Erik Schönenberg, Inside Out zum bildnerischen Handeln bei Anthony Cragg l Im Sinne eines ,Paragone', eines Wettstreits der Gattungen, betonen die Befürworter der Skulptur die reale, dreidimensionale Entfaltung von Material. Die sinnliche Erfahrung der Objekte ist dabei jedoch keine haptische - sie werden in der Regel nicht angefasst - sondern vermittelt sich über die optische Wahrnehmung des Materials und seiner Oberfläche. Allerdings besetzt die Skulptur einen dreidimensionalen Raum und definiert dadurch ihren Umraum, d. h. einen Teil des realen Raums, mit. Die bis zum 20. Jahrhundert herkömmliche Praxis, eine Skulptur auf einem Sockel zu platzieren, um sie von der natürlichen Umgebung zu entheben, verdeutlicht das enge Wechselverhältnis zwischen dem realen und dem bildnerischen Raum. Anthony Cragg fertigt seine Skulpturen nicht in Anpassung eines bestehenden räumlichen Gefüges, sie greifen jedoch bewusst in den realen Raum ein. Bereits frühe Arbeiten, wie FourPlates (l 975) zeigen ein großes Interesse an den Verhältnissen zwischen Objekt und Umraum. Four Plates besteht aus dem Material vier weißer Teller. Während der erste unversehrt auf dem Fußboden seines Ateliers und der zweite in drei Teile zerbrochen daneben gelegt wurde, verteilte sich der dritte in vielen Einzelteilen auf einem vor dem Gebäude liegenden Parkplatz und der vierte, in unzählige Scherben zerbrochen, in der Stadt.1 Sukzessive wird hier die einheitliche Form in ihre Bestandteile aufgelöst und damit die Grenzen ihrer Wahrnehmbarkeit überschritten. Gleichzeitig beschränkt sich der Raum künstlerischen Handelns nicht allein auf ein Objekt und seine Produktion. Die Arbeit Ohne Titel (Stones curved on my body) (1972) zeigt den zusammengekauerten Körper des Künstlers über dessen Rücken und linkes, seitlich ausgestrecktes Bein dreizehn handtellergroße Steine eine geschwungene Linie bilden. Anfang bzw. Ende der Linie markieren zwei in Verlängerung des Beins auf dem Boden liegende Steine. Hier liegt der Fokus auf den vielfältigen Beziehungen zwischen dem menschlichen Körper und seiner Umgebung. Dabei spielt der Künstler nicht nur als Produzent, sondern auch als agierender und vermittelnder Teil der Skulptur eine wesentliche Rolle. Sein Körper und seine Handlung sind das Verbindungsglied zwischen der vorhandenen Objektwelt und der gestalteten Form. Auch wenn in der Folgezeit die Aktion und eigene körperliche Präsenz hinter die sichtbare Form zurücktreten, entwickeln sich die Arbeiten weniger durch eine rein geistige Tätigkeit als durch die körperliche Handlung als Ausgangspunkt künstlerischen Schaffens. Mit Beginn der Anordnung von gefundenen Fragmenten zu Wand- und Bodenreliefs betont Cragg die Rolle der visuell wahrnehmbaren Form. Im Entstehungsprozess der Skulpturen ist die Aktion, das Auffinden und Sammeln der Einzelteile, nach wie vor wesentlicher Bestandteil, dabei ist jedoch die Qualität der visuellen Phänomene Grundlage aller weiteren Arbeiten und Serien.2 Eine Gemeinsamkeit der Formfindungen in den achtziger und neunziger Jahren ist, dass sie aus einem Prozess des Zusammenfügens und -bildens entstehen. Die Gesamtform entsteht aus der Addition unterschiedlicher, oft kreisförmiger, Elemente, wobei sowohl die Brüche als auch die Einheit der Gesamtform nur optisch nachvollzogen werden kann. Die Plastik NewStones Newton's Tones (l 979) oder das Wandrelief Policemen (l 981) lassen sich als Gegenstand und Form erst durch die Wahrnehmung ihrer farblichen Ordnung bzw. ihres durch die Anordnung entstandenen Umrisses verstehen und nicht durch das Erkennen oder Benennen der jeweiligen Teile, wie zerbrochene Schaufeln, Löffel, Deckel etc. Gleichwohl bleiben diese Fragmente als Elemente der Gesamtform immer erkenn- und sichtbar. Im gleichen Maße gilt dies z. B. für Bronzearbeiten der neunziger Jahre aus der Serie Early Forms, deren Gestalt ebenfalls nicht durch einzelne wieder erkennbare Elemente erklärbar ist. Die sprachliche Beschreibung bleibt gegenüber der optischen Erfahrung zwangsläufig redundant. In der Anschauung feilen sich die Gebilde nicht als eine Form oder addierte Elemente mit, vielmehr offenbart der Wahrnehmungsprozess gleichzeitig die Form und ihre Elemente, ohne dass das eine logisch oder rational aus dem anderen hergeleitet werden könnte. Die Divergenz von Teil und Ganzem, von zerbrochenem Kunststoffkamm und Umriss einer Polizeifigur, von Amphore und organisch anmutender Gestalt, kann nur in der Anschauung als einheitlich erfahren werden. II Die beschriebene optische Erfahrung der Divergenz lässt sich, vor allem in der Abkehr von einer illusionistischen, abbildhaften Kunst, als Grundzug der Moderne begreifen, schließt jedoch nicht zwangsläufig eine Zurückweisung traditioneller Skulptur ein. Anthony Cragg scheint weniger daran gelegen die Parameter bildhauerischer Tradition außer Kraft zu setzen, als vielmehr mit ihnen zu spielen und sie zu reflektieren, um daraus eine, nicht weniger klassische, aber gegenwärtige Neuformulierung zu gewinnen. So organisieren sich seine Arbeiten auch nach Kategorien traditioneller Skulptur und verfolgen z. B. das grundlegende Prinzip einer Organisation von Zentrizität und Exzentrizität oder Vertikalität und Horizontalität. Der Vergleich einer antiken Figur, wie die römische Artemis3 mit der Wirbelsäule (l 996) von Anthony Cragg macht den grundlegenden Zusammenhang wie auch den Unterschied deutlich. Skulpturen und Plastiken sind meist um ein eigenes Zentrum herum organisiert und besitzen eine direkte visuelle Beziehung zur Umgebung, insbesondere zum Boden. Anschaulich wird dieses Verhältnis an vertikalen Formbildungen, wie der menschlichen Figur oder ihrer Abstrahierungen, die letztlich Variationen der Säulenform sind. So ist die Figur der Artemis durch eine säulenartige, lineare Ausrichtung bestimmt, während ihr Körper gleichzeitig um sein Zentrum in der Mitte, d. h. auf der Höhe des Bauches, organisiert ist. Durch dieses Verhältnis von Zentrum und linearer Ausrichtung bestimmen sich die verschiedenen Formelemente und Dynamiken der Skulptur. Das Zentrum teilt die Figur in einen zum Boden hin verlaufenden Teil, in dem die Beine sich zur Basis der Füße hin verjüngen, und einen nach oben gerichteten Vektor, der sich vom Boden löst.4 Ähnlich lässt sich auch Anthony Craggs Wirbelsäule (1996) als vertikal geordnete, lineare Form beschreiben, die ein teilendes Zentrum in der Mitte besitzt. Ebenfalls besitzt sie eine Taillenform von der aus sich die Form zunächst verbreitert, um sich dann nach oben und unten hin zu verjüngen. Während die Figur der Artemis durch zahlreiche einzelne Vektoren lebendig erscheint, die sich aus den verschiedenen Richtungen und Linienschwüngen des gestalteten Kleids und Umhangs ergeben, erreicht Cragg eine Dynamisierung und Bewegung durch die Schichtung verschieden großer, kreisförmiger Elemente, die zudem unterschiedliche, wulstenähnliche Breiten und Massen aufweisen. Die Achse verläuft nicht mehr in einer geraden Linie, sondern ist durch zahlreiche Biegungen gekennzeichnet. Hierdurch werden ebenso zahlreiche diagonal verlaufende Vektoren bestimmt, die ein exzentrisches Verhältnis zur Achse aufweisen. Das Verhältnis von Vertikalität und Zentrizität beider Skulpturen stiftet jedoch einen anderen, gegensätzlichen Eindruck. Während in der römischen Figur die unterschiedlichen Richtungen die Mittelachse nur leicht umspielen und damit in ihrer Ausrichtung und Statik bestätigen, sind diese bei der Wirbelsäule von ungleich höherem Gewicht und erzeugen dadurch eine enorme dynamische Spannung. Die Vertikale wird gleichfalls betont, aber als labil erfahren. Andere Arbeiten von Anthony Cragg, die eine kompakte Formgebung aufweisen, sind in ihren Verhältnissen, insbesondere bezüglich ihrer Zentrizität, weniger als klassisch zu bezeichnen. Werke aus der Serie Envelopes, wie Zufuhr (1996), Pod (1998) oder Fig (l 998) weisen eine kompakte Form auf, die durch die Struktur der Oberfläche aufgebrochen wird. Die durchgehend mit kreisrunden Löchern versehenen Flächen haben eine Offenheit, die nicht nur der Schwere und Masse der Skulptur entgegensteht, sondern durch die Lichteinfälle und Durchblicke auch eine große Lebendigkeit der Fläche bewirken. Darüber hinaus ist wesentlich, dass die Skulpturen kein materielles Zentrum aufweisen, von dem die Vektoren ausgehen, bzw. auf die sie zurückgeführt werden können. Zwar ist die Gestaltung um ein Zentrum herum organisiert, dieses aber unbesetzt. Die Skulpturen erscheinen als fragile, aufgebrochene Hüllen, die ihr Inneres noch Außen bringen. Durch die Oberfläche der Werke wird die mögliche Fragmentarität einer kompakten, einheitlichen Form erfahrbar gemacht. Indem Anthony Cragg den klassischen Ausgangspunkt eines statischen Kerns zurückweist, von dem aus sich eine Masse mehr oder weniger blockhaft ordnet und diesen als Leerstelle sichtbar macht, lenkt er nicht nur den Blick auf die Beschaffenheit von Oberfläche und Material, sondern stellt zudem die Bestimmung des Zentrums als Ursprung zur Disposition. Cragg lotet auf unterschiedliche Art und Weise den Grenzbereich zwischen einer sich verfestigenden und auflösenden Gestalt aus und provoziert damit formal sowie inhaltlich die Frage, wie und wodurch die vielfältigen visuellen Phänomene zusammengehalten und Körper - ob skulpturale oder menschliche - zur Existenz gebracht werden.5 III Wesentlich für eine bildhauerische Praxis sind nicht allein die Tektonik der Plastik oder die immanenten Eigenschaften des Materials, wie seine Dichte oder Struktur, sondern die bearbeitete und veränderte Oberfläche, durch die das Material überwunden wird, bzw. eine andere Qualität erhält.6 Dies wird deutlich durch das bereits erwähnte Übersähen der Oberflächen mit Löchern bei Werken in Bronze oder Stein (z. ß. Sunder, 1995), ebenso in der farbigen Fassung bzw. Einfärbung der Oberflächen in einigen Bronzearbeiten, wie Sindbad (2000) oder Slice (2000). Durch den Prozess der Veränderung werden die „Anschauungs- und Strukturmerkmale als bedeutungstragende Elemente der Skulptur"7 herausgestellt. Betont wird dies zudem durch die Trennung von Bezeichnetem und Bezeichnendem. So lassen sich z. B. Werke der Serie Secretions möglicherweise als organische Form von Absonderungen erkennen, ihre Oberfläche jedoch, die gänzlich aus elfenbeinfarbigen oder schwarzen Spielwürfeln besteht, bestätigt diese Assoziation nicht. Im Gegenteil, durch die Ansicht zahlreicher schwarzer Punkte auf hellem Grund entsteht eine optische Wahrnehmung und eine Gegenständlichkeit, die den Vorstellungen von Absonderungen entgegenläuft. Die Differenz von Form und Oberfläche kann hier nicht logisch zur Deckung gebracht werden; vergleichbar mit der doppelten Bedeutung des englischen Worts „Secretion“ im physiologischen Sinne als Sekret und im literarischen Sinne als Verbergen. Ebenso augenscheinlich ist dies bei Arbeiten aus der Serie Stacks, wie Stacked Crockery (1996), bei denen aus einer Schichtung von Tellern, Tassen und Schüsseln ein Gebilde entsteht, das eine Anschauungsqualität und Poesie besitzt, die weit über die verwendeten Einzelteile und ihre Funktion hinausgeht. Durch das Spiel mit der Form und der Oberfläche entsteht eine „Bildlichkeit“ des Materials, das dadurch eine eigene Präsenz und eigenständige Lebendigkeit erhält. Werke wie Calender (1997) erscheinen schon allein durch ihre Oberfläche, die aus unzähligen Haken besteht, ungewöhnlich. Die Haken erweitern die Skulptur durch ihre Anschauungsqualität, durch eine silbrig-weiß schimmernde, zum Teil glänzende, zum Teil matte Oberfläche, die den gesamten Aufbau der Skulptur aus Holzplanken, Leitern, Blöcken etc. umspannt. Sie erinnern an Staubfäden oder an die sinnliche Qualität von Wasser und lassen eine ungeheure Lebendigkeit und Beweglichkeit entstehen. Die gesamte Oberfläche erhält in der Anschauung einen vibrierenden, dynamischen Charakter, die dem statuarischen Aufbau widerspricht, da es keinen Anfangs- oder Endpunkt gibt, in den eine Blickrichtung verlaufen sollte. Die visuellen Merkmale der Skulptur provozieren eine ästhetische Wahrnehmung, die gleichermaßen die Funktion der verwendeten Teile wie ihre sinnlichen Qualitäten herausstellt. Die Leiter wird als Gegenstand mit einem bestimmten Gebrauchswert verstanden und gleichzeitig durch ihre Verwendung und Behandlung in ein eigenständiges, künstlerisches Artefakt verwandelt. In der Produktion wie in der Rezeption spielt die Bewegung und die durch sie gestiftete Wahrnehmung eine wesentliche Rolle. Die Zeichnungen von Anthony Cragg verdeutlichen dieses Prinzip. Anfang und Ende einer Linie sind nicht zu bestimmen. Einzelne Objekte, wie Vasen oder Gläser, lassen sich zwar erkennen, aber in ihrer Form nicht mehr voneinander trennen. Aus den mit-und ineinander verwobenen Einzelteilen entsteht ein neues, künstlerisches Objekt, welches eine Bewegung von Formen und Elementen vor Augen führt. So wird deutlich, dass nicht der Gegenstand selbst, sondern seine Dynamik und Veränderungsmöglichkeiten wesentliches Motiv der Arbeiten sind. Dies gilt im gleichen Maße für seine Skulpturen und Plastiken. Sie weisen eine Präferenz für sich verändernde Formen auf, die eine neue Objektwelt hervorbringen: „Craggs Zeichnungen sind wie seine Skulpturen in ständiger Bewegung; sie sind Stationen der Reise in die Welt der Formen, in dem Versuch der Erschaffung der neuen Welt in der Kunst."8 Diese Welt entsteht aus einem Prozess und produziert eine Wirklichkeit, die aus dem Verhältnis des Menschen zu seiner Umgebung und seinem Handeln aufgebaut ist. Craggs Kunst entsteht nicht losgelöst von der außerkünstlerischen Wirklichkeit und beinhaltet den Anspruch diese zu verändern oder zumindest auf sie einzuwirken. Die Um- und Neuformung der gefundenen oder veränderten Gebrauchsgegenstände durch Überführung in einen anderen Zustand zielt grundsätzlich auf die Frage nach einer möglichen Einheit von divergierenden Elementen und Fragmenten. In dem Verständnis der plastischen Form als Objektivierung von Material und Prozess setzt Cragg auf die Produktion von Skulpturen, die Teil unserer Wirklichkeit werden und damit generell als kulturelle Objekte zu verstehen sind. Kulturelle Objekte ermöglichen dem Betrachter sich in der Welt zu verhalten und seine Lebenswirklichkeit zu reflektieren. Die Frage nach einer möglichen Synthese gilt also mithin für den formalen, handwerklichen Prozess der Bildhauerei, als Zusammenfügung und Verbindung einzelner Teile zur Herstellung künstlicher Objekte, wie auch für den geistigen, künstlerischen Prozess als Synthesis, d.h. der Verknüpfung von Wahrnehmungen, Vorstellungen und Begriffen zu einer Erkenntnis. IV Die Synthese als Prinzip der künstlerischen Produktion lässt sich auch bei Anthony Cragg finden. Er unterscheidet Landschaft und Gestalt von kulturellen Gegenständen, die durch Organismen hergestellt werden und deren Qualität darin besteht, Informationen enthalten bzw. aufnehmen zu können.9 Hier zeigt sich meines Erachtens auch ein Grund für die Präsenz und Bedeutung des Materials. Indem das Material Grundlage aller uns umgebenden Formen und Gestaltungen ist, durchdringt es gleichermaßen Kultur als auch Natur und ist somit die ideale Basis beide Sphären zusammen zu bringen. Die Relevanz und Problematik von Objekten und ihrer Phänomene für die Kultur bzw. Kulturentstehung sind eines der zentralen Motive in den Schriften des Soziologen und Philosophen Georg Simmel. In „Der Begriff und die Tragödie der Kultur"10 beschreibt er, dass die Entwicklung des Menschen einer Einbeziehung äußerlicher Werte, wie Kunst, Sitte, Wissenschaft, Normen etc., bedarf, die sich generell über die Auseinandersetzung mit kulturellen Objekten vollzieht. Sie ermöglichen eine .Sichtbarmachung', ein Bewusstsein über den geistigen Inhalt, sofern sich das Subjekt mit ihnen weiterhin auseinandersetzt. Da die Objekte zu seiner kulturellen Entwicklung gehören, kann er sie nicht einfach ablehnen, in ihrer Masse aber auch nicht assimilieren. Dort entsteht die Tragödie der Kultur: Indem der Geist ein selbstständiges Objekt erschafft, welches dann einen Weg geht, der für das Subjekt nicht mehr bildend ist, bricht der synthetische Prozess der Kulturentstehung wieder auf.11 Diese Problematik beschreibt auch Anthony Cragg: At one time the number of objects produced was quite limited. They were functional and there was a very deep relationship with these things. Because of industrial manufacturing techniques and commercial producing Systems we are just making more and more objects and we don't goin. We don't have any deep founded relationship with these objects [..,]. If we work on the premise that the quality and nature of our environment and what we are surrounded with is actually having a very direct affect on us, on our sensibilities, perhaps even our emotions and intellects, then we have to be more careful with these objects and spend more time learning something about them."12 Betont Cragg die Wichtigkeit sinnlicher Erfahrungen13, so ist analog für Georg Simmel die Anschauung einzige Möglichkeit zur Überwindung der kulturellen Tragödie. Einheitlichkeit kann nur in und durch diesen Prozess gewährt sein, nicht im Subjekt allein erreicht werden. Für beide führt die Konzentration auf visuelle Gegebenheiten zur Möglichkeit, die eigene Position besser wahrzunehmen und verstehen zu können .14 Anthony Cragg erschafft als Bildhauer neue Formen, für die die Betrachter (noch) keine Wahrnehmungs- und Begriffsmuster haben. Er stellt den Gebrauchsgegenständen kulturelle Objekte entgegen, mit denen die eigene Lebenswelt reflektiert werden kann und muss. Im künstlerischen Handeln erweist sich so der dialogische Prozess als ästhetisches Prinzip. Indem das Material eine neue Form annimmt, gewinnt der Künstler wesentliche Erkenntnisse15, und die Betrachter erhalten dadurch ihrerseits neue Erfahrungsmöglichkeiten. Die Tragödie der modernen Kultur lässt sich mit den Werken von Anthony Cragg nicht überwinden, gleichwohl aber wirkt sein bildhauerisches Handeln und Denken wesentlich an der kulturellen Bildung des Menschen mit. 1 Zu Four Plates und deren mögliche programmatische Bedeutung für das Werk von Anthony Cragg, vgl. Susanne Gaensheimer: Vertrauen in die Form. Über das Verhältnis des Einzelnen zum Ganzen in den Skulpturen von Anthony Cragg; in: Anthony Cragg Material_Object_Form, hrsg. v. Helmut Friedel, Städtische Galerie imLenbachhaus,München 1998, S.129-135. 2 Vgl. ebd., S. 131 3 1. Jh. v. Chr., Staatliche Antikensammlung und Glypothek, München 4 Vgl. Rudolf Arnheim: Die Macht der Mitte. Eine Kompositionslehre für die bildenden Künste, Köln 1996. Zum dort ausgeführten Beispiel der Artemis und zum Verhältnis von Zentrizität und Exzentrizität, s. S. 37-46. 5 Vgl. Germano Celant: Die Materie und ihr Schatten; in: Tony Cragg, hrsg. v. Germano Celant und Daniele Eccher, Galleria Civica d'Arte Contemporanea, Trento, Centro Servizi Culturali S. Chiara, Mailand 1994, S.9-33 '6 Als historischen Ausgangspunkt eines veränderten Materialbewusstseins benennt Anthony Cragg Medardo Rosso. Rosso (1858-1928), italienischer Bildhauer, der bis 1883 als Maler arbeitete und eine Zeitlang in Paris lebte, überwand die Genreskulptur des 19. Jahrhunderts und wurde durch seine Materialverwendung und die Behandlung seiner Oberflächen zu einem wichtigen Wegbereiter der Skulptur des 20. Jahrhunderts. Vor allem sein bevorzugtes Arbeiten in Wachs über einem Gipskern erlaubten ihm weiche und offene Formenübergänge und damit eine Oberflächenstruktur, die fließend erscheint. Zu Craggs Sicht Rossos, s. Anthony Cragg: Rosso. Eine höhere Auflösung, in: Anthony Cragg - Materiol_Objekt_Form, hrsg. v. Helmut Friedel, Städtische Galerie im Lenbachhaus, München 1998, S.45-47. 7 Ulrich Wilmes: Anthony Cragg - Leben in einer materiellen Welt, S. 144, in: Anthony Cragg - Material_Object_Form, hrsg. v. Helmut Friedel, Städtische Galerie im Lenbachhaus, München 1998, S. 143-146 I Ulrich Krempel: Die Erschaffung der neuen Welt in der Kunst. Zu Plastiken und Zeichnungen von Tony Cragg in den 90er Jahren, S. 23; in: Tony Cragg. Atelier: Wuppertal. Plastiken und Zeichnungen in den 90er Jahren, hrsg. v. Sabine Fehlemann. Von der HeydtMuseum und Barmenia Versicherungen, Wuppertal 1999 '9 Vgl. Interview mit T. Cragg (von Robert Hopper), S. 23; in: anthony cragg. auf der lichtung, Sennestadt GmbH, 1997, S. 17-37 10 Georg Simmel: Der Begriff und die Tragödie der Kultur, Berlin 1986 11 Vgl. ebd., S. 210 12 Tony Cragg Talking obout Axehead 1982, in: Tony Cragg's ,Axehead', The Tate Gallery, London 1984, S. 12 13 "The need to know both objectively and subjectively more about the subtile fragile relationships between us, objects, images and essential natural processes and conditions is becoming critical. It is very important to hove first order experiences - seeing, touching, smelling, hearing - with objects/images and to let this experience register." Zit. n. Lynn Cooke: Tony Cragg: Thinking Models S. 57, in: Tony Cragg, hrsg. v. Arts Council of Great Britain, London 1987, 5.41-57 14 Vgl. Ulrich Wilmes: Anthony Cragg - Leben in einer materiellen Welt, S. 145, in: Anthony Cragg -Material_Object_Form, hrsg. von Helmut Friedel, Städtische Galerie im Lenbachhaus, München 1998,S.143-146 15 Vgl. Anthony, Cragg: Wirbelsäule, S. 47; in: Anthony Cragg -Material_Object_Form, hrsg. von Helmut Friedel, Städtische Galerie im Lenbachhaus, München 1998, S. 47-52
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