Nr. 365 August 2015 Kunstwerk des Monats Ein weit gereister Koffer Necessairekoffer für eine Dame mit Toilettenutensilien und Kofferaufklebern um 1920, Leder, B. 45 cm, H. 32 cm, T. 12 cm Inv. Nr. GV 265, Neuerwerbung 2014 Im vergangenen Jahr gelang dem Kurpfälzischen Museum die Neuerwerbung eines Koffers mit Toilettenutensilien für eine Dame, auch Einrichtungskoffer genannt. Es handelt sich um einen braunen Lederkoffer mit Messingschließen und Griff, der an der Außenseite mit zahlreichen Kofferaufklebern beklebt ist. Die Aufkleber zeugen von der Reiselust der Besitzerin. Offensichtlich hatte sie das Gepäckstück lange Jahre in Gebrauch. In dem rot ausgeschlagenen Koffer befinden sich Dosen, Flaschen, Bürsten für Haar und Kleider, ein Fach für einen rechteckigen Toilettenspiegel, der hier leider fehlt, Necessaires für die Nagelpflege usw. Die Flaschen und Dosen waren für die Verwahrung von Zahnputzzeug, Seife, Parfum, Puder u. a. Utensilien bestimmt. Die zahlreichen bunten Kofferaufkleber auf der Außenseite dokumentieren bis heute eindrücklich die Vielfalt der europäischen Reiseziele der Besitzerin. Sie wohnte in vornehmen Hotels in Bozen, Triest, Meran, Lugano, am Gardasee, in Split, Dubrovnik, München, Venedig, Pilsen, Bayreuth, Abbazia, Menton, Mailand, Budapest, Karlsbad, Innsbruck, Saalfeld /Thüringen, Hamburg, Ulm, London und Berlin. Die Aufkleber nehm, wenn man die Toilettengegenstände aus einem großen Gepäckstück herausnehmen müsste. Diese für Kurzreisen ebenso wie als Handgepäck geeigneten Einrichtungskoffer waren lange Zeit repräsentative Geschenke und Statussymbole. So erhielt der Außenminister und Friedensnobelpreisträger Gustav Stresemann (1878 –1929) zu seinem 50. Geburtstag 1928 einen reich ausgestatteten Einrichtungskoffer als Geschenk. Obwohl in den 1920er Jahren allmählich breitere Bevölkerungskreise reisten, konnten sich nur wenige derartiges Gepäck leisten, das meist teurer war als die Reise selbst. lassen teilweise auf Schiffsreisen schließen, sonstige Transportmittel waren wahrscheinlich Züge und Automobil. Die luxuriösen Hotels, in denen die Dame logierte, lassen vermuten, dass sie vermögend war. Der Koffer war sicherlich nur eines von vielen Gepäckstücken, mit denen sie gewöhnlich reiste. Koffer mit Necessaire-Einrichtungen für Damen und Herren kamen um 1900 auf. Typisch ist, dass sie innen, an einer oder, wie das vorgestellte Exemplar, an mehreren Seiten und am Deckel mit Toilettenutensilien jeder Art ausgerüstet waren. In dem verbleibenden freien Platz in der Mitte konnten „ein leichter Reserveanzug, etwas Leibwäsche, Stiefel, Morgenschuhe etc.“ (Reisebegleiter 2010, S. 124) verstaut werden. Zudem bot der Koffer Platz für andere Kleinigkeiten, Reiseführer oder Papiere. Präzise Hinweise über den Inhalt eines solchen Koffers blieben leider nur selten erhalten. Ein Ratgeber aus der Zeit um 1930 hebt jedoch den Nutzen eines Necessairekoffers ausdrücklich hervor. Es wurde empfohlen, einen solchen Koffer stets mitzuführen, da eine freiwillige oder unfreiwillige Unterbrechung der Reise den Reisenden zum Übernachten im Hotel zwingen könnte, oder gar zur Nutzung eines Schlafwagens. In so einem Fall wäre es unange- Literatur: Rüdiger Hachtmann: Tourismus-Geschichte. (Grundkurs Neue Geschichte), Göttingen 2007, S. 115. | Reisebegleiter – mehr als nur Gepäck, bearbeitet von Claudia Selheim, Begleitband zur Ausstellung im Germanischen Nationalmuseum, Nürnberg, 9. Dezember 2010 bis 1. März 2011, S. 123 –124, Abb. 104. | Reiseleben – Lebensreisen, Zeugnisse der Kulturgeschichte des Reisens, Schloss Gottorf und seine Sammlungen, Waren reisende Frauen bis weit ins 19. Jahrhundert eine Ausnahme, so setzte um 1860 /1870 mit den Anfängen des organisierten Tourismus ein Wandel ein. Frauen wurden – allein oder in Begleitung – aufgrund bequemerer Reisemöglichkeiten und kalkulierbarer Reiserisiken immer mobiler. Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts nahm der kommerzielle Tourismus trotz sozialer und politischer Krisen im Deutschen Reich einen signifikanten Aufstieg. Die Reisebüros boomten: 1925 lockten in Deutschland mehr als 350 private Reisebüros gut situierte Kunden mit attraktiven Urlaubsangeboten. Der einheimische Tourismus wurde mit Pauschalreisen und Kurzaufenthalten, für die die Deutsche Reichsbahn warb, angekurbelt. Hatten bis zum Ersten Weltkrieg noch vornehmlich reiche Gäste in luxuriösen Hotels logiert, so änderte sich das in den 1920er Jahren. Die ökonomische Dauerkrise brachte auch für bis dahin zahlungskräftige Kreise finanzielle Engpässe mit sich und der Bedarf an preiswerten Übernachtungsmöglichkeiten stieg stetig. Man reiste nicht unbedingt weniger, aber dafür kürzer und preiswerter. Der ausgemusterte Necessairekoffer der unbekannten Dame ist durch die Erwerbung für die Sammlung des Kurpfälzischen Museums Teil einer musealen Erinnerungskultur geworden. Er dokumentiert nicht nur die persönliche Reiselust seiner ehemaligen Besitzerin, sondern – als ultimatives Accessoire seiner Zeit – auch die Kulturgeschichte des Reisens in der 1. Hälfte des letzten Jahrhunderts. Karin Tebbe neue Bilderhefte hrsg. von Heinz Spielmann, Schleswig 1994 (2. Auflage), S. 64, Abb. 83 und 84. Impressum: Redaktion: Ulrike Pecht, Layout: Caroline Pöll Design Fotos: Museum (K. Gattner), Druck: City-Druck Heidelberg Nr. 365 © 2015 KMH, Hauptstraße 97, 69117 Heidelberg [email protected] www.museum-heidelberg.de
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