Leseprobe zu Sandra Brown: Die Überraschungsfrau AUS „LIEBESMÄRCHEN IN L.A.“ MIRA Taschenbuch Band 25551 © 1987 by Sandra Brown Originaltitel: Fanta C Übersetzung: Tatjána Lénárt-Seidnitzer 1. KAPITEL Es war zauberhaft, jenes allererste Mal … Wir haben uns im Stall geliebt, beim Geruch nach Heu und Pferden und Leder. Es war heiß und lustvoll. Unsere Körper glänzten vor Schweiß, als es vorbei war. Erschöpft und atemlos lagen wir eng umschlungen da. Strohhalme hingen in meinem Haar. Spielerisch zupfte er sie heraus, während ich fasziniert beobachtete, wie Sonnenstrahlen durch die Ritzen in den Bretterwänden fielen und Streifen aus Licht und Schatten auf seine breite Brust malten. Es war uns vom Schicksal vorherbestimmt gewesen, obwohl er ganz allein den Zeitpunkt ausgewählt hatte. Auf dem preisgekrönten Vollblutpferd meines Vaters war ich nach meinem täglichen Ausritt in den Stall zurückgekehrt … Beim Anblick des Stallburschen, der an der Ecke des Gebäudes lehnte, begann mein Herz wie wild zu pochen. Niemand sonst ließ sich im Hof blicken. Ohne Eile schlenderte er zu mir. Er lächelte herausfordernd, hob die Hände und legte sie an meine Taille, um mir aus dem Damensattel zu helfen. Um sein Selbstvertrauen und seine Selbstgefälligkeit zu erschüttern, ließ ich mich aufreizend an seinem Körper hinabgleiten, bis meine Stiefelspitzen den Boden berührten. Ich beobachtete, wie seine Augen dunkel wurden. Doch mein Triumph sollte von kurzer Dauer sein. Allen Konventionen und Anstandsregeln zum Trotz hielt er mich dicht an sich gedrückt. Mit unverhohlener Leidenschaft blickte ich zu ihm hoch. Mein Verlangen nach diesem Mann war besonders stark, weil er bei meinem Vater angestellt war und gesellschaftlich weit unter mir stand. Jede Art intimer Beziehung zwischen dem Stallburschen und mir war tabu. Köstlich, verlockend verboten. Außerdem war er Ire und ich Engländerin. Sein Temperament war so stürmisch wie die Irische See. Ich hingegen war in einer Atmosphäre der Sanftheit und Kultiviertheit aufgewachsen. Ich sprach Französisch und Latein. Er dagegen hatte lediglich elementare Englischkenntnisse und benutzte häufig vulgäre Ausdrücke, deren Bedeutung ich kaum erahnen konnte. Meine Hände waren makellos. Seine waren rau und schwielig. Aber das kümmerte mich nicht, als er meine Taille umfasste und mich noch näher an sich zog. Er senkte den Kopf und küsste mich, als wäre es sein Recht. Dabei wäre es ein Skandal gewesen, hätten wir uns ertappen lassen. Eine Locke seines langen widerspenstigen Haares streifte meine Stirn, als er den Kopf noch tiefer senkte und seinen geöffneten Mund auf meinen presste. Obwohl sein Verhalten nur eine Reaktion auf mein offensichtliches Verlangen war, ärgerte mich seine Dreistigkeit. Ich legte die Hände auf seine Lederweste und stemmte mich gegen seine Brust. Es war jedoch ein sinnloser Kampf – nicht nur gegen seine überlegene Stärke, sondern auch mit mir selbst und der Leidenschaft, die mein Blut in Wallung brachte. Zugegeben, ich wehrte mich nicht allzu sehr, seiner Umarmung zu entfliehen – oder seiner zielstrebigen Zunge, die er zwischen meine Lippen drängte, um meinen Mund zu erkunden. Er ergriff meine Hand und zog mich in den Stall meines Vaters. Atemlos und mit weichen Knien stolperte ich hinter ihm her. Das war es doch, was ich wollte. Oder nicht? Hatte ich ihn nicht durch zufällig wirkende Berührungen und provokante Posen unmissverständlich dazu aufgefordert? Pikante Geheimnisse sollten mir endlich enthüllt werden. Sehnte ich mich nicht schon lange danach, endlich zu erfahren, worüber die Zofen hinter vorgehaltener Hand tuschelten? Selbst wenn ich es mir anders überlegt hätte, hätte er mir keinen Rückzieher gestattet. Er presste mich gegen die Bretter einer leeren Pferdebox. Das kniehohe Heu war frisch und duftete lieblich. Es war warm in dem Gebäude. Und düster. Staubflocken tanzten in der Luft, ebenso durcheinandergewirbelt wie meine Sinne. Die Lippen noch immer mit meinen verschmolzen, beugte er sich vor, um mich seine Erregung in seiner engen Reithose spüren zu lassen. Der starke geschmeidige Körper, den ich – sicher verborgen hinter den Gardinen an meinem Schlafzimmerfenster – insgeheim seit Langem bewunderte, presste sich nun mit alarmierender Vertraulichkeit an meinen. Meine Schenkel zitterten, öffneten sich aber willig, sobald er die Knie zwischen sie drängte und die Hüften an mich presste. Seine Hände griffen unbeirrt nach der Schleife, die ich züchtig um den Hals gebunden trug. Er öffnete sie mit einem sanften Ruck und ließ das weiße Seidenband ins Heu fallen. Die winzigen Perlmuttknöpfe an meiner Bluse waren kein Hindernis für seine kräftigen, forschenden Hände. Mir stockte der Atem, als ich seine rauen Hände auf meinem Busen spürte. Mein Mieder machte ihn ungeduldig. Er zerrte es herunter und umfasste meine nackten Brüste. Überwältigt von den seltsamen Empfindungen, schloss ich die Augen. Ich lehnte den Kopf zurück an die Bretterwand und gab mich ihm willig hin, als er den Mund über mich senkte und meine prickelnde Haut mit feurigen Küssen bedeckte. Nicht einmal in meinen kühnsten Träumen hatte ich mir vorgestellt, dass eines Mannes Lippen und Zähne und Zunge fähig waren, ein so unglaubliches Vergnügen zu bereiten. Meine Knospen wurden hart unter dem Spiel seiner Zunge. Ich bog den Rücken durch und kam ihm entgegen. Unwillkürlich rief ich seinen Namen. "Ganz ruhig, meine Liebe", flüsterte er mit dem melodischen Akzent, den ich so sehr liebte. "Wir müssen vorsichtig sein." Er kannte keine Hemmungen. Mit beiden Händen glitt er unter den Rock meines rubinroten samtenen Reitkleides, verfing sich in den vielen Petticoats aus zarter Spitze und suchte sich zielstrebig einen Weg, bis er meine nackte Haut berührte. Geflüsterte irische Koseworte drangen an meine Ohren, als er mich an Stellen liebkoste, die noch nie ein Mann zu Gesicht bekommen hatte – mit einer Zärtlichkeit, die in krassem Widerspruch zu seiner wachsenden Ungeduld stand. Er streifte seine enge Reithose ab und murmelte zärtliche Worte. Ich stieß einen lustvollen Seufzer aus, als er in mich eindrang. Es war überwältigend. Bebend klammerte ich mich an ihn, während er stürmisch mit den Lippen meine Brüste liebkoste. Und dann … "Hallo! Erde an Lizzie!" Eine ungehaltene weibliche Stimme riss Elizabeth Burke jäh aus ihren erotischen Fantasien. Sie blinzelte mehrmals, bis sich ihre Augen, die ein Dichter als veilchenblau beschrieben hätte, auf die Frau am Eingang zu ihrer Geschenkboutique einstellten. Es war ihre Schwester, die auf der Schwelle stand und sie mit liebevollnachsichtiger, aber auch missbilligender Miene musterte. Lilah, zwei Jahre jünger als Elizabeth, schüttelte den Kopf und schnalzte gleichzeitig mit der Zunge. "Du hast wieder mal fantasiert. Du warst meilenweit weg." "War ich gar nicht! Ich habe über die Bestellung nachgedacht, die ich gerade ausfülle." Elizabeth rückte einen Stapel Papiere auf der Vitrine zurecht und wurde vor Verlegenheit rot, weil sie sich ertappt fühlte. Lilah ließ sich natürlich nicht an der Nase herumführen. "Wenn es so gut war, dann lass mich daran teilhaben." Sie setzte sich auf einen der gepolsterten Hocker und stützte die Ellbogen auf. "Sprich! Ich bin ganz Ohr." "Du bist ja verrückt. Ich habe von nichts anderem geträumt als dem Klingeln in der Ladenkasse. Was hältst du von diesen Parfumflakons? Sie werden in Deutschland hergestellt." Elizabeth schob einen Katalog über den Ladentisch. Lilah warf nur einen flüchtigen Blick auf die Hochglanzfotos. "Sehr hübsch." "Hübsch und teuer. Glaubst du, dass sich ein so kostspieliger Artikel verkauft?" "Das hängt davon ab, wie untreu der Kunde gewesen ist." "Nicht jeder Mann, der hier einkauft, will sein schlechtes Gewissen durch ein Geschenk für seine Ehefrau erleichtern." "Natürlich nicht. Einige von ihnen suchen auch Geschenke für ihre heimlichen Affären", sagte Lilah verächtlich. "Ich bin überzeugt, dass über die Hälfte von ihnen fremdgeht, wenn sie auf Geschäftsreise sind. Aber ihr schlechtes Gewissen ist gut für dein Geschäft." Elizabeth teilte nicht die zynische Einstellung ihrer Schwester. "Ich glaube, dass meine Kunden zu mir kommen, um ihren Ehefrauen eine Freude zu machen, weil sie sie vermissen und sehr gern wieder nach Hause zurückkehren." "Was ist denn an etwas Romantik auszusetzen?" "Nichts. Ich bin bloß kritisch gegenüber Liebe, Ehe und all dem Drumherum. Über Sex habe ich nie etwas Abfälliges gesagt." Elizabeth wusste, was ihr jetzt bevorstand. Egal, wie ihre Gespräche auch begannen, sie endeten immer mit einer Diskussion über ihr Liebesleben – oder besser gesagt, über ihr nicht vorhandenes Liebesleben. Die Unterschiede in ihren Persönlichkeiten und Philosophien spiegelten sich in ihren Erscheinungsbildern wider, obwohl sie sich sehr ähnlich sahen. Beide waren schlank, blond und blauäugig. Elizabeths Haar war jedoch feiner und glatter, ihre Figur zarter. Ihre Augen blickten ruhig und heiter wie ein See, Lilahs dagegen unruhig und stürmisch wie der Nordatlantik. Elizabeth hätte sich in der Kleidung aus dem Schrank einer viktorianischen Lady wohlgefühlt. Sie war vorsichtig und überlegte erst, bevor sie den ersten Schritt auf ein unbekanntes Terrain wagte. Lilah dagegen kleidete sich gern schrill und nach dem letzten Schrei. Sie war impulsiv und wagemutig. Deswegen nahm sie sich die Freiheit heraus, so unverblümt über das Privatleben ihrer Schwester zu sprechen. "Warum schnappst du dir nicht mal einen deiner Kunden?" Elizabeth ignorierte die Frage. "Hast du heute Nachmittag gar keine Patienten?" Lilah arbeitete als Physiotherapeutin im lokalen Krankenhaus. "Erst um halb fünf. Versuch jetzt nicht, das Thema zu wechseln. Wenn dir einer dieser Männer gefällt …", sie deutete nacheinander zu den Fenstern auf beiden Seiten der Eingangstür, "… dann greif zu. Was hast du schon zu verlieren?" "Zum Beispiel meine Selbstachtung. Ich bin nicht wie du. Für mich ist Sex kein Spiel. Mir geht es dabei um Gefühle. Aber du warst ja noch nie verliebt. Woher willst du dich also auskennen?" "Jetzt mal im Ernst. Ich weiß, dass du John geliebt hast. Es war von Anfang bis Ende märchenhaft. Schon im College wart ihr ein Paar. Eine Limonade, zwei Strohhalme. Deine Liebesgeschichte mit ihm war so verdammt süß, dass einem schlecht werden konnte. Aber er ist tot, Lizzie. Schon seit zwei Jahren. Du bist nicht zur Nonne geschaffen. Warum lebst du trotzdem wie eine?" "Das tue ich ja gar nicht. Ich habe dieses Geschäft. Du weißt, wie viel Zeit es in Anspruch nimmt. Es ist ja nicht so, dass ich zu Hause sitze, Trübsal blase und in Selbstmitleid zerfließe. Ich gehe jeden Tag aus dem Haus und verdiene den Lebensunterhalt für die Kinder und mich. Ich nehme an ihren Aktivitäten teil." "Und was ist mit deinen eigenen Aktivitäten? Wenn du abends nicht mehr arbeitest und die Kinder schlafen gegangen sind, was dann? Was tut Witwe Burke dann für sich selbst?" "Dann fällt Witwe Burke nur noch todmüde ins Bett." "Allein! Wie lange willst du dich noch mit deinen Fantasien zufriedengeben?" Elizabeth seufzte übertrieben, um zu zeigen, wie sehr sie diese ewige Diskussion leid war. "Ich fantasiere nicht." Lilah lachte. "Von wegen. Du hast schon als Kind auf deinen Märchenprinzen gewartet. Ich zerstöre deine Illusionen nur ungern, aber heutzutage gibt es einfach keine mehr." "Das weiß ich selbst." Lilah runzelte die Stirn. "Was ist eigentlich mit deinem Nachbarn?" Elizabeth holte eine Flasche Glasreiniger und ein Tuch unter dem Ladentisch hervor. "Welcher Nachbar?" "Wie viele ledige Männer wohnen denn in dem Haus hinter dir? Natürlich meine ich den attraktiven Typen mit den grauen Schläfen und den breiten Schultern." "Mr. Randolph?" Lilah lachte laut. "Mr. Randolph?", äffte sie Lizzie in hohem Singsang nach. "Spiel nicht die Unschuldige. Er ist dir doch längst aufgefallen, stimmt's?" Elizabeth antwortete nicht, sondern bearbeitete demonstrativ den Fleck auf der Glasscheibe. "Warum lädst du ihn nicht mal zum Dinner ein?" "Und warum kümmerst du dich nicht um deine eigenen Angelegenheiten?" "Oder zieh einfach etwas Gewagtes an, wenn du das nächste Mal den Rasen mähst. Sonn dich oben ohne." "Also wirklich, du kommst auf Ideen! Außerdem ist der Sommer vorbei. Es ist zu kalt zum Sonnen." Lilah grinste. "Umso besser. Dann sind deine Nippel hart." "Ich höre mir das nicht länger an!" "Wenn dir die Art Annäherungsversuch zu offensichtlich ist, dann versuch's doch mit der klassischen Variante. Bitte ihn, deinen Toaster zu reparieren." "Der ist aber nicht kaputt." "Dann mach ihn eben kaputt!" Lilah sprang vom Hocker auf. "Gib dich einfach ein bisschen hilflos in einer Situation, in der er dich nicht übersehen kann." "So etwas würdest du nie tun." "Himmel, nein! Aber ich bin auch nicht wie du. Ich war in all den Märchen, die du dir erträumt hast, nie die Jungfrau in Nöten." "Ausgerechnet du machst dich über meine Fantasien lustig. War es etwa nicht deine Idee, meinen Laden Fantasy zu nennen?" "Ich mache mich gar nicht darüber lustig. Hätte ich dir etwa das Nummernschild besorgt, wenn ich der Meinung wäre, dass es nicht zu deinem Charakter passt?" Besagtes Nummernschild trug die Aufschrift FANTA C und war Lilahs letztes Weihnachtsgeschenk. Elizabeth hatte sich zunächst darüber geärgert und es umtauschen wollen, aber es war beim Verkehrsamt offiziell registriert, und eine Ummeldung hätte viel Lauferei bedeutet. "Das Ding ist ein ständiger Stein des Anstoßes", klagte sie mit übertrieben finsterer Miene. "Jedes Mal, wenn neben mir ein Mann anhält, sehe ich ihm an, wie er sich fragt, was ich wohl für eine schmutzige Fantasie habe." Lilah lachte. "Gut. Warum machst du nicht das Fenster auf und sagst es ihm? Oder noch besser: Zeig es ihm!" Das Lachen wirkte ansteckend. "Du bist einfach unverbesserlich." "Stimmt", gab sie ohne einen Funken Reue zu. "Und du wirst bald dreißig. Ich will nicht, dass du in zehn Jahren aus deinen Tagträumen aufwachst und immer noch allein bist. Dann werden deine Kinder nicht mal mehr bei dir sein. Womöglich machst du es dir noch zur Lebensaufgabe, die Hände in den Schoß zu legen und auf den Richtigen zu warten. Aber dein Märchenprinz wird nicht an deine Tür klopfen. Du musst selbst die Initiative ergreifen." Elizabeth wusste, dass ihre Schwester leider recht hatte. Sie wandte den Blick ab und entdeckte dabei die Morgenzeitung, die bisher ungelesen auf dem Ladentisch lag. "Vielleicht stürze ich mich auf ihn." Sie deutete zu dem Foto auf der Titelseite. "Adam Cavanaugh", las Lilah. "Der Besitzer der Hotelkette, nehme ich an?" "Ja. Er kommt diese Woche auf Inspektionstour hier vorbei. Die Hotelleitung und alle Pächter sind in Alarmbereitschaft versetzt worden." "Er sieht gut aus", bemerkte Lilah sachlich. "Aber er ist superreich, superattraktiv und wahrscheinlich superabscheulich. Ein international berüchtigter Playboy. So gesehen ist er auch eine Art Fantasiegestalt. An deiner Stelle würde ich mir einen Bettgefährten suchen, der nicht ganz so unerreichbar ist." Elizabeth zog eine Grimasse. "Würdest du bitte verschwinden, bevor du mit deiner obszönen Redeweise meine Kundschaft vertreibst?" "Ich wollte sowieso gerade gehen", sagte Lilah leichthin. "Sonst komme ich noch zu spät zu meinem Termin um halb fünf. Bis bald." Sie wedelte unbekümmert mit den Fingern, als sie aus dem Laden schwebte und sich augenzwinkernd zwischen zwei Männern hindurchzwängte, die ihr entgegenkamen. Beide blieben stehen, verrenkten sich die Hälse und blickten ihr bewundernd nach, bevor sie Fantasy schließlich betraten. Einer von ihnen entschied sich spontan für ein schmales Silberarmband und ließ es sich als Geschenk einwickeln. Für seine Frau, wie er behauptete. Insgeheim zweifelte Elizabeth daran, dass es der Wahrheit entsprach, und schalt sich dafür, weil sie sich von Lilahs Misstrauen anstecken ließ. Der zweite Kunde ließ sich mehr Zeit mit der Auswahl, bevor er sich für ein Körbchen mit Pralinen in Pink entschied, das mit einer Schleife und einer Orchidee aus Seide verziert war. Während sie kassierte, nahm sie ihn genauer unter die Lupe. Markantes Kinn. Gepflegte Hände. Zu tiefer Seitenscheitel. Eine Spur zu lange Jackenärmel. Hosenboden zu locker. Als der Mann mit seinem Einkauf das Geschäft verließ, erschrak sie vor sich selbst. Nahm sie neuerdings tatsächlich Lilahs Ratschläge an? Der Himmel bewahre mich davor, auf meine Schwester zu hören! An diesem Abend sehnte Elizabeth sich ganz besonders nach Ruhe und Frieden. Aber zu Hause fand sie das absolute Chaos vor. Ihre achtjährige Tochter Megan und ihr sechsjähriger Sohn Matt waren mit ihrer Babysitterin Mrs. Alder im Garten. Alle drei wirkten geradezu hysterisch. Elizabeth stieß hektisch die Autotür auf. "Wo brennt's denn? Was ist passiert? Ist jemand verletzt?" "Baby", jammerte Megan. "Sie sitzt da oben im Baum fest, und es wird schon dunkel." "Hol sie runter, Mom! Bitte." "Ich hätte es ja getan, aber ich kann nicht", erklärte Mrs. Alder atemlos über die lauten Kinderstimmen hinweg. Elizabeth atmete erleichtert auf, dass sich der Tumult lediglich um das Kätzchen drehte. Auch wenn es total verängstigt im Ahorn saß, war zum Glück niemand am Ersticken oder am Verbluten oder hatte sich das Genick gebrochen. "Beruhigt euch erst mal alle", verlangte sie. Als das Weinen zu gelegentlichen Schluchzern verebbte, sagte sie: "Ihr macht einen gewaltigen Lärm um nichts." "Aber sie ist doch noch so klein." "Und sie hat Angst. Hör doch bloß mal, wie sie schreit." Matts Unterlippe zitterte. "Wir holen Baby runter, bevor es dunkel wird", versicherte Elizabeth. "Mrs. Alder, können Sie bitte …" "Ich würde sehr gern helfen, Mrs. Burke, aber ich muss sofort gehen. Sonst komme ich zu spät zu meinem nächsten Job, und ich muss vorher noch zu Hause vorbei." "Oh." Elizabeth spähte hinauf zu dem Kätzchen, das kläglich miaute. "Dann gehen Sie lieber, Mrs. Alder. Ich übernehme." "Ich lasse Sie sehr ungern allein in dem Wissen …" "Machen Sie sich keine Sorgen. Wir sehen uns morgen." Die Babysitterin ging. Elizabeth blickte ihr bedauernd nach. Eine helfende Hand hätte nicht geschadet, selbst wenn es die Hand einer älteren Lady war. Manchmal war es geradezu eine Qual, keinen Mann im Haus zu haben. In solchen Situationen wurde Elizabeth wütend auf John, weil er gestorben war und sie mit all den Aufgaben und Verpflichtungen allein zurückgelassen hatte. Doch wie immer biss sie die Zähne zusammen und ging das Problem pragmatisch an. Sie stand mit ihren Kindern unter dem Baum und sondierte die Lage. "Wie willst du denn da raufklettern, Mom?", fragte Megan besorgt. "Das kann sie bestimmt gar nicht", unkte Matt bedrückt. "Natürlich kann ich das." Elizabeth zwang sich zu einem zuversichtlichen Lächeln. "Lilah und ich sind früher andauernd auf Bäume geklettert." "Tante Lilah hat gesagt, dass du ein Angsthase bist." "Unsinn. Tante Lilah hat ja keine Ahnung." Mit meiner lieben Schwester habe ich noch ein Hühnchen zu rupfen, wenn wir uns nächstes Mal sehen. Da sie vor ihren Kindern nicht wie ein Feigling dastehen wollte, ordnete sie streng an: "Matt, bring mir die Trittleiter aus der Garage." Der Junge lief gehorsam zum Haus. "Ich ziehe mich eben schnell um." Megan hielt sie am Ärmel fest. "Nein, Mom, bitte nicht. Baby ist schon viel ruhiger, bloß weil sie dich sieht. Wenn du weggehst, kriegt sie bestimmt wieder Angst und fängt an zu schreien." Tränen stiegen ihr in die Augen. Elizabeth wurde schwach. Außerdem schleppte Matt in diesem Moment keuchend die Trittleiter heran und erklärte fachmännisch: "Die ist ja gar nicht hoch genug." "Es muss reichen." Sie rieb sich die Hände. "Auf geht's." Sie stellte die Leiter unter den Baum, streifte sich die Pumps ab und kletterte auf die oberste Stufe, die sich nur gut einen Meter über dem Boden befand. Indem sie sich streckte und auf Zehenspitzen stellte, bekam sie den untersten Ast zu fassen. Sie hängte sich daran und schaukelte einen Moment in der Luft, bevor sie sich am dicken Stamm hochhangelte und einen Fuß in die niedrigste Astgabel steckte. Matt hüpfte aufgeregt auf und nieder und klatschte in die Hände. "Toll, Mom, du bist genau wie Rambo." "Vielen Dank." Ihre Handflächen waren bereits aufgeschrammt, das Kätzchen saß nach wie vor fest, und Elizabeth hatte noch einen weiten Weg vor sich. "Ich kann deinen Petticoat sehen." "Tut mir leid, Megan, aber das lässt sich nicht ändern." Keuchend versuchte sie, sich auf den Ast zu hieven. Erst nach mehreren Anläufen gelang es ihr, und sie hielt einen Moment inne, um Luft zu holen. Die Katze begann wieder, äußerst kläglich zu miauen. "Beeil dich, Mom!" "Ich beeile mich ja", erwiderte sie gereizt. Sie hangelte sich zwischen den Ästen hindurch nach oben und achtete sorgfältig darauf, nicht nach unten zu sehen. Denn leider war sie nicht schwindelfrei. Endlich erreichte sie das Kätzchen. Beruhigend redete sie auf das Tier ein, als sie es um den Bauch fasste und hochhob. Der Abstieg mit nur einer freien Hand bedeutete eine beträchtlich größere Herausforderung. Sie schaffte die halbe Strecke ohne Zwischenfall und rief den Kindern zu: "Ich lasse sie von hier aus fallen. Ihr müsst sie auffangen. Megan, bist du bereit?" Ihre Tochter zögerte. "Ja, wenn es unbedingt sein muss." Elizabeth kam sich wie der herzloseste Mensch auf Erden vor und ignorierte die vorwurfsvollen Blicke ihrer Kinder, als sie das Kätzchen losließ. Alle viere starr von sich gestreckt, landete das verschreckte Tier zu Megans Füßen auf dem Boden und huschte völlig verängstigt davon. Es flitzte über den Rasen, durch die Hecke und direkt zwischen die Beine von Thad Randolph. Schreiend liefen die Kinder Baby hinterher, ohne auf Elizabeths Flehen zu achten, bei ihr zu bleiben. Dann atmete sie tief durch und sammelte Kräfte für den letzten Teil des Abstiegs. Sie lauschte, als ihre Kinder dem Mann, der allein im Haus hinter ihnen wohnte, in allen Einzelheiten erklärten, was geschehen war. Hin und wieder hörte sie Mr. Randolph einen Kommentar einwerfen wie: "Was ihr nicht sagt!" "Ganz bestimmt hatte Baby große Angst." "Natürlich war es nicht deine Schuld, Matt. Kätzchen klettern von Natur aus gern auf Bäume." "Und jetzt sitzt unsere Mom da oben fest." Elizabeth stöhnte und kniff die Augen fest zu. Sie hoffte nur, dass die Kinder ihn mit ihrer langatmigen Geschichte langweilten und er ihnen tröstend die Köpfe tätschelte und sich unter einem Vorwand in sein Haus verabschiedete. Doch als sie die Augen wieder aufschlug, sah sie durch die Zweige des Ahorns, dass die Einkaufstasche auf der Haube seines Jeep Cherokee stand und er besagtes Kätzchen in den großen Händen hielt. Baby hatte sich zusammengerollt und genoss offensichtlich seine Zuwendung. "Eure Mutter hat das Kätzchen runtergeholt?" "Mmh. Aber sie ist immer noch im Baum. Mo-om!", jodelte Matt durch den Garten. "Ich glaube, sie kann nicht allein runter." Elizabeth war bisher immer stolz auf Megans ausgeprägten Realitätssinn gewesen, der für ein Kind in dem Alter sehr hoch entwickelt war. Jetzt aber hätte sie ihre Tochter am liebsten dafür erwürgt. "Bei mir ist alles klar!", rief sie. Hastig trat sie mit dem Fuß auf den nächst tieferen Ast und ließ sich hinuntergleiten. Lilah hatte ihr zwar geraten, sich ihrem Nachbarn gegenüber hilflos und aufgelöst zu geben, aber das ging nun doch zu weit. Sie sah, wie Thad Randolph das schnurrende Kätzchen ihrer Tochter reichte. Doch er war nicht richtig bei der Sache, sondern spähte mit zusammengekniffenen Augen zum Baum hinauf und versuchte, durch das dichte Geäst die Gestalt darin auszumachen. Die drei kamen näher. "Sie ist bloß eine Mom", erklärte Matt. "Ich glaube, sie kann nicht gut klettern." "Vorhin hast du gesagt, dass sie wie Rambo ist", erinnerte Megan ihn in Verteidigung ihrer Mutter. "Sie ist nach oben gekommen, aber sie kann bestimmt nicht wieder runter." Ernsthaft blickte Matt zu Thad auf. "Du weißt ja, wie Moms sind." Inzwischen hatte die Gruppe den Baumstamm erreicht. "Mrs. Burke?" "Hallo, Mr. Randolph. Wie geht es Ihnen?" Er konnte nur mit Mühe ein Lächeln unterdrücken. "Gut. Und wie geht es Ihnen?" "Ausgezeichnet." Lässig strich sie sich eine Locke aus der Stirn. Dabei wirkte sie so seelenruhig, als plauderten sie miteinander über die Rosenhecke hinweg, die ihre Grundstücke voneinander trennte. "Brauchen Sie Hilfe?" "Vielen Dank, aber ich komme schon zurecht. Tut mir leid, dass meine Kinder Sie belästigt haben." "Kein Problem. Ich freue mich immer, wenn ich behilflich sein kann." Er zog die Augenbrauen zusammen. "Sind Sie sicher, dass Sie es allein schaffen?" Sie wagte einen Blick hinunter zum Boden. Er schwankte vor ihren Augen. "Z…ziemlich sicher." Mr. Randolph wirkte skeptisch. Einen Moment lang sagte er nichts. Dann, als hätte er eine Entscheidung gefällt, riet er ihr: "Greifen Sie doch mit der rechten Hand nach dem nächsten Ast … Ja, so ist es gut. Jetzt stellen Sie Ihren linken Fuß … ja, dorthin." Er gab ihr Instruktionen für den Abstieg mit tiefer vibrierender Stimme, die sie an einen weit entfernten und somit ungefährlichen Donner erinnerte. Beinahe hatte sie es geschafft, da hörte sie das Geräusch von zerreißendem Stoff. "Oh!" Sie stand auf dem niedrigsten Ast und wollte gerade einen Fuß auf die Trittleiter stellen, hielt nun aber abrupt inne. "Was war das?", fragte Thad. "Das ist … ich glaube, da hat sich etwas im Ast verfangen." "Was denn?" "So ein weites Ding mit lauter kleinen Löchern", teilte Matt ihm eifrig mit. "Sie zieht immer dieses komische Zeug unter ihre Kleider." "Matthew!" Hoffentlich glaubte ihr Nachbar, dass die glühende Röte auf ihrem Gesicht von den anstrengenden und bisher erfolglosen Versuchen rührte, den Petticoat von dem Ast zu befreien. "Lassen Sie mich mal versuchen." Thad stieg auf die Leiter. "Ich schaffe es schon allein." "Nein. Konzentrieren Sie sich lieber darauf, sich mit beiden Händen festzuhalten. Ich fürchte, sonst fallen Sie noch runter." Elizabeth blickte zum Boden, der scheinbar im selben Maße zurückwich, wie sie sich ihm näherte. Sie klammerte sich fest, als ihr Nachbar ihren braunen Rock aus feinster Baumwolle zurückschlug, die Hände in den unzähligen Metern Leinen und Spitze vergrub und nach dem "Aufhänger" suchte. Es schien ewig zu dauern, bis er die Stelle fand. "Ich hab's", sagte er schließlich." Er befühlte den Stoff. "Es ist nur ein kleiner Riss. Vielleicht können Sie es flicken." "Ja, vielleicht." Sanft zog Elizabeth ihm den Spitzensaum des Petticoats aus den Fingern. "Danke schön." Da er ganz oben auf der Leiter stand, war er fast auf Augenhöhe mit ihr. Sie hatte ihn bisher nur von Weitem gesehen. Nie zuvor war sie ihm nahe genug gekommen, um zu erkennen, dass seine Augen tiefblau waren. Nie so nahe, um feststellen zu können, dass sein Haar schwarz und silbern gesprenkelt war. Noch nie nahe genug, um sein Rasierwasser zu riechen, das sie an Sattelleder und Sex denken ließ. "Keine Ursache", erwiderte er leise. Sein Blick hielt ihren unverwandt gefangen. "Sie zittern ja. Lassen Sie sich hinunterhelfen." Er stieg von der Leiter und stellte sie beiseite. Dann hob er die Arme und griff nach Elizabeth. Seine großen Hände umfassten ihre Taille. "Beugen Sie sich einfach vor, und stützen Sie sich auf meine Schultern. Den Rest mache ich." Blind gehorchte sie. Zögernd tastete sie nach seinem Oberkörper. Der Stoff seines Hemdes fühlte sich gut unter ihren aufgeschrammten Handflächen an. Ihre Hände wirkten sehr klein und feminin auf seinen breiten Schultern. Er fasste fester zu und hob sie von dem Ast. Im nächsten Moment prallte sie gegen seinen Körper, und Thad verlor das Gleichgewicht. Er schloss die Arme um sie, taumelte einige Schritte rückwärts und zog sie dabei mit sich. Seine Brust wirkte so solide wie eine Wand. Ebenso wie alles andere an ihm. Verglichen mit ihm kam Elizabeth sich leicht und zerbrechlich vor. Sie fühlte sich, als wäre sie nicht ganz bei sich. Denn er betörte ihre Sinne. Unsinn. Dir ist bloß noch schwindelig von der Höhe, das ist alles. Aber warum spürte sie dann keinen Boden unter den Füßen? Weil sie ihn nicht berührte. Weil Thad sie an sich gedrückt hochhielt. Langsam ließ er sie hinunterrutschen, bis ihre Zehen das kühle Gras berührten. Ihre Brüste glitten an seiner Brust entlang. Eine Hitzewelle durchströmte ihren Körper. "Alles okay?", fragte er. Sie nickte, obwohl sie sich ganz und gar nicht in Ordnung fühlte. Er ließ die Hände sinken. Elizabeth trat einen Schritt zurück. Als sie den Kopf hob und Thad ins Gesicht blickte, betrachtete sie ihr winziges Spiegelbild in seinen Augen. Sie stellte sich vor, was er sehen musste: eine Frau, die vor Erregung errötet war. Es fiel ihr schwer zu begreifen, dass diese Frau sie selbst war.
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