Predigt über Lk 23,26-31 beim Ökumenischen Gedenkgottesdienst im Dom zu Essen Montag, 9. November 2015 17 Uhr Wer hat hingeschaut? Wer hat weggeschaut? Wer hat geredet? Wer hat geschwiegen? Die Ereignisse, derer wir am 9. November gedenken, scheinen Jahr für Jahr tiefer in den Schatten der Vergangenheit zu treten. Die Zahl der Zeitzeugen schrumpft. Die Zahl der Vergesslichen steigt. Aber Jahr für Jahr zeigt sich am 9. November auch, dass die Vergangenheit nicht vergeht. Man kann versuchen, sie zu verdrängen. Dann schwelt die Wunde weiter; sie kontaminiert das Unterbewusstsein, so dass in schweren Eruptionen das Gift an die Oberfläche katapultiert wird, heute, Gott sei‘s geklagt, immer noch und immer wieder gegen „die Juden“, aber auch gegen die „Fremden“, die angeblich das christliche Abendland bedrohen, die Muslime, die Flüchtlinge, die Ausländer. Dass es Probleme gibt – wer wollte das leugnen? Aber dass sie durch Hassparolen gelöst werden sollen – wer wollte das glauben? Jahr für Jahr steigt die Bedeutung der Erinnerung an jene Terroraktion, die zynisch „Kristallnacht“ genannt wurde, obgleich mit den Schaufenstern von Läden, die als jüdisch galten, die abendländische Zivilisation zu Bruch gegangen ist: scheppernde Vorboten unsäglichen Leids. Jahr für Jahr steigt die Bedeutung des 9. November – oder hat etwa die Zeit die Wunden geheilt, die damals gerissen worden sind? Gewiss: Die Shoa war nicht das Ende der Geschichte, Gott sei Dank nicht. Nicht das Ende der Juden, obgleich sie es sein sollte, nicht das Ende der Menschheit, obgleich das Inferno der Inhumanität alles verschlungen hätte, wäre niemand den Nazis und all ihren Helfern in den Arm gefallen. Aber nichts kann ungeschehen gemacht werden; über nichts ist die Zeit hinweggegangen; mit der Zeit sind vielmehr neue Wunden gerissen worden, die nicht verheilt, noch nicht einmal vernarbt sind. Die Fragen sind also aktueller denn je: Wer hat hingeschaut? Wer hat weggeschaut? Wer hat geredet? Wer hat geschwiegen? Und die Fragen gehen weiter: Was passiert, wenn Menschen hinschauen und den Mund aufmachen? Was passiert, wenn Menschen ihre Augen und ihre Lippen verschließen? Was passiert mit ihnen, und was passiert mit denen, die angeschaut oder übersehen, angehört oder überhört werden? Die Zeugnisse, die wir in diesem Gottesdienst gehört haben, von Pfarrer Hans Karl Hack über die Vorkommnisse in Steele, über Artur Salzmann aus Borbeck, der am 10. November von der Gestapo verhaftet wurde, und von Gertrud Loewenstein, die erzählt, wie der Augenarzt Dr. Schulte von Borbeck nach Werden fuhr, um ihre Großmutter aus dem jüdischen Altersheim auf Pastoratsberg zu holen und bei sich aufzunehmen, um sie zu retten – diese Zeugnisse machen eines klar: Schweigen war kein Verhängnis, Reden war eine Option. Wegschauen war kein Zwang. Hinschauen war eine Möglichkeit, vielleicht nicht für alle, aber doch für viele. Am schlimmsten war es, hingeschaut und nicht geredet – oder geredet, aber nicht hingeschaut zu haben. Und was in der Vergangenheitsform gilt, gilt auch in der Gegenwart und wird in aller Zukunft gelten. Die Augen und den Mund aufzumachen, ist ein Gebot der Menschlichkeit, insbesondere wenn man Taten sprechen lässt. Menschlich zu sein, kann einen hohen Preis kosten. Je unmenschlicher die Verhältnisse sind, desto höher ist er. Die Märtyrer können ein Lied davon singen – nicht jene, die andere mit in den Tod reißen, wie heute (auch in den Medien) der Begriffs des Märtyrers, des Zeugen, oft pervertiert wird, sondern diejenigen, die es mit ihrem Leben büßen mussten und müssen, dass sie Juden, dass sie Christen, dass sie Kommunisten, dass sie Menschen sind. Die Märtyrer, die wir kennen so kann man einwenden, sind wenigstens noch gefragt worden, sei es auch pro forma; sie hätten leugnen können, auch wenn es ihnen nichts genützt hätte. Aber gerade weil sie ausgesprochen haben, was sie gesehen haben, stehen sie für die Millionen, die niemand gefragt und auf die niemand gehört hat. Wir brauchen diese Zeuginnen und Zeugen, nicht um uns reinzuwaschen, sondern um unserer Erinnerung eine Stütze zu geben, einen Halt, einen Anstoß. „Lauschen wir zurück in das grauenhafte Schweigen jener Jahre, um die Stimmen zu vernehmen, die am Wege aufstanden, um anzuklagen“, das schrieb Ernst Wiechert 1946 in seiner „Botschaft an die Lebenden“, die über diesem Gottesdienst steht, und er fügte hinzu: „so erkennen wir, dass viele von ihnen verstummt sind für alle Zeiten, erwürgte Stimmen, zu deren Nachhall wir die schuldigen Hände aufheben“. Das sind auch wir, die wir fast siebzig Jahre später leben – dank derer, die damals die Stimme erhoben, und dank derer, die bis heute die Erinnerung bewahrt haben. Scham und Schuld, Gewissen und Gedenken führen uns heute in diesem Gotteshaus zusammen. Wir erheben die Hände – zum Gebet. Wir sind nicht frei von Schuld, auch wenn wir uns persönlich nicht die Finger schmutzig gemacht haben. Wir lauschen zurück – und müssen aufmerksam sein, um die „erwürgten Stimmen“ zu vernehmen. 2 Gibt es einen Grund, dass wir hier der Reichsprogrammnacht gedenken, in einem Gotteshaus und mit einem Gottesdienst? Wir bräuchten in diesem Dom nicht zusammenzukommen, wenn diese Kirche, wenn alle Kirche ein starkes Bollwerk gegen den Naziterror, eine freie Asylstätte für verfolgte Juden, ein großes Nest des Widerstandes gegen die Herrschaft des Todes gewesen wäre. Wir dürften hier nicht zusammenkommen, wenn es nicht Christenmenschen wie Nikolaus Groß gegeben hätte, die hier gebetet und selbst ihr Leben in der Nazi-Apokalypse verloren haben. Wir könnten nicht zusammenkommen, wenn wir nicht glaubten, alle Ohnmacht, alles Leid, alles Unrecht, aber auch allen Mut, alles Zeugnis, alle Rettung dem anvertrauen zu dürfen, der am 9. November – und davor und danach – sein Gesicht verborgen hat, ohne dass wir wissen, warum. Können wir das glauben? Wenn es einen Grund gibt, dann weil das Gedenken, das Sehen und Hören von Anfang an der Pulsschlag unseres Glaubens ist, sehen wir doch in Jesus selbst einen Märtyrer vor Augen, eine „erwürgte Stimme“, auf deren Echo wir lauschen, indem wir „unsere schuldigen Hände erheben“. Gerade das Gedenken dieses Martyriums, die Passionsgeschichte, hat jedoch viel zu oft und allzu lange den Antijudaismus befeuert, der ausgerechnet im Namen Jesu Christi gerechtfertigt, ja geboten werden sollte. Die Juden wurden als „Gottesmörder“ denunziert, leider durch alle Konfessionen hindurch. Erst nach der Shoa hat in den christlichen Kirchen eine Besinnung eingesetzt, eine Umkehr im genauen Sinn des Wortes, die es uns wagen lässt, des 9. Novembers 1938 zu gedenken. Nur als Beispiel, aufgrund meiner eigenen Konfession: Vor 50 Jahren hat die katholische Kirche auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil in ihrer Erklärung „Nostra Aetate“, zu deutsch: In unserer Zeit, eine positive Israeltheologie zu entwickeln versucht, zaghaft nur, aber immerhin doch so, dass eine bessere Zukunft im Blick stand. Noch fehlte es am Eingeständnis eigener Schuld. Erst bei der Millenniumsfeier 2000 wird im Petersdom gebetet: „Lass die Christen der Leiden gedenken, die dem Volk Israel in der Geschichte auferlegt wurden. Lass sie ihre Sünden anerkennen, die nicht wenige von ihnen gegen das Volk des Bundes und der Seligpreisungen begangen haben, und so ihr Herz reinigen.“ Manchen mag das noch zu schwach erscheinen. Aber es sind stammelnde Versuche, die Sünde beim Namen zu nennen und um Vergebung zu bitten – Gott und die Nächsten, die Lebenden, die Überlebenden und die Toten. Der Grund dafür, dass ein solches Gebet keine Heuchelei zu sein braucht, sondern von Herzen kommen kann, ist die Passionsgeschichte selbst. Der Ausschnitt aus dem Lukasevangelium, den wir eben gehört haben, macht es klar. Die Kreuzwegandachten, die in dieser und in vielen anderen Kirchen 3 gehalten werden, sollen die Erinnerung an jenen Moment tief in die Volksfrömmigkeit einsenken. „5. Station: Simon von Cyrene hilft Jesus das Kreuz tragen … 8. Station: Jesus begegnet den weinenden Frauen“. Halten wir uns die Situation vor Augen: Pontius Pilatus, der Statthalter des Kaisers, hat Jesus zur Todesstrafe verurteilt. Der Delinquent muss selbst den Kreuzesbalken auf den Weg zur Hinrichtungsstätte tragen, nach Golgotha, quer durch die Stadt hinaus vor die Tore. Das wäre die Stunde der Gaffer gewesen, die mit Fingern auf den Gefolterten zeigen und sich ihrer eigenen Sicherheit erfreuen wollen, indem sie sich am Anblick des leidenden Verbrechers weiden. Heute, im Zeitalter von YouTube, gibt es mehr Gaffer denn je, die Folter- und Hinrichtungssequenzen anschauen und weitergeben, um – ja, was eigentlich zu tun? Jedenfalls nicht, um Mitgefühl zu entwickeln und um Kräfte zu sammeln, dem Bösen zu widerstehen. Das Evangelium nach Lukas gibt es den Gaffern allerdings keine Bühne. Gewiss, später, auf der Kreuzeshöhe, werden sie erscheinen, unvermeidlich, aber die Leute, die sich von dem „Schauspiel“, wie der Evangelist die öffentliche Hinrichtung, eine abschreckende Inszenierung, nennt, haben anlocken lassen, schlagen sich, nachdem der Vorhang gefallen (besser: zerrissen) ist, „an die Brust und kehren heim“ (Lk 23,48). Doch in dem Evangelium, das heute, am 9. November zum Gedenken an die Reichspogromnacht verkündet worden ist, sind wir erst noch auf dem Kreuzweg. Hier konzentriert sich der Evangelist Lukas auf Menschen, die nicht wegschauen und nicht stumm bleiben, sondern hinschauen und reden, indem sie Jesus beistehen. Wenn wir dieses Evangelium lesen, werden unsere Augen auf diejenigen gerichtet, die ihre Augen auf das Opfer, auf Jesus, gerichtet haben, der – so glauben wir – stellvertretend für alle in den Tod gegangen ist, um die Opfer zu ihrem Recht und die Täter zur Umkehr zu bringen; wenn wir dieses Evangelium hören, werden unsere Ohren für die Worte derjenigen geöffnet, die ein Zeugnis abgelegt haben. In dieser Blickrichtung und in diesem aktiven Hören zeigen sich jenes Leid und jenes Mitleid, das zum Geheimnis des Glaubens gehört. Der erste, der in Mitleidenschaft gezogen wird, ist Simon von Zyrene. Seine Familie stammt aus Nordafrika, aus Libyen, einer der unruhigsten und unsichersten Zonen der aktuellen Weltgeschichte. Er wird von den Soldaten, die Jesus nach Golgotha führen, gezwungen, das Kreuz für Jesus zu tragen. Er hat sich nicht beworben; er wurde nicht gefragt; er konnte sich nicht wehren. Er ist selbst ein Opfer geworden, aber er hat es dargebracht. Tausende Pilger ahmen diesen Simon nach, wenn sie auf der Via Dolorosa durch die Jerusalemer Altstadt ziehen – und hoffentlich die Fackel des Friedens in dieser Stadt 4 anzünden. Simon, so scheint es, ist der Zwang – im Rückblick – zur Befreiung geworden; jedenfalls findet sich seine Familie später in den Spuren der Nachfolge Jesu, die Simon gebahnt hat. Er sagt bei Lukas kein einziges Wort; aber sein Schweigen ist beredt. Er fragt uns, wer Jesus – und wer anderen, die wie er zur Schlachtbank geführt werden – das Kreuz abzunehmen bereit ist. Noch stärker rückt Lukas die Frauen aus Jerusalem ins Blickfeld, die am Wegesrand stehen und nicht etwa spotten und feixen, sondern klagen und weinen. Diese Aufmerksamkeit ist doppelt typisch. Einerseits erzählt Lukas oft von Frauen, die nicht nur von Jesus berührt worden sind, sondern ihn auch aktiv unterstützt haben (Lk 7,36-50; 8,1ff.). Andererseits hat Lukas unterstrichen, dass Jerusalem keineswegs geschlossen gegen Jesus steht, sondern auch nach dem Urteil des Pilatus, der dem Druck der Straße nachgegeben hat, gespalten ist. In der Anrede Jesu: „Töchter Jerusalems“ kommt beides zusammen. Die Frauen, die am Rande stehen, rücken in den Mittelpunkt. Sie sind Jüdinnen. Sie repräsentieren die Heilige Stadt. Jede einzelne ist die „Tochter Zion“. Die Frauen mögen eine traditionelle Rolle als Klageweiber spielen, die vorab schon einen Toten betrauern. Aber der Ritus kommt von Herzen. Er ist ein gewaltfreier Widerstand, ein spiritueller Protest gegen das Unrechtsurteil des römischen Richters, an dem die Hohenpriester mitgewirkt haben. Die Klage entspricht spiegelbildlich dem Hosanna des Einzugs (Lk 19,28-40). Dort ist der Jubel über Jesus im Gebet mit Gott verbunden worden, hier die Trauer. Die Klage der Frauen ist keine Anklage Gottes, sondern ein Ruf, der Unrecht beim Namen nennt, um es vor Gott nicht etwa zu rechtfertigen, sondern zur Sprache zu bringen, damit er hört und redet. Das Motiv ist Mitleid. Die Frauen durchbrechen die Mauer des Hasses, weil sie Mitgefühl zeigen. In diesem Moment sind sie viel näher bei Jesus als seine Jünger, die das Weite gesucht haben. Jesus antwortet auf die Klage dreifach. Er kann den Frauen die Tränen nicht ersparen; aber er nutzt ihr Mitleid, um sie auf die Gefahr aufmerksam zu machen, in der sie selbst schweben. Zuerst kehrt Jesus die Klage um – nicht, weil er das Mitleid zurückwiese, sondern weil er es widerspiegelt: „Weint nicht über mich, weint vielmehr über euch und eure Kinder“ (Lk 23,28). Um Jesus brauchen die Jerusalemer Frauen nicht zu weinen, weil er sein Leiden angenommen hat; er weiß, dass er zwar sterben, dass der Tod ihn aber nicht vernichten wird, während die Frauen von Jerusalem noch nicht einmal ahnen, was auf sie zukommt. Um sich selbst und ihre Kinder müssen sie weinen, weil es zu Mord und Totschlag in der Heiligen Stadt kommen wird und sie nicht nur um sich, sondern vor allem um ihre Kinder Angst haben müssen. Diese Zerstörung ist eine Katastrophe, wie sie jenseits von Eden oft geschieht, in der Heiligen Stadt aber besonders deprimiert. Trost wird es so 5 wenig geben wie für Rachels Kinder in Rama, an die Matthäus beim Kindermord in Bethlehem erinnert (Jer 31,5: Mt 2,18). Aber es gibt Jesus, der den Kreuzweg geht und den Frauen sagen kann, dass dieser Weg nicht der Weg ins Nichts ist – und dass es deshalb auch für diejenigen, um die jüdischen Mütter und ihre Kinder weinen werden, ein Jenseits des Elends gibt. Als zweites unterstreicht Jesus die Größe der kommenden Not mit einer bitteren Seligpreisung (Lk 23,29). Während in Israel gerade diejenigen seliggepriesen werden, die Kinder haben, sollen sich hier gerade die Frauen ohne Kinder glücklich schätzen – weil ihnen die Trauer um das verlorene Kind erspart bleibt. Diese Seligpreisung, die so ganz anders ist als alle anderen Seligpreisungen, ist kein Zynismus. Sie spielt die Größe der Not, die apokalyptische Ausmaße annehmen wird. Eher wollen Menschen sterben, als noch länger leiden zu müssen, ohne Hoffnung auf Rettung: „Dann werden sie anfangen, den Bergen zu sagen: ‚Fallt über uns!‘, und den Hügeln: ‚Bedeckt uns!‘“ (Lk 23,30). Lukas ist sicher, dass Jesus auf die Zerstörung Jerusalems und des Tempels im Jahr 70 n. Chr. vorausschaut. Der jüdische Historiker Flavius Josephus, ein Zeitgenosse und Augenzeuge, hat mit quälender Genauigkeit beschrieben, wie viele Menschen ihr Leben verloren haben, wie viel Blut vergossen worden, wie viel Leid entstanden ist. Jesus fasst dieses Unglück ins Auge. Seine kleine Passion ist ein Vorbote jener großen Passion des jüdischen Volkes, die schon damals das Ende der Geschichte schien – und es auch damals schon doch nicht war. So wie die Zerstörung der Heiligen Stadt und die Zerstörung des Tempels das Judentum herausfordern musste, sich selbst neu zu erfinden, so ist auch im 20. Jh., unter ganz anderen Vorzeichen und in ganz anderen Dimensionen, der millionenfache Mord von Juden eine Katstrophe gewesen, die ein neues, ein schrecklich verwundetes, ein schwer gezeichnetes und doch ein neues Judentum hat hervorbringen müssen. Am 9. November wird auch dieses Aufbruchs gedacht. Eine Hilfe kann das dritte Bildwort sein, das sprichwörtlich gewordene vom grünen und vom dürren Holz (Lk 23,31). Leider ist dieses Wort in den Strudel antijüdischer Exegese geraten, nach dem Motto: „Wenn schon der gerechte Jesus leiden müsse – um wie viel mehr dann das ungerechte Jerusalem“. Aber eine solche Deutung widerspricht dem Ethos der Passionsgeschichte. Tiefer dringt die biblische Symbolik des Holzes, die den Kirchenvätern (aus jüdischer Überlieferung) vor Augen stand. Die Weisheit Salomos denkt an die Arche Noah und sagt: „Segen ruht auf dem Holz, durch das Gerechtigkeit geschieht“ (Weish 14,7; vgl. 4Makk 18,16), obgleich es selbst „wertlos“ war (Weish 10,4); die Weisheit ist ein „Holz des Lebens“ (Spr 3,18; vgl. Ps 1,3; Jes 65,22; Jer 17,8). Das dürre Holz hingegen ist nach den Klageliedern Ausdruck der tiefen Depression, in die das besiegte und gedemütigte Israel, damals, in der babylonischen Gefangenschaft, gefallen ist (Klgl 4,8; vgl. Jes 56,3). Dass der grüne Baum 6 verdorrt und der vertrocknete ergrünt, ist nachdem Propheten Ezechiel ein Zeichen des grundstürzenden Heilshandelns Gottes durch das Gericht (Ez 17,24; vgl. 21,3). Hier lässt sich heute ansetzen, bei einer christlichen Exegese, die durch jüdische Traditionen inspiriert ist. Das Wort vom grünen und vom dürren Holz ist eine versteckte, von Mitleid geprägte Prophetie der Zerstörung Jerusalems, die eintreten, aber nicht das Ende Israels bedeuten wird. Wenn es für Jesus den Weg durch den Tod zur Auferstehung gibt, dann auch für die Töchter Jerusalems und ihre Kinder. Wer hat hingeschaut? Wer hat weggeschaut? Wer hat geredet? Wer hat geschwiegen? Jesus hat hingeschaut und geredet. Bevor er noch die heilige Stadt erreicht hat, erzählt Lukas, hat er sie vom Ölberg aus betrachtet, ihre Gegenwart und ihre Zukunft. Er hat ihre kommende Zerstörung vor Augen – und er beweint die Stadt, so wie die Töchter Jerusalems ihn beweinen werden (Lk 19,41). Dominus flevit – „Der Herr hat geweint“, so heißt die kleine Kapelle am Ölberg, die von allen Jerusalempilgern besucht wird, hoffentlich nicht nur des schönen Ausblicks, sondern auch des Mitleids Jesu mit den getöteten Juden wegen. Diese Szene gibt nach dem Lukasevangelium vor, wie die Christen seiner Zeit auf die Zerstörung des Tempels reagieren sollen: nicht mit Anklagen und Rechthaberei, sondern mit Mitleid, das sich im Zeugnis, im Gebet und in tatkräftiger Anteilnahme erweist. Die Frauen von Jerusalem, mitten aus dem jüdischen Volk, auch sie haben nicht weggeschaut und geschwiegen, sondern hingeschaut und den Mund aufgemacht, mit Klagen und Tränen. Sie werden von Lukas zu Vorbildern für alle, denen die Leidensgeschichte verkündet wird: Weinen und Klagen über die unschuldigen Opfer – in einer Hoffnung auf Gott, die ihn nicht festlegt, sondern machen lässt, weil nur so alles gut werden kann. Simon von Cyrene – er hat anpacken müssen. Wenn Gläubige das Kreuz wie er hinter Jesus hertragen wollen, dann kann es kein halbes Engagement geben, sondern nur ein Eintreten für all die, für die Jesus sein Leben hingegeben hat, um ihnen das Leben zu schenken. Ernst Wiechert kann uns helfen, das Evangelium so zu vernehmen, dass wir still werden und zu hören beginnen, um uns zu erinnern und frei zu sprechen, aus dem Gedächtnis, in dieser Kirche, vor Gott und der Welt: „Lauschen wir zurück in das grauenhafte Schweigen jener Jahre, um die Stimmen zu vernehmen, die am Wege aufstanden, um anzuklagen, so erkennen wir, dass viele von ihnen verstummt sind für alle Zeiten, erwürgte Stimmen, zu deren Nachhall wir die schuldigen Hände aufheben“. 7 Thomas Söding 8
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