ZU ÜBERLEBEN

AU S L A N D
In Tuol Sleng produzierte Vann
Nath Porträts von Pol Pot am
Fließband. Seitdem er in Freiheit
ist, dokumentiert er die Hölle,
in der er leben musste
MALEN, UM
FOTO : AG EN T U R FOC U S
ZU ÜBERLEBEN
Vann Nath ist einer von sieben Überlebenden
des Lagers S 21 der Roten Khmer. 29 Jahre später
darf der Maler gegen seine Folterer aussagen
VON JÖ RG RO H L E D E R – FOTOS: DA N I E L E M AT T I O L I
98
VA N I T Y FA I R
7 / 08
7 / 08
VANI T Y
FA I R
99
AU S L A N D
den verschleppt und ermordet. Wer eine
Universität besucht hatte, eine Fremdsprache beherrschte oder einfach nur eine
Brille trug, galt als Intellektueller und damit als potenzieller Verräter.
So auch Vann Nath. Die Roten Khmer
vertrieben den Maler samt Frau und kleinem Sohn aus ihrem Heimatdorf bei Battambang im Nordwesten Kambodschas.
Sie wurden der Landkommune Nummer
fünf zugeteilt, einer losen Ansammlung
von Hütten am Fluss O Mony. „Anfangs
habe ich dort Leichen gewaschen und Särge gezimmert“, erinnert sich Nath, „wer
die Toten waren, wussten wir nicht.“ Später musste er Holz sammeln und Dämme
ausheben. „Es war eine schwere Zeit“,
sagt Vann Nath. Immerhin schaffte er es,
seine Familie zusammenzuhalten. Mehr
noch: Er wurde zum zweiten Mal Vater.
Doch dann bestellte der Kommandant
der Landkommune Vann Nath zu sich. Er
habe sich unzüchtig verhalten, hieß es.
Genauere Informationen gab es nicht. Bis
heute hat Vann Nath keine Ahnung, warum er verhaftet wurde. Der Familienvater wurde mit anderen Gefangenen auf
einen Lastwagen verladen, gefesselt und
geschlagen. Die Roten Khmer behandelten sie „wie Vieh auf dem Weg zum
Schlachthof“. Nach zweieinhalb Tagen
waren sie am Ziel der Reise.
Vann Nath erinnert sich präzise, wenn
er heute durch den Innenhof von Tuol
Sleng geht: „Dort, wo jetzt die Palmen stehen, hielt der Lastwagen.“ Er flüstert. Es
war der 7. Januar 1978, als Vann Nath in
der Hölle ankam.
Nachdem die Gefangenen von der La-derampe herabgeklettert waren, wurden
sie zusammengekettet und in einen Raum
geführt. Dort wartete der Fotograf und
schrie sie an: „Geradeaus sehen! Keine Be-wegung! Keine Fragen!“ Dann drückte er
auf den Auslöser. Vann Nath wusste nicht,
wo er gelandet war.
Die Henker Pol Pots quälten in Tuol
Sleng im Akkord Männer, Frauen und
Kinder zu Tode. Sie folterten sie so lange,
bis sie zugaben, Spione des feindlichen
Auslands zu sein. Als Instrumente dienten
»JEDE NACHT HÖRE ICH
DIE SCHREIE DER
GEFOLTERTEN«
100
VA N I T Y FA I R
7 / 08
FOTO : P EP P E A R N I N G E / W P N / AG EN T U R FOC U S , G E T T Y I M AG E S (2)
V
ann Naths Todestag
ist der 16. Februar
1978. An diesem
Tag stand sein
Name auf der Todesliste der Roten
Khmer. Es ist also
kein Wunder, dass
der alte Mann mit
den buschigen, weißen Augenbrauen heute durch das ehemalige Gefangenenlager
Tuol Sleng geht wie ein Geist.
Vann Nath hatte sich in seinen Träumen
lange vor diesem Tag von seiner Frau Eng
verabschiedet. Von seinen Söhnen. Die
Angst, zu sterben, war weg. Der Tod, das
war dem 32-Jährigen klar, konnte nur besser sein als das Leben im Zellblock D.
29 Jahre nach der Flucht hört Vann Nath
noch immer die Schreie der Gefolterten,
das Knattern der Lastwagen, in denen die
Todgeweihten abtransportiert wurden.
Nachts, wenn er schläft. Und an Tagen
wie diesem. Wenn er noch einmal Tuol
Sleng betritt. Vann Nath meidet diesen
Ort. Doch er kommt nicht davon los.
Tuol Sleng, besser bekannt als S 21, war
das berüchtigte Foltergefängnis der Roten
Khmer in Phnom Penh, der Hauptstadt
Kambodschas. Nur 7 der etwa 15 000 Insassen des Lagers kamen mit dem Leben
davon. Drei davon leben noch heute. Einer von ihnen ist Vann Nath, Kambodschas berühmtester Maler. Die Wachen
grüßen den weißhaarigen Mann respektvoll, als er, die Arme hinter dem Rücken
verschränkt, das Tor von S 21 passiert.
Am 17. April 1975 marschierten die
Guerillakämpfer der kommunistischen
Roten Khmer in Phnom Penh ein. Pol Pots
Schergen rissen den Beton von den Straßen, zündeten Bibliotheken, Schulen,
Tempel und Klöster an. Geschichte sollte
geschrieben, ein neuer Mensch erfunden
werden. Ungebildet und genügsam. Pol
Pot, der „Bruder Nummer eins“, träumte
von einem „agrarischen Kommunismus“.
Die neuen Herrscher schafften das Geld
ab. Der Staat sollte die Menschen mit dem
Nötigsten versorgen. Lehrer, Künstler und
Händler wurden verhaftet und zu Tausen-
1
1 Fast 15 000 Menschen
wurden im Lager S 21 gefoltert
2 Pol Pots Schergen rissen
Familien auseinander,
deportierten sie und töteten
jeden, der wie ein Intellektueller
aussah 3 Vann Nath begann
ein Jahr nach seiner Flucht,
das Grauen zu malen
3
2
4
AU S L A N D
ihnen Hacken und Hämmer, Spaten, Sägen, Zangen und Gartenscheren.
Der einzige Ausweg aus dem Vorhof
der Hölle führte wieder über die Verladerampe chinesischer Lastwagen: Damit
wurden die Gefangenen nach Choeung
Ek, zu den Killing Fields außerhalb
Phnom Penhs, gefahren und erschlagen,
um Kugeln zu sparen.
„Ich höre immer noch die Schreie der
Gefolterten“, sagt Vann Nath, als er über
den gefliesten Boden des ehemaligen
Schlafsaals schreitet. Er hört sie nachts,
wenn er aus seinen Albträumen hochschreckt. Und er hat noch den Geruch der
Mitgefangenen in der Nase, mit denen er
an jenem 7. Januar zusammengekettet auf
dem kalten Fußboden der ehemaligen
Oberschule lag. Den Geruch der Verzweiflung. Reden war strengstens untersagt,
bewegen ebenfalls. Wer auf die Toilette
wollte, musste um Erlaubnis betteln. Zu
Essen gab es wässrige Reissuppe.
Vann Nath und die anderen Häftlinge
waren bald so ausgezehrt, dass sie Spinnen, Kakerlaken und Heuschrecken hin-
hen: Pol Pot. „Ich kenne den Mann nicht“,
antwortete Nath wahrheitsgemäß. Deuch
lachte. „Du sollst eine realistische, würdige Kopie anfertigen. Schaffst du das, lassen wir dich am Leben. Wenn nicht, landest du als Dünger auf dem Feld.“ Vann
Nath blickt in die dunkle Höhle am Ende
des langen Flurs, dorthin, wo früher Zellblock D war. „Dort, in diesem Raum, habe
ich das erste Porträt Pol Pots gemalt. Mit
zitternden Händen.“
Die Wärter führten ihn nicht mehr zurück in das Gemeinschaftslager. Vann
Nath bekam Kleidung, Essen und eine
Einzelzelle. Nun malte er ein ganzes Jahr
lang zwölf Stunden am Tag. Immer wieder Pol Pot. Manchmal auch andere Köpfe
aus dem Führungskader. Seine Bilder
schmückten bald die Parteibüros, Kantinen, Versammlungshallen. Vann Nath
und die anderen Künstler sollten schließlich auch Statuen des „Bruders Nummer
eins“ anfertigen.
Den Zellblock D kann Vann Nath heute
nicht mehr betreten. Wenn er von seiner
Zeit in Tuol Sleng spricht, konzentrieren
Die Regierung ließ in
Choeung Ek aus den
Schädeln der Ermordeten
ein Mahnmal errichten
fangenen abschlachten, bevor er und seine treuesten Gefolgsleute sich Richtung
thailändischer Grenze absetzten. Vann
Nath hatte Glück. „Deuch befahl mir mitzukommen“, erzählt er. Doch wenige Meter außerhalb von Tuol Sleng wurden
Deuch und seine Männer in ein Feuergefecht verwickelt. Nath suchte Deckung
und wartete ab. Als die Schüsse leiser
wurden, waren Deuch und seine Folterknechte fort. Der Maler bliebt noch einige
Minuten in Deckung liegen. Dann stand
er auf und rannte. „Ich dachte, dass ich
jeden Moment eine Kugel in den Rücken
bekomme.“ Doch es war niemand mehr
da, der auf ihn schießen wollte.
Am Ufer des Mekong traf Vann Nath
einen anderen Überlebenden, einen
Freund aus der Heimat. In den Ruinen
der menschenleeren Stadt fanden sie einen Sack Reis und einen Topf. In der ersten Nacht in Freiheit schlief Vann Nath
nicht. „Ich habe gebetet. Für meine Frau
und meine Jungs.“ Am nächsten Morgen
schlossen sich die Männer der ersten Division der neu gegründeten kambodscha-
DIE EINEN FORDERN SPÄTE
GERECHTIGKEIT. DIE
terherjagten. Doch auch das war verboten.
Die Wärter folterten die Verhungernden
mit Elektroschocks, auch Vann Nath.
„Jede Nacht zerrten sie einen anderen aus
dem Raum“, erinnert er sich, „und die
wenigsten kehrten nach dieser Tortur in
die Zelle zurück.“
E
s dauerte nur vier Wochen, bis
Vann Nath bereit war zu sterben. Bis er wusste, dass ihm
nur der Tod die Flucht aus der
Hölle ermöglichen würde.
Sechs Wochen später kam jener 16. Februar 1978, sein Todestag. Als die Wachen
ihm morgens die Fußfesseln abnahmen,
war er sicher, dass sein Weg auf die Rampe eines Lkws führen würde. Doch dann
schoben ihn die Wächter in das Büro des
Kommandaten von S 21.
„Du bist also Maler“, sagte Kommandant Deuch zu Nath. „Weißt du, wer das
ist?“ Deuch deutete auf ein Foto, das über
seinem Schreibtisch hing. Darauf zu se-
102
VA N I T Y
FA I R
7 / 08
sich die feuchten Augen auf einen Punkt in
der Ferne. Vielleicht blickt er auch in sich
hinein. Es ist ein Blick, den er sich in der
Gefangenschaft angewöhnt hat.
„Ich war mir sicher, dass ich hier sterben werde“, sagt der Maler, als er durch
das zum Genozidmuseum umgebaute Lager geht, in dem nun seine Bilder hängen.
„All diese unschuldigen Menschen.“ Vann
Naths Stimme versagt. Er will sich kurz
setzen. Draußen, auf eine Bank – auf gar
keinen Fall in eine der Zellen.
Nach einer kurzen Pause beginnt er
wieder zu erzählen. Dieses Mal vom 7. Januar 1979. Dem Tag, an dem er fliehen
konnte. „Die Gewehrsalven wurden lauter und lauter. Ich merkte, dass die Wachen langsam panisch wurden.“ Die vietnamesischen Befreiungstruppen hatten
sich bis ins Herz der Hauptstadt vorgekämpft. Schwarzer Rauch hing über
Phnom Penh. Die Granateinschläge kamen hörbar näher. Kommandant Deuch
ließ Tuol Sleng evakuieren, die letzten Ge-
nischen Armee an. Vann Nath wollte sich
an den Roten Khmer rächen. Jene verfolgen, die sein Leben zerstört hatten.
„Wir sind eher ziellos durch die Straßen
gezogen“, sagt Vann Nath heute über seine Zeit in der Armee. Viele der Roten
Khmer hatten schnell die Fronten gewechselt oder sich wie Deuch abgesetzt.
Nach einigen Monaten in der Armee
schickte sein Kommandant Vann Nath
nach Battambang, nach Hause zu seiner
Familie. Auf der Reise in den Norden
musste der Maler feststellen, dass Kambodscha nicht mehr das Land war, in dem
er aufgewachsen war. Fast zwei Millionen
Landsleute waren dem Menschenexperiment zum Opfer gefallen. Vann Nath befürchtete Schlimmstes. Als er schließlich
in Battambang ankam, erfuhr er, dass die
Roten Khmer sein Haus angezündet und
sein Leben unwiederbringlich zerstört
hatten. Seine Frau Eng war nur wenige
Kilometer weiter bei Verwandten untergekommen. Doch die beiden Söhne, fünf
FOTOS : K N A- B I L D
ANDEREN SORGEN SICH UM DEN TOURISMUS
7 / 08
V A N I T Y FA I R
103
AU S L A N D
1
Abwesenheit Verurteilten wenige Monate
nach dem Prozess. Dementsprechend
nüchtern blickt der Maler auch dem internationalen Tribunal entgegen.
W
2
3
N
ath begann wieder zu malen.
Diesmal keine Kinoplakate
und Porträts, sondern Ölbilder, in denen er das Grauen
für die Nachwelt festhielt.
Darauf zu sehen: Folter, Mord, Leid und
Tod. Die Bilder machten ihn berühmt.
„Anfangs dachte ich nicht, dass ich wieder malen könnte“, sagt Vann Nath. Dann
jedoch wurde ihm klar, dass er malen
musste. Wie wichtig die bildhaften Zeugnisse sind. Für ihn. Für die toten Mitgefangenen.
Vann Nath fand die Kraft, mit Eng eine
neue Familie zu gründen, eine Existenz
104
VA N I T Y
FA I R
7 / 08
aufzubauen. Heute helfen seine Söhne Simen (26), Sineth (23) und Narung (16) in
dem Restaurant, das die Eheleute von
dem Geld eröffnet haben, das seine Bilder
eingebracht haben. Das Restaurant liegt
an einer Ausfallstraße der Hauptstadt. Es
unterscheidet sich kaum von den anderen
Restaurants in dieser Gegend: weiße Plastiktische, ein buddhistischer Altar und ein
Flachbildschirm. Die verschiedenen Currys kosten zwischen zwei und drei Dollar.
Nur wenige Kambodschaner wissen, dass
der weißhaarige Mann, der manchmal
persönlich bedient, Vann Nath ist.
Es geht Vann Nath nicht gut. Die olivbraune Haut des 62-Jährigen schimmert
blass. Seine Wangen sind eingefallen. Ein
Nierenversagen macht ihm zu schaffen.
Die Blutreinigung, der sich Vann Nath
zweimal pro Woche unterzieht, schlägt
nicht mehr gut an. Der Tod, dem er vor
vielen Jahren entronnen ist, scheint ihn
langsam einzuholen. Doch Vann Nath hat
einen Grund, ihm noch ein wenig länger
davonzulaufen. In diesem Jahr geschieht
in Kambodscha etwas, auf das der Maler
seit seiner Flucht aus der Hölle gewartet
hat: Der Genozid der Roten Khmer, dem
etwa ein Fünftel der Kambodschaner zum
Opfer fiel, soll gesühnt werden. Ein inter
internationaler Gerichtshof hat das Verfahren
eröffnet. Seit Ende 2007 laufen die Anhörungen. Der offizielle Auftakt soll in wenigen Monaten stattfinden. Kambodscha
bekommt endlich sein Nürnberg. Zu spät,
aber besser als nie.
Wer das Gerichtsgebäude betreten will,
muss erst einmal drei Sicherheitsschleusen passieren. Noch ist es gespenstisch
ruhig auf dem Tribunalgelände. Die Korridore des Hauptgebäudes sind leer. Hinter dicken Eichentüren bereiten die Ankläger und ihre Gegenspieler die
Plädoyers vor. Sieben einheimische und
fünf ausländische Richter müssen die
Schuldsprüche fällen. Es wird ein zähes
Ringen werden: Für die Außerordentlichen Kammern (ECCC) gilt sowohl das
Rechtsverständnis Kambodschas als auch
das der UNO.
F OTOS : DA N I E L E M AT T I O L I / A N Z E N B E RG E R (2) , D PA
Jahre der eine, sechs Monate alt der andere, waren verhungert. Die Eheleute zogen
nach Phnom Penh, um neu anzufangen.
Bereits ein Jahr nach seiner Flucht betrat
Vann Nath zum ersten Mal wieder Tuol
Sleng. Die Regierung hatte ihn und die wenigen anderen Überlebenden gebeten, ein
Genozidmuseum zu errichten. In den Unterlagen, die Kommandant Deuch vor seiner Flucht nicht mehr vernichten konnte,
fand Vann Nath schließlich auch sein eigenes Todesurteil: Auf einer Exekutionsliste
stand sein Namen neben denen der anderen Gefangenen aus Battambang. Seiner ist
als einziger rot unterstrichen. Daneben
steht: „Keep“, behalten. Unterzeichnet ist
die Liste von Deuch. Das Datum steht auch
darauf: der 16. Februar 1978.
1 Chea Leang, die einzige weibliche
Staatsanwältin Kambodschas, klagt
die letzten Führungskader der Roten
Khmer an 2 Deuch bei einer Anhörung der Außerordentlichen Kammern
Ende 2007 3 Straßenszene im modernen Phnom Penh
Pol Pot, der „Bruder Nummer eins“, ist
lange tot, doch seine Schergen sitzen nun
auf der Anklagebank des letzten großen
Völkermordprozesses aus dem 20. Jahrhundert. Bei der ersten Anhörung Ende
2007 war es Kommandant Deuch, den die
500 Schaulustigen sehen wollten. Jahrzehntelang hatte der heute 65-Jährige als
Lehrer und Sanitäter gearbeitet, ohne weiter aufzufallen. Er führte ein einfaches
Leben fernab der Hauptstadt, fernab von
Tuol Sleng. Deuch sei Christ geworden,
berichten kambodschanische Medien. Die
Aussicht auf Vergebung zu Lebzeiten
schien dem ehemaligen Schlächter verlockend. Als Deuch im November vergangenen Jahres zum ersten Mal das Wort
erhob, berief sich der studierte Mathematiker auf die Verletzung seiner Menschenrechte. Der Mann, der seinen Häftlingen
die eigenen Fingernägel zum Essen vorgesetzt hatte, beklagte sich über seine Haftbedingungen.
Auch Nuon Chea, Pol Pots Chefideologe und Stellvertreter, beschwerte sich über
die Hocktoilette in seiner Zelle. Es wurde
prompt reagiert. Seither uriniert der 81Jährige in weißes Premiumporzellan.
Marke: American Standard.
Vann Nath war nicht bei der Anhörung
Ende November. Als 1997 bereits ein Prozess gegen Pol Pot und Deuch geführt
wurde, hoffte Nath noch auf Gerechtigkeit. Doch der König begnadigte die in
enn ich in der Zeitung
lese, wie gut es die Verbrecher in ihren komfortablen Einzelzellen haben,
dreht sich mir der Magen
um“, sagt Nath. Neben dem Chefideologen Nuon Chea warten vier weitere Mitglieder der Führungsspitze des „Demokratischen Kampuchea“ auf ihren Prozess.
Angeklagt sind: Staatschef Khieu Samphan (76), der ehemaligen Außenminister
Ieng Sary (82) und dessen Frau Ieng Thirith (75), Sozialministerin der Roten
Khmer und Schwägerin Pol Pots. Und
Kaing Guek Eav, genannt Deuch.
Das weltweite Interesse am Prozess ist
riesig. Tausende Journalisten haben sich
akkreditiert. Und Jacques Vergès, der den
Staatschef Samphan verteidigen wird, gilt
als Garant für eine große Schau. Der 82jährige Franzose vertrat bereits Klaus Barbie, den Schlächter von Lyon, und den
Terroristen Carlos. Angeblich will Vergès
Henry Kissinger in den Zeugenstand rufen, der gemeinsam mit Präsident Nixon
für die Bombardierung Kambodschas verantwortlich war. Das, so argumentiert der
Anwalt, habe den Hass auf den Westen so
richtig geschürt und die Terrorherrschaft
erst ermöglicht.
Unweit von Vann Naths Restaurant, im
ersten Stock eines Hinterhauses, liegt sein
Atelier. Seit den 90er-Jahren malt er dort
Wasserbüffel und Landschaften. Es sind
friedliche Bilder. Zumindest auf der Lein-
Bilanz des Schreckens
1/5
der Kambodschaner
hat das Regime der Roten
Khmer in nur 4 Jahren getötet
15 000 Menschen wurden
im Gefängnis Toul Sleng
gefoltert. Nur sieben überlebten
das Terrorregime des
Kommandanten Deuch
2 Mio
Einwohner
Phnom Penhs wurden 1975 von
den Roten Khmer vertrieben
1 Farbe wurde allen
Kambodschanern für
ihre Kleidung vorgeschrieben:
Schwarz
wand scheint der Maler sich vom Grauen
der Vergangenheit erholt zu haben. Vergessen kann er trotzdem nicht. Der Rummel wird die schmerzhaften Erinnerungen
wieder zurückbringen. Den Prozess will
Nath nicht malen, aber er wird aussagen:
„Das schulde ich den Toten.“ Vielleicht
kann er dann, zum ersten Mal seit 29 Jahren, wieder ruhig schlafen.
„Unsere Nachfahren haben keine Ahnung, warum dieser Prozess so wichtig ist.
Selbst meine Kinder wissen nicht wirklich,
was damals passierte“, sagt Nath. Die
Mehrheit der Einwohner Kambodschas
wurde während oder nach der Terrorherrschaft Pol Pots geboren. Das Durchschnittsalter beträgt 21,3 Jahre. Auch das Interesse der heutigen Machthaber hält sich in
Grenzen: Premierminister Hun Sen war in
seiner Jugend selbst ein Roter Khmer,
wechselte dann jedoch die Seiten und befreite Phnom Penh Seite an Seite mit den
Vietnamesen. Er bestand nie auf einer
umfassenden Strafverfolgung.
Die Meinungen im Land sind geteilt:
Einige, wie Chea Leang, die einzige weibliche Staatsanwältin Kambodschas, kämpfen unbeirrt für eine Aufarbeitung, für
späte Gerechtigkeit. Andere fürchten, dass
durch den Prozess alte Wunden wieder
aufbrechen. Sie wollen die Vergangenheit
ruhen lassen. Das kleine Wirtschaftswunder nicht gefährden. Der Blick ist nach
vorn gerichtet. Man will die Touristen
nicht verscheuchen, die wieder zu den
Tempeln von Angkor reisen und an die
Strände im Süden des Landes. Die TukTuk-Fahrer in Phnom Penh bieten Tagestouren an: morgens ein Rundgang durch
den Folterknast Tuol Sleng, nachmittags
zu den Killing Fields in Choeung Ek. Der
Genozid ist mittlerweile ein Geschäft.
Es weht ein warmer Wind über den
idyllischen Reisfeldern von Choeung Ek.
Die Maulbeerbäume blühen. Das hektische Treiben der Hauptstadt ist auf den
staubigen Straßen abgeklungen. Choeung
Ek ist ein friedlicher Ort geworden. In einer weißen Stupa mahnen die Schädel von
8 985 Hingerichteten. Zwischen dem Unkraut erkennt man die Gebeine der Verstorbenen. Gummisohlen und Stofffetzen,
die ihre Besitzer überlebt haben. Zwischen
den Massengräbern spielen Kinder Fußball – wenn sie nicht Touristen anbetteln.
Vann Nath erträgt Choeung Ek noch
weniger als Tuol Sleng. „Dieser Ort sollte
mein Grab sein“, sagt Vann Nath. Er habe
versucht, ihn zu malen. „Doch dafür
reichte meine Kraft nicht.“ Er blickt über
die Felder, als würde er hier irgendwo bereits liegen. Seit dem 16. Februar 1978.
7 / 08
VANI T Y
FA I R
105