Lebensbilder – Leidensbilder – Frauenbilder Emma Roth 7.6 Emma Roth (1846 – 1941) Emma Roth hat noch kein Bild Vorwort Im Frühjahr 2015 erreichte den Kultur- und Geschichtsverein Bad Emstal e. V. eine Recherche zu der Patientin Emma Roth, die in Merxhausen gelebt hatte und am 13. Juni 1941 „auf behördliche Anordnung“ nach Eichberg verlegt wurde. Von dort wurde Emma Roth am 3. Juli 1941 „in eine andere Anstalt“, ohne Angabe des Ortes, verlegt. In 2013 konnte der Todestag der Emma Roth nach der Recherche von Frau Maili Hochhuth, Berlin, in Hadamar eindeutig bestimmt werden. „Von Eichberg gelangte Frau Roth in einem Transport mit 103 weiteren Patienten am 3. Juli 1941 nach Hadamar. Da die Patienten eines solchen Transportes in der Regel noch am Tag der Ankunft in die im Keller der Anstalt befindliche Gaskammer geschickt und ermordet wurden, ist der 3. Juli 1941 als Todestag von Frau Emma Roth zu betrachten. Das damals offiziell mitgeteilte Todesdatum (in diesem Fall der 15. Juli 1941) und die Todesursache wurden falsch angegeben, um Angehörige und Behörden zu täuschen.“(Hochhuth, 2013, Skript siehe weiter unten) Frau Emma Roth gehört zu den hunderten von Frauen, die von Merxhausen aus in Hadamar oder anderswo getötet wurden. 30 Jahre war sie Mitbürgerin Merxhausen. Der Kultur- und Geschichtsverein Bad Emstal e.V. veröffentlicht die Recherche von Frau Hochhuth ungekürzt. Der Verein bedankt sich bei Frau Hochhuth für die Überlassung des Skripts zur Veröffentlichung, um das Schicksal vieler Frauen aus Merxhausen dem Vergessen zu entreißen. Bad Emstal, April 2015, Hartwin Neumann, Vorsitzender 1 Emma Roth - geboren 1876 in Worms - ermordet 1941 in Hadamar Von Maili Hochhuth Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd. (Christa Wolf, Kindheitsmuster) Abbildung: Unten rechts der gefälschte Eintrag aus Hadamar 2 Spurensuche Im August 2012 las ich in der Berliner Zeitung die Kolumne des Historikers Götz Aly: „Opfer ohne Namen“. Er erinnerte an den 1. September 1939, den Tag des Kriegsbeginns, und gleichzeitig an den Tag, an dem Hitler erlaubte, Geisteskranken und Behinderten von Staats wegen den ‚Gnadentod‘ zu gewähren. Das kostete bis 1945 mehr als 200 000 Menschen das Leben, weil sie als „Erbkranke“ oder „nutzlose Esser“ ermordet wurden. Aly schrieb, dass bis heute die Namen dieser Getöteten verschwiegen werden, mit Rücksicht auf die noch lebenden Verwandten. Und er fragte: „Wissen oder ahnen Sie etwas von einem solchen ermordeten Verwandten? Wäre es nicht gut, Sie könnten einfach in einer Gedenkdatei nachschauen und sich Gewissheit verschaffen? Ist es nicht ein Gebot der Menschlichkeit, den Ermordeten ihren Namen zurückzugeben?“ Da fiel mir ein, dass mein Vater vor vielen Jahren von der Ermordung einer Großtante erzählte, die in einer psychiatrischen Klinik gelebt hatte. Menschen aus der Generation, die darüber noch etwas erzählen könnten, leben in unserer Familie nicht mehr. Also begann ich zu suchen, in Dokumenten, Berichten und Büchern meines Vaters und Großvaters. Beide haben viel geschrieben, auch über die Nazizeit. Aber ich fand nichts, keinen Hinweis, keinen Namen, nichts. Soweit ich mich erinnern konnte, sollte es wohl jemand aus der Familie meines Großvaters gewesen sein, also vielleicht eine Schwester von ihm. Warum habe eigentlich ich damals meinen Vater nicht genauer nach dieser Tante befragt, was sie für ein Mensch war, warum sie in eine Anstalt kam, in welcher Anstalt sie war, wo ihr Grab sein könnte? Es gibt eine kleine Ahnentafel der Familie Roth. Die Aufstellung ist so angelegt, dass nur die direkten Vorfahren, also Eltern, Großeltern, Urgroßeltern, aufgeführt sind, aber nicht deren Geschwister. Doch dann fand ich bei nochmaligem Suchen ein kleines braunes Heft, den Ahnenpass mit Hakenkreuz meiner Tante Leni, die diesen Pass als Arier- Nachweis für ihre Arbeitsstelle hatte ausfüllen müssen. In diesem Pass wird auch nach den Geschwistern der Eltern gefragt. Sie hat hinter dem Namen ihres Vaters, Alfred Roth, seine Geschwister eingetragen: „Frieda + Emma Maria Willi + “. Von diesen spärlichen Informationen bin ich bei meiner Recherche ausgegangen. Gekannt habe ich nur meinen Großvater Alfred Roth und seine Schwester Maria („Dada“). Über die anderen Geschwister wusste ich nichts, weder wo sie geboren, noch wo sie gestorben sind. Nach und nach habe ich über die verschiedenen Standesämter in Worms, St. Goar, Hersfeld und Homberg die Geburts-und Todesdaten der Geschwister meines Großvaters erfahren und konnte auch die vielen Wohnortwechsel nachvollziehen. Solche Recherchen sind natürlich heute durch das Internet viel einfacher geworden. Trotzdem musste aber immer ein Standesbeamter in den entsprechenden Büchern nachschlagen und suchen. Die kleinen Kreuze hinter den Namen von Frieda und Willi ließen mich vermuten, dass Emma die 3 Großtante war, die in eine Anstalt gekommen ist. Mit ihrer Geburtsurkunde aus Worms erhielt ich gleichzeitig die Mitteilung über ihren Tod 1941 in Hadamar. Von der Gedenkstätte Hadamar bekam ich auf meine zweite Anfrage folgende Antwort: „ Mit Ihrer Hilfe konnten wir jetzt Emma Roth eindeutig identifizieren. Folgendes können wir Ihnen aus unseren Unterlagen mitteilen: Ihre Großtante, geb. am 13. Januar 1876 in Worms, wurde am 20. Juni 1911 in die Landesheilanstalt Merxhausen aufgenommen. Am 13. Juni 1941 wurde sie in die Landesheilanstalt Eichberg / Rheingau verlegt. Während des Nationalsozialismus wurde Eichberg im Rahmen der Mordaktion an Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen zu einer so genannten "Zwischenanstalt" für die Tötungsanstalt Hadamar. Von Eichberg gelangte Frau Roth in einem Transport mit 103 weiteren Patienten am 3. Juli 1941 nach Hadamar. Da die Patienten eines solchen Transportes in der Regel noch am Tag der Ankunft in die im Keller der Anstalt befindliche Gaskammer geschickt und ermordet wurden, ist der 3. Juli 1941 als Todestag von Frau Emma Roth zu betrachten. Das damals offiziell mitgeteilte Todesdatum (in diesem Fall der 15. Juli 1941) und die Todesursache wurden falsch angegeben, um Angehörige und Behörden zu täuschen. Des Weiteren konnten wir feststellen, dass sich die Patientenakte Ihrer Großtante im Bundesarchiv in Berlin befindet (Signatur: R 179 / 20041).“ Im Bundesarchiv in Berlin konnte ich die Akte einsehen und kopieren. Sie war vorwiegend in schwer lesbarer Sütterlinschrift, nur die letzten Seiten mit Schreibmaschine geschrieben. Während dieser Monate der Spurensuche nach Emma habe ich mehrere Bücher über „Euthanasie“ gelesen und Gedenkstätten in der Berliner Umgebung besucht. Im April (2013) haben mein Mann und ich die drei hessischen Anstalten aufgesucht, in denen Emma gelebt hatte und getötet wurde. Alle drei Kliniken gibt es noch, alle drei gehören heute zu den Vitos-Kliniken für Psychiatrie und lassen die Kontinuität der Geschichte erkennen: von den ehemaligen Klöstern über Korrektionsanstalten, Irrenhäuser, Landeshospitäler zu den heutigen Kliniken. Allen drei Einrichtungen sind - weithin sichtbar - forensische Abteilungen angegliedert, in Hadamar sogar mit wulstigen Stacheldrahtzäunen umgeben. Überhaupt war Hadamar kaum zum Aushalten, eine riesige Anlage mit großen Parkplätzen, dann der schon etwas verfallene Gedenkfriedhof, die Gedenkstätte, und die authentischen Kellerräume. Bei Fragen nach Akteneinsicht wurde man auf den umständlichen Weg durch die deutsche Bürokratie gewiesen. In Eichberg hat mich besonders berührt, an der Weggabelung zu stehen, von der aus die grauen Busse abfuhren (s .Fotos). Auch dort gibt es im Keller eine kleine Ausstellung. Wir hatten das Glück, in Eichberg von einer Frau, die für Öffentlichkeitsarbeit zuständig ist, begleitet zu werden, die sehr einfühlsam auf unsere Spurensuche einging. So ließ mich auch der Besuch des KuZ, des Kulturzentrums Eichberg mit einer kleinen, von Behinderten betriebenen Gaststätte, wieder etwas klarer die Notwendigkeit solcher Einrichtungen erkennen und die Verbesserungen gegenüber früheren Zeiten sehen. 4 Merxhausen, in der Nähe von Kassel, die ehemalige Landesheilanstalt für Frauen, kam mir dann doch so vor, als hätten meine Großtante Maria und mein Großvater die beste damals mögliche Wahl für ihre Schwester Emma getroffen. Und noch etwas wurde mir deutlich: Wenn man sich mit Geschichte beschäftigt, ist es etwas ganz Anderes, wenn es um die eigene Familie geht, nicht nur wegen des gleichen Namens. Emmas Geschichte Meine Großtante, Emma Roth, wurde am 13. Januar 1876 in Worms am Rhein geboren. Sie war das zweite Kind von Philippine und Jakob Roth. Der Vater, von Beruf Kaufmann und Schneidermeister, hatte schon im Alter von zwanzig Jahren am Deutschen Krieg von 1866 teilnehmen müssen. In einem Familienbericht wurde Jakob Roth als „ein stiller, innig gläubiger, durch Leiden geläuterter Mann“ beschrieben. Auch die ältere Schwester Emmas, Friederike, genannt Frieda, wurde 1874 in Worms geboren. Nun zog die Familie um nach St. Goar, dort kamen die drei jüngeren Geschwister zur Welt: 1878 Maria, die „Dada“. Sie hatte für uns Kinder große Bedeutung, konnten wir doch immer zu ihr kommen, sie hat uns getröstet, wenn wir Probleme hatten und uns abends lange Geschichten vorgelesen. Für Emma wurde diese Schwester zur wichtigsten Bezugsperson in ihrem Leben. Der Bruder, Alfred, mein Großvater, wurde 1882 geboren. An ihn kann nur noch ich mich etwas erinnern, er war für mich ein ruhender Pol, und ich habe gern auf seinem Schoß gesessen. 1885, bei der Geburt von Emmas jüngstem Bruder, dem kleinen Willi (Wilhelm), muss seine Mutter Philippine schon sehr krank gewesen sein, denn sie starb nur zehn Monate später an Lungentuberkulose. Nun stand der Vater mit den fünf Kindern allein da. Aber auch Willi war nicht kräftig genug für das Leben, er wurde nur drei Jahre alt. Emma war also schon mit neun Jahren Halbwaise. Die einzige Information über ihre Kindheit habe ich dem Bericht des Hausarztes aus Homberg von 1911 entnommen. Als Kleinkind soll Emma häufig Krämpfe und Ohrenentzündungen gehabt haben. Sie war schwerhörig, stark kurzsichtig, und ihre Zunge stieß beim Sprechen an. Überhaupt hatte sie erst spät sprechen gelernt und blieb in ihrer Entwicklung zurück. Nach dem Bericht des Arztes muss Emma in ihrem Verhalten und im Umgang mit anderen Menschen schon als Kind sehr schwierig gewesen sein, sie hatte „abwechselnd heitere und trübselige Stimmungen“. In zweiter Ehe heiratete Jakob Roth Maria Breul aus Hersfeld, die der Baptistengemeinde angehörte. Die Familie verlegte ihren Wohnsitz nach Hersfeld. Doch schon kurze Zeit später, 1889, starb auch der Vater an Lungentuberkulose. Die Stiefmutter, Maria Roth, konnte nach seinem Tod mit den vier Kindern im Haus der Baptistengemeinde in Hersfeld, Neumarkt 608, unterkommen. 5 Mein Vater beschrieb die damalige Familiensituation so: „ Gewiss war die Stiefmutter fürsorglich (als ‚Oma‘ mir noch bekannt, gestorben 1917). Doch der Umzug nach Hersfeld kam den Kindern als Verbannung aus dem romantischen Rheintal in ein graues Hinterland vor, und die Baptistengemeinde, der die neue Mutter angehörte, erschien ihnen eng und kleinkariert. Krankheit, Verlassenheit und materielle Armut waren die Gefährten der Kinderjahre.“ 2013, Bad Hersfeld, Neumarkt 26 (früher Neumarkt 608, unter dem Dach könnte die Familie gewohnt haben) Über die ältere Schwester Frieda gibt es keine Informationen. Sie ist im Jahr 1896 mit 22 Jahren an Lungenschwindsucht, also dem alten Familienleiden, gestorben. Das waren keine guten Bedingungen für heranwachsende Kinder, und schon gar nicht für ein behindertes Kind. Emma ging zunächst in St. Goar und später in Hersfeld zur Schule. Über ihre Jugend wissen wir nur, was sie selbst bei ihrer Aufnahme in Merxhausen erzählte. Bis sie vierzehn Jahre alt war, ging sie zur Schule, blieb aber weit zurück und konnte die drei oberen Klassen der Volksschule nicht mehr besuchen. Weiter berichtete sie: „Selbständig in eine Stelle zu gehen, bringe ich nicht fertig, sagten meine Leute immer, früher war ich Aufwärterin, einmal drei Jahre und sieben Monate in einer Stelle (Hersfeld). Jetzt bin ich fünf Jahre in Homberg ohne Stelle. Ich habe alle Hausarbeit gemacht, nur freie Hausarbeit kann 6 ich nicht, früher war ich aber auch besser.“ (20.6.1911 Aufnahmebericht Merxhausen). Als junge Leute lösten sich mein Großvater und seine Schwester Maria aus der engen Verbindung mit der Freikirche und schlossen sich der Landeskirchlichen Gemeinschaft an. Dieser Schritt muss mit vielen Auseinandersetzungen verbunden gewesen sein, da Alfred und Maria ja im Haus der Baptistengemeinde wohnten, aber noch nicht alt und selbstständig genug waren, um ihren eigenen Weg zu gehen. In unseren Familienunterlagen steht, dass die Baptistengemeinde urteilte: „Wir mussten die Geschwister ‚hinaustun‘, denn sie hatten die Welt liebgewonnen.“ Die beiden fanden in der landeskirchlichen Gemeinschaft eine neue Heimat. Mein Großvater bildete sich im Selbststudium weiter. Er hatte keine Möglichkeit, ein Studium zu machen oder auch nur einen Beruf zu erlernen. Im Jahr 1905 übernahm er mit 23 Jahren die Stelle eines Predigers der Landeskirchlichen Gemeinschaft in Homberg/Efze und zog mit seiner Familie in das Haus für Gemeinschaftspflege im Stellbergsweg. Überrascht war ich, als ich bei meinen Nachforschungen erfuhr, dass nicht nur die Schwester Maria, sondern auch Emma und die Stiefmutter mit nach Homberg kamen. Bisher war ich davon ausgegangen, dass nur mein Großvater und seine Schwester Maria nach Homberg zogen. So fühlte sich Alfred Roth, als einziger Sohn, schon in jungen Jahren für Schwestern und Mutter verantwortlich. Ganz abgesehen von der besonderen kirchlich/religiösen Prägung war das Leben in Homberg sicher auch in wirtschaftlicher Hinsicht in den Jahren zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine schwere Zeit. In Homberg heirateten meine Großeltern, dort wurden auch meine Tante Frieda („Do“) und mein Vater geboren. Im Jahr 1911 war wohl das Zusammenleben in der Familie mit Emma so schwierig geworden, dass für sie um Aufnahme in die Landesheilanstalt Merxhausen gebeten wurde. Emma war inzwischen fünfunddreißig Jahre alt. In der Überweisung des Homberger Arztes von 1911 heißt es: „Die Hände fühlen sich kühl und feucht an. … Sie läßt sich in der Familie nicht lenken, macht heftige Szenen, schlägt um sich, droht mit Selbstmord. Eine Heilung erscheint bei dem langjährigen Bestehen des Leidens und seiner Art (Idiotie) ausgeschlossen.“ So muss Emma schon zuhause oft unglücklich gewesen sein. Abb.: Kloster Merxhausen mit Verwaltungsgebäude 2013 7 Am 20. Juni 1911 wurde Emma in Merxhausen aufgenommen: „ Kommt früh mit Bruder und Schwester hier an. Tritt allein ins Zimmer, antwortet willig, weint beim Abschied, folgt ohne Widerstreben nach Abt. VIII“ (Aufnahmebericht). Wie mit allen neuen Kranken wurde auch mit ihr ein Test durchgeführt. Sie beantwortete alle Fragen zu ihrer Person, zu ihrer bisherigen Lebensgeschichte und zum täglichen Leben klar und genau. Sie sagte das ‚Vater unser‘ und christliche Lieder auswendig auf, einfache Rechenaufgaben rechnete sie richtig. Bei der Frage, was am 2. September gefeiert wird, antwortete sie: „Da wird Sedan gefeiert. Da ist eine Schlacht geschlagen, man ist schon lange aus der Schule.“ Abb.: Erste Seite der Akte aus Merxhausen Ihre psychische Situation schätzt Emma so ein: „Ich bin weiter nicht krank, ich habe es nur an den Nerven.… Manchmal wird einem etwas gesagt, das passt mir nicht. Da rege ich mich manchmal so auf, daß ich einem eine geben könnte, aber das tue ich nur, wenn es ganz schlimm kam. ... Manchmal bilde ich mir auch Sachen ein, zum Beispiel, ich sei Eisenbahn 8 gefahren, oder ich hätte aufgewaschen und dann ist es gar nicht mehr. … Manchmal sind meine Gedanken heller, manchmal trüber. Meist vor Mitternacht quälen mich Gedanken, da bin ich oft ganz niedergeschlagen, was will die Zukunft bringen, was soll im Leben aus einem werden? … Ich habe oft Leibschmerzen, sehr selten Kopfschmerzen. Anfälle habe ich aber nicht. Dann bin ich sehr leicht zu erschrecken, mir ist, als führe plötzlich ein Gedanke durch den Kopf.“ Sie fragt mit der Hoffnung, bald wieder entlassen zu werden: „Wie ist es denn, nicht wahr, es steht nicht schlimm mit mir?“ Genau dreißig Jahre lang lebte Emma Roth in Merxhausen, von ihrem 35. bis zu ihrem 65. Lebensjahr, von 1911 bis 1941. Die Patientenakte über diese Zeit, insgesamt 17 Seiten, besteht aus dem Aufnahmebericht und Tagesnotizen: Eintragungen, oft nur in Halbsätzen, zu Emmas Gesundheitszustand und zu ihrem Verhalten in der Abteilung. An den verschiedenen Schriftarten erkennt man, dass natürlich über die vielen Jahre hin mehrere Personen diese Notizen geschrieben haben. Ihre Grundaussagen zu Emma, mal mehr oder weniger drastisch, sind allerdings durchgehend ähnlich. Sie galt immer als schwierige Patientin, unbeliebt und ungeliebt bei den anderen Patientinnen und dem Pflegepersonal. Abb: 1910; Hauptgebäude Haus 6, davor die Ems mit Eisenzaun und Irr-oder Tobgarten In der Akte steht, dass Emma nur 1,50 m groß war, von blasser Hautfarbe, schwerhörig und mit reichlichem Fettpolster (wohl nur in den ersten Jahren). Ihre Nahrungsaufnahme muss sehr unregelmäßig gewesen sein. Mal aß sie kaum etwas, wollte nur Brei haben, dann aß sie wieder viel und nahm anderen das Essen weg. Sie fühlte sich häufig schwach, litt unter verschiedenen Schmerzen und war anfällig für Erkältungskrankheiten. Durch ihre Schwerhörigkeit wurde sie misstrauisch anderen gegenüber und nahm immer alles sehr schwer. Über die Jahre hin wird in den Berichten darüber geklagt, dass sich Emma während der Visiten bei den Ärzten einschmeichle, kindlich zutraulich sei und die Ärzte immer wieder 9 mit Fragen belästige. Sie sei leicht erregbar, schlage sich manchmal selbst an den Kopf, breche leicht in Tränen aus und drohe mit Selbstmord. Ab und zu musste sie „wegen Erregung“ einige Zeit im Bett liegen. Im Jahr 1935 wurde Emma aus Platzgründen in eine andere Abteilung verlegt, in der sie sich sehr unwohl fühlte. Hier muss sie sehr gekämpft haben und hat es tatsächlich erreicht, dass sie nach vier Monaten wieder in ihre alte Abteilung, zurück nach Haus 6, verlegt wurde. Ein Lichtblick war für sie vielleicht die Arbeit im Nähsaal, oben in Haus 6. Manchmal heißt es, dass sie eifrig strickte oder stickte. Doch diese Aussagen wurden immer mit dem Zusatz kommentiert, dass sie dabei langsam und umständlich sei und nicht viel leiste. Zeitweise half sie auch bei Reinigungsarbeiten mit. Abb.: 1928, Nähsaal in Haus 6 (Ich stelle mir Emma so vor wie die Frau ganz vorne links.) Während der 30 Jahre, die Emma in Merxhausen lebte, hatte sie Kontakt mit ihrer Familie, vor allem mit ihrer Schwester Maria. Mehrmals wird auf den regelmäßigen Briefverkehr mit ihr hingewiesen und festgestellt, dass Emma sich immer sehr über Nachrichten und Zeitschriften freute. Die Briefe wurden natürlich gelesen. In den ersten Jahren, in denen Emma immer noch die Hoffnung hegte, wieder zu ihrer Familie zurückkehren zu können, heißt es: „Schreibt viel Briefe frommen, ergebenen Inhalts nach Hause, verspricht ordentlich zu sein, wenn man sie hole“ (Sommer 1913). Mehrmals wird darauf hingewiesen, dass sie sich sehr zu ihrer Familie hingezogen fühlt und sich Gedanken über deren Ergehen macht. 10 Sowohl in ihren Briefen als auch bei den Besuchen der Schwester beschwerte sich Emma häufig über schlechte Behandlung und klagte über ihr Leben in Merxhausen. Diese Besuche müssen für beide Schwestern aufwühlend gewesen sein. Manchmal liest man aber auch in der Akte, dass sie sich gut mit ihrer Schwester unterhalten habe. Auch Spaziergänge waren offensichtlich möglich. „Die Bewegungsfähigkeit des Beines hat sich inzwischen weiterhin so sehr gebessert (Emma hatte ihren Knöchel verstaucht), daß Pat., wenn sie von ihrer Schwester besucht wird, bis Sand gehen kann“ (1940). Wie häufig sie Besuch ihrer Schwester bekam, lässt sich nicht nachvollziehen. Die Fahrten von Homberg oder Hersfeld nach Merxhausen waren umständlich, später, als die Familie in Kassel wohnte, wurden sie einfacher. Emma beschrieb ihre erste und einzige Fahrt nach Merxhausen so: „Von Homberg nach Wilhelmshöhe sind wir mit der Bahn gefahren, dann nochmal bis Sand, dann zu Fuß hierher“ (Aufnahmebericht). Leider geht aus der Akte nicht hervor, wie das tägliche Leben in der Landesheilanstalt Merxhausen ablief, und wie die Betreuung und Versorgung war. Daher möchte ich ein paar Einblicke in die Zeit geben, während Emma dort lebte. Aus dem ehemaligen Augustinerkloster Merxhausen wurde 1533 mitsamt seinem Grundbesitz ein Landeshospital für die arme Landbevölkerung. Erst im Jahr 1881 wurde das Hospital auch für Kranke aus den Städten geöffnet. Um 1900 verfügte Merxhausen über große landwirtschaftliche Güter und war von unzähligen Gärten umgeben. Wie die meisten Klöster liegt auch Merxhausen in landschaftlich schöner Gegend; es wird von der Ems durchflossen und gehört heute zur Gemeinde Bad Emstal in Nordhessen. Das Haus 6 (Abt. 6) – nur für Frauen bestimmt - in dem Emma die meiste Zeit lebte, wird folgendermaßen beschrieben: 1881 „wurde das erste Hauptgebäude für 200 ruhige, rüstige, arbeitsfähige Kranke, die tagsüber in den verschiedenen Betrieben arbeiteten, eingerichtet… Das große Haus hatte im Erdgeschoß zwei „mächtige“ Säle, die als Speise- und Arbeitssaal dienten. Der Arbeitssaal wurde auch als Festsaal benutzt. In den zwei Etagen darüber gab es je zwei gleich große Schlafsäle zu 50 (!) Betten“(Erckenbrecht, S.33). Abb.: 1963, Haus 4 vor dem Umbau 11 In einem Zeitzeugenbericht heißt es: „Im allgemeinen war das Betreten des Geländes zwischen den Anstaltsgebäuden (Abteilungen) unerwünscht. Die Abteilungstüren waren stets verschlossen. Nur in Abteilung 6 mit dem Nähsaal gelangten wir, wenn Theater- oder die ersten Filmvorführungen stattfanden“ (Erckenbrecht, S. 8). Wie die Verpflegung in Merxhausen war, geht aus Emmas Akte nicht klar hervor. Mehrmals heißt es, dass sie unregelmäßig aß, aber auch anderen Patientinnen Essen wegnahm. Dass sie vielleicht einfach Hunger hatte, wird nicht erwähnt. Emma hat ja schon den 1. Weltkrieg in Merxhausen erlebt und während der Hungerjahre 1914-18 gab es auch in dieser Anstalt eine Unterversorgung. Allgemein wird berichtet, dass ab 1933 die Verpflegung der Patienten in den Landesheilanstalten systematisch und bewusst reduziert wurde. Ich hatte gehofft, dies sei in Merxhausen durch die dazugehörigen landwirtschaftlichen Betriebe nicht der Fall gewesen. Aber 1939 heißt es in Emmas Akte: „Geht langsam körperlich zurück, ohne daß sich ein bestimmter krankhafter Befund erheben ließe… Ist kindlich in ihrem Wesen, dementer Gesamteindruck.“ Im Jahresbericht des Merxhäuser Direktors steht für das Rechnungsjahr 1939/40: „Die durch Vereinfachung der Beköstigung bei nicht wenigen Kranken der II. Verpflegungsklasse bedingte Gewichtsabnahme machte sich in diesem Berichtsjahr in verstärktem Maße bemerkbar.“ Und weiter heißt es: „Auch in diesem Berichtsjahr verstarben auffallend viele Kranke. 1937/38: 57, 1938/39: 114, 1939/40: 165. Bei zahlreichen dieser Verstorbenen, die meist der II. Verpflegungsklasse angehört hatten und keineswegs alle sehr bejahrt waren, mußte als Todesursache ‚allgemeiner körperlicher Verfall‘ festgestellt werden.“ Diese Sätze 12 waren durchgestrichen worden, aber noch lesbar (M. Klüppel, S. 81). Die Mangelernährung sollte bewusst den Tod der Patienten herbeiführen, sollte sie langsam verhungern lassen. Auch von Platzproblemen und Überbelegungen steht nichts in Emmas Akte. Dass die Patientinnen nicht einmal einen Nachttisch für ein paar eigene Sachen neben ihren Betten in den riesigen Schlafsälen hatten, lässt sich auf den Fotos erkennen. Aber ob jede Patientin 1941 überhaupt noch ein eigenes Bett hatte? 1937 begann aus wirtschaftlichen Gründen eine große Verlegungsaktion von Patienten aus kirchlichen Anstalten in Landesanstalten. So wurden 1938 aus Bethel 31 Frauen und aus Hephata mehr als 100 Frauen nach Merxhausen verlegt (Klüppel, S.21 u. 37). 1939 kamen aus der Anstalt Merzig im Saarland noch einmal 500 Patienten nach Haina und Merxhausen. Daher hatte Merxhausen im November 1939 einen Höchststand von 1206 Patienten, trotz der vielen Todesfälle durch „Vereinfachung der Verköstigung“. Im Juli des Jahres 1941 lebten nur noch 345 Patienten in Merxhausen (Klüppel, S. 47). So war genügend Platz geschaffen für das Reservelazarett, das ab dem 1. 9. 1941 in die Landesanstalt verlegt wurde. Weitere Maßnahmen zur Kostenreduzierung gegenüber diesen „lebensunwerten“ Menschen waren die Abordnungen von Ärzten und Krankenschwestern, auch ihre Gehälter wurden gekürzt. Ein individuelles Eingehen auf die einzelnen Patienten konnte also nicht mehr erfolgen. In Merxhausen wurde die Patientenakte von Emma am 13. 6. 1941 mit einem Stempel und dem Vermerk beendet: „Wird auf behördliche Anordnung in die LHA Eichberg verlegt.“ Emma Roth war eine der 525 Patientinnen, die 1941 von Merxhausen aus Opfer der „Euthanasie“ - Verbrechen wurden, wie auf der Tafel am Verwaltungsgebäude zu lesen ist. Daneben hängt eine größere schwarze Tafel: „Augustinerkloster und Hospital in Merxhausen“, auf der die Geschichte seit 1213 beschrieben ist. Die beiden letzten Daten beziehen sich auf die Jahre 1929 und 1957; die Nazizeit ist nicht erwähnt. Später wurde eine kleine Tafel darunter geschraubt mit dem Vermerk: „Die Zeit des Nationalsozialismus wurde hier nicht berücksichtigt. Es wird daher auf die Gedenktafel rechts verwiesen.“ „Wir erinnern uns der Patientinnen der Landesheil-und Pflegeanstalt Merxhausen, ihr Leben galt den Nationalsozialisten als „lebensunwert“, hier wurden Menschen zwangssterilisiert, viele wurden verschleppt und umgebracht. Ab 1937-1945 wurden die Lebensbedingungen drastisch verschlechtert, viele Patientinnen starben. 1940 wurden 13 jüdische Patientinnen abtransportiert und an unbekanntem Ort ermordet. 1941 kamen 506 Patientinnen nach Hadamar und wurden dort Opfer der „Euthanasie“ - Verbrechen. 1943/44 wurden mindestens 6 psychisch kranke Zwangsarbeiter aus Polen und der Sowjetunion mit unbekanntem Ziel deportiert und vermutlich ermordet. Leben und 13 Tod dieser Menschen sind uns Mahnung und Verpflichtung. Abb.: Ausschnitt aus der Tafel zu den Opfern des Nationalsozialismus Die Opfer des Nationalsozialismus in Merxhausen haben keine Namen bekommen. Zuerst wurden sie gar nicht erwähnt, später nur auf einer Gedenktafel ohne Namen. Ihre Namen sind aber bekannt. „Mit peinlicher Korrektheit legte man in Merxhausen eine 51 Seiten umfassende Liste der verlegten Patienten an. Sie trägt die Überschrift „Stellen, die für eine Benachrichtigung in Frage gekommen wären“. Neben dem Namen und dem Wohnort des Patienten sind Adressen der Angehörigen, der Staatsanwaltschaften, der Bezirksfürsorgeverbände etc. festgehalten“ (Klüppel, S. 56/57). Emma Roth ist in dieser Liste mit der „Nr. 209“ eingetragen und als Angehöriger wurde die Adresse des Bruders: „Alfred Roth, KasselWilh., Kaiser-Friedrichstr. 7“ (Akte LWV) angegeben. Aus dem Aufnahmebuch geht hervor, dass keine der verlegten Patientinnen jemals wieder nach Merxhausen zurückkehrte (Klüppel, S.47). Ich möchte mich dafür einsetzen, dass in Merxhausen an einem würdigen Ort, ein Gedenkbuch mit Namen und Daten dieser Opfer ausgelegt wird. Seit 1939 liefen in Berlin die Vorbereitungen für die nationalsozialistische ‚Euthanasie‘Aktion. Sie basierten auf dem von Hitler unterschriebenen „Ermächtigungserlass“ (der auf den 1. September 1939 datiert war): „Reichsleiter Bouhler und Dr. med. Brandt sind unter Verantwortung beauftragt, die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann“ (zitiert nach: Verlegt nach Hadamar, S. 69). Die Verwaltungszentrale des Krankenmordes befand sich in Berlin, in der Tiergartenstraße 4 und tarnte sich mit dem Namen „Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten“. Diese Adresse lieferte den Namen für die ‚Aktion T4‘. Zwischen Januar 1940 und August 1941 kamen in den sechs T4 Gasmordanstalten mitten in Deutschland und Österreich mehr als 70 000 Menschen ums Leben. Die Zentrale in Berlin verschickte Meldebogen, mit denen alle Patienten in den Heilanstalten des Reiches erfasst wurden. Merxhausen erhielt die Meldebogen 1940. Sie mussten unter 14 Zeitdruck ausgefüllt und zurück nach Berlin geschickt werden. Gutachter trugen auf dem Meldebogen in einem Kästchen ein + für Tod oder ein - für Leben ein, ohne die Patienten jemals gesehen zu haben. Wenn in den Meldebogen „arbeitsunfähig“, „mindestens 5 Jahre in der Anstalt“, „kein Kontakt zu Angehörigen“ oder „jüdischer Herkunft“ angekreuzt war, bedeutete dies das Todesurteil. Die Heilanstalten hatten die Möglichkeit, Patienten zurückzustellen und ihnen damit das Leben zu retten. So wurden auch in Merxhausen einige wenige Patienten vor den Transporten bewahrt (Klüppel, S.28 u. 42/43). Die Patienten wurden zunächst in sogenannte Zwischenanstalten gebracht. Diese dienten zur Verschleierung der Transporte in die eigentlichen Tötungsanstalten. Die Angehörigen wurden erst später über die Verlegungen informiert. „ Die Abgabeanstalten geben weder den Angehörigen noch den Kostenträgern Mitteilung von der Verlegung“ (Niederschrift der Besprechung vom 21. 4. 1941, Akte LWV). Die Landesheilanstalten Eichberg und Herborn waren „Zwischenanstalten“ für die Patientinnen aus Merxhausen auf dem Weg nach Hadamar. Personalakten und Meldebogen wurden bei der Verlegung der Kranken mitgegeben. Von Emma Roth ist der Meldebogen nicht mehr erhalten. Aber in ihrer Merxhäuser Akte findet man nun den Stempel von Eichberg: „13. Juni 1941: „Landes-Heilanstalt, Eichberg im Rheingau, Post u. Bahnstation, Hattenheim a/Rh“ Auch die Landesheilanstalt Eichberg im Rheingau ist schön am Hang gelegen, in der Nähe des Klosters Eberbach. Emma wurde am 12. und 13. Juni 1941, zusammen mit 202 anderen Patientinnen (Klüppel S.43) nach Eichberg verlegt. Die Namen und Vornamen mussten den Patientinnen „mit Tintenstift auf die vorher angefeuchtete Hautstelle zwischen den Schulterblättern“ geschrieben werden (Brief vom 26.5.1941 aus der LH Herborn), damit sie schneller identifiziert werden konnten. Die Merxhäuser Patientinnen wurden – wahrscheinlich mit Lastwagen – zur 3 km entfernt liegenden Bahnstation der Kleinbahn Kassel-Naumburg nach Sand gebracht. Dies geschah am hellen Tag, und sowohl die Bevölkerung von Merxhausen und als auch von Sand hat mitbekommen, dass – ganz ungewöhnlich – eine so große Anzahl von Patientinnen die Landesheilanstalt mit kleinem Gepäck verlassen musste. Ich vermute, dass Emma während der 30 Jahre in Merxhausen nie weiter als bis nach Sand gekommen ist. Was hat sie sich schon aufgeregt, wenn sie nur von einer Abteilung in eine andere verlegt wurde. Augenzeugen solcher „Verlegungen“, auch aus anderen Kliniken, berichten übereinstimmend, dass sich unter den alles schweigend über sich ergehen lassenden Menschen immer einige befanden, die sich wehrten, die versuchten wegzulaufen, die wussten oder ahnten, was ihnen bevorstand und dies auch ausdrückten. Ich weiß nicht, ob Emma ahnte, wohin diese Fahrt ins Ungewisse führte; aber dass sie nichts Gutes bedeutete, das war ihr sicher klar. Es muss eine lange und beschwerliche Zugfahrt quer durch ganz Hessen gewesen sein. 15 Das Pflegepersonal brachte die Patientinnen bis zu den Zwischenanstalten nach Herborn und Eichberg und kehrte dann sofort wieder nach Merxhausen zurück. Was sie wohl gewusst haben, all diese Menschen in der Verwaltung, bei Bus und Bahn, in Küche und Landwirtschaft, die Ärzte, Pfleger und die jungen Krankenschwestern hier auf dem Foto? Abb.: Schwestern aus Merxhausen auf dem Bahnhof von Herborn am 30. Mai 1941 (1. Transport) In einem Brief von Merxhausen an die Reichsbahn in Kassel vom 11.6.1941 heißt es: „Aus der hiesigen Anstalt werden am 13.6.1941 – 81 Geisteskranke durch 8 Begleiterinnen in die Landesheilanstalt Eichberg überführt. Die entstehenden Transportkosten von Kassel nach Hattenheim werden von der Transportleiterin, Oberpflegerin Fr. M., bei der Stationskasse Kassel eingezahlt“ (Akte LWV). Die Zeit vom 13. Juni bis 3. Juli verbrachte Emma nun zusammen mit den Frauen aus Merxhausen und den vielen Patienten aus anderen Anstalten in der ‚Landesheilanstalt‘ Eichberg. „In den Zwischenanstalten wurden die verstörten und irritierten psychisch Kranken und geistig Behinderten als sogenannte Durchgangskranke behandelt und getrennt von den restlichen Insassen untergebracht“ (Hadamar, S. 84). Mehr als 2 200 Patienten sind allein im Jahr 1941 in der Zwischenanstalt Eichberg gesammelt und von dort aus nach Hadamar in die Gaskammer geschickt worden. 16 „3. Juli 1941 Verlegt in eine andere Anstalt“ Abb.:1941, Abfahrt der grauen Busse von Eichberg nach Hadamar 2013 Eichberg Dies war der letzte Stempel in Emmas Akte, er stammte aus Eichberg. Von hier aus wurde sie mit einem Bus nach Hadamar bei Limburg transportiert. Die früheren Postbusse waren grau lackiert worden, auch die Fensterscheiben hatte man mit Farbe bestrichen, damit niemand weder hinaus- noch hineinschauen konnte. Die Fahrt von Eichberg nach Hadamar führte durch bergiges Gelände. In der Tötungsanstalt angekommen, fuhren die Busse direkt in eine dafür gebaute Garage, in der drei Busse Platz fanden. Erst nachdem die Tore verschlossen waren, durften die Patienten aussteigen: damit sie nicht fliehen, damit sie von niemandem gesehen werden konnten. Sie wurden durch einen Schleusengang direkt in das Anstaltsgebäude gebracht. 17 Abb.: Blick auf den Klosterbau und den Tötungstrakt mit Busgaragen rechts 1941 Dort wurden die Opfer vom Begleitpersonal ausgezogen, bekamen einen alten Militärmantel umgehängt und wurden von einem Arzt kurz begutachtet. Dieser Arzt legte fest, welche der verschiedenen falschen Todesursachen auf den Totenschein geschrieben werden sollte. Zum Schluss wurden die Patienten noch fotografiert. Ich weiß nicht, ob Emma jemals fotografiert wurde. In unserer Familie gab es weder ein Foto von Emma, noch von ihrer Schwester Frieda oder dem kleinen Bruder Willi. Und vielleicht ist es auch gut, dass diese letzten Fotos aus Hadamar vernichtet worden sind. Es wurde vorgegeben, die Kranken zum Duschen zu führen. Man brachte sie hinunter in die Gaskammer im Keller, jeweils bis zu 60 Personen zusammen, und ermordete sie mit Kohlenmonoxyd. Durch ein kleines Fenster konnte ein Arzt die Ermordung beobachten. Von Januar bis August 1941 kamen auf diese Weise 10 000 Menschen in Hadamar ums Leben. Die Toten wurden zu zwei Krematorien gezerrt und dort verbrannt. Vorher brach man ihnen noch die Goldzähne aus und entnahm bei einigen zu „Forschungszwecken“ die Gehirne. Abb.: Rauchender Schornstein des Krematoriums mitten in der Stadt Hadamar 1941 18 Die ganze Stadt sah die rauchenden Schornsteine jeden Tag und die grauen Busse, die durch die Straßen fuhren. Kinder nannten die Busse „Mordkisten“ und bedrohten sich: „Du kommst in den Backofen von Hadamar“ (Hadamar, S.95). Das geschah mitten in Deutschland. Groß war der Verwaltungsapparat, der zur Anstalt gehörte. Neben den Aufnahmeräumen für die Opfer gab es ein eigenes illegales Standesamt mit einer Abteilung für das Erstellen von „Trostbriefen“ an die Angehörigen und mit einer Abteilung für den Urnenversand. In den Urnen befand sich natürlich niemals die Asche des betreffenden Toten. Das Stadtarchiv Worms hat mir die Kopie von Emmas Geburtsurkunde zugesandt (s. erste Seite). Unten rechts ist der Eintrag zu lesen: „Gestorben 15.7.1941, Nr.194/1941, Hadamar.“ Der Archivamtmann aus Worms schrieb im Begleitschreiben: „Der Hinweis auf ihren Tod bezieht sich auf einen Eintrag im Sterbebuch des Standesamts Hadamar.“ Aber nicht der 15. Juli, sondern der 3. Juli ist nachweislich Emma Roths Todestag (Opferliste Hadamar). Dieser zwölf Tage spätere Eintrag des Todesdatums wurde von dem extra geschaffenen Standesamt in Hadamar willkürlich so festgelegt, einmal der Verschleierung wegen, und zum anderen, um noch länger Pflegegeld kassieren zu können. Aus der Pflegekostenrechnung der Zentralverrechnungsstelle von Berlin vom 27. Sept. 1941 geht hervor, dass für Emma Roth für die Zeit vom 3.7. – 15.7.1941 dreißig Reichsmark bei einem Tagessatz von 2,50 RM gezahlt werden mussten. Bei ihrer Verlegung nach Hadamar hatte sie noch ein Barvermögen von 1,23 RM (Akte LWV). Den sogenannten „Trostbrief“ konnte ich bei den Unterlagen meines Vaters und Großvaters nicht finden, genauso wenig wie ich ja sonst irgendeinen Hinweis auf Emma gefunden habe. Um solche „Trostbriefe“ zu verfassen, waren extra Leute eingestellt worden. Die Briefe wurden an die nächsten Angehörigen gerichtet und lauteten etwa so: „Leider müssen wir Ihnen zu unserem Bedauern mitteilen, dass Ihre Schwester, Emma Roth, am 15. 7. 1941 unerwartet an Lungentuberkulose gestorben ist.“ Ich zitiere einen Ausschnitt aus einem „echten“ Trostbrief aus Hadamar: „Ihre Verlegung in unsere Anstalt stellt eine Kriegsmaßnahme dar und erfolgte aus mit der Reichsverteidigung im Zusammenhang stehenden Gründen. - ...um den Ausbruch und die Übertragung ansteckender Krankheiten zu vermeiden … wurde die sofortige Einäscherung der Leiche und die Desinfektion des Nachlasses verfügt. Einer Einwilligung der Angehörigen usw. bedarf es in diesem Fall nicht. … Falls Sie die Urne auf einem bestimmten Friedhof beisetzen lassen wollen – die Überführung der Urne erfolgt kostenlos – bitten wir Sie, uns unter Beifügung einer Einverständniserklärung der betreffenden Friedhofsverwaltung zu benachrichtigen. Sollten Sie uns diese nicht innerhalb von 14 Tagen zusenden, werden wir die Beisetzung andersweitig veranlassen, wie wir auch annehmen würden, dass Sie auf den Nachlass verzichten, wenn uns nicht innerhalb gleicher Zeit hierüber eine Mitteilung zugehen sollte. Zwei Sterbeurkunden, die Sie für eine etwaige Vorlage bei Behörden verwenden können, fügen wir bei“ (Trostbrief aus Hadamar vom 20. Mai 1941). 19 Ob unsere Familie die Urne mit der falschen Asche Emmas angefordert hatte, ob eine Beisetzung vielleicht in Kassel-Wilhelmshöhe auf einem Friedhof erfolgte, weiß ich nicht. Die Kasseler Friedhofsverwaltung schrieb: „…nach intensiver Recherche müssen wir Ihnen leider mitteilen, dass die Daten über Ihre Tante Emma Roth nicht auffindbar sind. Möglicherweise sind die Beerdigungsbücher bei den Bombenangriffen im Jahr 1943 zerstört worden.“ Vielleicht deutet ein so ins Allgemeine gezogener Hinweis meines Vaters auf die Todesbenachrichtigung über Emma hin: „Unser Vater, der eine parteiamtliche verlogene Todesbenachrichtigung gelesen hatte, war wütend über diese Methode und konnte sein Entsetzen im Gespräch mit anderen nicht immer zügeln“ (W. Roth, Farbtupfen, 1987 S. 3/2). Emma Roth hatte kein Grab - Emma Roth hatte keinen Namen Was tun? Ich möchte mich dafür einsetzen, dass Emma Roth, zusammen mit den etwa 200 000 „Euthanasieopfern“, in einer öffentlich einsehbaren Gedenkdatei wenigstens ihr Name zurückgegeben wird. Gedenkdatei In Hadamar gibt es seit 2006 eine digitale Opferdatenbank. Über diese Datenbank habe ich nach Antrag die ersten Informationen über Emma Roth erhalten. Aber diese Datei ist leider nicht frei zugänglich. Es gibt auch ein Opferbuch, das man auf Anfrage einsehen kann. Aus Schutz der Privatsphäre der Opfer, vor allen Dingen aber der Angehörigen, sind diese Dateien nicht öffentlich zugänglich. Eine öffentliche Datei allerdings gibt es, und in ihr habe ich auch den Namen und das Geburtsdatum von Emma Roth gefunden. Götz Aly schreibt: „Die Namen und Geburtsdaten von 30 076 Menschen, die in der ersten Phase der Morde, also bis August 1941, in Gaskammern starben, kann man auf der Webseite www.iaapa.org.il/46024/Claims# nachsehen. ... Die Krankenakten zu den in dieser Datei aufgeführten Namen verwahrt das Bundesarchiv im Bestand R 179.“ Hagai Aviel aus Tel Aviv stellte diese Daten illegal ins Netz. Ein Urteil des Verwaltungsgerichtes Koblenz, diese Daten zu entfernen, konnte nicht umgesetzt werden, weil es kein Rechtshilfeabkommen mit Israel gibt. Aly empfiehlt, die Illegalität nachträglich zu legalisieren und die Daten der Toten offiziell ins Netz zu stellen und laufend zu ergänzen. „Dann könnten interessierte Familien, Historiker und Heimatforscher Unterlagen und Fotos beisteuern, die ebenfalls mit der Datei zu verbinden wären. So würde mit der Zeit ein sich frei entwickelndes Denkmal für die Toten entstehen“ (Aly, S. 17). Stolperstein oder Gedenkbuch Da ich mich seit Jahren für Stolpersteinverlegungen engagiere, für jüdische Menschen in Berlin-Pankow, aber auch für meinen Vorgänger in Gudensberg, den der SPD nahestehenden Rektor Paul Wickenhoefer, ist es natürlich naheliegend, dass ich – vielleicht endlich – darüber nachdenke, ob nicht auch meiner Großtante Emma ein Stolperstein gesetzt werden sollte. Aber an welchem Ort? In dem kleinen Ort Burghaun, in der Nähe von Hünfeld, wurde für Maria Benedikta Lohfink ein Stolperstein gesetzt. Maria Lohfink hatte einen ganz ähnlichen Lebenslauf wie Emma 20 Roth, hat das gleiche Schicksal erlitten. Sie wurde 1875 geboren, lebte von 1918 bis 1941 in Merxhausen (vielleicht sind sich die beiden dort im Nähsaal begegnet) und wurde am 3.7.1941 in Hadamar ermordet. Der Unterschied ist aber, dass sie die ersten 42 Jahre ihres Lebens bei ihrer Familie in Burghaun verbrachte. Von daher hat Maria Lohfink eine ganz klare Beziehung zu diesem Ort, und ich kann sehr gut nachvollziehen, dass ihr Großneffe einen Stolperstein für sie in Burghaun hat legen lassen. Aber wo sollte ein Stolperstein für Emma Roth verlegt werden? Sie wurde in Worms geboren, lebte einige Jahre in St. Goar, dann längere Zeit in Hersfeld und zuletzt fünf Jahre in Homberg. In Merxhausen hat sie 30 Jahre verbracht, also fast die Hälfte ihres Lebens. Von daher halte ich es für angemessen, wenn in Merxhausen ihrer gedacht würde. Da man aber in Merxhausen nicht 525 Stolpersteine verlegen kann, sollte meiner Meinung nach ein Gedenkbuch erstellt werden mit allen Opfern, die von Merxhausen aus in Tötungsanstalten ausgeliefert wurden. Denn das gibt es bisher dort nicht. Maili Hochhuth Berlin, April 2013 Literatur: Patientenakte: Krankengeschichte der ledigen Emma Roth. Nr. 2176 Landes-Hospital Merxhausen. 20.06.1911 – 03.07.1941 Sachakten des LWV – Kassel Götz Aly: Die Belasteten. >Euthanasie< 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte. Frankfurt 2013 Manfred Klüppel: >Euthanasie< und Lebensvernichtung am Beispiel der Landesheilanstalten Haina und Merxhausen. Eine Chronik der Ereignisse 1933-1945. Nationalsozialismus in Nordhessen. Kassel 1984 Marieluise Erckenbrecht: Merxhausen damals. Göttingen 1994. 3. Aufl. Herausgeber: Landeswohlfahrtsverband Hessen: Wissen und Irren. Psychiatriegeschichte aus zwei Jahrhunderten – Eberbach und Eichberg. Kassel 1999 Herausgeber: Landeswohlfahrtsverband Hessen: Verlegt nach Hadamar. Die Geschichte einer NS-„Euthanasie“-Anstalt. Begleitband. Kassel 2009. 4. Aufl. 21
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