Erörterndes Erschließen pragmatischer Texte

Deutsch (Berlin) – Grundkurs: Abiturprüfung 2015
Aufgabe A: Erörterndes Erschließen pragmatischer Texte – Texterörterung
Hartmut Steinecke: Das Fräulein von Scuderi (2004), Auszug
[…]
Auch wenn man im Fräulein von Scuderi keine Amateurdetektivin entdecken
kann, wie dies viele Interpreten taten (als Detektivin scheitert sie gerade), wird man
die Erzählung mit Recht auch als Kriminalerzählung (und zwar als die erste, zwei
Jahrzehnte vor Edgar Allan Poes The Murders in the Rue Morgue1) bezeichnen kön5 nen. Denn wesentliche Merkmale dieses Genres sind bereits vorhanden […]. Allerdings stehen bei Hoffmann nicht nur – und eigentlich nicht primär – das Verbrechen
und seine Aufklärung im Mittelpunkt, sondern die Motive des Mörders und die Geschichte des unschuldig verdächtigten Olivier, der die Verbrechen aufklären könnte,
aber dabei seinen zukünftigen Schwiegervater verraten müßte.
10
Hoffmann hat der Erzählung noch eine weitere Dimension hinzugefügt, mit der er
zugleich eine der Nachtseiten des Handlungsortes „große Stadt“ zeigt. Der Leser
erfährt ausführlich von den Zuständen im Paris jener Zeit […]. Für die Aufklärung
des Mordfalls legt Hoffmann damit eine falsche Fährte; im Rahmen der Erzählung
hat die breite Schilderung jedoch eine wichtige Funktion: Sie zeigt den gesellschaft15 lichen und sozialen Hintergrund, in dem die Scuderi zur Retterin wird, weil sie der
Gesellschaft den Druck, das Mißtrauen, die Angst nimmt. Mit dieser Justizkritik und
diesem Künstlerbild bezieht sich die Erzählung natürlich auch auf Hoffmanns eigene
Gegenwart. Gezeigt wird, daß eine Justiz versagt, die angesichts der Verbrechen nur
an der Aufgreifung und Bestrafung Schuldiger interessiert ist (auch Olivier ist als
20 Mitwisser juristisch mitschuldig); die Kunst hingegen kann, wenn sie sich dem
„lebendigsten Leben“ öffnet und geeignete Kunstmittel einsetzt, die das „Interesse“
(des Königs, des Lesers) an der Erzählung erwecken, zum Sieg des Humanen führen.
[…]
Quelle: Hartmut Steinecke: Die Kunst der Fantasie. E.T.A. Hoffmanns Leben und Werk. Leipzig:
Insel Verlag 2004, S. 389 f.
Worterklärung:
1 The Murders in the Rue Morgue: 1841 erschienene Kurzgeschichte des US-amerikanischen
Schriftstellers Edgar Allan Poe
Erläuterung: Hartmut Steinecke (geb. 1940), emeritierter Professor für Literaturwissenschaft
Hinweis: Die Textwiedergabe folgt der Quelle.
Aufgabenstellung
Erörtern Sie, inwiefern Hartmut Steineckes Aussagen zur Erzählung Das Fräulein von
Scuderi (1819) von E.T.A. Hoffmann überzeugen.
Erarbeiten Sie dazu zunächst Steineckes Positionen.
GK 2015-1
Hinweise und Tipps
r Lesen Sie den gegebenen Text sehr genau durch – am besten dreimal: Zunächst überr fliegen Sie ihn nur, um sich einen ersten Eindruck vom Inhalt zu verschaffen. Danach
r lesen Sie alles sehr aufmerksam durch; nehmen Sie dabei einen Stift zur Hand und marr kieren Sie jede Aussage, die als These anzusehen ist. Anschließend gehen Sie den ganzen
r Text noch einmal Satz für Satz durch und überlegen, welcher Zusammenhang zwischen
r den einzelnen Aussagen besteht: Unterscheiden Sie zwischen Haupt- und Nebenthesen.
r Entwerfen Sie nun Ihren Abschnitt für die Erschließung der Vorlage auf einem extra
r Blatt. Zählen Sie die entscheidenden Thesen nicht einfach nur auf, sondern stellen Sie
r ausdrückliche Verknüpfungen her. Achten Sie bei Ihrer Darstellung außerdem darauf,
r eigene Worte zu verwenden. Allerdings sollten Ihre Formulierungen nicht gekünstelt
r wirken: Wörter, die in einem bestimmten Kontext selbstverständlich sind (z. B. der Ber griff „Motiv“), brauchen Sie nicht krampfhaft durch Synonyme zu ersetzen.
r Bedenken Sie, dass Ihre Zusammenfassung die Grundlage für die nachfolgende Erörter rung ist; wenn sich hier bereits Ungenauigkeiten eingeschlichen haben, schlägt sich das
r auf die Qualität Ihrer nachfolgenden Argumentation durch. Stellen Sie also sicher, dass
r Ihre Zusammenfassung sowohl inhaltlich als auch sprachlich überzeugt. Wenn das der
r Fall ist, können Sie diesen Teil schon in die Reinschrift übertragen.
r Nun beginnen Sie mit dem Sammeln von Argumenten. Gehen Sie zunächst textimmar nent vor: Überlegen Sie, ob es in Hoffmanns Novelle „Das Fräulein von Scuderi“ Inhalr te gibt, die die Hauptthesen des Verfassers stützen oder ihnen widersprechen. Am besten
r notieren Sie alle wichtigen Überlegungen in einer zweispaltigen Tabelle:
Kontra:
r Pro:
r These 1: Novelle als Kriminalerzählung Gegenthese: Novelle keine Kriminalerzählung fehlende Merkmale:
r enthaltene Merkmale:
• Auflösung schon lange vor Ende der Err • Mordserie in Paris
zählung
r • Polizei auf der Suche nach den Tätern
r • Fräulein von Scuderi in Aufklärung ein- • Fräulein von S. von Gefühlen bewegt
• Aufklärung durch Hauptverdächtigen
r bezogen
• …
r• …
Gegenthese: …
r These 2: …
r Danach müssen Sie Ihren Blick weiten. Es wird nämlich von Ihnen erwartet, dass Sie
r Kontextwissen in Ihre Argumentation einbeziehen. Das bietet sich am ehesten für den
r Schlussteil an. Setzen Sie sich beispielsweise damit auseinander, ob der Literaturwissenr schaftler Steinecke Bezüge zur literarischen Epoche der Romantik aufzeigt oder zuminr dest andeutet. Ihre Kenntnisse über die Biografie Hoffmanns können Sie ebenfalls her ranziehen, sofern sie geeignet sind, Ihre Argumentation abzurunden.
r Wichtig ist natürlich, dass Sie zwischen Ihrem Kontextwissen, dem Vorlagentext und der
r Novelle einen Zusammenhang herstellen. Es genügt nicht, dass Sie Ihre Kenntnisse ler diglich nachweisen, sondern Sie müssen immer auch sagen, was man daraus ersehen
r kann. Maßstab ist dabei neben dem Vorlagentext grundsätzlich der Primärtext, auf den
r sich der Verfasser bezieht.
r Legen Sie nun die Reihenfolge Ihrer Argumente fest, indem Sie Ihre Stichworte auf dem
r extra Blatt entsprechend nummerieren. Notizen, die zum selben Argument gehören, verGK 2015-2
r sehen Sie mit der gleichen Nummer. So erhalten Sie einen Schreibplan für das Verfassen
r Ihres Textes.
r Ehe Sie mit Ihrer eigentlichen Argumentation beginnen, müssen Sie noch eine Überleir tung schaffen. Stellen Sie zu Beginn des Hauptteils die entscheidenden Leitfragen für
r Ihre Argumentation klar heraus. Erst danach führen Sie Ihre Argumente aus. Es kann
r sein, dass Sie zu einzelnen Thesen des Verfassers mehrere Argumente anbieten wollen.
r Achten Sie bei Ihrer Darstellung stets darauf, Ihre Gedanken erkennbar zu verknüpfen
r (z. B. „Hinzu kommt, dass …“ oder „Dagegen spricht allerdings, dass …“). Nehmen Sie
r außerdem immer wieder ausdrücklich Bezug auf den Vorlagentext; es ist schließlich
r Ihre Aufgabe, sich mit den Gedanken des Verfassers auseinanderzusetzen! Sie können
r dafür die eine oder andere seiner Aussagen zitieren oder darauf verweisen, um anschlier ßend dazu Stellung zu nehmen. Vergessen Sie dann aber nicht, jeweils die entsprechende
r Zeilenangabe hinzuzufügen.
r Am Schluss müssen Sie alle Ihre Überlegungen zu einem schlüssigen Ergebnis zusamr menfassen: Äußern Sie sich abschließend noch einmal zu den Hauptthesen des Verfasr sers und beziehen Sie sich in dem Zusammenhang auf Ihre wesentlichen Gedanken. Wier derholen Sie jedoch nichts, was Sie bereits im Hauptteil gesagt haben. Drücken Sie sich
r im Schlussabsatz eher allgemein aus und gehen Sie nicht mehr auf Einzelheiten ein.
Lösungsvorschlag
Viele Literaturwissenschaftler sehen in E.T.A. Hoffmanns Werk „Das Fräulein von Scuderi“ die erste Kriminalerzählung der Literaturgeschichte. Für den Literaturwissenschaftler Hartmut Steinecke ist die 1819 erschienene Novelle allerdings weit mehr.
Seiner Meinung nach hat der Autor darin auch die gesellschaftlichen Zustände während
der Herrschaft Ludwigs XIV. geschildert und damit indirekt Kritik an der Pariser
Gesellschaft geübt. Diese Kritik lasse sich auf die preußische Gesellschaft zur Zeit Hoffmanns übertragen. Daneben beleuchte der Autor in seinem Werk außerdem weitere Themen, z. B. die Rolle des Künstlers. Insofern greift es nach Ansicht des Literaturwissenschaftlers zu kurz, in der Novelle lediglich eine Kriminalerzählung zu sehen.
Zwar schätzt Steinecke „Das Fräulein von Scuderi“ durchaus als Kriminalerzählung ein
– sogar als die erste überhaupt. Er begründet das damit, dass die Novelle die wesentlichen Merkmale dieser Textsorte bereits aufweise (vgl. Z. 5): So werde die Großstadt
Paris als Schauplatz brutaler Verbrechen beschrieben und zeige damit ihre „Nachtseiten“
(Z. 11). Auf diese Weise führe der Erzähler den Leser zunächst auf eine „falsche Fährte“
(Z. 13). Doch nach Ansicht Steineckes geht es Hoffmann gar nicht in erster Linie um ein
Verbrechen und dessen Aufklärung. Dagegen spreche schon die Darstellung der Protagonistin: Das Fräulein von Scuderi sei keine Amateurdetektivin, sondern scheitere sogar an
dieser Aufgabe (vgl. Z. 1 f.). Wichtig seien dem Autor vor allem die Motive des Mörders
und der innere Konflikt des unschuldig in Verdacht geratenen Olivier (vgl. Z. 7 f.). Daneben übe Hoffmann Kritik an gesellschaftlichen Institutionen, während er die positive
Rolle der Kunst hervorhebe: In ihrem Bemühen um Aufklärung würden Polizei und JusGK 2015-3