Homosexualität und Kirche

Welches Stück?
Warum wir trotz unterschiedlicher theologischer Überzeugungen zum Thema
Homosexualität an der Einheit in Christus festhalten müssen
von Alexander Garth
Über das Wiener Burgtheater erzählt man sich folgende Geschichte. Mitten im Stück hatte ein
Schauspieler plötzlich einen Texthänger. Er wusste nicht weiter. Die Souffleuse flüsterte ihm die
nächste Textzeile zu. Nichts geschah. Der Schauspieler starrte schweigend vor sich hin. Die
Souffleuse versuchte es noch einmal, nun etwas lauter. Der Schauspieler blieb stumm. Noch
einmal sprach die Souffleuse den Text vor, diesmal noch lauter und die nächsten zwei Zeilen.
Plötzlich wendete sich der Schauspieler zur Souffleuse um und zischte laut: „Keine Details bitte!
Das Stück? Welches Stück?“
Und die Kirche? Wie heißt das Stück, das sie spielen soll in dieser Welt? Was ist ihr Auftrag? Das
Stück heißt „Evangelium“ und es handelt von der Liebe Gottes zu allen Menschen. Diese Liebe
kommt zu uns durch Jesus, den zu unserer Erlösung gekommenen Sohn Gottes. Und dieses
Stück handelt von der großen Einladung Gottes, der rettenden Liebe von Jesus zu begegnen.
Schaut man sich im Lande um, was viele Fromme gerade leidenschaftlich beschäftigt, so gewinnt
man den Eindruck, es geht beim christlichen Glauben vor allem um Sexualität: Der christliche
Glaube als Bewegung für heterosexuelle Partnerschaft. In der Bibel spielen Ehe und Sexualität
eine nicht unwichtige Rolle. Aber sind sexuelle Fragen wirklich unser Kerngeschäft, oder rückt hier
ein Randthema in den Mittelpunkt? Zwingt uns nicht gerade der vielgescholtene Zeitgeist, das
Thema Sexualität zum Punkt Nummer 1 unserer Tagesordnung zu machen, so dass wir dabei das
Große, Ganze aus den Augen verlieren? Könnte es nicht sein, dass der Teufel gerade damit
beschäftigt ist, die Kinder des Himmels durch sexuelle Detailfragen zu entzweien? Werden die
Christen gerade zur Beute linker Randgruppenverliebtheit? Immerhin sind es gerade mal 2 bis 5%
der Menschen, die homosexuell empfinden.
Es gibt eine Hierarchie von Wahrheiten. Was steht ganz oben? Sicher nicht das Thema Sexualität.
Wenn man wissen will, was Gott auf dem Herzen hat für seine Menschheit, dann muss man sich
Jesus anschauen: „Nachdem Gott vorzeiten vielfach und auf vielerlei Weise geredet hat zu den
Vätern durch die Propheten, hat er in diesen letzten Tagen zu uns geredet durch den Sohn“.
(Hebräer 1,1) Jesus, sein Leben und Wirken ist Gottes letztgültiges Wort. In dem Mann aus
Nazareth ist Gott selbst zu uns gekommen, um uns zu erlösen aus der Entfremdung von unserem
Schöpfer und von uns selbst. Im Kern geht es also nicht um eine neue Moral, eine neue
Weltdeutung oder eine neue Idee von Gott. „Ich bin gekommen, zu suchen und zu retten, was
verloren ist.“ sagt Jesus. Durch ihn tritt Gott aus dem Dunkel und offenbart seinen Heilswillen.
Sehr treffend beschreibt Papst Benedikt XVI. das Zentrum des Glaubens: „Es gibt nichts
Schöneres, als vom Evangelium, von Christus gefunden zu werden. Es gibt nichts Schöneres, als
ihn zu kennen und anderen die Freundschaft mit ihm zu schenken.“
Die Botschaft Jesu ist eine große Herausforderung: Gott über alles zu lieben und die Mitmenschen
wie sich selbst, allezeit zu vergeben, mit kindlichem Vertrauen zu Gott zu kommen, sein Herz nicht
an Besitz zu hängen, sich nicht um die Zukunft zu sorgen, die Feinde zu lieben, Gott über alle
Dinge zu stellen, die Zehn Gebote zu halten. Jesus sprach mehr über Gier und Reichtum als über
den Himmel. Und über Homosexualität? Wir finden keinen Hinweis. Man mag einwenden, dass
dieses Thema für Jesus so abseitig war, dass er mit keinem Wort darauf einging. Das ist insofern
verwunderlich, als dass Homosexualität in seiner Umwelt, der römisch-hellenistischen Antike, eine
nicht zu unterschätzende Rolle spielte.
Wohl gibt es in der Heiligen Schrift eine Reihe von Stellen, die sich kritisch mit Homosexualität
auseinander setzen. Die Frage, welche diejenigen umtreibt, für die die Bibel normativ ist, lautet:
Wie gehen wir mit diesen Stellen angemessen um? Es gibt, grob gesprochen, zwei Lager: Die
einen sagen, dass die Zurückweisung homosexueller Lebensweise klar bezeugt ist. Daher muss
die Kirche, wenn sie der Bibel folgt, Homosexualität als Sünde ablehnen. Die anderen betonen,
dass für die Aussagen der Bibel die kulturellen und geschichtlichen Bedingungen zu
berücksichtigen sind, in denen die biblischen Texte entstanden sind. Man kann die Anweisungen
der Heiligen Schrift nicht eins zu eins auf unsere Zeit übertragen. Dem stimmen auch sehr
konservative Geister zu über Aussagen z. B. zu Krieg, Todesstrafe, Ehescheidung,
Reinheitsvorschriften, Sklaverei, Frauen in geistlichen Leitungsämtern usw. Nur in dem Punkt, wie
man Homosexualität zu bewerten habe, fordert man die zeitlose Gültigkeit biblischer Aussagen.
Die unterschiedliche Beurteilung von Homosexualität ist ein Faktum - nicht nur in der gesamten
Kirche, selbst innerhalb der evangelikale Bewegung gibt es sich widersprechende Überzeugungen
dazu. Und beide Lager haben gute Argumente. Wer hat recht? Augustin, der Vater
abendländischen Christseins, gibt einen weisen Rat: „In den notwendigen Dingen: Einheit, in den
zweifelhaften: Freiheit, über allem die Liebe.“ Wir sind uns einig über Jesus, dem Sohn Gottes, der
für alle gestorben und auferstanden ist, über die Bibel als Gottes Wort, über die Notwendigkeit von
Hinwendung zu Jesus und Heiligung des Lebens. Unser Fundament ist der apostolische Glaube,
wie er in den altkirchlichen Bekenntnissen formuliert wurde. Aber was ist mit der Beurteilung von
Homosexualität? Da gehen die Überzeugungen auseinander. Halten wir das aus? Gehört das zu
den Dingen, die zweifelhaft sind? Ja, und das hat Gründe:
1. Sexualität wird kulturell geformt. Es ist daher schwierig, theologische Aussagen zur sexuellen
Orientierung zu machen, die Absolutheit und Zeitlosigkeit beanspruchen. Daher erscheint mir
Zurückhaltung geboten in der Fixierung sexueller Normierungen.
2. Jeder bringt für das Verstehen der Bibel ein bestimmtes Vorverständnis mit, das geprägt ist
durch die eigene Glaubensgeschichte, Charakter, Erziehung, Bildung und den kulturellen Kontext.
Der Fachbegriff lautet Hermeneutik (die Lehre vom Verstehen und Interpretieren von Texten).
Nach Martin Luther muss die Bibel von Jesus Christus her gelesen und interpretiert werden, also
von dem her, „was Christum treibet.“ Wenn heute Theologen bei Hochschätzung der selben Bibel
als Gottes offenbartes Wort zu unterschiedlichen Überzeugungen kommen, dann ist das die Folge
von verschiedenen hermeneutischen Herangehensweisen an den Text. Und das ist normal. Wer
meint, dass die Lektüre der Heiligen Schrift zu einem Ergebnis führen müsse, der übersieht das
Gewicht hermeneutischer Vorentscheidungen. Die Kirchengeschichte und die heutige Wirklichkeit
lehren uns, dass gleiche Texte unterschiedlich gelesen werden. Darum ist Weite gefragt, nicht
Enge, Dialog, nicht orthodoxe Rechthaberei.
3. Jesus selbst folgte in der Auslegung der Heiligen Schrift einer Hermeneutik der Gnade. In der
Geschichte mit der Ehebrecherin, die auf frischer Tat ertappt wurde (Johannes 8), stellt er das
Prinzip Gnade über das Prinzip Strafe, das Prinzip Liebe über das Prinzip Gesetz, wie es bei Mose
offenbart ist. Paulus, der tiefsinnige Interpret der Sendung und Botschaft Jesu, hat sich als
Theologe, Pharisäer und Apostel den Kopf darüber zerbrochen, wie das Alte Testament im Lichte
des Evangeliums gelesen und interpretiert werden kann. Dabei ist er auf einen der genialsten
Sätze der gesamten Weltliteratur gekommen. „Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht
lebendig.“ (2. Korinther 3,6) Das Auslegungsprinzip der Heiligen Schrift ist der Geist Jesu, und das
ist ein Geist der Liebe Gottes, die allen Menschen gilt, ein Geist, der zu einem neuen Leben aus
der Gnade und Zuwendung Christi befreit. Dort aber, wo man dem Buchstaben folgt, wird Leben
verneint. Die Bibel ohne den Geist tötet.
4. Immer wieder finden wir Jesus in Gemeinschaft mit Menschen, die keinen guten Ruf haben und
die schuldig geworden sind. Er isst und feiert mit ihnen, erzählt ihnen von Gottes suchender Liebe
und spricht ihnen die Liebe und Vergebung Gottes zu. Bei religiösen Führern, Huren, Priestern,
Handwerkern, Theologen, Zuhältern, Zöllnern (das waren die verhassten Kollaborateure mit den
Römern), bei allerlei ehrenwerten und unehrenwerten Leuten ist er ein gern gesehener Gast. Ich
kann mir Jesus gut vorstellen in Gemeinschaft mit homosexuell empfindenden Menschen. Er hätte
sie weder verachtet noch abgelehnt.
5. Es gibt einen (irgendwie richtigen) Satz, der aber Homosexuelle ins Mark trifft und ablehnt. „Gott
liebt den Sünder, aber er hasst die Sünde“. Sexualität ist zutiefst Teil unserer Identität. Wir sind
sexuelle Wesen. Ein Homosexueller kann nicht differenzieren zwischen seinem Menschsein und
seiner sexuellen Neigung. Er wird die Ablehnung seiner Homosexualität immer als Ablehnung
seiner gesamten Person verstehen. Wer mich wegen meiner eindeutig heterosexuellen
Orientierung ablehnen würde, weist mich als Mensch zurück. Sexualität ist nicht ein Teil von mir,
sondern gehört zu meiner Identität.
6. Entspricht es dem Geist Jesu, wenn sich Christen vor allem durch Negation und Ablehnung
definieren? Mich schmerzt es, wenn Christen in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden als
selbstgerechte, moralisierende, superkonservative Betonköpfe, die sich mit dem Besitz der einen
Wahrheit brüsten und auf alle anderen Menschen herabschauen. Eine Ablehnung von
Homosexuellen würde der christlichen und evangelikalen Bewegung schaden und unseren
Auftrag, das Evangelium unter die Leute zu bringen, unnötig erschweren und behindern. Im
übrigen ist nach meiner Wahrnehmung für die meisten Christen (auch evangelikalen) hier in Berlin
das Thema Homosexualität längst durch. Die offene oder latente Ablehnung von Schwulen und
Lesben ist aus Berliner Perspektive kaum nachvollziehbar und mutet an wie ein Rückzugsgefecht
ins fromme Getto.
7. Eine der tiefsten Weisheiten, die wir nie vergessen dürfen, lautet: „Unser Wissen ist Stückwerk“.
Die ganze Kirchengeschichte wäre segensvoller und gewaltfreier verlaufen, wenn die Christen
diesen Satz des Paulus aus 1. Korinther 13 im Herzen gehabt hätten. Statt Rechthaberei und
Arroganz ist Demut gefordert. Auch der rechtgläubigste Christ wird im Himmel („wenn das
Vollkommene kommen wird“) erkennen, dass er nur ansatzweise die richtige Theologie gehabt
hat. Wir haben in diesem Leben immer nur Teile des Ganzen, Fragmente des Vollkommenen.
Der Frage der sexuellen Orientierung gebührt kein status confessionis, an dem sich Heil und
Unheil entscheiden. Das entscheidet sich allein an Jesus Christus. Wenn die Beurteilung sexueller
Orientierung unsere Agenda und Statements dominiert, dann wird uns die Frage der Sexualität
entzweien und unseren Auftrag, der Welt Christus zu bezeugen, beschädigen. Das darf um des
Evangeliums Willen nicht geschehen. Jesus betet, dass wir alle eins sind. Die Einheit besteht in
Ihm, nicht in unseren theologischen Erkenntnissen. Aber je näher wir Christus kommen, um so
näher kommen wir einander und um so vollmächtiger können wir das kostbare Evangelium in Wort
und Tat weitergeben.
Berlin im Januar 2016