Fachartikel Vom Versorger zum Umsorger: Smarte Geschäftsmodelle über das Thema Energie hinaus Erschienen in: ew - Magazin für die Energiewirtschaft Seite 6-9 III/2015 Stephan Haller Competence Center Utilities [email protected] www.horvath-partners.com Magazin für die Energiewirtschaft Smart Market www.ew-online.de Sonderdruck ( Nr. 7306 ) aus 2015 (Jg. 114), Heft III, S. 6-9 Vom Versorger zum Umsorger Smarte Geschäftsmodelle über das Thema Energie hinaus Energieversorgung – eine Branche in der Krise? Wer die aktuelle Debatte verfolgt, bekommt diesen Eindruck: Der Ergebnisausblick ist in den Kerngeschäftsfeldern ausgesprochen verhalten. Die vorhandenen Assets, vor allem in der Erzeugung, verlieren an Wert. Das Kundengeschäft ist von hohem Wettbewerbsdruck und niedrigen Margen geprägt. Dezentrale Geschäftsmodelle und Dienstleistungen können ein Ausweg sein, konzentrieren sich aber derzeit vorwiegend auf energienahe Themen wie dezentrale Erzeugung und Speicherung oder Beratung mit noch geringem Ergebnisbeitrag. Wie also können Energieversorger ihre Ergebnisse verbessern? Den Energieversorgungsunternehmen stehen harte Zeiten bevor. Um für die künftigen Anforderungen gewappnet zu sein, sollten sich die Versorger fit machen und Effizienzsteigerungspotenziale entlang der Wertschöpfungskette und in den Verwaltungsfunktionen nutzen. Schließlich liegt hier der kurz- bis mittelfristig größte Wachstumshebel für das Ebit. Projektbeispiele zeigen, dass in einzelnen Prozessen und Funktionen bis zu 40 % Verbesserung erzielt werden können. Durch den Transfer bewährter Lean-Methoden aus der Automobilindustrie können diese Potenziale verstetigt werden – für eine nachhaltig positive Wirkung in der Gewinn- und Verlustrechnung. 43 % Umsorger 57 % Qualitätsführer Preisführer Sonstiges + 79 % 77 % + 24 % 70 % 11 % – 80 % 2% 11 % + 60 % 18 % bisher 2020 Mehrfachnennungen möglich 42730.1 Bild 1. Ein Großteil der Versorger will sich künftig als Umsorger der Kunden positionieren Innovationen und Trends aufspüren Langfristig sind aber auch Wachstumshebel erforderlich, um den Rückgang des bisherigen Geschäfts teilweise zu kompensieren. Daher empfiehlt es sich, parallel nach innovativen Geschäftsmodellen Ausschau zu halten. Dabei sollten sowohl die interne Innovationskraft als auch externe Quellen – zum Beispiel ein Innovation Campus – genutzt werden. Impulse ergeben sich aus der Analyse von Trends und dem umfassenden Verständnis der Kundenwünsche. Einer der Toptrends ist dabei die zunehmende Digitalisierung der Kundenschnittstelle und die Tatsache, dass digitale Leistungen im Alltag für viele Kunden bereits selbstverständlich sind: Der Umsatzanteil konventioneller Vertriebswege hat sich in den vergangenen Jahren zugunsten des Onlinehandels fast halbiert. Individualisierte Angebote und auf die spezifischen Kundenbedürfnisse zugeschnittene Dienstleistungen sowie Predictive Analytics spielen eine entscheidende Rolle. Dabei werden die Kundenwünsche durch die Analyse zur Verfügung stehender Informationen antizipiert. Amazon nennt das Anticipatory shipping. Diese umsorgenden Konzepte können auch Vorbild für Versorger sein. Die von Horváth & Partners durchgeführte Studie »Strategien der Energieversorger 2020« bestätigt diesen Trend (Bild 1). Alleinstellungsmerkmale nutzen Damit Versorger von dieser Entwicklung profitieren können, muss es gelingen, neue Impulse mit den eigenen Kernkompetenzen so zu kombinieren, dass ein Angebot entsteht, das andere nur schwer imitieren können. Eine Kundenbefragung von Horváth & Partners hat ergeben, dass Versorger vor allem wegen ihrer lokalen Nähe geschätzt werden und einen hohen Vertrauensvorschuss genießen. Zudem haben Versorger eine stabile Kundenbasis und je nach regionalem Fokus einen bedeutenden Marktanteil sowie einen hervorragenden Kundenzugang in ihrem Versorgungsgebiet. Eine weitere Stärke von Versorgern ist ihre hohe Infrastrukturkompetenz. Smarte Lösungen entwickeln Die Verknüpfung von Digitalisierung mit der lokalen Komponente des Versorgers könnte also ein Ansatzpunkt für eine smarte Lösung sein. Gerade der lokale Aspekt hilft den Versorgern, sich gegenüber global agierenden Konzernen wie Google, die mit Nest – einer Thermostatlösung – ebenfalls in den Energiemarkt drängen, oder rein digitalen Geschäftsmodellen abzusetzen. Smart Market Dass die üblichen Smart-Home-Lösungen mit dem Fokus auf Energieeinsparung, Komfort und in Einzelfällen Sicherheit bisher nicht funktioniert haben, wird bei genauerer Betrachtung deutlich: Schon von Anfang an wird die Customer Experience vernachlässigt. Es gibt keine Lösung aus einer Hand für Vertrieb und Installation der erforderlichen Komponenten. Kunden bekommen kein funktionierendes Lösungsangebot und sind oft auf ihre Heimwerkerfähigkeiten angewiesen. Die Konzepte sind für eine breite Zielgruppe gedacht und werden nicht auf die individuellen Bedürfnisse einzelner Kundengruppen zugeschnitten. Dementsprechend ist der wahrgenommene Nutzen nur relativ gering. Das emotionale Erlebnis beschränkt sich auf den beim Kauf gewährten Rabatt und entsprechend schnell flaut die anfängliche Begeisterung ab. Außerdem wird die lokale Komponente vernachlässigt, wodurch die bestehenden Angebote austauschbar sind und ebenso gut von einem Telekommunikationsunternehmen stammen könnten. Merkmale des Konzepts ó Verbindung von Technologie mit sozialem Umfeld ó ó ó ó soziale Plattform persönliche Gesundheitsakte App-Store und Datenplattform ó ó ó ganzheitliche Durchdringung einer Kundengruppe im Sinn eines Umsorgerkonzepts Multiplikatoreneffekt durch Vernetzung geeigneter Stakeholder zentrale Steuerung spezifischer Dienstleistungen über eine Anwendung Aufbau einer nachhaltigen Kundenbindung durch Emotionalisierung der Produkte und Dienstleistungen Plattform mit hoher Skalierbarkeit einschließlich Anbindung an andere Systeme/Datenbanken 42730.2 Bild 2. Das Beispiel Quli zeigt, wie auch ein kleiner Player in der Wertschöpfungskette des Gesundheitswesens eine umfassende, digitale Umsorgerplattform anbieten kann. Lösungsmuster erkennen Ökosystem Freizeit Steuerung und Feedback Eine kürzlich durchgeführte Analyse innovativer Geschäftsmodelle hat ergeben, dass smarte Lösungsangebote für Versorger nur funktionieren, wenn sie die folgenden vier Kriterien erfüllen: Selbstmanagement Apps App-Store Selbstmessung NotfallService Haushaltshilfen Sicherheitsdienste Mobilität medizin. Dienste Zuhause Stadt Gesundheit Haustechnik Freund Verbrauchsdaten Chef Arzt Gesundheitsdaten Berechtigungen Vitaldaten Daten und Kommunikation Pfleger Kalender/ Abwesenheiten Betreuer Schnittstelle Messung und Sammlung Energie Soziales Netzwerk Vater Auswertung und Konsolidierung Pflege 42730.3 Bild 3. Das Ökosystem Pflege wird zunehmend von Versorgern entdeckt. 2 Smart Market Anwendungsbereiche Individuallösungen Standardlösungen Gesundheit Kommunikation Versorgung Mobilität Basis Basisangebot für agile Senioren zur Unterstützung in allen Bereichen des täglichen Lebens mühelose Steigerung der Lebensqualität durch Einsatz von Assistenzsystemen und Servicediensten Komfort Extra an Komfort für Senioren im fortgeschrittenen Alter Überwindung persönlicher Einschränkungen durch gezielte Lösungsangebote anspruchsvolle Lösungen für anspruchsvolle Kunden Premium höchstes Maß an Autonomie trotz fortgeschrittenem Alter vielseitige Premiumlösungen mit hohem Bedienkomfort unbeschwertes Leben auch im hohen Alter @Home unabhängiges Wohnen im vertrauten Umfeld durch innovative Technologien Schaffung eines Wohnumfelds mit Wohlfühlfaktor Sicherheit, Geborgenheit und Umsorgung als primäre Ziele on the Road Vorteilspaket für Senioren, die besonderen Wert auf Mobilität und soziale Interaktion legen autonome Fortbewegung durch moderne Technologien Erhalt der Abenteuerlust und Neugier auf Unbekanntes 42730.4 Bild 4. Ein skalierbares Leistungsangebot für Smart Seniors geht auf die verschiedenen Bedürfnisse der Kunden ein. óó óó óó óó Angebot mit hohem Emotionalisierungsgrad und kontinuierlicher Einbindung des Kunden für eine langandauernde Kundenbeziehung individuell auf die Kundenbedürfnisse zugeschnittene Angebote mit echtem Mehrwert physisch erfahrbare Leistungen vor Ort, damit der Versorger sein Alleinstellungsmerkmal ausspielen kann Digitalisierung für Produktivitätsvorteile und die Möglichkeit einer umfassenden Analyse von relevanten Daten für maßgeschneiderte Leistungen. Dabei ermöglicht die Verknüpfung neuer Technologien mit hausüblichen Installationen und Sensoren eine bedarfsgerechte Umsorgung der Bewohner. Damit einher geht der Gebrauch des Smartphones als dem persönlichen Gerät für jegliche Art von Kommunikation und als Schnittstelle zu einer zunehmend vernetzten physischen Welt. Durch revolutionäre Big-Data-Wertschöpfung kann es gelingen, neue Umsorgungskonzepte zu etablieren, die auf die Kundenbedürfnisse zugeschnitten sind. Vorbilder finden – auch in anderen Branchen In einem anderen Kontext lassen sich vergleichbare Lösungen bereits beobachten: Quli ist eine Plattform des Arztes Dr. Leo Kannerhuis und weiterer Partner mit dem Ziel einer durchgängigen Unterstützung für Autisten (Bild 2). Im Kern steht die persönliche Kundenakte, auf der alle relevanten Daten gesammelt sind. Besonders dabei ist, dass allein der Kunde entscheidet, wer zu welchen Daten Zugriff hat. Ergänzt wird Quli durch eine soziale Plattform, die die Interaktion mit Verwandten, Ärzten oder weiteren Gruppen ermöglicht, und die Anbindung von Apps für spezifische Anwendungen, die auf die Datenplattform zugreifen können. Durch gezielte Angebote unterstützt Quli Autisten dabei, mehr Eigenverantwortung zu übernehmen. Gleichzeitig wird ein signifikanter Produktivitätsfortschritt in der Betreuung erzielt, der es beispielsweise den Betreuern ermöglicht, ihre Zeit ge- zielt für den Kunden einzusetzen. Quli wird aktuell weiterentwickelt, um weitere Ökosysteme und Kundengruppen im Gesundheitswesen einzubinden. Entwicklungsfelder frühzeitig besetzen Als weiteres Entwicklungsfeld neben E-Health bietet sich der Bereich Pflege und Fürsorge im Alter an, der zunehmend auch von Versorgern entdeckt wird (Bild 3). Dabei ist das Geschäftspotenzial riesig. Bereits heute werden rund 70 % der Pf legebedürftigen in Deutschland ambulant versorgt und kommen für eine Umsorgerlösung infrage – das sind knapp 1,9 Mio. Menschen. Diese Zahl wird sich aufgrund des demografischen Wandels in den nächsten 15 Jahren fast verdoppeln. Mit dieser Entwicklung werden Komfort, Sicherheit und Wohlbefinden in den eigenen vier Wänden einen steigenden Stellenwert einnehmen. Der technologische Fortschritt führt zu einer zunehmenden Vernetzung von Einzellösungen. Die Kombination aus Produkten 3 Smart Market und Dienstleistungen schafft ein neues Leistungsangebot für den Smart Senior (Bild 4). Das Leistungsangebot soll den Kunden unterstützen, ohne ihn bei seinen normalen Tagesaktivitäten einzuschränken. Data Analytics bietet die Chance, für die Kunden echten Mehrwert zu schaffen. Der Versorger kann seinen Vertrauensvorschuss und seine lokale Präsenz gerade in diesem sensiblen Bereich zur Geltung bringen und weitere lokale Partner, wie Pflegedienste oder auch ortsansässige Sanitätshäuser, in die Wertschöpfung einbinden. Nicht zuletzt bietet sich die Verbindung mit der Wohnungswirtschaft als Kooperationspartner an. Herausforderungen begegnen Die Zurückhaltung der Branche, dieses oder ähnliche Themen anzugehen, ist groß. In erster Linie fehlen die erforderlichen Kompetenzen, sowohl was die fachlichen Aspekte betrifft, als auch die persönlichen Eigenschaften wie Agilität und Flexibilität beim Geschäftsaufbau. Dann stellt sich die Frage, welche Partner eingebunden werden müssen und wie die entsprechenden Verdienstmodelle gestaltet werden können. Schließlich muss beantwortet werden, über welche Kanäle und mit welchen Inhalte die potenziellen Kunden erreicht werden können und welches Leistungsangebot für den Start geeignet ist. Umsetzung vorantreiben In erster Linie sollten Versorger Konzepte identifizieren, die zu ihnen passen und deren Umsetzung sie sich – zusammen mit Partnern – zutrauen. Für den Erfolg sind dabei die folgenden Aspekte relevant: Fundamentales Verständnis der Kundenanforderungen Durch geeignete Methoden wie Design Thinking muss ein umfassendes Verständnis der Kundensituation gewonnen werden. Schnelle Resultate Die Einbindung bereits bestehender Lösungskomponenten sowie die frühe Einbindung von Kooperationspartnern ermöglicht eine zügige Geschäftsmodellentwicklung in nur wenigen Wochen. Reduzierung des Risikos Durch die Nutzung und Kombination erfolgreicher Elemente bestehender Konzepte und technischer Lösungen wird das Risiko im Vergleich zu einer vollständigen Neuentwicklung deutlich reduziert. Skalierbares Konzept Sowohl in Bezug auf das Leistungsangebot als auch den geografischen Markt sollte das Konzept skalierbar sein, so dass Leistungsumfang und Komplexität angemessen entwickelt werden können. Effiziente Umsetzung Konzepte und Geschäftsmodelle müssen mit der Umsetzung im Blick gestaltet werden. Die notwendigen operativen Umsetzungsschritte müssen hinreichend detailliert geplant werden, damit auf Unvorhergesehenes flexibel reagiert werden kann. Für Versorger, die sich zum Umsorger wandeln, ergeben sich umfangreiche Entwicklungsmöglichkeiten. Der Umsorger beschränkt sich nicht nur auf Leistungen rund um Energie, sondern entwickelt gezielt weitere Ökosysteme mit hohem Ergebnispotenzial. Der Umsorger könnte damit als umfassender Serviceprovider das Stadtwerk der Zukunft sein. Stephan Haller, Partner und Leiter Competence Centers Utilities, Horváth & Partners, Düsseldorf >>[email protected] >>www.horvath-partners.com 42730
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