Predigt von Thomas Söding am 9. November in Essen

Predigt über Lk 23,26-31
beim Ökumenischen Gedenkgottesdienst
im Dom zu Essen
Montag, 9. November 2015 17 Uhr
Wer hat hingeschaut? Wer hat weggeschaut? Wer hat geredet? Wer hat
geschwiegen?
Die Ereignisse, derer wir am 9. November gedenken, scheinen Jahr für Jahr
tiefer in den Schatten der Vergangenheit zu treten. Die Zahl der Zeitzeugen
schrumpft. Die Zahl der Vergesslichen steigt.
Aber Jahr für Jahr zeigt sich am 9. November auch, dass die Vergangenheit nicht
vergeht. Man kann versuchen, sie zu verdrängen. Dann schwelt die Wunde
weiter; sie kontaminiert das Unterbewusstsein, so dass in schweren Eruptionen
das Gift an die Oberfläche katapultiert wird, heute, Gott sei‘s geklagt, immer
noch und immer wieder gegen „die Juden“, aber auch gegen die „Fremden“, die
angeblich das christliche Abendland bedrohen, die Muslime, die Flüchtlinge, die
Ausländer. Dass es Probleme gibt – wer wollte das leugnen? Aber dass sie durch
Hassparolen gelöst werden sollen – wer wollte das glauben?
Jahr für Jahr steigt die Bedeutung der Erinnerung an jene Terroraktion, die
zynisch „Kristallnacht“ genannt wurde, obgleich mit den Schaufenstern von
Läden, die als jüdisch galten, die abendländische Zivilisation zu Bruch gegangen
ist: scheppernde Vorboten unsäglichen Leids.
Jahr für Jahr steigt die Bedeutung des 9. November – oder hat etwa die Zeit die
Wunden geheilt, die damals gerissen worden sind? Gewiss: Die Shoa war nicht
das Ende der Geschichte, Gott sei Dank nicht. Nicht das Ende der Juden, obgleich
sie es sein sollte, nicht das Ende der Menschheit, obgleich das Inferno der
Inhumanität alles verschlungen hätte, wäre niemand den Nazis und all ihren
Helfern in den Arm gefallen. Aber nichts kann ungeschehen gemacht werden;
über nichts ist die Zeit hinweggegangen; mit der Zeit sind vielmehr neue
Wunden gerissen worden, die nicht verheilt, noch nicht einmal vernarbt sind.
Die Fragen sind also aktueller denn je:
Wer hat hingeschaut? Wer hat weggeschaut? Wer hat geredet? Wer hat
geschwiegen?
Und die Fragen gehen weiter:
Was passiert, wenn Menschen hinschauen und den Mund aufmachen? Was
passiert, wenn Menschen ihre Augen und ihre Lippen verschließen?
Was passiert mit ihnen, und was passiert mit denen, die angeschaut oder
übersehen, angehört oder überhört werden?
Die Zeugnisse, die wir in diesem Gottesdienst gehört haben, von Pfarrer Hans
Karl Hack über die Vorkommnisse in Steele, über Artur Salzmann aus Borbeck,
der am 10. November von der Gestapo verhaftet wurde, und von Gertrud
Loewenstein, die erzählt, wie der Augenarzt Dr. Schulte von Borbeck nach
Werden fuhr, um ihre Großmutter aus dem jüdischen Altersheim auf
Pastoratsberg zu holen und bei sich aufzunehmen, um sie zu retten – diese
Zeugnisse machen eines klar: Schweigen war kein Verhängnis, Reden war eine
Option. Wegschauen war kein Zwang. Hinschauen war eine Möglichkeit,
vielleicht nicht für alle, aber doch für viele. Am schlimmsten war es, hingeschaut
und nicht geredet – oder geredet, aber nicht hingeschaut zu haben. Und was in
der Vergangenheitsform gilt, gilt auch in der Gegenwart und wird in aller
Zukunft gelten.
Die Augen und den Mund aufzumachen, ist ein Gebot der Menschlichkeit,
insbesondere wenn man Taten sprechen lässt. Menschlich zu sein, kann einen
hohen Preis kosten. Je unmenschlicher die Verhältnisse sind, desto höher ist er.
Die Märtyrer können ein Lied davon singen – nicht jene, die andere mit in den
Tod reißen, wie heute (auch in den Medien) der Begriffs des Märtyrers, des
Zeugen, oft pervertiert wird, sondern diejenigen, die es mit ihrem Leben büßen
mussten und müssen, dass sie Juden, dass sie Christen, dass sie Kommunisten,
dass sie Menschen sind. Die Märtyrer, die wir kennen so kann man einwenden,
sind wenigstens noch gefragt worden, sei es auch pro forma; sie hätten leugnen
können, auch wenn es ihnen nichts genützt hätte. Aber gerade weil sie
ausgesprochen haben, was sie gesehen haben, stehen sie für die Millionen, die
niemand gefragt und auf die niemand gehört hat. Wir brauchen diese Zeuginnen
und Zeugen, nicht um uns reinzuwaschen, sondern um unserer Erinnerung eine
Stütze zu geben, einen Halt, einen Anstoß.
„Lauschen wir zurück in das grauenhafte Schweigen jener Jahre, um die
Stimmen zu vernehmen, die am Wege aufstanden, um anzuklagen“, das schrieb
Ernst Wiechert 1946 in seiner „Botschaft an die Lebenden“, die über diesem
Gottesdienst steht, und er fügte hinzu: „so erkennen wir, dass viele von ihnen
verstummt sind für alle Zeiten, erwürgte Stimmen, zu deren Nachhall wir die
schuldigen Hände aufheben“. Das sind auch wir, die wir fast siebzig Jahre später
leben – dank derer, die damals die Stimme erhoben, und dank derer, die bis
heute die Erinnerung bewahrt haben.
Scham und Schuld, Gewissen und Gedenken führen uns heute in diesem
Gotteshaus zusammen. Wir erheben die Hände – zum Gebet. Wir sind nicht frei
von Schuld, auch wenn wir uns persönlich nicht die Finger schmutzig gemacht
haben. Wir lauschen zurück – und müssen aufmerksam sein, um die „erwürgten
Stimmen“ zu vernehmen.
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Gibt es einen Grund, dass wir hier der Reichsprogrammnacht gedenken, in
einem Gotteshaus und mit einem Gottesdienst?
Wir bräuchten in diesem Dom nicht zusammenzukommen, wenn diese Kirche,
wenn alle Kirche ein starkes Bollwerk gegen den Naziterror, eine freie Asylstätte
für verfolgte Juden, ein großes Nest des Widerstandes gegen die Herrschaft des
Todes gewesen wäre.
Wir dürften hier nicht zusammenkommen, wenn es nicht Christenmenschen
wie Nikolaus Groß gegeben hätte, die hier gebetet und selbst ihr Leben in der
Nazi-Apokalypse verloren haben.
Wir könnten nicht zusammenkommen, wenn wir nicht glaubten, alle Ohnmacht,
alles Leid, alles Unrecht, aber auch allen Mut, alles Zeugnis, alle Rettung dem
anvertrauen zu dürfen, der am 9. November – und davor und danach – sein
Gesicht verborgen hat, ohne dass wir wissen, warum.
Können wir das glauben? Wenn es einen Grund gibt, dann weil das Gedenken,
das Sehen und Hören von Anfang an der Pulsschlag unseres Glaubens ist, sehen
wir doch in Jesus selbst einen Märtyrer vor Augen, eine „erwürgte Stimme“, auf
deren Echo wir lauschen, indem wir „unsere schuldigen Hände erheben“.
Gerade das Gedenken dieses Martyriums, die Passionsgeschichte, hat jedoch
viel zu oft und allzu lange den Antijudaismus befeuert, der ausgerechnet im
Namen Jesu Christi gerechtfertigt, ja geboten werden sollte. Die Juden wurden
als „Gottesmörder“ denunziert, leider durch alle Konfessionen hindurch.
Erst nach der Shoa hat in den christlichen Kirchen eine Besinnung eingesetzt,
eine Umkehr im genauen Sinn des Wortes, die es uns wagen lässt, des 9.
Novembers 1938 zu gedenken. Nur als Beispiel, aufgrund meiner eigenen
Konfession: Vor 50 Jahren hat die katholische Kirche auf dem Zweiten
Vatikanischen Konzil in ihrer Erklärung „Nostra Aetate“, zu deutsch: In unserer
Zeit, eine positive Israeltheologie zu entwickeln versucht, zaghaft nur, aber
immerhin doch so, dass eine bessere Zukunft im Blick stand. Noch fehlte es am
Eingeständnis eigener Schuld. Erst bei der Millenniumsfeier 2000 wird im
Petersdom gebetet: „Lass die Christen der Leiden gedenken, die dem Volk Israel
in der Geschichte auferlegt wurden. Lass sie ihre Sünden anerkennen, die nicht
wenige von ihnen gegen das Volk des Bundes und der Seligpreisungen begangen
haben, und so ihr Herz reinigen.“ Manchen mag das noch zu schwach
erscheinen. Aber es sind stammelnde Versuche, die Sünde beim Namen zu
nennen und um Vergebung zu bitten – Gott und die Nächsten, die Lebenden,
die Überlebenden und die Toten.
Der Grund dafür, dass ein solches Gebet keine Heuchelei zu sein braucht,
sondern von Herzen kommen kann, ist die Passionsgeschichte selbst. Der
Ausschnitt aus dem Lukasevangelium, den wir eben gehört haben, macht es
klar. Die Kreuzwegandachten, die in dieser und in vielen anderen Kirchen
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gehalten werden, sollen die Erinnerung an jenen Moment tief in die
Volksfrömmigkeit einsenken. „5. Station: Simon von Cyrene hilft Jesus das Kreuz
tragen … 8. Station: Jesus begegnet den weinenden Frauen“.
Halten wir uns die Situation vor Augen: Pontius Pilatus, der Statthalter des
Kaisers, hat Jesus zur Todesstrafe verurteilt. Der Delinquent muss selbst den
Kreuzesbalken auf den Weg zur Hinrichtungsstätte tragen, nach Golgotha, quer
durch die Stadt hinaus vor die Tore. Das wäre die Stunde der Gaffer gewesen,
die mit Fingern auf den Gefolterten zeigen und sich ihrer eigenen Sicherheit
erfreuen wollen, indem sie sich am Anblick des leidenden Verbrechers weiden.
Heute, im Zeitalter von YouTube, gibt es mehr Gaffer denn je, die Folter- und
Hinrichtungssequenzen anschauen und weitergeben, um – ja, was eigentlich zu
tun? Jedenfalls nicht, um Mitgefühl zu entwickeln und um Kräfte zu sammeln,
dem Bösen zu widerstehen.
Das Evangelium nach Lukas gibt es den Gaffern allerdings keine Bühne. Gewiss,
später, auf der Kreuzeshöhe, werden sie erscheinen, unvermeidlich, aber die
Leute, die sich von dem „Schauspiel“, wie der Evangelist die öffentliche
Hinrichtung, eine abschreckende Inszenierung, nennt, haben anlocken lassen,
schlagen sich, nachdem der Vorhang gefallen (besser: zerrissen) ist, „an die
Brust und kehren heim“ (Lk 23,48).
Doch in dem Evangelium, das heute, am 9. November zum Gedenken an die
Reichspogromnacht verkündet worden ist, sind wir erst noch auf dem
Kreuzweg. Hier konzentriert sich der Evangelist Lukas auf Menschen, die nicht
wegschauen und nicht stumm bleiben, sondern hinschauen und reden, indem
sie Jesus beistehen. Wenn wir dieses Evangelium lesen, werden unsere Augen
auf diejenigen gerichtet, die ihre Augen auf das Opfer, auf Jesus, gerichtet
haben, der – so glauben wir – stellvertretend für alle in den Tod gegangen ist,
um die Opfer zu ihrem Recht und die Täter zur Umkehr zu bringen; wenn wir
dieses Evangelium hören, werden unsere Ohren für die Worte derjenigen
geöffnet, die ein Zeugnis abgelegt haben. In dieser Blickrichtung und in diesem
aktiven Hören zeigen sich jenes Leid und jenes Mitleid, das zum Geheimnis des
Glaubens gehört.
Der erste, der in Mitleidenschaft gezogen wird, ist Simon von Zyrene. Seine
Familie stammt aus Nordafrika, aus Libyen, einer der unruhigsten und
unsichersten Zonen der aktuellen Weltgeschichte. Er wird von den Soldaten, die
Jesus nach Golgotha führen, gezwungen, das Kreuz für Jesus zu tragen. Er hat
sich nicht beworben; er wurde nicht gefragt; er konnte sich nicht wehren. Er ist
selbst ein Opfer geworden, aber er hat es dargebracht. Tausende Pilger ahmen
diesen Simon nach, wenn sie auf der Via Dolorosa durch die Jerusalemer
Altstadt ziehen – und hoffentlich die Fackel des Friedens in dieser Stadt
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anzünden. Simon, so scheint es, ist der Zwang – im Rückblick – zur Befreiung
geworden; jedenfalls findet sich seine Familie später in den Spuren der
Nachfolge Jesu, die Simon gebahnt hat. Er sagt bei Lukas kein einziges Wort;
aber sein Schweigen ist beredt. Er fragt uns, wer Jesus – und wer anderen, die
wie er zur Schlachtbank geführt werden – das Kreuz abzunehmen bereit ist.
Noch stärker rückt Lukas die Frauen aus Jerusalem ins Blickfeld, die am
Wegesrand stehen und nicht etwa spotten und feixen, sondern klagen und
weinen. Diese Aufmerksamkeit ist doppelt typisch. Einerseits erzählt Lukas oft
von Frauen, die nicht nur von Jesus berührt worden sind, sondern ihn auch aktiv
unterstützt haben (Lk 7,36-50; 8,1ff.). Andererseits hat Lukas unterstrichen,
dass Jerusalem keineswegs geschlossen gegen Jesus steht, sondern auch nach
dem Urteil des Pilatus, der dem Druck der Straße nachgegeben hat, gespalten
ist. In der Anrede Jesu: „Töchter Jerusalems“ kommt beides zusammen. Die
Frauen, die am Rande stehen, rücken in den Mittelpunkt. Sie sind Jüdinnen. Sie
repräsentieren die Heilige Stadt. Jede einzelne ist die „Tochter Zion“.
Die Frauen mögen eine traditionelle Rolle als Klageweiber spielen, die vorab
schon einen Toten betrauern. Aber der Ritus kommt von Herzen. Er ist ein
gewaltfreier Widerstand, ein spiritueller Protest gegen das Unrechtsurteil des
römischen Richters, an dem die Hohenpriester mitgewirkt haben. Die Klage
entspricht spiegelbildlich dem Hosanna des Einzugs (Lk 19,28-40). Dort ist der
Jubel über Jesus im Gebet mit Gott verbunden worden, hier die Trauer. Die
Klage der Frauen ist keine Anklage Gottes, sondern ein Ruf, der Unrecht beim
Namen nennt, um es vor Gott nicht etwa zu rechtfertigen, sondern zur Sprache
zu bringen, damit er hört und redet. Das Motiv ist Mitleid. Die Frauen
durchbrechen die Mauer des Hasses, weil sie Mitgefühl zeigen. In diesem
Moment sind sie viel näher bei Jesus als seine Jünger, die das Weite gesucht
haben.
Jesus antwortet auf die Klage dreifach. Er kann den Frauen die Tränen nicht
ersparen; aber er nutzt ihr Mitleid, um sie auf die Gefahr aufmerksam zu
machen, in der sie selbst schweben.
Zuerst kehrt Jesus die Klage um – nicht, weil er das Mitleid zurückwiese, sondern
weil er es widerspiegelt: „Weint nicht über mich, weint vielmehr über euch und
eure Kinder“ (Lk 23,28). Um Jesus brauchen die Jerusalemer Frauen nicht zu
weinen, weil er sein Leiden angenommen hat; er weiß, dass er zwar sterben,
dass der Tod ihn aber nicht vernichten wird, während die Frauen von Jerusalem
noch nicht einmal ahnen, was auf sie zukommt. Um sich selbst und ihre Kinder
müssen sie weinen, weil es zu Mord und Totschlag in der Heiligen Stadt kommen
wird und sie nicht nur um sich, sondern vor allem um ihre Kinder Angst haben
müssen. Diese Zerstörung ist eine Katastrophe, wie sie jenseits von Eden oft
geschieht, in der Heiligen Stadt aber besonders deprimiert. Trost wird es so
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wenig geben wie für Rachels Kinder in Rama, an die Matthäus beim Kindermord
in Bethlehem erinnert (Jer 31,5: Mt 2,18). Aber es gibt Jesus, der den Kreuzweg
geht und den Frauen sagen kann, dass dieser Weg nicht der Weg ins Nichts ist –
und dass es deshalb auch für diejenigen, um die jüdischen Mütter und ihre
Kinder weinen werden, ein Jenseits des Elends gibt.
Als zweites unterstreicht Jesus die Größe der kommenden Not mit einer
bitteren Seligpreisung (Lk 23,29). Während in Israel gerade diejenigen
seliggepriesen werden, die Kinder haben, sollen sich hier gerade die Frauen
ohne Kinder glücklich schätzen – weil ihnen die Trauer um das verlorene Kind
erspart bleibt. Diese Seligpreisung, die so ganz anders ist als alle anderen
Seligpreisungen, ist kein Zynismus. Sie spielt die Größe der Not, die
apokalyptische Ausmaße annehmen wird. Eher wollen Menschen sterben, als
noch länger leiden zu müssen, ohne Hoffnung auf Rettung: „Dann werden sie
anfangen, den Bergen zu sagen: ‚Fallt über uns!‘, und den Hügeln: ‚Bedeckt
uns!‘“ (Lk 23,30). Lukas ist sicher, dass Jesus auf die Zerstörung Jerusalems und
des Tempels im Jahr 70 n. Chr. vorausschaut. Der jüdische Historiker Flavius
Josephus, ein Zeitgenosse und Augenzeuge, hat mit quälender Genauigkeit
beschrieben, wie viele Menschen ihr Leben verloren haben, wie viel Blut
vergossen worden, wie viel Leid entstanden ist. Jesus fasst dieses Unglück ins
Auge. Seine kleine Passion ist ein Vorbote jener großen Passion des jüdischen
Volkes, die schon damals das Ende der Geschichte schien – und es auch damals
schon doch nicht war. So wie die Zerstörung der Heiligen Stadt und die
Zerstörung des Tempels das Judentum herausfordern musste, sich selbst neu zu
erfinden, so ist auch im 20. Jh., unter ganz anderen Vorzeichen und in ganz
anderen Dimensionen, der millionenfache Mord von Juden eine Katstrophe
gewesen, die ein neues, ein schrecklich verwundetes, ein schwer gezeichnetes
und doch ein neues Judentum hat hervorbringen müssen. Am 9. November wird
auch dieses Aufbruchs gedacht.
Eine Hilfe kann das dritte Bildwort sein, das sprichwörtlich gewordene vom
grünen und vom dürren Holz (Lk 23,31). Leider ist dieses Wort in den Strudel
antijüdischer Exegese geraten, nach dem Motto: „Wenn schon der gerechte
Jesus leiden müsse – um wie viel mehr dann das ungerechte Jerusalem“. Aber
eine solche Deutung widerspricht dem Ethos der Passionsgeschichte. Tiefer
dringt die biblische Symbolik des Holzes, die den Kirchenvätern (aus jüdischer
Überlieferung) vor Augen stand. Die Weisheit Salomos denkt an die Arche Noah
und sagt: „Segen ruht auf dem Holz, durch das Gerechtigkeit geschieht“ (Weish
14,7; vgl. 4Makk 18,16), obgleich es selbst „wertlos“ war (Weish 10,4); die
Weisheit ist ein „Holz des Lebens“ (Spr 3,18; vgl. Ps 1,3; Jes 65,22; Jer 17,8). Das
dürre Holz hingegen ist nach den Klageliedern Ausdruck der tiefen Depression,
in die das besiegte und gedemütigte Israel, damals, in der babylonischen
Gefangenschaft, gefallen ist (Klgl 4,8; vgl. Jes 56,3). Dass der grüne Baum
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verdorrt und der vertrocknete ergrünt, ist nachdem Propheten Ezechiel ein
Zeichen des grundstürzenden Heilshandelns Gottes durch das Gericht (Ez 17,24;
vgl. 21,3).
Hier lässt sich heute ansetzen, bei einer christlichen Exegese, die durch jüdische
Traditionen inspiriert ist. Das Wort vom grünen und vom dürren Holz ist eine
versteckte, von Mitleid geprägte Prophetie der Zerstörung Jerusalems, die
eintreten, aber nicht das Ende Israels bedeuten wird. Wenn es für Jesus den
Weg durch den Tod zur Auferstehung gibt, dann auch für die Töchter Jerusalems
und ihre Kinder.
Wer hat hingeschaut? Wer hat weggeschaut? Wer hat geredet? Wer hat
geschwiegen?
Jesus hat hingeschaut und geredet. Bevor er noch die heilige Stadt erreicht hat,
erzählt Lukas, hat er sie vom Ölberg aus betrachtet, ihre Gegenwart und ihre
Zukunft. Er hat ihre kommende Zerstörung vor Augen – und er beweint die
Stadt, so wie die Töchter Jerusalems ihn beweinen werden (Lk 19,41). Dominus
flevit – „Der Herr hat geweint“, so heißt die kleine Kapelle am Ölberg, die von
allen Jerusalempilgern besucht wird, hoffentlich nicht nur des schönen
Ausblicks, sondern auch des Mitleids Jesu mit den getöteten Juden wegen. Diese
Szene gibt nach dem Lukasevangelium vor, wie die Christen seiner Zeit auf die
Zerstörung des Tempels reagieren sollen: nicht mit Anklagen und Rechthaberei,
sondern mit Mitleid, das sich im Zeugnis, im Gebet und in tatkräftiger
Anteilnahme erweist.
Die Frauen von Jerusalem, mitten aus dem jüdischen Volk, auch sie haben nicht
weggeschaut und geschwiegen, sondern hingeschaut und den Mund
aufgemacht, mit Klagen und Tränen. Sie werden von Lukas zu Vorbildern für alle,
denen die Leidensgeschichte verkündet wird: Weinen und Klagen über die
unschuldigen Opfer – in einer Hoffnung auf Gott, die ihn nicht festlegt, sondern
machen lässt, weil nur so alles gut werden kann.
Simon von Cyrene – er hat anpacken müssen. Wenn Gläubige das Kreuz wie er
hinter Jesus hertragen wollen, dann kann es kein halbes Engagement geben,
sondern nur ein Eintreten für all die, für die Jesus sein Leben hingegeben hat,
um ihnen das Leben zu schenken.
Ernst Wiechert kann uns helfen, das Evangelium so zu vernehmen, dass wir still
werden und zu hören beginnen, um uns zu erinnern und frei zu sprechen, aus
dem Gedächtnis, in dieser Kirche, vor Gott und der Welt: „Lauschen wir zurück
in das grauenhafte Schweigen jener Jahre, um die Stimmen zu vernehmen, die
am Wege aufstanden, um anzuklagen, so erkennen wir, dass viele von ihnen
verstummt sind für alle Zeiten, erwürgte Stimmen, zu deren Nachhall wir die
schuldigen Hände aufheben“.
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Thomas Söding
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