Bestand R 179.“ Hagai Aviel aus Tel Aviv stellte diese Daten illegal ins Netz.
Ein Urteil des Verwaltungsgerichtes Koblenz, diese Daten zu entfernen, konnte nicht
umgesetzt werden, weil es kein Rechtshilfeabkommen mit Israel gibt. Aly empfiehlt, die
Illegalität nachträglich zu legalisieren und die Daten der Toten offiziell ins Netz zu stellen und
laufend zu ergänzen. „Dann könnten interessierte Familien, Historiker und Heimatforscher
Unterlagen und Fotos beisteuern, die ebenfalls mit der Datei zu verbinden wären. So würde
mit der Zeit ein sich frei entwickelndes Denkmal für die Toten entstehen“ (Aly, S. 17).
Stolperstein oder Gedenkbuch
Da ich mich seit Jahren für Stolpersteinverlegungen engagiere, für jüdische Menschen in
Berlin-Pankow, aber auch für meinen Vorgänger in Gudensberg, den der SPD nahestehenden
Rektor Paul Wickenhoefer, ist es natürlich naheliegend, dass ich – vielleicht endlich –
darüber nachdenke, ob nicht auch meiner Großtante Emma ein Stolperstein gesetzt werden
sollte. Aber an welchem Ort?
In dem kleinen Ort Burghaun, in der Nähe von Hünfeld, wurde für Maria Benedikta Lohfink
ein Stolperstein gesetzt. Maria Lohfink hatte einen ganz ähnlichen Lebenslauf wie Emma
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Roth, hat das gleiche Schicksal erlitten. Sie wurde 1875 geboren, lebte von 1918 bis 1941 in
Merxhausen (vielleicht sind sich die beiden dort im Nähsaal begegnet) und wurde am
3.7.1941 in Hadamar ermordet. Der Unterschied ist aber, dass sie die ersten 42 Jahre ihres
Lebens bei ihrer Familie in Burghaun verbrachte. Von daher hat Maria Lohfink eine ganz
klare Beziehung zu diesem Ort, und ich kann sehr gut nachvollziehen, dass ihr Großneffe
einen Stolperstein für sie in Burghaun hat legen lassen.
Aber wo sollte ein Stolperstein für Emma Roth verlegt werden? Sie wurde in Worms
geboren, lebte einige Jahre in St. Goar, dann längere Zeit in Hersfeld und zuletzt fünf Jahre in
Homberg. In Merxhausen hat sie 30 Jahre verbracht, also fast die Hälfte ihres Lebens. Von
daher halte ich es für angemessen, wenn in Merxhausen ihrer gedacht würde. Da man aber
in Merxhausen nicht 525 Stolpersteine verlegen kann, sollte meiner Meinung nach ein
Gedenkbuch erstellt werden mit allen Opfern, die von Merxhausen aus in Tötungsanstalten
ausgeliefert wurden. Denn das gibt es bisher dort nicht.
Maili Hochhuth
Berlin, April 2013
Literatur:
Patientenakte: Krankengeschichte der ledigen Emma Roth. Nr. 2176
Landes-Hospital Merxhausen. 20.06.1911 – 03.07.1941
Sachakten des LWV – Kassel
Götz Aly: Die Belasteten. >Euthanasie< 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte. Frankfurt
2013
Manfred Klüppel: >Euthanasie< und Lebensvernichtung am Beispiel der Landesheilanstalten
Haina und Merxhausen. Eine Chronik der Ereignisse 1933-1945.
Nationalsozialismus in Nordhessen. Kassel 1984
Marieluise Erckenbrecht: Merxhausen damals. Göttingen 1994. 3. Aufl.
Herausgeber: Landeswohlfahrtsverband Hessen: Wissen und Irren.
Psychiatriegeschichte aus zwei Jahrhunderten – Eberbach und Eichberg. Kassel 1999
Herausgeber: Landeswohlfahrtsverband Hessen: Verlegt nach Hadamar.
Die Geschichte einer NS-„Euthanasie“-Anstalt. Begleitband. Kassel 2009. 4. Aufl.
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