R.W. Emerson hielt einst so treffend fest: „Versuche niemals, jemanden so zu machen wie Du selber bist. Du weißt, und Gott weiß es auch, dass einer von Deiner Sorte genug ist.“ (Rothe 2013, S. 39) Bachelorarbeit zur Erlangung des Grades Bachelor of Arts im Studiengang Soziale Arbeit – Sozialpädagogische Familienhilfe – Individuelle Familien – Individuelle Konzepte vorgelegt von Jan Nastola Annegret Kohls Erstgutachter: Prof. Dr. Matthias Müller Zweitgutachter: Prof. Dr. phil. habil. Barbara Bräutigam urn:nbn:de:gbv:519-thesis2015-0286-2 Abgabetermin: 02. Juli 2015 Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis Einleitung ...................................................................................................................1 1 Familie .................................................................................................................. 3 1.1 Idealfamilie der Moderne ........................................................................... 3 1.2 Familie im Wandel ..................................................................................... 5 1.3 Eine Familien-Definition für die Soziale Arbeit ......................................... 10 2 Sozialpädagogische Familienhilfe (SPFH) ...................................................... 12 2.1 Rechtliche Einbettung.............................................................................. 12 2.2 Ziele der SPFH ........................................................................................ 14 2.3 Aufgaben der SPFH ................................................................................ 14 2.4 Adressaten der SPFH.............................................................................. 15 2.5 Handlungsvielfalt in der SPFH ................................................................. 17 3 Dimensionen der Sozialpädagogischen Familienhilfe ................................... 19 3.1 Adressaten als Individuen ....................................................................... 20 3.1.1 Lebensweltorientierte Soziale Arbeit ....................................................... 20 3.1.2 Adressaten und ihre Lebenswelt ............................................................. 24 3.2 Adressaten in ihren spezifischen sozialen Milieus ................................... 27 3.2.1 Systemische Sicht auf Familie ................................................................. 27 3.2.2 Familie als individualisiertes Herkunftsmilieu .......................................... 28 3.3 Adressaten und die gesellschaftlichen Teilsysteme ................................ 29 3.3.1 Gesellschaftliche Teilsysteme ................................................................. 29 3.3.2 Inklusion und Exklusion der Adressaten in beziehungsweise aus den gesellschaftlichen Teilsystemen .............................................................. 31 4 Individuelle Konzepte in der Sozialpädagogischen Familienhilfe................. 33 4.1 In Bezug auf die Adressaten als Individuen ............................................. 33 4.1.1 Eltern-AG................................................................................................. 33 4.1.1.1 Merkmale................................................................................................. 34 4.1.1.2 Adressaten .............................................................................................. 35 4.1.1.3 Ablauf ...................................................................................................... 36 4.1.1.4 Zeitliche Einordnung ................................................................................ 38 4.1.1.5 Vorteile und Chancen .............................................................................. 38 4.1.2 Dialogisches ElternCoaching ................................................................... 39 4.1.2.1 Merkmale................................................................................................. 39 4.1.2.2 Adressaten .............................................................................................. 42 4.1.2.3 Aufbau ..................................................................................................... 42 4.1.2.4 Zeitliche Einordnung ................................................................................ 46 4.1.2.5 Vorteile und Chancen .............................................................................. 46 4.1.3 Zwischenfazit ........................................................................................... 47 4.2 In Bezug auf die Adressaten in ihren spezifischen sozialen Milieus ........ 48 Inhaltsverzeichnis 4.2.1 Familienrat ............................................................................................... 48 4.2.1.1 Merkmale................................................................................................. 48 4.2.1.2 Adressaten .............................................................................................. 49 4.2.1.3 Ablauf ...................................................................................................... 50 4.2.1.4 Zeitliche Einordnung ................................................................................ 52 4.2.1.5 Vorteile und Chancen .............................................................................. 52 4.2.2 Familien-Coaching................................................................................... 53 4.2.2.1 Merkmale................................................................................................. 54 4.2.2.2 Adressaten .............................................................................................. 54 4.2.2.3 Ablauf ...................................................................................................... 55 4.2.2.4 Zeitliche Einordnung ................................................................................ 56 4.2.2.5 Vorteile und Chancen .............................................................................. 56 4.2.3 Heidelberger Modell ................................................................................ 57 4.2.3.1 Merkmale................................................................................................. 57 4.2.3.2 Adressaten .............................................................................................. 60 4.2.3.3 Ablauf ...................................................................................................... 60 4.2.3.4 Zeitliche Einordnung ................................................................................ 62 4.2.3.5 Vorteile und Chancen .............................................................................. 62 4.2.4 Zwischenfazit ........................................................................................... 63 4.3 In Bezug auf die gesellschaftlichen Teilsysteme der Adressaten ............ 64 4.3.1 Empowerment ......................................................................................... 64 4.3.1.1 Merkmale................................................................................................. 64 4.3.1.2 Adressaten und zeitliche Einordung ........................................................ 65 4.3.1.3 Ablauf ...................................................................................................... 65 4.3.1.4 Vorteile und Chancen .............................................................................. 66 4.3.2 Ressourcenorientierung .......................................................................... 67 4.3.2.1 Merkmale................................................................................................. 67 4.3.2.2 Adressaten und zeitliche Einordung ........................................................ 68 4.3.2.3 Ablauf ...................................................................................................... 68 4.3.2.4 Vorteile und Chancen .............................................................................. 69 4.3.3 Zwischenfazit ........................................................................................... 70 5 Fazit .................................................................................................................... 71 Literaturverzeichnis ................................................................................................ 74 Eidesstattliche Erklärung ....................................................................................... 78 Einleitung 1 Einleitung [von Kohls/Nastola] Im Laufe unseres Lebens haben wir neben unseren eigenen Familien auch mit vielen anderen Familien Bekanntschaft gemacht. Zumeist waren diese Bekanntschaften eher flüchtiger Natur und man lernte nur bestimmte Ausschnitte des Lebens der anderen Familie kennen. Im Rahmen unserer Praktika im Kinder- und Jugendhilfebereich haben wir dann aber ein besonderes Bewusstsein für die Diversität von Familien und besonders für deren Alltag und Kultur entwickelt. So wurde uns im Umgang mit dem im Kontext unserer Praktika kennengelernten Familien deutlich, dass auch wenn ähnliche Grundvoraussetzungen wie Arbeitslosigkeit, hohe Kinderzahl oder Paarprobleme beispielsweise vorlagen, die Familien doch darüber hinaus völlig verschieden waren. Die Umgangsformen der Familienmitglieder untereinander waren zum Beispiel von Familie zu Familie unterschiedlich. Aber auch das Problembewusstsein und der Umgang mit diesen unterschied sie deutlich voneinander. Besonders aber während der Begleitung von Fachkräften der Sozialpädagogischen Familienhilfe erhielten wir einen intensiven Einblick in die Einzigartigkeiten von Familien. In unserer Bachelorarbeit greifen wir deshalb diese Erfahrungen auf und stellen die Frage nach Gründen für diese Individualität von Familien und wie sie die Arbeit der Sozialpädagogischen Familienhilfe prägt. Von besonderer Relevanz ist für uns jedoch die Frage, ob die Arbeit in der Individualität der Familie nicht ausschließlich über individuelle Zugänge durch die Nutzung verschiedener Konzepte möglich ist. Den Fragestellungen folgend beginnt die Arbeit im ersten Kapitel mit der Beschreibung eines Idealbildes von Familie, welches fast allen Bürgern der Bundesrepublik Deutschland innewohnt. Daran anschließend werden die wesentlichsten Entwicklungen des Familienbildes seit den 50er Jahren aufgezeigt. Auf das sozialistische Familienbild der Deutschen Demokratischen Republik in dieser Zeit wird dabei nicht weiter eingegangen, da das gesellschaftliche und politische System nicht beziehungsweise kaum mit dem heutigen vergleichbar ist. Damit soll dieser geschichtlichen Ära Deutschlands nicht die Relevanz für unser heutiges Familienleben, vor allem in den neuen Bundesländern, abgesprochen werden, sondern deren Beleuchtung und Bezugnahme würde im späteren Verlauf der Arbeit zu Unschärfen führen. Einleitung 2 Über die Vorstellung der Pluralität von privaten Lebensformen und die zusätzliche Individualisierung dieser durch die spezifische Familienkultur einer jeden Familie wird eine allgemeine Definition von Familie für die Soziale Arbeit herausgearbeitet. Im zweiten Kapitel der Arbeit wird die Sozialpädagogische Familienhilfe anhand der allgemeingültigen Merkmale, wie rechtliche Einbettung, Ziele, Aufgaben und Adressaten veranschaulicht. Im letzten Abschnitt dieses Kapitels wird dann die Handlungsvielfalt der Sozialpädagogischen Familienhilfe aufgezeigt. Das dritte Kapitel widmet sich den drei Dimensionen der Sozialpädagogischen Familienhilfe nach Prof. Dr. Matthias Müller. Zunächst wird die erste Dimension – Adressaten als Individuen – entlang einer kurzen Vorstellung der lebensweltorientierten Sozialen Arbeit und der Adressaten in Bezug auf ihre Lebenswelt herausgearbeitet. Daran anschließend wird über die systemische Sicht von Familie und die Sichtweise auf Familie als individualisiertes Herkunftsmilieu die zweite Dimension – Adressaten in ihren spezifischen sozialen Milieus – beschrieben. Die dritte Dimension – Adressaten und die gesellschaftlichen Teilsysteme – wird dann entlang einer Beschreibung der gesellschaftlichen Teilsysteme und der folgenden Verdeutlichung der Inklusions- und Exklusionsmöglichkeiten in beziehungsweise aus den gesellschaftlichen Teilsystemen dargestellt. Im vierten Kapitel werden daraufhin beispielhafte Konzepte für die zuvor beschriebenen Dimensionen der Sozialpädagogischen Familienhilfe vorgestellt. Werden für die erste und die dritte Dimension jeweils zwei Konzepte dargestellt, sollen durch die Vorstellung dreier, der zweiten Dimension zugeordneten, Konzepte zum einen die gewichtige Rolle der Sozialpädagogischen Familienhilfe als einziges Angebot der Hilfe zur Erziehung, welches sich an die gesamte Familie richtet, und zum anderen die besondere Bedeutung der Familie als individualisiertes Herkunftsmilieu betont werden. In den Zwischenfazits wird die Relevanz der jeweiligen Konzepte für die ihnen zugeordnete Dimension herausgearbeitet. Im abschließenden fünften Kapitel – Fazit – finden die soeben aufgeworfen Fragen an diese Arbeit Beantwortung. 1 Familie 3 1 Familie [von Kohls/Nastola] Familie ist in unserer Gesellschaft omnipräsent. Tagtäglich nimmt ein Großteil der Menschen am Alltag einer oder sogar mehrerer Familien teil und beeinflusst ihn. Fast ausnahmslos hat jeder Mensch darüber hinaus familiale Erfahrungen in der eigenen Familie gesammelt (vgl. Uhlendorff/ Euteneuer/ Sabla 2013, S. 25). Aufbauend auf diesem Erfahrungsschatz unterscheidet man drei Ebenen der Betrachtung. Auf der ersten Ebene betrachtet man Familie vor dem Hintergrund des Familienleitbildes, also einer Idealvorstellung von Familie. Die zweite Ebene zeigt Familienformen auf, welche als Musterbilder des familialen Zusammenlebens zu verstehen sind. Mit der dritten Ebene wird die Individualität von Familien durch das Verständnis dieser als Familienkulturen deutlich (vgl. Schierbaum 2013, S. 52). 1.1 Idealfamilie der Moderne [von Kohls/Nastola] Hohes C – „Zeit für Familie“ (Eckes-Granini Deutschland GmbH 2015, Internetquelle), solche Slogans in Fernsehwerbungen sind nur ein Teil der medialen Darstellung, die unsere Vorstellung einer „normalen“ Familie prägen. Losgelöst von den Erfahrungen innerhalb der eigenen Familie wird durch Alltagserfahrungen und die bereits erwähnte mediale Darstellung ein allgemeingültiges Normbild vorgegeben. Diese Idealvorstellung von Familie ist gekennzeichnet durch Normen und Werte der bürgerlichen Kleinfamilie. Die bürgerliche Kleinfamilie der 50er und 60er Jahre zeichnete sich durch die zentralen Normen der Eheschließung, der Neolokalität und Fertilität aus, welche darüber hinaus unmittelbar miteinander verbunden waren. Das bedeutete, dass nach der Eheschließung ein eigenständiger Haushalt, rechtlich und ökonomisch unabhängig vom elterlichen Haushalt, gegründet wurde und dann die Geburt von Kindern folgte (vgl. Uhlendorff/ Euteneuer/ Sabla 2013, S. 26-27). Die Institution Ehe wurde in diesem Rahmen als eine monogame Beziehung zwischen Mann und Frau verstanden, die zeitlebens von Bestand ist (vgl. Peukert 2008, S. 23). Kennzeichnend für Beziehungen dieser Zeit war ein geschlechtsspezifisches Rollenverständnis. Der Mutterrolle wurde ein expressives 1 Familie 4 Verhalten zugeschrieben, welches auf die emotional-affektiven Bedürfnisse der Familie ausgerichtet war (vgl. Krüger 2013, S. 76-77). Bezog sich der Wirkungskreis der Frau zuvorderst auf die familiale Innenwelt, so ging der Vater einer Erwerbstätigkeit nach und war für die gesellschaftlichen und politischen Angelegenheiten der Außenwelt zuständig. Für dieses patriarchische Familienmodell war die Neolokalität von besonderer Bedeutung. Durch einen eigenständigen Haushalt wurde es möglich, Grenzen gegenüber der Herkunftsfamilie zu ziehen und sich um seine „eigenen Angelegenheiten“ Innerfamilial kümmern zu können. In Folge dieses Intimisierungs- und Emotionalisierungsprozesses entstand ein familialer Binnenraum, welcher allen Familienmitgliedern einen Rahmen für Privatheit, Intimität und Individualität bot. Grundlegendes Moment hierfür war eine auf Liebe aufbauende Paar- sowie Kindbeziehung (vgl. Uhlendorff/ Euteneuer/ Sabla 2013, S. 27). Mit Beginn der Studenten- und Frauenbewegung 1968/1969 erfuhr das Idealbild der bürgerlichen Kleinfamilie einen ersten Wandel. Es kam zu einer bis heute andauernden Abnahme der Realisierung und Idealisierung des bürgerlichen Familienideals (vgl. Narve-Herz 2013, S. 30). Unterstützt wurde dieser Prozess auch durch Gesetzesänderungen, wie beispielsweise die Modifizierung des „Kuppeleiparaprafen“ (§ 180 StGB), welcher die Vermietung von Wohnraum an unverheiratete Paare unter Strafe stellte. Somit wurden die neuen Wohn- und Lebensformen unabhängig vom Idealbild der bürgerlichen Kleinfamilie nicht mehr öffentlich sanktioniert und weitestgehend gesellschaftlich akzeptiert. Ausgelöst durch die neue Frauenbewegung wurde eine neuartige Geschlechterdifferenzierung diskutiert. In den Fokus wurde die Inklusion der Frau in wichtige gesellschaftliche Teilbereiche gerückt. Perspektivisch sollte es zu einer gleichberechtigten Teilnahme der Frau im öffentlichen Bereich kommen. Im familialen Binnenraum war die Rolle der Frau nach wie vor die der Mutter- und Hausfrau. Somit ist abschließend festzuhalten, dass sich zwar der außenfamiliale Auftritt der bürgerlichen Kleinfamilie wandelte, aber das innenfamiliale Rollenverständnis unangetastet blieb (vgl. Krüger 2013, S. 83). Obwohl diese Familienform nur in den 50er und frühen 60er Jahren des 20. Jahrhunderts von der Mehrzahl der Menschen gelebt wurde, sind die Menschen 1 Familie 5 diesen Normen und Werten noch heute grundlegend verhaftet (vgl. Narve-Herz, S. 30). 1.2 Familie im Wandel [von Kohls/Nastola] Laut des Bundesinstitutes für Bevölkerungsforschung (BiB) vollzog sich in den letzten Jahrzehnten ein auffälliger Wandel im Bereich der Lebensformen. Die Monopolstellung der traditionellen bürgerlichen Kleinfamilie löste sich auf und nicht-eheliche Lebensformen gewannen an Bedeutung (vgl. Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung 2015, Internetquelle). Beeinflusst wurde dieser Wandel durch die drei spezifischen Entwicklungen: demografischer Wandel, Pluralisierung der privaten Lebensformen im Lebenslauf und binnenfamilialer Wandel. Der Geburtenrückgang seit Mitte der 1960er Jahre ist als zentrales Merkmal des demografischen Wandels zu kennzeichnen. Beispielhaft dafür ist die enorme Rückläufigkeit der Gesamtfruchtbarkeitsrate, also die prognostizierte durchschnittliche Anzahl an Geburten pro Frau. Dieser Wert ist bereits so gering, dass die Bevölkerungszahl, ohne Berücksichtigung der Einwanderungszahlen, stetig abnimmt. Als Gründe hierfür sind sowohl die Abnahme von kinderreichen Familien als auch die steigende Kinderlosigkeit zu nennen. Letztere ist in unserer Gesellschaft kaum mehr diskriminiert und wird als gewählte Lebensweise anerkannt (vgl. Uhlendorff/ Euteneuer/ Sabla 2013, S. 31-32). Zudem eröffnet sich für Frauen mit akademischem Abschluss oft nur ein Zeitfenster von 5 Jahren, in dem sie sich beruflich etablieren und sämtliche Voraussetzungen für die Gestaltung ihres weiteren Lebens treffen können. So fällt in diesem als „Rushhour des Lebens“ bezeichneten Lebensabschnitt auch die Entscheidung für oder gegen Kinder (vgl. Rätz/ Schröer/ Wolff 2014, S. 121). Gestützt wird diese Feststellung durch den Nachweis, dass Frauen mit niedrigen Bildungsabschlüssen früher Kinder bekommen als Frauen mit höheren Abschlüssen. Dennoch lässt sich allgemein ein deutlicher Anstieg des Durchschnittsalters von Frauen bei der Geburt ihres ersten Kindes verzeichnen. Beeinflusst wird dies ebenso durch den Wunsch nach Neolokalität vor der Familiengründung. Vor allem die Arbeitsmarktverschlechterung seit den 1990er Jahren erschwert die Gründung eines eigenen ökonomisch unabhängigen Haushalts, wodurch sich die 1 Familie 6 Familiengründung erst später im Lebensverlauf realisieren lässt (vgl. Uhlendorff/ Euteneuer/ Sabla 2013, S. 33). Des Weiteren bedeutet ein Kind für die Frau zunächst die Aufgabe ihrer Berufstätigkeit und einen entscheidenden Wettbewerbsnachteil beim Wiedereinstieg in das Berufsleben (vgl. Rätz/ Schröer/ Wolff 2014, S. 120-121). Schließlich erfuhr auch die Institution Ehe in den letzten Jahrzehnten einen Bedeutungswandel. Seit den 1960er Jahren ist die Eherate in Deutschland deutlich gesunken. Eine steigende Anzahl an Paaren entscheidet sich für ein gemeinsames Leben ohne Trauschein. Gleichzeitig sind immer mehr Menschen Singles. Unabhängig vom Rückgang der Ehezahlen gehen Familienforscher von einem Anstieg der qualitativen Ansprüche an eine Paarbeziehung aus. Diese Annahme in Kombination mit der Tatsache, dass auf Grund der steigenden Lebenserwartungen Ehen perspektivisch immer länger werden, erhöht die Scheidungswahrscheinlichkeit. Zu konstatieren ist jedoch, dass eine Scheidung oder Trennung wesentlich bedeutender zur Pluralisierung von Familienformen im Lebenslauf beiträgt, als die sinkenden Ehezahlen. Wenngleich die traditionellen Aspekte des bürgerlichen Kleinfamilienideals nur wenig an Attraktivität verloren haben, steigt die Zahl von Familien, die in bestimmten Lebensabschnitten von diesen abweichen. Exemplarisch dafür sind die folgenden Beispiele für Abweichungen vom bürgerlichen Kleinfamilienideal im Lebensverlauf (vgl. Uhlendorff/ Euteneuer/ Sabla 2013, S. 33-35). Die Lebensform der nichtehelichen Lebensgemeinschaft mit und ohne ledige Kinder hat sich seit 1972 bereits mehr als verzehnfacht und kann so als ein prägnantes Beispiel festgehalten werden (vgl. Peukert 2008, S. 24). Dass es auch nichteheliche Lebensgemeinschaften ohne Kinder gibt zeigt, dass diese Veränderung nicht nur Familien betrifft. Jedoch bleiben Paare dieser Lebensform nur selten unverheiratet, wenn Kinder geplant werden oder bereits Schwangerschaften bestehen. Die meisten nichtehelichen Lebensgemeinschaften mit Kindern entstehen nach Scheidungen, wobei im Besonderen Frauen oft ihre Kinder aus vorangegangener Ehe in die neue Gemeinschaft mitbringen. Eine Trennung oder Scheidung führt oftmals zu unterschiedlichen Familienformen im Verlauf des Lebens. Die bedeutsamste und bekannteste Lebensform ist dabei der Ein-Eltern-Haushalt, oft als die „Alleinerziehenden“ bezeichnet. Man unterscheidet in Bezug auf die Entstehungszusammenhänge zwei Ausprägungen dieser 1 Familie 7 Lebensform. Die eine Gruppe war zuvor verheiratet, die andere hingegen ledig. Trennen sich ledige Paare schon während der Schwangerschaft oder kurz nach der Geburt, erfolgt die Trennung der verheirateten Partner erst später mit der Begründung des „Alleinerziehend“ hohen ist Konfliktniveaus dabei oft der Ehe. nicht gleichzusetzen Die mit Bezeichnung einer alleinigen Erziehungsverantwortung. So liegt häufig eine Zwei-Eltern-Situation vor, in der der zweite leibliche Elternteil oder der neue Partner Teile der Betreuungstätigkeiten und Erziehungsverantwortung übernimmt. In seltenen Fällen kann man sogar von einer Drei- oder Vier-Eltern-Situation reden. Dabei sind neben den beiden leiblichen Eltern auch die neuen Partner als Erziehungsinstanz von Relevanz. Dadurch wird schon erkennbar, dass auf eine Ein-Eltern-Familie oft sogenannte Fortsetzungsfamilien folgen (vgl. Uhlendorff/ Euteneuer/ Sabla 2013, S. 35-37). Das besondere an diesen Familienformen ist, dass häufig zwischen biologischer und sozialer Elternschaft unterschieden wird. So wachsen Minderjährige mit Eltern auf, die nur noch zur Hälfte oder gar nicht mehr mit ihnen leiblich verwandt sind. Die multiple Elternschaft führt dazu, dass immer mehr Kinder mit mehreren biologischen und/oder sozialen Elternteilen aufwachsen. Daraus resultieren vielfach auch unterschiedliche Formen von Geschwistern. Die Großeltern, Onkel und Tanten können im Lebensverlauf mehrfach wechseln, wobei mit traditionellen Verwandtschaftsterminologien eine genaue Beschreibung der Familien- und Verwandtschaftsverhältnisse nur begrenzt möglich ist. Neben der klassischen Stieffamilie, bei denen ein sozialer Vater fast immer den biologischen Vater im Haushalt ersetzt, handelt es sich auch bei Adoptivfamilien um eine Art der Fortsetzungsfamilien. Hier werden jedoch beide biologische Elternteile durch soziale Eltern ersetzt (vgl. Peukert 2008, S. 25-26). Kennzeichnend kann dies auch für Inseminationsfamilien sein, welche mithilfe von Reproduktionstechnologien gegründet werden. Im Unterschied zur Adoptivfamilie wird schon mit Schwangerschaftsbeginn, unabhängig von der biologischen Elternschaft, die soziale Elternrolle übernommen. Vor allem in den Fällen, in welchen ein oder beide Elternteile nicht mit dem Kind biologisch verwandt sind, entstehen sozial ungewohnte und rechtlich komplexe Verwandtschafts- und Familienverhältnisse. So können gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften mit Kindern, sogenannte Regenbogenfamilien, als eine Unterart von Adoptiv- und Inseminationsfamilien verstanden werden. Einstweilen ist dabei ausschließlich die 1 Familie 8 Stiefkind-Adoption durch den Lebenspartner in Deutschland zulässig. Man kann die Regenbogenfamilie jedoch auch als eine eigenständige Art der Fortsetzungsfamilie begreifen, wenn, wie in den meisten Fällen, die Kinder aus vorangegangenen heterosexuellen Partnerschaften stammen (vgl. Uhlendorff/ Euteneuer/ Sabla 2013, S. 38-39). Als ein letztes Beispiel für Familienformen soll die transkulturelle Familie dienen, die quantitativ immer mehr an Bedeutung gewinnt. Es werden zwei Grundtypen unterschieden. Bei den binationalen Familien hat nur ein Elternteil eine ausländische Staatsangehörigkeit, bei Migrantenfamilien kommen beide Partner aus dem Ausland. Innerhalb dieser Familienform ergibt sich eine enorme Vielfältigkeit aufgrund ihrer unterschiedlichen kulturellen, nationalen und ethnischen Herkunft (vgl. Peukert 2008, S. 26-27). Auch wenn noch immer die meisten Kinder mit beiden biologischen Elternteilen aufwachsen, sind die beschriebenen Beispiele für Abweichungen vom bürgerlichen Kleinfamilienideal im Lebensverlauf keine gesellschaftlichen Randerscheinungen mehr. Zu einer weiteren Pluralisierung von Familien trägt auch der binnenfamiliale Wandel bei. Im Mittelpunkt steht dabei die Veränderung der Frauenrolle. Die stärkere Berufsorientierung der Frau führt zur Auflösung des männlichen Alleinverdienermodells der bürgerlichen Kleinfamilie (vgl. Uhlendorff/ Euteneuer/ Sabla 2013, S. 40). Im familialen Innenraum wird durch die Paare eine egalitäre Beziehung angestrebt. Elementar hierfür ist die Betonung der Gleichheit und der persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten beider Partner. Im Allgemeinen ist aber eher davon auszugehen, dass nur wenige Paare eine streng egalitäre Partnerschaft führen (vgl. Peukert 2008, S. 26). Spätestens mit der Familiengründung erfolgt oft eine Retraditionalisierung der Arbeitsteilung. Der Mann übernimmt mit Geburt des Kindes wieder die klassische Ernährerrolle. Während er im Beruf verbleibt und sein Engagement teilweise sogar verstärkt, zieht sich die Frau vom Arbeitsmarkt zurück und übernimmt deutlich mehr Haushaltstätigkeiten. Aus diesem Grund lässt sich ein typisches Drei-PhasenModell in vielen weiblichen Lebensläufen erkennen. Es folgt auf die Vollerwerbstätigkeit der Frau, oftmals nach der Geburt des ersten Kindes, die Phase der Elternzeit. Auf diese Phase der Beurlaubung vom Arbeitsleben gewinnt die Erwerbsbeteiligung erst mit steigendem Alter der Kinder wieder an Attraktivität. Um den Teilbereichen Mutterschaft, Hausfrau und Erwerbstätigkeit gerecht 1 Familie 9 werden zu können, arbeiten die meisten Frauen nur noch in Teilzeit (vgl. Uhlendorff/ Euteneuer/ Sabla 2013, S. 40-41). Weitergehend ist darauf hinzuweisen, dass der Mann ebenfalls mit einer Doppelrolle konfrontiert ist. Demnach muss er sowohl der Rolle des Alleinernährers als auch der Rolle des engagierten Familienvaters gerecht werden, umso zu einer positiven Kindesentwicklung beizutragen. Gleichzeitig sieht er sich der Aufgabe gegenüber, sowohl besonders fürsorglich zu sein, als auch das Männlichkeitsstereotyp zu bedienen (vgl. Krüger 2013, S. 89). Insgesamt können sich aber Männer eher mit den traditionellen Rollenvorgaben arrangieren als Frauen. Noch deutlicher als die Beziehung zwischen Mann und Frau haben sich die Umgangsformen zwischen Kindern und ihren Eltern verändert. Wurde früher noch auf eine hierarchische Eltern-Kind-Beziehung in Form eines Befehlsaushaltes wert gelegt, so beschreibt der moderne Verhandlungshaushalt eine ausgewogene Machtbalance der Familienmitglieder (vgl. Uhlendorff/ Euteneuer/ Sabla 2013, S. 41-42). Abschließend lässt sich darauf hinweisen, dass es aufgrund des beschriebenen demografischen Wandels, der Pluralisierung der privaten Lebensformen im Lebenslauf und des binnenfamilialen Wandels heute einer Vielfalt an Familienidealen bedarf. Denn diese können für Familien in ihren unterschiedlichen Lebenslagen individuelle Orientierungshilfen für den konkreten Alltag sein (vgl. Narve-Herz 2013, S. 33). 1 Familie 10 1.3 Eine Familien-Definition für die Soziale Arbeit [von Kohls/Nastola] Ungeachtet der Tatsache der Pluralisierung der privaten Lebensformen stellt die Familie eine anthropologische Universalie da. Das heißt, dass sie in jeder Gesellschaft auftritt und universelle Aufgaben und Funktionen erfüllt. Ist dies allen Familien gleich, so unterscheidet deren Umsetzung sie doch deutlich voneinander (vgl. Uhlendorff/ Euteneuer/ Sabla 2013, S. 42). Vor diesem Hintergrund kann jede Familie als eine eigene Kultur verstanden werden. Denn wie auch Kulturnationen verwenden Familienmitglieder ein gemeinsames Orientierungssystem mit individuellen Symbolen, die sie an die nächste Generation weitergeben. Können sich einzelne Familiengruppen noch in den Kulturstandards gleichen, also eine gemeinsame Art des Denkens, Wertens, Handelns und Wahrnehmens aufweisen, ist eine Familienkultur als einzigartig zu bezeichnen. Durch die Kombination ihrer Merkmale, also der Gesamtheit von Annahmen, Grundsätzen, Attitüden, Werten, Verhaltensnormen, Wert- und Grundeinstellung, gleicht keine Familienkultur einer anderen. Das bedeutet, dass die universellen Aufgaben, die eine Gesellschaft an eine Familie stellt, von ihr individuell und einzigartig gelöst werden (vgl. Wolf 2006, S. 232-235). Die universellen Funktionen und Aufgaben der Familie bieten dennoch die Grundlagen zur Bestimmung einer Definition des Begriffes Familie für die Soziale Arbeit. Zu diesen zählen neben den Sorgebeziehungen in der Familie, auch die Generationsbeziehungen und die Sozialisation der Kinder. Wie im Familienideal der bürgerlichen Kleinfamilie finden sich in allen Familienformen wechselseitige Sorgebeziehungen. Neben der dominierenden Sorgebeziehung zwischen Eltern und Kind, gibt es noch die der Eltern untereinander, sowie die Sorgebeziehung im späteren Leben zwischen den erwachsenen Kindern und ihren Eltern. Nicht zu unterschätzen sind auch die Sorgebeziehungen zwischen Großeltern und ihren Enkelkindern und umgekehrt. Es lassen sich drei Dimensionen von Sorge unterscheiden. Sind die Bereiche der Gesundheit und Ernährung beispielhaft für die körperliche Sorge, ist die emotionale Zuwendung, Bildung und Erziehung Ausdruck der Sorge um das seelische und geistige Wohl der Familie. Die letzte Dimension wird als materielle Sorge bezeichnet, also die Sorge um Wohnraum, Nahrungsmittel oder Kleidung. Die innerfamilialen Sorgebeziehungen werden auch als ein informelles Sorgeverhältnis verstanden. Im Gegensatz zur formellen Sorgetätigkeiten, welche durch Soziale Dienste 1 Familie geleistet 11 werden, beruht die informelle Sorgetätigkeit auf emotionalen Beziehungen. Des Weiteren werden diese alltäglich wie auch beiläufig ohne formale Prüfung lebenslang erbracht. Da dies auch Bestandteil von Paarbeziehungen und anderen solidarischen Formen des Miteinanderlebens ist, bedarf es noch dem Abgrenzungsmerkmal der Generationsbeziehung für die Begriffsbestimmung von Familie (vgl. Uhlendorff/ Euteneuer/ Sabla 2013, S. 4245). Ein zentrales Merkmal für Familie ist die Zusammengehörigkeit zweier Generationen in Form einer Eltern-Kind-Beziehung. Aus der Sicht des Kindes ist es die Herkunftsfamilie und aus der Perspektive der Eltern die Eigenfamilie. Außerhalb der Kernfamilie, bestehend aus Eltern und Kind oder Kindern, gibt es noch weitere Generationsbeziehungen in einer Familie (vgl. Wolf 2012, S. 89). Sind Eltern primäre Erziehungsinstanz für die Kinder, wirken auf ihre Sozialisation auch die Großeltern, Tanten und Onkel bedeutsam ein (vgl. Uhlendorff/ Euteneuer/ Sabla 2013, S. 45). Darauf aufbauend lässt sich für die Soziale Arbeit folgende Definition von Familien herausstellen: „Familien sind potentiell auf Dauer gestellte Lebensgemeinschaften, die durch mehrgenerationale Beziehungen geprägt sind und bei denen die wechselseitige informelle Sorge um das körperliche, emotionale und geistige Wohl im Zentrum steht. Familien tragen zur Erziehung und Sozialisation der Kinder im Wesentlichen bei.“ (Uhlendorff/ Euteneuer/ Sabla 2013, S. 43). 2 Sozialpädagogische Familienhilfe (SPFH) 12 2 Sozialpädagogische Familienhilfe (SPFH) [von Kohls/Nastola] Unter der SPFH ist ein Form der Hilfe zur Erziehung zu verstehen bei der eine Sozialpädagogische Fachkraft eine Familie in der Regel zu Hause aufsucht, um ihr dort begleitend, unterstützend und beratend in verschiedenen Belangen des alltäglichen Lebens zur Seite zu stehen, damit die Familie der Ort bleibt oder wird, an dem Kinder und Jugendliche ihrem Wohl entsprechend aufwachsen können (vgl. Gut 2014, S. 13). 2.1 Rechtliche Einbettung [von Kohls/Nastola] Seit 1991 ist die SPFH als Pflichtaufgabe im Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) verankert. Die SPFH ist im § 31 des achten Sozialgesetzbuches (SGB) geregelt. Sie ist Teil des ambulanten Angebotes der Hilfe zur Erziehung (vgl. Schmidt 2007, S. 8). Die Grundlage der Hilfe zur Erziehung bildet der § 27 SGB VIII. Danach hat ein Personensorgeberechtigter Anspruch auf Hilfe bei der Erziehung eines Kindes oder Jugendlichen, wenn er eine Erziehung dem Wohl des Kindes entsprechend nicht gewährleisten kann und die Hilfe notwendig und geeignet ist (vgl. Nomos Gesetze 2015, S. 1738). Somit ist Hilfe zur Erziehung als Präventivmaßnahme zur Vermeidung oder Abwendung von Kindeswohlgefährdung zu sehen. Verwurzelt ist dieser Grundgedanke in den Aussagen des § 1 SGBVIII, welcher als Leitnorm des gesamten achten Sozialgesetzbuches zu verstehen ist (vgl. Wolf 2012, S. 141). Denn: „Jeder junge Mensch hat ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit.“ (Nomos Gesetze 2015, S. 1730). Aus diesem Grund stellt der Bereich der Hilfe zur Erziehung in den §§ 28 bis 35 SGB VIII verschiedene ambulante, teilstationäre und stationäre Hilfeformen bereit, die zur Unterstützung oder Ersetzung der Erziehungsverantwortung der Personensorgeberechtigten dienen. In Form einer aufsuchenden Familienarbeit mit Alltags- und Lebensweltbezug richtet sich die SPFH an die gesamte Familie (vgl. Gut 2014, S. 16). Im Gesetz wird sie als intensive Begleitung und Betreuung der Familie in Erziehungsaufgaben und der Bewältigung des Alltages sowie in Prozessen der 2 Sozialpädagogische Familienhilfe (SPFH) 13 Krisen- und Konfliktlösungen beschrieben. Weiter heißt es im ersten Satz des § 31 des achten Sozialgesetzbuches, dass Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten und der Kontakt zu Institutionen und Ämtern zu unterstützen ist. Dem Gesetzgeber war es auch wichtig hervorzuheben, dass diese Form der Hilfe zur Erziehung eine ambulante Intensivhilfe darstellt, die die Mitarbeit aller Familienmitglieder erfordert (vgl. Nomos Gesetze 2015, S. 1739). Wie bei allen Erziehungshilfeformen nach § 27 SGB VIII wird den Personensorgeberechtigten nur auf Antrag die Hilfe unter den schon beschriebenen Voraussetzungen gewährt (vgl. Wolf 2012, S. 145). Sind jedoch die Eltern nicht in der Lage oder nicht gewillt, das Wohl ihres Kindes zu gewährleisten, tritt der staatliche Erziehungsauftrag in Kraft. Das in Art. 6, Abs. 2, S. 2 Grundgesetz (GG) begründete Wächteramt des Staates erlaubt es, in klarer Nachrangigkeit gegenüber dem Erziehungsprimat von Eltern, in solchen Fällen einzugreifen (vgl. Richter 2013, S. 31). Bekannt werden diese Fälle dem Jugendamt oft durch Fremdmeldung, beispielsweise durch Kindergärten oder Nachbarn. Wenn in einem gemeinsamen Gespräch mit der Familie keine Einigung stattfindet, wird den Personensorgeberechtigten unter Androhung der teilweisen oder umfassenden Sorgerechtsentziehung die SPFH aufoktroyiert (vgl. Gut 2014, S. 13). Zieht man einen Erziehungsberatung Vergleich (§ 28), zwischen Soziale den ambulanten Gruppenarbeit Angeboten (§ 29), Erziehungsbeistandschaft (§ 30) und der Sozialpädagogischen Familienhilfe (§ 31) so wird deutlich, dass die SPFH die einzige Hilfeform ist, die sich an die gesamte Familie richtet. Das heißt, dass durch die aufsuchende Form und vielfältigen Zuständigkeits- und Aufgabenbereiche ein enorm starker Bezug zur Lebenswelt der Eltern, Jugendlichen und Kindern vorgesehen ist (vgl. Gut 2014, S. 21). 2 Sozialpädagogische Familienhilfe (SPFH) 14 2.2 Ziele der SPFH Das Hauptziel, die Hilfe zur Selbsthilfe stellt eine zentrale Aussage im Gesetzestext dar. In den Anfängen hatte die SPFH noch das vorrangige Ziel, eine kostspieligere Fremdplatzierung, vor allem die Heimunterbringung bei kinderreichen Familien, zu verhindern. Heutzutage nutzt man sie auch zur Begleitung von sorgerechtlichen Verfahren oder zur Unterstützung der Reintegration von Kindern in die Familie nach vorangegangener Fremdplatzierung (vgl. Schattner 2007, S. 593-594). Allgemein ist das Ziel jeder SPFH, dass die Familie am Ende der Hilfeleistung in der Lage ist, ihren Alltag selbständig zu meistern (vgl. Schmidt 2007, S. 8). 2.3 Aufgaben der SPFH [von Kohls/Nastola] Vor dem Hintergrund der Ziele der SPFH besteht die Hauptaufgabe darin, die Familie in der Bewältigung ihres Alltags lebensweltorientiert zu befähigen, ihre Alltagsprobleme, familialen Konflikte und Krisen zu bearbeiten. Dadurch sollen Eltern in die Lage versetzt werden ihre Kinder adäquat zu versorgen. Neben den Aufgaben im innerfamilialen Raum dient die SPFH auch der Stärkung und Stabilisierung des familialen Netzes (vgl. Rätz/ Schröer/ Wolff 2014, S. 143-144). Verwirklicht werden diese Hilfen beispielsweise durch Erziehungs- und Partneroder Einzelberatung, Anleitung bei der Haushaltsbewältigung oder durch Begleitung zu Behörden und Institutionen (vgl. Jordan/ Maykus/ Stuckstätte 2012, S. 207). Grundsätzlich lassen sich vier Handlungsdimensionen hervorheben. Die erste Handlungsdimension beinhaltet die Arbeit entlang der Familiendynamik. Beispielhaft hierfür sind Lösungsversuche von Partnerkonflikten, Förderung der familialen Kommunikation oder die Verbesserung der Eltern-Kind-Beziehung, etwa durch die Anleitung beim gemeinsamen Spielen. Die Hilfe bei der Haushaltsführung und der Anstoß zur Gesundheits- und Ernährungsfürsorge oder neuen Strukturierung des Alltags sind Beispiele für die zweite Handlungsdimension, also die Unterstützung bei lebenspraktischen Aufgaben. Kennzeichnet die dritte Dimension Aufgaben, wie Arbeits- und Wohnungssuche oder Schuldenregulierung zur Verbesserung der materiellen Grundlage der Familie, dienen die Aufgaben der vierten Handlungsdimension der Förderung von 2 Sozialpädagogische Familienhilfe (SPFH) Außenkontakten und der sozialen Netzwerkarbeit. Innerhalb 15 der vierten Handlungsdimension lassen sich drei Aufgabengebiete unterscheiden. Zum einen soll die Familie bei der Kontaktaufnahme mit anderen Institutionen zum Beispiel Kirchengemeinden unterstützt werden, zum anderen soll die Begleitung der Organisation von Zusatzhilfen zur Entlastung der Familie führen. Diese können unteranderem Nachhilfeangebote für Schulkinder oder Babysitting sein. Der dritte Aufgabenbereich sieht die Hilfe bei der Integration in Sportvereine oder Pfadfindergruppen, also Angebote des sozialen Nahraums vor. Neben diesen Aufgaben der Fachkraft ist die Grundvoraussetzung für eine gelingende SPFH die aktive Mitarbeit der Familie. Begründet liegt diese Aufgabe darin, dass die SPFH auf Hilfe zur Selbsthilfe abzielt und die Familie als den Lebensort von Kindern und Jugendlichen versteht (vgl. Gut 2014, S. 15-16). Aus diesem Grund sieht sich die SPFH heute als eine aufsuchende Form der Hilfe zur Erziehung, in der sozialpädagogische Fachkräfte die Familien in ihrer Wohnung aufsuchen und dort mit allen Familienmitgliedern intensiv arbeiten (vgl. Rätz/ Schröer/ Wolff 2014, S. 143). 2.4 Adressaten der SPFH [von Kohls/Nastola] Die SPFH richtet sich an Familien, die eine Erziehung entsprechend dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen nicht gewährleisten können (vgl. Schattner 2007, S. 593). In den vergangenen Jahren ist deutlich geworden, dass es Familien gibt die mehr und Familien die weniger durch die Hilfeform der SPFH angesprochen werden. Die SPFH richtet sich primär an Familien mit massiven Einzelkrisen wie Trennung, Krankheit oder Arbeitsverlust. Durch diese Belastungssituationen können Eltern mit der Erziehung der Kinder in Verbindung mit den Aufgaben des Alltags überfordert sein (vgl. Rothe 2013, S. 17). Dem gegenüber stehen Familien, die in verschiedenen, sich gegenseitig beeinflussenden Lebenskrisen, wie hoher Kinderzahl und Arbeitslosigkeit, stecken. Besonders jedoch Familien mit extremen Strukturkrisen, zum Beispiel einem gewalttätigen oder suchtkranken Elternteil, werden von der Hilfe der SPFH selten nachhaltig berührt (vgl. Jordan/ Maykus/ Stuckstätte 2012, S. 208-209). Denn nur durch einen vorausgehenden oder parallelen Entzug bei einer starken Alkohol- oder Drogenproblematik ist die 2 Sozialpädagogische Familienhilfe (SPFH) 16 Begleitung durch die SPFH sinnvoll (vgl. Rothe 2013, S. 17). Darum sind sie meist ungeeignet für diese Form der Hilfe zur Erziehung. Generell lässt sich aber festhalten, dass SPFH mit dem Beginn der Familienkrise einsetzen sollte, da die Motivation und die Chancen auf Veränderung noch sehr hoch eingeschätzt werden können. Auch sind die Probleme in der Regel noch nicht so tiefgreifend und Folgeproblematiken haben sich oftmals noch nicht ergeben (vgl. Jordan/ Maykus/ Stuckstätte 2012, S. 209). In den letzten Jahren, werden jedoch zunehmend Familien begleitet, die durch traumatisierende Ereignisse in ihrer eigenen Lebensgeschichte geprägt wurden (vgl. Rothe 2013, S. 17). In der Fachliteratur werden für die Adressaten der SPFH ganz unterschiedliche Begrifflichkeiten verwandt, von „Familien in Krisen“ über „Problem- oder Multiproblemfamilien“ bis hin zu als „arme Familien in gravierenden Unterversorgungslagen“ bezeichnet. In diesen Bezeichnungen verbergen sich unterschiedliche Problemzuschreibungen, die auf die konzeptionelle Gestaltung der SPFH Einfluss haben. Der Armutsbegriff impliziert eine soziale Benachteiligung und Unterprivilegierung, also die soziale, räumliche sowie materielle und gesellschaftliche Ausgrenzung. Ausgerichtet ist dieser Begriff auf die soziale Gerechtigkeit und die gesellschaftliche Teilhabe der Familie. Dagegen betont der Begriff der familialen Krisen den Blick auf die familiale Organisation hinsichtlich ihrer innerfamilialen Belastungen, Defizite und Ressourcen und scheint damit mehr auf die familiale Problembewältigung sowie die Hilfe zur Selbsthilfe zu zielen. Fehlt es dem Armutsbegriff an einer innerfamilialen Perspektive der Familie, so fehlt es dem Krisenbegriff an einer außerfamilialen Perspektive und bedarf darum einer jeweiligen Ergänzung (vgl. Gut 2014, S. 18-19). Für Andreas Gut sind Adressaten der SPFH „damit Familien, welche sich in gravierenden, materiellen, sozialen und/oder seelischen Unterversorgungslagen befinden und damit in Krisen stecken, die sie aus eigener Kraft nicht mehr bewältigen können“ (Gut 2014, S. 19). Ihr Leben ist häufig geprägt durch massive Erziehungsprobleme, familiale Konflikte, soziale Isolation sowie Mangel an Bildungs- und Teilhabemöglichkeiten und den oft daraus resultierenden finanziellen Schwierigkeiten. Damit der Alltag für und mit Kindern besser gestaltet werden kann, sind die Adressaten der SPFH auf professionelle beratende und zupackende Hilfe angewiesen, um so ihre inner- und außerfamilialen Ressourcen für sie zugänglich zu machen (vgl. Gut 2014, S. 19-20). 2 Sozialpädagogische Familienhilfe (SPFH) 17 2.5 Handlungsvielfalt in der SPFH [von Kohls/Nastola] Auf Grund der zuvor aufgezeigten Vielfältigkeit an Zielen, Aufgaben und Adressaten der SPFH, bedarf die Hilfe einer auf den Einzelfall zugeschnittenen Ausgestaltung mit einem multiperspektiven Zugang. Zu dem benötigt die SPFH mehr als andere Hilfen zur Erziehung eine Ausrichtung auf die Lebenswelt der Adressatenfamilie und auf das Familiensystem (vgl. Gut 2014, S. 20-21). Zudem ist die Arbeitsweise der SPFH nicht methodisch-konzeptionell geregelt. So muss die Fachkraft über ein umfassendes Repertoire an Handlungsmöglichkeiten verfügen, um im Alltag der Familie zu bestehen und darüber hinaus auch wirksam zu sein (vgl. Gut 2014, S. 25). Darum wurden in den vergangenen Jahren viele neue Ansätze vorgeschlagen und unterschiedlichste Methodendiskussionen geführt, um diesem Anspruch gerecht zu werden (vgl. Rätz/ Schröer/ Wolff 2014, S. 145). In deren Folge hat sich fast überall eine Qualitätssteigerung von Fachkräften und Hilfekonzepten durchgesetzt (vgl. Röttgen 2009, S. 81). Daraus ist eine breite Palette methodischer Handlungsanleitungen, Modellen und Konzepten entstanden. Man unterscheidet Konzepte mit einem umfassenden Geltungsanspruch für die Soziale Arbeit von Konzepten, die direkt auf die SPFH zugeschnitten sind. So finden die Konzepte der Lebensweltorientierung oder der systemischen Sozialarbeit in fast allen Bereichen der Sozialen Arbeit Anwendung. Wohingegen Konzepte, wie das Heidelberger Modell von Marga Rothe, versuchen, genaue Handlungsanleitungen für den Alltag mit der Familie zu geben. Der Entwurf dieser Konzepte beruht zum Teil auf intensiven Forschungsarbeiten, Erfahrungsberichten, eigener Praxiserfahrung und Herleitung aus benachbarten Fachbereichen. Diesen Konzepten gemein ist der Versuch, Beratungsanteil, lebenspraktische Hilfe und die unterschiedlichen Interaktionsformen geordnet in Verbindung zu bringen. Prinzipiell sind die Handlungskonzepte jedoch nur auf Teilbereiche oder spezifische Problematiken von Familien ausgelegt und beschreiben so nur einen Teilprozess innerhalb der Hilfe. Der Sozialpädagogische Familienhilfeprozess besteht also aus verschiedenen Konzepten. Dies ermöglicht variable Perspektiven auf die Problemlagen der Familie und fördert so ein kreatives Miteinander von Familie und Fachkraft. Aus der Kombination dieser konzeptionellen Orientierung, der Person der Fachkraft mit ihrer persönlichen Begabung und Vorlieben und der Familie mit ihrer Familienkultur und ihren 2 Sozialpädagogische Familienhilfe (SPFH) Erwartungen, entsteht eine kaum 18 zu greifende Vielfältigkeit des Familienhilfeprozesses (vgl. Gut 2014, S. 25-26). Anders formuliert mit den Worten von Johannes Röttgen, ergibt sich die Vielfalt der Hilfeformen aus der Vielfalt der Lebenswelten (vgl. Röttgen 2009, S. 82). „Eine standardisierte „evidence based SPFH“ ist vielleicht der Traum einiger Verantwortlicher, für Familien und Helfer ist es eher ein Albtraum.“ (Röttgen 2009, S. 82), so die Auffassung von Johannes Röttgen. 3 Dimensionen der Sozialpädagogischen Familienhilfe 19 3 Dimensionen der Sozialpädagogischen Familienhilfe [von Kohls/Nastola] Die Polyglotte Kommunikation ist für Müller der theoretische Ausgangspunkt für die Determinierung seiner Vorstellung von drei Dimensionen in der SPFH. Dabei ergeben sich für ihn die drei relevanten Dimensionen der Adressaten als Individuen, Adressaten in ihren spezifischen sozialen Milieus sowie Adressaten und die gesellschaftlichen Teilsysteme. Das Theoriekonzept der Polyglotten Kommunikation, also der Vielsprachigkeit der Sozialen Arbeit, vertritt die Annahme, dass ein Sozialarbeiter in der Lage sein muss, unterschiedliche Sprachen zu bedienen. Das Konzept unterscheidet die Milieukommunikationen und die funktionalen Kommunikationen (vgl. Müller 2010, S. 208). Milieukommunikationen als akteursbezogene Kommunikationsweisen Sozialer Arbeit differenzieren sich auf zwei Ebenen. Auf der Subjektebene werden die Adressaten Sozialer Arbeit in ihrer Subjektivität als individuell begriffen. Hauptziel ist es darum, einen Zugang zu den Adressaten als Subjekte in ihren Eigenlogiken zu finden. Dabei muss es der Fachkraft gelingen, eine kommunikative Anschlussfähigkeit an alle akteursbezogenen Positionierungen im sozialen Raum herzustellen. Öffnet die Subjektebene damit den Zugang zu den Adressaten in ihrer akteursbezogenen Einzigartigkeit, bietet die Ebene des Ortes einen Zugang zu den sozialen Milieus und ihren Unterschieden. Ort meint in diesem Zusammenhang die realen Sozialbezüge und Bedingungen, welche als Bezugssystem und Grundlage für die Handlungen der Adressaten dienen. Das Milieu ist somit ein Ort des Spracherwerbs und deren Anwendung. Aus kommunikationstheoretischer Perspektive ist der Ort als ein sprachlicher Markt zu verstehen, der durch die zwei Elemente, grammatikalische Korrektheit und Distinktion, geprägt ist. Auf dem sprachlichen Markt entscheidet nicht die grammatikalische Genauigkeit, sondern das sich Verstehen über soziale Akzeptanz oder Ablehnung. Die Aufgabe der Fachkraft liegt dementsprechend darin, die diversen sozialen Milieus als individuelle Kommunikationsorte mit eigenen Milieukulturen zu ergründen und sich ihrer Korrektheit und milieuspezifischen Distinktion anzupassen. Folglich muss sich die Fachkraft einer auf das Milieu bezogenen, angemessenen und korrekten Kommunikationsform bedienen. Denn dies bildet die Grundlage für die Gestaltung einer professionellen soziokulturell anschlussfähigen Hilfeleistung (vgl. Müller 2008, S. 269-275). 3 Dimensionen der Sozialpädagogischen Familienhilfe Unter funktionaler Kommunikation 20 sind Inklusions- und Exklusionskommunikationen in Hinsicht auf die Teilsysteme der modernen Gesellschaft zu verstehen. Die kommunikativen Anforderungen liegen dabei neben dem kommunikativen Anschluss an die Teilsysteme der Gesellschaft auch in der multidimensionalen Hilfekommunikation Sozialer Arbeit. Diese ist zweicodiert, also enthält sowohl die binäre Codierung des jeweiligen Teilsystems als auch den binären Code – Hilfe/Nichthilfe – der Sozialen Arbeit (vgl. Müller 2008, S. 279). Darauf wird in diesem Kapitel noch vertiefend eingegangen. Beruhend auf die beschriebenen Bereiche Polyglotter Kommunikation Sozialer Arbeit lassen sich drei allgemeine Perspektiven benennen, die die Kommunikationen innerhalb der Praxis Sozialer Arbeit prägen. Diese Perspektiven sind Akteur, Milieu sowie Gesellschaftssysteme (vgl. Müller 2010, S. 209). 3.1 Adressaten als Individuen [von Kohls/Nastola] In diesem Abschnitt des dritten Kapitels wird vor dem Hintergrund der lebensweltorientierten Sozialen Arbeit auf die Gedanken Müllers zur Dimension der Adressaten als Individuen eingegangen. 3.1.1 Lebensweltorientierte Soziale Arbeit Das Konzept der Lebensweltorientierung ist nicht nur ein Rahmenkonzept sozialpädagogischer Theorieentwicklung in der Sozialen Arbeit, sondern auch eine der grundlegenden Orientierungen sozialpädagogischer Handlungspraxis (vgl. Gut 2014, S. 69). Lebensweltorientierung bietet somit einen Rahmen für die Bestrebungen der Sozialen Arbeit, der es erlaubt, unterschiedliche praktische und theoretische Entwicklungen miteinander zu verbinden. Konkretisiert findet sich dieses Konzept beispielsweise im Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) oder dem achten Jugendbericht (vgl. Thiersch/ Grunwald/ Köngeter 2002, S. 161). Neben diesen rechtlichen und sozialpolitischen Rahmenbedingungen spielt die Lebensweltorientierung eine große Rolle in sozialpädagogischen Handlungskonzepten, institutionellen Programmen und Modellentwicklungen. Um den Begriff der Lebenswelt fassen zu können, unterscheidet man vier Grunddimensionen. Diese sind die erfahrene Zeit, der erfahrene Raum, die sozialen Bezüge sowie die alltäglichen Bewältigungsaufgaben. Die erfahrene Zeit 3 Dimensionen der Sozialpädagogischen Familienhilfe 21 meint die Lebensphasen der Adressaten der Sozialen Arbeit und die damit einhergehenden Entwicklungs- und Bewältigungsaufgaben. Der erfahrene Raum meint die diversen Lebensorte, in denen sich die Adressaten aufhalten und in welchen sie zurechtkommen müssen. Unter den sozialen Bezügen sind die verschiedenen sozialen Gefüge, wie Familie, Freundschaften, Peergroups, Arbeitsbeziehungen oder die Schule zu verstehen. Vor dem Hintergrund der schon genannten Dimension zeigt die Bewältigungsarbeit die Kompetenzen und Stärken der Adressaten auf, die aus der Auseinandersetzung mit den jeweiligen spezifischen Lebensbedingungen entstanden sind. Alle vier Dimensionen haben gemein, dass sie sowohl die tatsächlichen Lebensverhältnisse als auch die daraus resultierenden subjektiven Erfahrungen der Adressaten umfassen (vgl. Gut 2014, S. 69). Darum ist das Konzept der lebensweltorientierten Sozialen Arbeit ein wesentlicher Zugang zu den Problemlagen ihrer Adressaten (vgl. Thiersch Grunwald/ Köngeter 2002, S. 167). Anders formuliert bedeutet eine Lebensweltorientierung in der Sozialen Arbeit, den Adressaten mit seinen Verhältnissen, seinen Ressourcen, seinen vorenthaltenen Partizipationschancen sowie seinen Schwierigkeiten im Alltag sichtbar zu machen, um so einen „gelingenden Alltag“ zu realisieren (vgl. Gut 2014, S. 70). Jedoch lässt sich Alltag nicht mehr in Form einer allgemeingültigen Kategorie definieren. Die Veränderung unserer Gesellschaft durch Industrialisierung und Technisierung hat das Alltagleben stark beeinflusst (vgl. Lambers 2013, S. 105). Der Alltag unserer modernen Gesellschaft ist geprägt durch das Spannungsfeld von Individualisierung und Pluralisierung. Lebenslagen, die Adressaten heutzutage vorfinden, sind gekennzeichnet durch eine unendliche Pluralität von Strukturen und Lebensbedingungen (vgl. Gut 2014, S. 70). Darüber hinaus haben traditionelle Muster der Lebensführung innerhalb der Generationsfolge kaum noch Bedeutung (vgl. Lambers 2013, S. 105). Dadurch ergeben sich neue und offenere Möglichkeiten der Lebensführung. Die aus dieser Pluralisierung und Individualisierung entstehende Vielfältigkeit an Lebensmöglichkeiten ist zeitgleich als Chance und Risiko zu verstehen. Diese Chance auf eine individualisierte Lebensweise birgt das Risiko, gezwungen zu sein, die Gestaltung und Orientierung seines Lebens selbständig und ohne Vorgaben zu realisieren. Alltag ist demnach komplex, widersprüchlich und nur schwer durchschaubar. Hans Thiersch, der Begründer des Konzepts der Alltags- und Lebensweltorientierung 3 Dimensionen der Sozialpädagogischen Familienhilfe 22 beschreibt den Alltag als „pseudokonkret“, doppelsinnig und ambivalent. Das heißt, dass durch die vorgegebenen Strukturen einerseits Sicherheit vermittelt wird und andererseits diese verengend und entfremdend wirken und oft durch soziale Ungleichheit geprägt sind. Für die Soziale Arbeit bedeutet dies, dem Adressaten mit seinen Verhältnissen, seinen unterschiedlichen lebensweltlichen Deutungen und Erfahrungen wie auch seiner eigensinnigen Lebensgestaltung mit Respekt zu begegnen. Gleichzeitig ist den unhinterfragten Gegebenheiten und Handlungszwängen mit Motivation und wohlwollender kritischer Provokation zu begegnen. Beides kann jedoch nur auf der Basis einer auf Aushandlung beruhenden gleichwertigen, miteinander interagierenden anwaltschaftlichen Partnerschaft geschehen (vgl. Gut 2014, S. 70-72). Neben den schon dargestellten Dimensionen manifestiert sich die lebensweltorientierte Soziale Arbeit in Struktur- und Handlungsmaximen (vgl. Thiersch/ Grunwald/ Köngeter 2002, S. 173). Die fünf Strukturmaximen auch als Handlungsleitlinien bezeichnet sind Prävention, Alltagsnähe, Regionalisierung, Integration und Partizipation, an Hand derer Soziale Arbeit transparent gemacht und strukturiert werden kann. Die Maxime der Prävention unterteilt sich in allgemeine und spezielle Prävention (vgl. Gut 2014, S. 74-75). Die allgemeine Prävention beabsichtigt die Stabilisierung und Inszenierung unterstützender und belastbarer Infrastrukturen sowie die Stabilisierung und Bildung allgemeiner Lebensbewältigungskompetenzen und darüber hinaus eine gute Erziehung und gerechte Lebensverhältnisse (vgl. Thiersch/ Grunwald/ Köngeter 2002, S. 173). Ferner beabsichtigt die spezielle Prävention ein rechtzeitiges Handeln in definierten Arbeitssettings wie beispielsweise der Jugendhilfe. Sie soll also verhindern, dass anfängliche Schwierigkeiten zu massiven Krisen werden. Das bedeutet, dass Hilfeangebote realisiert und bereitgehalten werden, die im Vorfeld eine Antwort auf erwartete Lebenskrisen beziehungsweise Überforderungssituationen geben können. Dabei muss eine Balance zwischen einer Bagatellisierung von Schwierigkeiten durch eine Entstigmatisierung sozialer Probleme und einer überspitzten Kontrolle, aufgrund der hohen Sensibilität Sozialer Arbeit, für die Gefährdung und Risiken ihrer Adressaten hergestellt werden. 3 Dimensionen der Sozialpädagogischen Familienhilfe 23 Die Handlungsleitlinie der Alltagsnähe setzt voraus, dass jegliche Hilfeform an der Lebenswelt der Adressaten orientiert und in ihr präsent ist. Folglich müssen die Angebote der Sozialen Arbeit niedrigschwellig und erreichbar sein und darüber hinaus offen, situationsbezogen und ganzheitlich an den unterschiedlichen Problemen der Adressaten orientiert sein. Ergänzend dazu ist auf die subjektiven Erfahrungen und Deutungen der Adressaten respektvoll zu reagieren und nicht eine vermeintlich objektiv richtige Problemlösung zu postulieren. Die Regionalisierung, die Dezentralisierung und Vernetzung zielt darauf ab, dass Soziale Arbeit neue Hilfeformen dezentral vor Ort entwickelt und die bereits vor Ort befindlichen Einrichtungen und Angebote miteinander vernetzt. Hierdurch soll der Zugang zu den Angeboten der Sozialen Arbeit für den Adressaten erleichtert werden und die Rolle der Sozialen Arbeit vor Ort gestärkt sowie Kooperationsbeziehungen entwickelt werden. Integration in der Sozialen Arbeit versteht sich im Spannungsfeld der Akzeptanz gegenüber der Normalität abweichender Lebensentwürfe und der Anpassung der Adressaten an die gesellschaftlichen Normvorstellungen. Des Weiteren steht sie vor der Aufgabe, den hohen Ansprüchen einer gelingenden Integration vor den tatsächlich häufig begrenzten Möglichkeiten der Realisierung gerecht zu werden. Die letzte Strukturmaxime, die der Partizipation verlangt eine vielfältige Mitbestimmung und Beteiligung der Adressaten an der Realisierung und Planung des Hilfeprozesses. Mittels einer offenen und gemeinsamen Gestaltung von Handlungsprozessen und der Institutionalisierung der unterschiedlichen Formen von Teilhabe, sollen die Adressaten in ihren Mitbestimmungsrechten gestärkt werden und sich als handelnde Subjekte erfahren. Besonders für die Kinder- und Jugendhilfe besteht oft die Gefahr, dass die Partizipationsmöglichkeiten von Familien, Jugendlichen und Kindern übersehen werden und man sie stattdessen mit eigenen Vorstellungen der Hilfegestaltung überfordert. Die beschriebenen fünf Strukturmaximen sind sowohl zentrale Orientierungspunkte als auch Zielperspektiven lebensweltorientierter Sozialer Arbeit. Darum sind sie stets in Verbindung miteinander zu sehen und können nur gemeinsam realisiert werden. Innerhalb der einzelnen Angebote sozialer Arbeit findet jedoch eine unterschiedliche Gewichtung dieser statt. Geeignete Methoden zur Realisierung der Strukturmaximen sind nicht genau festgeschrieben, sondern unter den Handlungsmaximen Planen, Einmischen, 3 Dimensionen der Sozialpädagogischen Familienhilfe 24 Aushandeln und Reflektieren in dem Begriff der „strukturierten Offenheit“ zusammengefasst (vgl. Gut 2014, S. 75-77). Die Handlungsmaxime des Planens und Vernetzens beschreibt das Koordinieren und Vernetzen der vielfältigen Angebote und Arbeitsfelder der Sozialen Arbeit, um ein gegen- und nebeneinander zu minimieren, damit Kräfte nicht unnötig verbraucht werden. Einmischen im Bereich der lebensweltorientierten Sozialen Arbeit setzt aktive und beständige Erweiterung des Zuständigkeits- und Aufgabenbereiches voraus, um so ihrem Selbstverständnis und ihrer Aufgaben entsprechend anwaltschaftlich für ihre Adressaten Lösungsstrategien, einzutreten. Regeln Darüber und hinaus sollen Organisationsformen Problemdeutungen, in gemeinsamen partnerschaftlichen Gesprächen ausgehandelt werden. Aushandlung heißt, im persönlichen Umgang fair miteinander zu verhandeln, aber gleichwohl in der Sache hart zu diskutieren. Dabei gibt es eine klare Differenzierung der Sachverhalte, die im unterschiedlichen Maße verhandelbar sind (vgl. Schoch 2015, Internetquelle). Grundvoraussetzung für jedes berufliche Tun in der Sozialen Arbeit ist jedoch deren Reflexion vor dem Hintergrund persönlicher Motive, Erfahrungen und Deutungsmustern, um das eigene Handeln kritisch zu überdenken und fachlich weiterzuentwickeln. Nur so ist eine stetige fachliche Professionalisierung und Qualitätssicherung in der Sozialen Arbeit zu garantieren. Alle Handlungsmaxime zusammengefasst unter dem Begriff der „strukturierten Offenheit“ zeigen, dass lebensweltorientierte Soziale Arbeit auf der einen Seite nicht planbar ist, jedoch auf der anderen Seite methodisch geklärte Zugänge unverzichtbar sind. Das bedeutet, dass die Offenheit des sozialpädagogischen Handelns stets auf eine zielorientierte Problemlösung gerichtet ist (vgl. Gut 2014, S. 77-78). Die lebensweltorientierte Soziale Arbeit sieht sich damit der ständigen Herausforderung gegenüber, die tatsächliche Lebenslage der Adressaten von ihrer subjektiven Lebenswelt zu unterscheiden (vgl. Gut 2014, S. 82). 3.1.2 Adressaten und ihre Lebenswelt Um die Adressaten der SPFH als Subjekte in ihrer Individualität zu zeigen, ist laut Müller das Theoriekonzept der Lebensweltorientierung besonders geeignet. Bezugspunkte der lebensweltorientierten Sozialen Arbeit sind für ihn die erfahrene Zeit, der erfahrene Raum und die sozialen Bezüge der Adressaten, in deren Wechselwirkungen zu einander. Jedoch bezieht sich Müller nur auf Teile dieses Theoriekonzeptes und vernachlässigt beispielsweise die Handlungsmaximen. Aus 3 Dimensionen der Sozialpädagogischen Familienhilfe 25 seiner Sicht sind diese für die SPFH zwar von hoher Relevanz, aber in einigen Punkten führen sie zu Unschärfen in der Betrachtung der Hilfesituation. Die erfahrene Zeit meint nicht die allgemeingültigen Zeiteinheiten wie Stunden, Tage oder Wochen, sondern die Zeiteinheiten, die einen individuellen Eigensinn vom Subjekt bekommen. Verdeutlicht wird dies von Müller anhand individualisierter Tagesabläufe und der biografischen Zeit. Tagesabläufe sind individualisiert durch die jeweiligen Begründungszusammenhänge, also die individuelle Erklärung für die spezifische Zeitstruktur eines jeden Adressaten. Weiter ist die erfahrene Zeit an der Gestaltung und den Anforderungen der Individuen orientiert und plausibilisiert sich letztendlich im Individuum selbst. Anders ausgedrückt ist Zeit vom Eigensinn des Akteurs geprägt und damit individualisiert. Von besonderer Bedeutung für eine gelingende SPFH ist, dass die Begründung für die zeitliche Strukturierung nie vom Individuum getrennt zu werten ist. Erfahrungsgemäß läuft eine Fachkraft so Gefahr, die individuelle Zeitgestaltung der Adressaten falsch zu deuten oder ihnen gar zu unterstellen, keine Tagesstruktur vorweisen zu können. Solch eine Vernachlässigung der lebensweltorientierten Sichtweise auf die erfahrene Zeit ist schon deshalb abwegig, weil es nicht möglich ist, für die eigene Tagesstruktur keine individuellen Begründungzusammenhänge zu haben. Die biografische Zeit, also die individuelle Interpretation der Lebenszeit, ist ebenso individualisiert. Gemeint ist damit eine Selbstplausibilisierung der eigenen Lebensereignisse, um diesen einen Sinn zu geben. Lebensereignisse beschreiben bestimmte Lebensabschnitte, welche mit individuellen Erfahrungen verbunden sind und das weitere Leben durch deren individuellen Bedeutungen für den Adressaten prägen. Die Bedeutungsinhalte können zwar im Verlauf des Lebens neu interpretiert werden, bleiben aber dennoch prägend und eigensinnbezogen. Anhand dessen zeigt sich, dass hohe Individualisierungspotenzial dieser Perspektive. Somit ist unvorstellbar, dass zwei Individuen die gleiche Interpretation und Plausibilisierung für ihre biografische Zeit aufweisen und sie darüber hinaus gleichermaßen prägt. Räume oder Orte in ihrer individuellen und subjektiven Darstellung beschreiben die Perspektive des erfahrenen Raums. Individualität im Lebensraum zeigt sich zum einen in verschieden individuell geprägten Orten und zum anderen durch die Bedeutung dieser Orte für die Adressaten. Die Adressaten sehen sich der Aufgabe gegenüber, mit sich und für sich selbst die verschiedenen Orte ihres 3 Dimensionen der Sozialpädagogischen Familienhilfe 26 Lebensraums zu plausibilisieren. Daraus ergibt sich auch eine individualisierte Bedeutungszuschreibung für die verschiedenen Orte, des Weiteren kann ein und derselbe Ort für unterschiedliche Menschen verschiedene Bedeutungszuschreibungen haben. Kann für ein Kind die Schule zuvorderst ein Ort sein, um Freunde zu treffen, wird sie beispielsweise von den Eltern primär als ein Ort der Bildungsvermittlung verstanden. Eine Pluralisierung an Bedeutungszuschreibungen kann, neben dem eben beschriebenen, auch durch ein Individuum selbst geschehen. Neben der primären Aufgabe der Bildungsvermittlung des Ortes Schule, kann dieser für die Eltern auch ein Ort sein, an dem sie andere gleichgesinnte Eltern treffen. Daraus resultiert schließlich die Aufgabe für die Fachkraft, den Lebensraum der Adressaten mit seinen spezifischen Orten und deren Bedeutungen für sie, zu verstehen. In diesen beschriebenen Orten agieren die Adressaten in sozialen Bezügen. Darunter ist ein Geflecht sozialer Verhältnisse mit Potenzialen, aber auch Belastungen zu verstehen. Hervorzuheben ist, dass soziale Beziehungen abhängig von individuellen und wechselseitigen Bedeutungszuschreibungen und Bewertungen, der in den sozialen Bezügen befindlichen Akteure, sind. Folglich können zwei Akteure einen ganz unterschiedlichen Stellenwert, aufgrund ihrer individuellen Bewertung und Bedeutungszuschreibungen, füreinander haben. Die Arbeit der Fachkraft sollte aus diesem Grund stets an den Zuschreibungen der Adressaten für ihre Beziehungspartner anschließen. Nach Müllers Ansicht handelt die lebensweltorientiere Soziale Arbeit mit dem Respekt vor der Alltäglichkeit der Adressaten und versucht, an deren lebensweltliche Deutung von sozialen Bezügen, Raum und Zeit anzuknüpfen. Damit eine gemeinsame Strukturierung von Raum, Zeit und sozialen Bezügen für alle Familienmitglieder möglich ist. Wichtig ist dabei, dass das Individuum sich als Subjekt seiner Verhältnisse erfahren kann, um so eigene Kompetenzen zur Bewältigung der Offenheit und den Widersprüchlichkeiten unserer individualisierten und pluralisierten Gesellschaft zu entwickeln (vgl. Müller 2010, S. 209-214). 3 Dimensionen der Sozialpädagogischen Familienhilfe 27 3.2 Adressaten in ihren spezifischen sozialen Milieus [von Kohls/Nastola] Im folgenden Abschnitt wird die besondere Bedeutung der Familie als Herkunftsmilieu für die Adressaten der SPFH, auf der Grundlage der systemischen Sichtweise auf Familie, herausgearbeitet. 3.2.1 Systemische Sicht auf Familie Eine systemische Perspektive beschreibt die Verbindung einzelner Teile zu einem System, die dieses wechselseitig und wiederholt beeinflusst. Jedes System weist spezifische Merkmale und wiederkehrende Muster auf, welche das System typisieren sowie organisieren und geprägt sind durch Phasen von Wandel und Stabilität. Das System der Familie meint mehr als nur die bloße Beschreibung der Personenzugehörigkeit. Bezugspunkt sind vielmehr die vorhersagbaren und wiederkehrenden Interaktionsmuster einer Familie. In diesen spiegeln sich neben der Zugehörigkeit auch die Hierarchien und Spannungen innerhalb der Familie. Gleichzeitig können die Interaktionsmuster als Bedeutungsträger für Verhalten und Beziehungen verstanden werden (vgl. Minuchin/ Colapinto/ Minuchin 2000, S. 2834). Um einen Zugang zum Familiensystem zu erlangen, ist es wichtig, diese Interaktionsmuster zu erkennen und in ihrer Bedeutung zu verstehen (vgl. Goldbrunner 1996, S. 18). Denn die meisten Familien weisen vielfältige Muster von Allianzen auf. Allianzen bestehen aus emotional eng miteinander verbundenen Familienmitgliedern, die sich wechselseitig stützen. Eine andere Form der Allianz ist solche, die von Familienmitgliedern geschlossen wird, um sich in Form einer Koalition oppositionell gegen andere Familienmitglieder zusammenzuschließen. Arten dieser Koalition sind häufig nur von kurzer Dauer und relativ harmlos. Allianzen und Koalitionen sind Musterbeispiele für die Organisation von Machthierarchien innerhalb der Familie. Allgemein definieren Machthierarchien den familialen Weg der Entscheidungsfindung und die Kontrolle der Verhaltensweise von Familienmitgliedern. Einen besonders relevanten Aspekt der Familienorganisation bilden die Autoritätsmuster. In ihnen liegt sowohl das Potenzial für Harmonie als auch für Konflikte. Ursprünge familialer Interaktionsmuster können ganz vielfältiger Natur sein. Die meisten sind familienspezifisch, werden also im Laufe der Zeit im familialen Kontext entwickelt. Andere können traditionelle oder ethnische Wurzeln haben. 3 Dimensionen der Sozialpädagogischen Familienhilfe 28 Durch die in den Interaktionsmustern definierten Erwartungen und Grenzen ergibt sich ein gemeinsames familiales Wissen des Erlaubten und Nichterlaubten. Ein weiteres Merkmal für die systemische Sicht auf Familie ist das Vorhandensein vieler Subsysteme. Faktoren für die Bildung familialer Subsysteme sind zum Beispiel Alter oder Geschlecht. So differenziert sich die Untereinheit der weiblichen Familienmitglieder von der der männlichen Familienmitglieder. Kontrolliert wird die Beziehung zwischen den einzelnen Subsystemen durch explizite und implizite Regeln. Dabei sind die Grenzen zwischen den Subsystemen unterschiedlich durchlässig und flexibel. Die kleinste Einheit des Familiensystems stellt jedoch das Individuum dar als eine separate Größe, aber doch Teil des Ganzen. Davon inspiriert ist die Grundannahme des systemischen Ansatzes, dass jedes Familienmitglied seinen individuellen Beitrag zur Bildung der Familienmuster leistet (vgl. Minuchin/ Colapinto/ Minuchin 2000, S. 34-38). 3.2.2 Familie als individualisiertes Herkunftsmilieu Ein spezifisches soziales Milieu von besonderer Bedeutung für die Adressaten der SPFH, ist nach Müller, die Familie als spezifisches Herkunftsmilieu. Die im ersten Kapitel dieser Arbeit aufgezeigte Pluralität von Familienformen und die soeben beschriebene Individualität von Familienmustern, lässt für Müller den Schluss zu, dass Familie genauso wie die Menschen, die diese bilden, individualisiert zu betrachten sind. Daraus leitet sich für Müller weiter ab, dass jede Familie eine eigene individualisierte Familienkultur entwickelt. Der durch den Familienwandel ausgelöste Verlust eines allgemeingültigen normativen Familienverständnisses hat zur Folge, dass Familien heutzutage dazu verpflichtet sind, sich einen selbständig generierten normativen Rahmen zu schaffen, der im Laufe der Zeit dynamischen Prozessen ausgesetzt ist. Copingstrategien, so Müller weiter, bürgen die Gefahr in sich, der Vergangenheit, aber nicht der aktuellen eigenen Familienkultur zu entsprechen. Das fehlende adäquate transgenerationale Erfahrungswissen stellt moderne Familien fortwährend vor die Aufgabe, die neuen Bewältigungs- und Aneignungsleistungen selbständig zu erfüllen. Hauptziel einer solch orientierten Familienarbeit ist es, alle Familienmitglieder wieder in die Lage zu versetzen, ein Leben in ihrer Familienkultur führen zu können, welches zu ihnen passt. Da keine Familienkultur einer anderen gleicht, unterscheidet sich die Familienkultur der Fachkraft immer von der Familienkultur der Adressaten. Dies gilt es zu beachten, 3 Dimensionen der Sozialpädagogischen Familienhilfe 29 damit die eigenen individualisierten Normen der Fachkraft nicht als allgemeingültig verstanden wird, sondern das Familienmilieu der Adressaten als individuell und gleichrangig neben anderen zu sehen ist. In der SPFH ist in der Dimension der spezifischen sozialen Milieus die Familienkultur von besonderer Bedeutung, weil die individuelle Kultur der Familie erschlossen werden muss, bevor eine gelingende Intervention im Familienmilieu vollzogen werden kann (vgl. Müller 2010, S. 214-216). 3.3 Adressaten und die gesellschaftlichen Teilsysteme [von Kohls/Nastola] Im letzten Abschnitt dieses Kapitels wird die Bedeutung der Dimensionen der gesellschaftlichen Teilsysteme für die Arbeit der SPFH aufgezeigt. Über die Darstellung der Funktionsweise gesellschaftlicher Teilsysteme soll deren Relevanz für die SPFH verdeutlicht werden. 3.3.1 Gesellschaftliche Teilsysteme Die moderne Gesellschaft aus funktionaler Perspektive besteht aus funktional ausdifferenzierten Teilsystemen. Dabei übernehmen die Teilsysteme, wie beispielsweise Erziehung oder Wissenschaft, jeweils eigene spezifische Gesellschaftsfunktionen und konstruieren dadurch eigene Welt-Versionen der Gesellschaft. Dabei folgt jedes Teilsystem der Gesellschaft seiner eigenen Logik, bezeichnet als Kontextur. Daraus resultierend gelten in der modernen Gesellschaft verschiedene Kontexturen parallel zueinander ohne einen allgemeingültigen kontexturalen Systemstrukturen gesellschaftlichen eines Zusammenhang. Teilsystems nur intern So durch können die systemeigene, kommunikative Operationen aufgebaut oder verändert werden. Eine Einwirkung der Umwelt auf das Teilsystem ist somit nicht möglich und das Teilsystem ist so als operativ geschlossen zu verstehen (vgl. Müller 2008, S. 114-116). Hierdurch ist es ausschließlich dem spezifischen Teilsystem möglich, seine individuelle gesellschaftliche Funktion zu erfüllen sowie deren funktionale Leistung zu liefern. Der funktional differenzierte, polykontexturale Charakter der modernen Gesellschaft trägt gleichzeitig zur gesellschaftlichen Leistungsfähigkeit und auch zum Problem der funktionalen Spezialisierung bei. Da keines der Teilsysteme in der Lage ist, die Leistung eines anderen Teilsystems zur Verfügung zu stellen, 3 Dimensionen der Sozialpädagogischen Familienhilfe 30 sind in der modernen Gesellschaft keine Orte der Leistungskompensation vorhanden (vgl. Müller 2010, S. 217). Aufgrund der zuvor beschriebenen operativen Geschlossenheit der Teilsysteme werden Umweltinformationen ausschließlich entlang der systemeigenen Operationen verarbeitet. Darum bedarf es eines symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums, um die hochunwahrscheinliche Kommunikation wahrscheinlicher zu machen. Diese generalisierten Medien sind stets binär codiert. Der binäre Code beschreibt zwei entgegengesetzte Werte in einem strikten Entweder-Oder-Schema und schließt auf dieser Ebene (vgl. Müller 2008, S. 119-121). Nach dieser Logik hat zum Beispiel das Teilsystem Erziehung das generalisierte Medium – Lebenslauf – mit dem binären Code „gute/schlechte Zensuren“ oder das Teilsystem der Wissenschaft das generalisierte Medium – Wahrheit – mit dem binären Code „Wahrheit/Unwahrheit“ (vgl. Müller 2008, S. 123). Die als Leitdifferenz zu verstehenden binären Codes der Teilsysteme bestimmen entweder die gesellschaftliche Teilhabe oder den gesellschaftlichen Ausschluss, auch als Inklusion und Exklusion bezeichnet. Dabei sind alle Teilsysteme der Gesellschaft auf All-Inklusion ausgerichtet. Gemeint ist damit, dass die spezifische Leistung eines Teilsystems generell allen, ungeachtet ihrer sozialen Herkunft, zusteht (vgl. Müller 2010, S. 217). 3 Dimensionen der Sozialpädagogischen Familienhilfe 31 3.3.2 Inklusion und Exklusion der Adressaten in beziehungsweise aus den gesellschaftlichen Teilsystemen Aus der zuvor aufgezeigten Sichtweise sind Menschen Adressaten von Kommunikationen. Darüber hinaus inkludieren sie über Kommunikationen in die gesellschaftlichen Teilsysteme. Die Inklusion in die gesellschaftlichen Teilsysteme realisiert sich durch eine auf den positiven Wert des binären Codes ausgerichtete Kommunikation. Für das Teilsystem der Wissenschaft bedeutet Inklusion eine Ausrichtung der Kommunikation auf ihren positiven Wert – Wahrheit. Weiter ist es möglich, zeitgleich in verschiedene funktionale Teilsysteme der Gesellschaft inkludiert zu sein. Der Modus der Inklusion beschreibt die Teilnahmechancen und -bedingungen für die Teilsysteme der modernen Gesellschaft. Zudem gibt es aber keine einheitliche Regelung für Inklusion, da durch den operational geschlossenen Charakter der Teilsysteme alleinig die Entscheidung für Inklusion oder Exklusion durch die jeweiligen funktionssystemspezifische Kommunikationen vorgegeben wird. Dementsprechend wechseln Kommunikationen in der modernen Gesellschaft zwischen den gegensätzlichen Werten des binären Codes. Dies bildet die Grundlage für das Switschen in unterschiedliche Teilsysteme der Gesellschaft. Da in der modernen Gesellschaft die Inklusion prinzipiell temporären Charakters ist, wird Exklusion dringend notwendig. Anders formuliert kann die Inklusion in ein beliebiges Teilsystem auch die Exklusion aus einem anderen bedeuten. Somit kann Exklusion ein Nebeneffekt von Inklusion sein. Im Unterschied dazu bürgt eine polykontexturale Gesellschaft auch die Gefahr eines dauerhaften Ausschlusses von einzelnen Teilsystemleistungen, bis hin zu einer Exklusionsverkettung mit dem Risiko eines Gesamtausschlusses von den Systemleistungen der Gesellschaft. Die Bedeutung für die Soziale Arbeit liegt dabei in dem Umstand begründet, dass eine Inklusion der Adressaten in die gesellschaftlichen Teilsysteme nicht durch sie, sondern durch die jeweiligen Funktionssysteme selbst bestimmt wird. Wenn ein Adressat außer Stande ist, in funktional relevanter Weise mit dem Teilsystem zu kommunizieren, besteht keine Möglichkeit des Leistungsbezuges vom Teilsystem, auch dann nicht, wenn es für den zu inkludierenden Adressaten lebensnotwendig ist (vgl. Müller 2010, S. 218-219). Die Soziale Arbeit ist damit ein sekundäres Teilsystem, welches als transdisziplinäres Zwischensystem zu begreifen ist. In ihrer intermediären Position kann Soziale Arbeit darum 3 Dimensionen der Sozialpädagogischen Familienhilfe kommunikative Übergänge zu allen für den 32 Hilfeprozess notwendigen Teilsystemen der modernen Gesellschaft herstellen (vgl. Müller 2008, S. 278). Daraus ergeben sich für die Arbeit der SPFH folgende Aufgaben. Zunächst sollte der Inklusions- beziehungsweise Exklusionsgrad des Adressaten anhand des Empfangens oder Nichtempfangens von Leistungen der modernen Gesellschaft festgestellt werden. Anschließend gilt es zu überprüfen, ob Inklusionsbeziehungsweise Exklusionsgrad dem entsprechen, was sich die Adressaten vorstellen und anstreben oder gegebenenfalls den Vorstellungen der Adressaten entsprechend angepasst werden muss. Ergänzend ist zu erschließen, ob bestimmte Inklusionen oder Exklusionen vorliegen, welche von den Adressaten in Form einer Belastung wahrgenommen werden und darüber hinaus einer Veränderung bedürfen. Im Rahmen der SPFH sollen Adressaten daher bei ihrer Findung des eigenen Verhältnisses zur Gesellschaft Unterstützung erfahren. Die SPFH beschreibt dabei einen Prozess der Hilfe, der die Adressaten befähigt, auf die von ihnen benötigten sowie ihnen zustehenden Systemleistungen zuzugreifen. Dabei ist der Bezugspunkt für die Fachkraft immer die normative Vorstellung von gesellschaftlicher Teilhabe der Adressaten (vgl. Müller 2010, S. 219-220). 4 Individuelle Konzepte in der Sozialpädagogischen Familienhilfe 33 4 Individuelle Konzepte in der Sozialpädagogischen Familienhilfe [von Kohls/Nastola] Konzepte im Kontext der Sozialen Arbeit sind Handlungsmodelle, die Inhalte, Ziele, Methoden sowie Techniken sinnvoll miteinander verbinden. Methoden als unverzichtbare Teilaspekte von Konzepten beschreiben den im Voraus geplanten Verlauf des Hilfevorgehens. Techniken wiederum sind unverzichtbare Bausteine von Methoden. Sie geben Antworten auf Detailprobleme, welche während des methodischen Vorgehens entstehen können. So sind Konzepte der Sozialen Arbeit manchmal nicht genau von Methoden und Methoden nicht genau von Techniken zu unterscheiden. Darüber hinaus lassen sich in der Sozialen Arbeit drei Arten von Konzepten ausmachen. Das sind neben den Theoriekonzepten, wie Lebensweltorientierung auch Vor-Ort-Konzepte, beispielsweise spezielle Konzepte von Beratungsstellen und Praxiskonzepte, wie dem systemischen Ansatz in der Arbeit mit Familien (vgl. Uhlendorff/ Euteneuer/ Sabla 2013, S. 161-162). Für die SPFH im Speziellen ergibt sich eine weitere Unterscheidung von Konzepten, welche entweder einen umfassenden Geltungsanspruch für die Soziale Arbeit haben und damit auch das Arbeitsfeld der SPFH einschließen oder direkt auf die SPFH ausgerichtet sind (vgl. Gut 2014, S. 25). 4.1 In Bezug auf die Adressaten als Individuen [von Kohls/Nastola] In diesem Abschnitt der Arbeit werden exemplarisch zwei Konzepte vorgestellt, die einen Zugang zu den Adressaten als Individuen in der SPFH ermöglichen können. Im daran anschließenden Zwischenfazit wird die Bedeutung der vorgestellten Konzepte für die Betonung der Individualität der Adressaten herausgestellt. 4.1.1 Eltern-AG [von Nastola] Die Eltern-AG ist ein auf Prävention ausgerichtetes Programm zur Förderung der Erziehungskompetenz der Eltern auf dem Gebiet der frühen Erziehung sowie Bildung (vgl. Armbruster 2006, S. 230). 4 Individuelle Konzepte in der Sozialpädagogischen Familienhilfe 34 4.1.1.1 Merkmale In erster Linie richtet die Eltern-AG ihren Blick auf Eltern mit sozialer Benachteiligung, wie beispielsweise Armut, Migrationshintergrund, soziale Deprivation und Bildungsferne. Das Konzept ist durchgängig auf sämtliche Bereiche der Arbeit mit Eltern, hinsichtlich seiner Empowerment-Methodik, ausführbar. Darüber hinaus setzt die Eltern-AG einen wesentlichen Schwerpunkt auf die Menschen, die bereits Kinder im Alter zwischen null und sechs Jahren haben beziehungsweise erwägen, eine Familie zu gründen. Weiterhin ist diese Spezialisierung durch zwei Grundannahmen folgendermaßen gekennzeichnet. Einerseits geht man davon aus, dass die Eltern in der frühen Familienphase sehr aufgeschlossen gegenüber sämtlichen Interventionen, gerade im Umgang mit ihren Kindern, sind. Andererseits wird davon ausgegangen, dass innerhalb der ersten Jahre die menschliche Entwicklung im Zuge der Gehirnreifung am grundlegendsten bestimmt sowie geprägt wird (vgl. Armbruster 2006, S. 25-26). Weiterführend ist die Aktivierung des stetig gleichberechtigten Handelns der Eltern ein wesentliches Merkmal der Eltern-AG und öffnet somit einen Zugang zu bislang unbekannten Betrachtungsweisen, Handlungsmöglichkeiten wie auch Talenten. Aufgrund der alltäglichen Vorurteile und Muster sowie durch die negativen Kognitionen und Emotionen wird infolgedessen der Bereich Erziehung mithilfe der Fokussierung auf das Eltern-Kind-Thema von neuem reflektiert. Durch das in den Mittelpunkt rücken des Eltern-Kind-Themas werden Handlungs- und Wissensstrukturen neu organisiert und die Ausbildung von Kompetenzen einschließlich Selbstvertrauen gestärkt. Empowerment ist ein wichtiger Bestandteil, um implizites Lernen und ein Gespräch auf Augenhöhe zu ermöglichen. Beispielhaft hierfür ist, dass Eltern innerhalb der Gruppe anfangen, sich wechselseitig zu ermutigen. Dies braucht keine ausdrückliche Steuerung. Angesichts der ausgeprägten Reflektion des Elternseins wird ein Zugang zu neuen Rollen und Kompetenzen in den sozialen Stützsystemen sowie in der Erziehung und ebenso innerhalb der Familie geschaffen. Ferner hat die Eltern-AG den Leitgedanken des „Lernens durch Tun“, zudem ist die Eltern-AG ein diskursiver Gruppenansatz. Ebenfalls ein wesentlicher Punkt der Eltern-AG ist die gegenseitige Anerkennung und Gleichberechtigung der Personen untereinander, hier geht man generell davon aus, dass zwischen ihnen eine 4 Individuelle Konzepte in der Sozialpädagogischen Familienhilfe 35 sachliche Kommunikation erreichbar ist. Aufgrund dessen ist es möglich, dass in sämtlichen Angelegenheiten alle Eltern als eigenständige Personen Mitspracherecht haben, auch wenn es sich auf das Thema Erziehung bezieht. Randgruppeneltern wählen hinsichtlich ihrer tatsächlichen Lebenswelt sowie ihrer Lebensgeschichte eher angepasste und rationale Lösungen des Problems. Diese unterscheiden sich formell und auch inhaltlich von denen der Mittelschichtseltern. Die Abhängigkeit der Menschen von ihrer Umwelt und natürlich voneinander ist Grundlage für die Idee der Eltern-AG. Grundsätzlich wird allen Menschen zuerkannt, dass sie nach Ganzheit und Selbstverwirklichung streben. Jegliche Lebensentwürfe erscheinen einzigartig und subjektiv, da jedes Individuum sich seine eigene Wirklichkeit entwirft. Gleichwohl werden durch soziale und politische Umbrüche eben Eltern beziehungsweise Familien aus sozial benachteiligten Verhältnissen in ihren lebensnotwendigen Rechten beschnitten sowie an den gesellschaftlichen Rand gedrängt. Zuvorderst sind dafür Ausschlussprozesse der Gesellschaft ursächlich und nicht ihr spezifisches Versagen oder ihre eigenen Defizite. Dennoch ist jedes Individuum für sich und für die Gesellschaft verantwortlich. Ein zentrales Ziel der Eltern-AG ist es, den sogenannten Modernisierungsverlierern die Möglichkeit auf gesellschaftlicher Teilhabe zu bieten. Die Eltern-AG bestärkt die Eltern darin, sich konstruktiven Lösungen zuzuwenden. Außerdem ermutigt sie im Wesentlichen dazu, für die Kinder und für sich selbst Verantwortung zu übernehmen (vgl. Armbruster 2006, S. 29-31). 4.1.1.2 Adressaten Ausnahmslos jeder Mensch kann Adressat von Eltern-AG sein, also der beruflich mit Eltern zusammenarbeitet, der Kinder erzieht oder mit ihnen den Alltag bestreitet. Der Ansatz der Eltern-AG ist prädestinierter für die Arbeit mit Eltern, die einen geringeren Bildungsstand aufweisen und einkommensschwächer sind als die durchschnittliche Bevölkerung. Weitere Merkmale, die für eine Zusammenarbeit sprechen, sind unter anderem Eltern, denen nicht so viele Ressourcen zur Verfügung stehen, deren Wohnverhältnisse schlecht sind und deren Kinder oftmals Verhaltensauffälligkeiten sowie Entwicklungsdefizite aufweisen (vgl. Armbruster 2006, S. 32). Zudem wurden vier Zielgruppen für die Eltern-AG benannt. An erster Stelle steht die Zielgruppe der werdenden Mütter und/oder Väter, an zweiter die Eltern mit 4 Individuelle Konzepte in der Sozialpädagogischen Familienhilfe 36 Kindern im Krippenalter bis zu drei Jahren sowie die dritte Zielgruppe der Eltern mit Kindern im Kindergartenalter bis zu sechs Jahren und abschließend die Zielgruppe der Eltern mit Kindern im Schuleintrittsalter. Außerdem werden genauere Personenkreise in der Zielgruppe bestimmt. So richtet sich die ElternAG zum Beispiel gezielt an bildungsferne und sozial benachteiligte Familien wie auch an Familien, die aus Staaten stammen mit weniger guten politischen und sozioökonomischen Verhältnissen (vgl. Armbruster 2006, S. 233). 4.1.1.3 Ablauf Die Aktivitäten der Eltern-AG werden immer in zwei Teilabschnitte gegliedert, zum einen in die Vorlaufphase zur Eltern-Akquise und zum anderen in die Initial- und Konsolidierungsphase. Die Vorlaufphase dauert etwa 6 Wochen. Zu Beginn der Phase betreiben die zwei Mentoren eine Art Feldforschung. Anschließend werden Gespräche mit relevanten Multiplikatoren in der Region und im Stadtteil sowie mit wichtigen sozialen Institutionen geführt, welche die örtlichen Umgebungsbedingungen und die unterschiedlichen Gruppen der Bevölkerung sehr gut kennen. Diese potenziellen Kooperationspartner werden mit dem Eltern-AG-Programm vertraut gemacht. Um Zugangsbarrieren zu vermindern, werden in einem zweiten Schritt innerhalb der Eltern-Akquise die möglichen Adressaten der Eltern-AG direkt vor Ort angesprochen. Eine Vielzahl der Eltern haben negative Erfahrungen mit Schulen, Sozialarbeitern oder mit dem Jugendamt gemacht. Aufgrund des Gefühls der Unsicherheit und der Angreifbarkeit ist es vielen Eltern nicht möglich, sich an offizielle Stellen zu wenden. Durch ausgefallene Werbemaßnahmen, wie beispielsweise Mitmachangebote oder Stegreif-Theater, wird die Neugier der Eltern an einer möglichen Teilnahme geweckt. Weiterhin erfahren die Eltern, dass die Eltern-AG streng vertraulich und kostenfrei ist. Wenn zehn Eltern die Kriterien einer bestimmten Zielgruppe erfüllen, wie beispielsweise Migrationshintergrund, soziale Benachteiligung oder Bildungsferne, so kann umgehend mit der Bildung der Eltern-AG-Gruppe begonnen werden. Daraufhin folgt ein Gespräch zwischen den Mentoren und der neuen Gruppe, in dem der zukünftige Treffpunkt festgelegt wird. Von fremden Umgebungen und langen Fahrzeiten zum Treffpunkt soll Abstand genommen werden, da es den Eltern der Gruppe unter Umständen Angst macht beziehungsweise es mit einem erhöhten Zeitaufwand verbunden ist. Außerdem wird den Eltern das Angebot unterbreitet, die Kinder während der 4 Individuelle Konzepte in der Sozialpädagogischen Familienhilfe 37 Treffen betreuen zu lassen. Ferner werden Eltern, die keiner Zielgruppe angehören, über weitere Angebote in Kenntnis gesetzt und zu einem Schnuppertermin in einer anderen Elternschule begleitet. Die Initial- und Konsolidierungsphase besteht aus 20 Treffen der Eltern-AGGruppe. Jedes Treffen setzt sich zusammen aus je zwei Gruppenstunden à 45 Minuten. Vorbereitet und geleitet wird die Eltern-AG von zwei Mentoren. Hier wird aus Gender-Gesichtspunkten darauf geachtet, dass möglichst ein Mann und eine Frau die Anleitung übernehmen. Dies soll als Modell dienen und eine Vater- und Mutteridentifikation zulassen. Zudem werden durch die Mentoren unter Beachtung der datenschutzrechtlichen Aspekte alle Treffen der Eltern-AG dokumentiert und evaluiert. Mit der Initialphase beginnt die Eltern-AG, diese umfasst zehn Treffen. Die Initialphase hat ihre Schwerpunktlegung klar in der Förderung einer Gruppenidentität, der Herausbildung von geordneten Abläufen innerhalb der Gruppe, wie auch die Bearbeitung von Gruppen- und Erziehungsregeln. Inhaltlich richten sich die Treffen allumfassend an den Bedürfnissen sowie den Interessen der Eltern aus. Daneben übernehmen die Mentoren eine begleitende Rolle auf Augenhöhe, damit zwischen den Eltern ein Austausch angeregt wird. Hier ist zu bemerken, dass die Eltern in der Initialphase noch sehr stark von den Anweisungen der Mentoren abhängig sind, mehr noch als in der Konsolidierungsphase. Diese Anweisungen sind wesentlich für die Strukturierung und die Rahmung des dreigliedrigen Ablaufes der Eltern-AG. Die Konsolidierungsphase umfasst weitere zehn Treffen, in denen bei gleicher Strukturierung die Möglichkeit besteht, dass die Eltern die Art und Weise der Treffen mehr und mehr in ihre eigenen Hände nehmen. Sie können somit ihre neugewonnenen Erfahrungen der ersten zehn Treffen dafür nutzen, mehr Verantwortung für die Gruppe zu übernehmen. Davon ausgehend dient diese Vorbereitung dazu, die Eltern-AG-Gruppe nach Beendigung der zwanzig Treffen eigenständig weiterzuführen. Darüber hinaus werden außerdem weitere Angebote, wie zum Beispiel Feste und Ausflüge, Spielenachmittage mit den Kindern sowie Aktionstage, auf Wunsch der Eltern durchgeführt. Abschließend fertigen die Mentoren nach den 20 Treffen einen Abschlussbericht an. Inhaltliche Punkte sind in diesem Bericht der Ort, Teilnehmerzahl, Verlauf der Eltern-AG, Ergebnisse sowie Empfehlungen aber auch Reflexion, Hinweise 4 Individuelle Konzepte in der Sozialpädagogischen Familienhilfe 38 bezugnehmend auf die Nachhaltigkeit, Vernetzungsaspekte und die geplanten Aktivitäten im Anschluss der Maßnahme (vgl. Armbruster 2006, S. 37-39). 4.1.1.4 Zeitliche Einordnung Die Frage nach der zeitlichen Einordnung kann wie folgt beantwortet werden. Die Eltern-AG ist nicht in eine andere umfangreiche Maßnahme integriert beziehungswiese eingeflochten, sondern ein eigenständiges Projekt. Da die Eltern-AG in einzelnen Schritten abläuft, findet sie in einem zeitlichen Rahmen, mit Beginn der Vorlausphase bis zum Ende der 20 Treffen der Eltern-AG-Gruppe, von circa 6 Monaten statt. Die Mentoren übernehmen mit Beendigung der Eltern-AG die Patenschaft für die sich verselbständigte Gruppe der Eltern (vgl. Armbruster 2006, S. 231). 4.1.1.5 Vorteile und Chancen In erster Linie kann man festhalten, dass mittels der besonderen Methodik und der Elternwerbung die Eltern-AG ihre angestrebte Zielgruppe uneingeschränkt erreicht. Der wesentlichste Vorteil der Eltern-AG ist es, dass der Ansatz auf sämtliche Bereiche einer niedrigschwelligen sowie nachhaltigen Erziehungs- und Elternarbeit übertragbar ist. Die enorme Bandbreite des Anwendungsgebietes des Konzeptes erstreckt sich von der Erziehung und frühen Bildung bis hin zur Elternarbeit in der Berufsschule oder Sekundarstufe II. Ein weiterer Vorteil ist es, dass nicht nur sozial benachteiligte Eltern die Adressaten der Eltern-AG sind, die von den Empowerment-Techniken profitieren können, sondern auch alle anderen Eltern. Ferner kann das Konzept auf verschiedene Fragestellungen und verschiedene Altersgruppen übertragen werden (vgl. Armbruster 2006, S. 240241). Durch die gewichtigen Vorteile des Eltern-AG-Konzeptes ergeben sich unterschiedlichste Chancen für die Adressaten. Durch die verschiedenen Methodiken können die Eltern lernen, ruhiger mit ihren Kindern umzugehen, weiterhin treten dadurch weniger Konflikte beziehungsweise Reibungen zwischen den Kindern und ihnen auf. Letztendlich ist zu konstatieren, dass die Adressaten durch die Nutzung ihrer Möglichkeiten eine andere Wahrnehmung erlangen und damit Veränderungen erkennen. Sie erleben sich kompetenter als in der Vergangenheit und können anderen Personen und sich selbst Hilfe geben (vgl. Armbruster 2006, S. 240). 4 Individuelle Konzepte in der Sozialpädagogischen Familienhilfe 39 4.1.2 Dialogisches ElternCoaching [von Kohls] Dialogische ElternCoaching und Konfliktmanagement zielt darauf ab, Eltern in ihren Erziehungs-, Sorge- und Förderaufgaben gegenüber ihren Kindern zu stärken und zu unterstützen. Anwendung findet dieses Bildungskonzept für Eltern und Fachkräfte besonders in den Bereichen der ambulanten und stationären Hilfe zur Erziehung aber auch in der Familien- und Erziehungsberatung, Familienbildung, Kindertageserziehung, oder in den frühen Hilfen (vgl. Wolff/ Stork 2012, S. 8). 4.1.2.1 Merkmale Das von Reinhard Wolff entwickelte Konzept Dialogisches ElternCoaching und Konfliktmanagement ist das Ergebnis Jahrzehnte langer Forschung und Praxis. Im Mittelpunkt des Interesses stand dabei neben den Fragen zur allgemeinen Erziehung, vor allem die Frage nach einer gewaltfrei und respektvoll gelingenden Beziehung von Eltern und Kindern. Dem folgend ist ElternCoaching eine von vielen Antworten Wolffs auf die Frage nach der Gestaltung eines gelingenden Miteinanders in unserer modernen Gesellschaft. Grundlage seiner Arbeit ist dabei stets die Sichtweise auf den Menschen an seinen sozialen Orten mit seinen je spezifischen Logiken (vgl. Müller 2009, S. 105). Wobei in der heutigen Zeit das Mikro-System jeder Familie umringt ist von diversen professionellen MesoSystemen, wie etwa schulischer Bildung oder den verschieden professionellen Beratungsarrangements, und politisch-ökonomischen sowie kulturellen MakroSystemen im nahen oder entfernteren Umfeld. Daraus ergibt sich einer der grundlegendsten Eckpunkte des Konzepts des Dialogischen ElternCoachings und Konfliktmanagements, nämlich die Grundannahme, dass Erziehungskompetenz ein komplexes Gefüge aus sozialen und personalen Fähigkeiten ist und alle Eltern, wenn auch nicht immer allumfassend, über diese verfügen (vgl. Wolff/ Stork 2012, S. 20-22). Darüber hinaus ist Elternkompetenz nicht nur ein personengebundenes Konstrukt, sondern zeigt sich vielmehr in den tatsächlichen sozialen Zusammenhängen und ist so an Motivationen und vor allem Beziehungen gebunden. Somit ist sie als ein implizites Wissen zu verstehen (vgl. Wolff/ Stork 2012, S. 14). Aus diesem Grund steht Elternbildung im allgemeinen und das Konzept Dialogisches ElternCoaching und Konfliktmanagement im Besonderen vor der Aufgabe, die Kompetenzen, Ideen 4 Individuelle Konzepte in der Sozialpädagogischen Familienhilfe 40 und Wünsche der Eltern zu ergründen, sie hervorzuheben und sie so nutzen zu können. Dadurch wird es möglich, dass die Familie etwas von der Fachkraft lernt, aber gleichzeitig die Fachkraft andersherum auch etwas von der Familie lernt. Dabei soll es nicht wie sonst üblich so sein, dass Experten eines Fachbereiches die Eltern beraten, bilden oder fördern geschweige denn belehren, sondern das Professionelle Fachkräfte und Eltern, oft Klienten der Kinder- und Jugendhilfe, Lerngemeinschaften bilden. Diese werden von neutralen und unabhängigen Fachkräften des Coachings begleitet. Die dadurch entstehende Triangulation wirkt sich entwicklungsfördern auf den Prozess des Dialogischen ElternCoachings und Konfliktmanagements aus. Das Konzept ist also darauf ausgelegt, dass alle Beteiligten ihre Erfahrungen und Fertigkeiten einbringen können und damit im Wechsel sowohl Lehrende als auch Lernende sind. Das Dialogische ElternCoaching und Konfliktmanagement folgt dabei den drei Grundorientierungen Dialog-Prinzip, demokratische Erziehung und der ökologischen Entwicklungsförderung. Das Dialog-Prinzip ist dabei ein essentielles Merkmal der kommunikationstheoretischen Grundausrichtung des Konzeptes. Dem DialogPrinzip zur Folge, ist der gesamte kommunikative Kontext frei von jeglicher Bewertung und kategorialer Beurteilung (vgl. Wolff/ Stork 2012, S. 21-23). Anders formuliert, der Dialog ermöglicht als methodisches Kernstück des Konzeptes eine vorurteilsfreie Begegnung von Individuen ohne die Unterscheidung in Weiterbildungsteilnehmer und Leiter beziehungsweise Trainer oder gar Klient und Professioneller, also der Dialog in einer Ich-Du-Beziehung geführt werden kann. So entsteht im Dialog ein neuer Möglichkeitsraum, soziale Verhaltensweisen umzugestalten und in Verbindung mit einer beständigen Anpassung neue Sachlagen entstehen zu lassen (vgl. Müller 2009, S. 106-107). Das Ziel des Dialog-Prinzips ist es also, durch die Einbindung der externen Fachkräfte des Coachings einen Möglichkeitsraum für Eltern und Fachkräfte zu schaffen. Dieser offene Dialog ermöglicht einen gemeinsamen Neuanfang durch die eigene Selbstveränderung. Denn so kann es gelingen, neue Wege der erfolgreichen Förderung und Unterstützung sowie Bildung und Erziehung der Kinder zu beschreiten. Von zentraler Bedeutung für die Ausrichtung des Konzeptes entlang einer demokratischen Erziehung ist die Annahme, dass zunächst einmal alle Beteiligten 4 Individuelle Konzepte in der Sozialpädagogischen Familienhilfe 41 Subjekte im demokratischen Rechtsstaat und Träger von Menschenrechten sind. In diesem Rahmen sind bestimmte Rechte und Pflichten von Kindern und Erwachsen verankert. Das ist für das Dialogische ElternCoaching und Konfliktmanagement insofern von Bedeutung, weil diesen Rechten und Pflichten neben der Partnerschaft, dem Dialog und der Aushandlung abweichender Interessen und Sichtweisen eine hohe Beachtung und Wertschätzung zuteilwird. Demokratische Erziehung meint in diesem Kontext, dass alle Fragen, Wünsche und Bedürfnisse von Kindern, Erwachsenen sowie der Gesellschaft gesehen, verstanden und anerkannt werden, um danach kritisch beantwortet zu werden. Es muss sich also von der allgemein gültigen Annahme frei gemacht werde, dass Autoritätskonflikte zwischen Eltern und Kindern stets aus fehlender Grenzsetzung resultieren und vielmehr in Betracht gezogen werden, dass sie auch Ergebnis der autoritären Erwartungen an das zu gehorchen habende Kind ist. Mit der ökologischen Entwicklungsförderung wird der Fokus auf die gemeinsame Analyse der familialen Umwelten und den Übergängen zwischen ihnen und der Familie gelegt. Von handlungspraktischen Ratschlägen abstandnehmend werden Unterstützungspartner gesucht, Übergänge geplant und die Gestaltung innerfamilialer und extra-familialer Umwelten gefördert (vgl. Wolff/ Stork 2012, S. 24-28). Damit ist das Dialogische ElternCoaching und Konfliktmanagement als ein Konzept zu sehen, welches methodisch zwischen Unterrichten und Lehren auf der einen Seite und Beratung und Therapie auf der anderen Seite zu verorten ist, den Eltern so zur Weiterentwicklung des Verständnisses für das eigene Verstehen und das Verstehen der Anderen verhelfen kann und damit die Förderung der SelbstEntdeckung betont (vgl. Wolff/ Stork 2012, S. 32). Insgesamt versteht sich das Dialogische ElternCoaching und Konfliktmanagement als eine Möglichkeit der Weiterentwicklung der Elternarbeit und ganz besonders der Elternbildungsarbeit im Bereich der Hilfe zur Erziehung. Die Anwendung des Konzepts ist aber auch in anderen Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit möglich und erwünscht (vgl. Wolff/ Stork 2012, S. 115). 4 Individuelle Konzepte in der Sozialpädagogischen Familienhilfe 42 4.1.2.2 Adressaten Da das Konzept versucht, Themen der Kinder- und Jugendhilfe, sowie es für Coachings im allgemeinen gültig ist, in Werkstätten zu behandeln, richtet sich das Konzept in erster Linie an Eltern, welche Leistungen der Kinder- Jugendhilfe in Anspruch nehmen (vgl. Müller 2009, S. 107). Gerade in Familien in sozial benachteiligten Lebenslagen und akuten Konflikten sowie Krisen sehen sich Eltern vermehrt der Aufgabe gegenüber, gleichzeitig mit mehreren professionellen Fachkräften arbeiten zu müssen. Deshalb sieht das Konzept Dialogisches ElternCoaching und Konfliktmanagement vor, möglichst all diese professionellen Fachkräfte aus den unterschiedlichsten Bereichen für ein gemeinsames Coaching zu begeistern (vgl. Wolff/ Stork 2012, S. 22). Somit ist es von besonderer Wichtigkeit, dass bereits im Vorfeld ein Gespräch zwischen den Eltern und Fachkräften des ASD sowie Fachkräften der freien Träger geführt wird (vgl. Müller 2009, S.107). Die Fachkräfte des Coachings organisieren nach diesem Gespräch den kommunikativen Raum der jeweiligen Werkstätten, in denen in der Regel zwischen 30 und 35 Beteiligte in einer Lerngruppe zusammenarbeiten (vgl. Wolff/ Stork 2012, S. 33). Damit können Eltern im Rahmen ihrer Lerngruppe von und mit anderen Eltern, den diversen Fachkräften und den Fachkräften des Coachings lernen und umgekehrt (vgl. Wolff/ Stork 2012, S. 22). 4.1.2.3 Aufbau Das Dialogische ElternCoaching und Konfliktmanagement besteht aus vielen einzelnen Werkstätten. Dabei ist der Katalog nicht abgeschlossen, sondern kann durch im Coaching neu entstehende Inhalte und Schwerpunkte sowie deren Bearbeitung ergänzt werden (vgl. Müller 2009, S. 108). Die schon beschriebenen Lerngemeinschaften werden in diesen Werkstätten von den Fachkräften des Coachings entlang des entwickelten Materials auf den unterschiedlichen methodischen Ebenen angeleitet. Gleichzeitig vermitteln sie die notwendigen wissenschaftlichen Erkenntnisse, stellen Forschungsergebnisse anschaulich vor und erklären deren Relevanz, um für ein genaueres Verständnis in familialen Erziehungs- und Beziehungsfragen der Beteiligten zu sorgen. Im Folgenden werden nun wesentliche Werkstätten kurz vorgestellt (vgl. Wolff/ Stork 2012, S. 33). Üblicherweise beginnt das Elterncoaching mit der Elternwerkstatt. Häufig und zur großen Überraschung der Eltern geht es damit erst einmal nicht um die Kinder, 4 Individuelle Konzepte in der Sozialpädagogischen Familienhilfe 43 sondern um sie (vgl. Wolff/ Stork 2012, S. 37). Elternwerkstatt bietet den Teilnehmern die Möglichkeit, ihre eigene Familie zu entschlüsseln und darzustellen (vgl. Müller 2009, S. 108). So wird den Fragen nachgegangen, welche Fähigkeiten und Stärken sie haben, welche Pläne, Hoffnungen und Lebensziele sie antreiben und wo sie ihre Wurzeln haben. Kurz gesagt, wer sie sind und was sie sein wollen. Dazu bedient sich die Elternwerkstatt verschiedener Methoden der Biografiearbeit, der Familienbildungsarbeit und der systemischen Familienberatung (vgl. Wolff/ Stork 2012, S. 37). Oft fertigt jeder Teilnehmende, nach einer allgemeinen Einführung in die Genogrammarbeit, ein drei Genrationen umfassendes Familienschaubild der eigenen Familie an. Jenes bietet neben allgemeinen Strukturelementen der Familie auch einen Einblick in die Beziehungsmuster der Familienmitglieder untereinander. Mit Hilfe des erstellten Schaubildes wird dann den anderen Teilnehmenden die eigene Familie vorgestellt. Eine weitere Methode ist die Fotoanalyse, bei der Familienfotos analysiert werden. Durch Fotos der Eltern können häufig Vermächtnisse ausgemacht werden, welche die Eltern in ihre neue eigene Lebensgemeinschaft tradiert haben. Die Gefahr dieser Tradierung besteht aber darin, auch Ungeeignetes zu übernehmen, was einer produktiven Entwicklung der Familie im Wege steht. Beide Methoden zielen darauf ab, die eigene Kindheitsgeschichte zu ergründen. Untermauert wird dieser Prozess durch den vor Beginn des Dialogischen ElternCoachings und Konfliktmanagements von allen Teilnehmenden verfassten Mikroartikel. In Form einer Geschichte sollen die Teilnehmenden eine präsente Situation oder ein präsentes Thema ihrer Kindheit aufschreiben und die sich für sie daraus ergebenden Erkenntnisse und Schlussfolgerungen notieren. Der Mikroartikel wird dann im Verlaufe der Elternwerkstatt der Gruppe vorgetragen und mit ihr gemeinsam analysiert. Darauf folgt eine Erweiterung des Blickwinkels auf die Umwelt der Familie. Mittels einer Umwelt-Karte kann das soziale Netzwerk der Teilnehmenden veranschaulicht werden und Eigeneinschätzung der Beziehungsqualitäten vorgenommen werden. Auf der Basis der aufgezeigten Lebenszusammenhänge und Ressourcen der Familie kann der individuelle Entwicklungsbedarf so konkretisiert und formuliert werden (vgl. Müller 2009, S. 108-110). Durch die vielfältigen analytischen, verhaltenstherapeutischen, systemischen und anderen Orientierungen in der Elternwerkstatt ist eine multiperspektivische Förderung der Eltern möglich (vgl. 4 Individuelle Konzepte in der Sozialpädagogischen Familienhilfe 44 Wolff/ Stork 2012, S.38). Erfahrungen haben gezeigt, dass sich schon während der Elternwerkstatt erste Veränderungen in der Eltern-Kind-Beziehung und der Erziehungspraxis zeigen, ohne dass diese eine Thematisierung erfährt (vgl. Wolff/ Stork 2012, S. 37). Folglich ist das Ziel der Elternwerkstatt, dass durch das Erkennen des Familienproblems das Wohl des Kindes und der Familie gesichert werden kann, sehr realistisch (vgl. Müller 2009, S. 110). Das Kinderentwicklungslabor ist ein weiteres Beispiel für die Fülle an Werkstätten. Hauptaugenmerk liegt hier jedoch auf den Kindern. Durch die bereits im Kontext der Elternwerkstatt erwähnte Fotoanalyse, aber vor allem durch die Entwicklung des sogenannten – Buch der Stärken – gelingt es einen neuen Blick auf die Kinder zu bekommen. Wie der Name schon vermuten lässt, sollen die Stärken des Kindes benannt, beschrieben und im Buch festgehalten werden (vgl. Müller 2009, S. 110). Es geht also im ersten Schritt des Kinderentwicklungslabors um das Erlernen eines neuen, wertfreien und offenen Blicks auf die Kinder, um dann gezielt ihre Stärken hervorheben zu können und ein Verständnis für die kindliche Entwicklung zu schaffe, um sie zu jeder Zeit adäquat begleiten zu können (vgl. Wolff/ Stork 2012, S. 59). Durch diese Ressourcenanalyse der Fachkräfte wie Eltern wird so ein Perspektivwechsel ermöglicht, weg von zumeist als defizitär attribuierten Kindern hin zu starken Kindern mit positiver Entwicklung (vgl. Müller 2009, S. 110). Methodisch schließt das Kinderentwicklungslabor an die Elternwerkstatt an. Es werden Chancen der multilateralen Arbeit in Klein- und Großgruppen genutzt therapeutischen Arbeit und mit Methoden Methoden der der sozialpädagogischen Bildungsarbeit kombiniert. und Im Kinderentwicklungslabor sind die Fachkräfte neben selbständig Lernenden hauptsächlich Lernbegleiter der Eltern. Auch die Eltern nehmen eine Doppelrolle ein, in welcher sie Lernende sind, aber zeitgleich eine beratende Rolle gegenüber den anderen teilnehmenden Eltern einnehmen. Eine ganz spezielle Perspektive auf Eltern und Kinder bietet das Konfliktmanagement. Besonders Eltern-Kind-Beziehungen, aber auch diverse andere Generationsbeziehungen sind häufig geprägt von unterschiedlichen Interessen, Wünschen, Absichten und gegensätzlichen Erwartungen, die nicht selten zu Spannungen und Konflikten führen. Vor allem bei steigender oder dauerhafter Konflikterfahrung nimmt die Bewältigungsfähigkeit der Konfliktpersonen kontinuierlich ab. Genau da setzt das Konfliktmanagement an 4 Individuelle Konzepte in der Sozialpädagogischen Familienhilfe 45 und verfolgt im Wesentlichen drei Ziele. Das erste Ziel ist es, den Eltern zu einer differenzierten und offenen Wahrnehmung ihrer Konflikte zu verhelfen. Sprich, eine Unterscheidung der Konflikte in eigene, derer der Kinder und gemeinsame vorzunehmen. Dann wird mit den Eltern geübt, wie es ihnen gelingen kann, bestehende und entstehende Konflikte zu minimieren, zu meistern und sie produktiv zu nutzen. Damit werden die Eltern dann letztlich dazu befähigt, fortwährend präsent zu sein ohne aus der Situation zu flüchten, um so ihrer Verantwortung als Mutter oder Vater umfassend gerecht zu werden (vgl. Wolff/ Stork 2012, S. 95). Hilfreich sind in diesem Kontext oft Rollenspiele, da die eigenen Konfliktsituationen thematisiert werden können und sich gleichzeitig die Möglichkeit ergibt, in der Situation gemeinsam nach neuen Handlungsmöglichkeiten zu schauen (vgl. Müller 2009, S. 110). Alternativ dazu wird häufig auch das offene Gespräch als Arbeitsform gewählt. Das heißt, dass ein Teilnehmer eigene aktuelle Konflikte der Gruppe beschreibt, die zunächst die ersten Eindrücke sammelt und eventuell noch Nachfragen stellt, bevor der Konfliktfall systematisch aufgearbeitet wird und daran anschließende mögliche Lösungswege diskutiert werden (vgl. Wolff/ Stork 2012, S. 96). Gerahmt werden diese drei vorgestellten Werkstätten von der Elternuniversität, in der wissenschaftliche Erkenntnisse der elementaren Themen der Elternbildung und dieser drei Werkstätten vermittelt werden (vgl. Müller 2009, S. 111). Konkret bedeutet das, dass den Eltern und sozialpädagogischen Fachkräften durch Spezialisten unterschiedlichster Gebiete, Hintergrundwissen sowie die aktuellsten Erkenntnisse vermittelt und erklärt werden. Dabei soll das gemeinsame Studium in Verbindung mit einem regen Erfahrungsaustausch zu neuartigen Handlungsorientierungen führen, die eine bessere Vernetzung der kollektiven Arbeit realisierbar macht. Die thematischen Schwerpunkte werden zum einen von den Teilnehmenden Übersichtsvorträge selbst und bestimmt, vertiefende aber Gespräche auch durch ergänzt. Es allgemeine wird auf Grundprobleme der heutigen Erziehungsarbeit aufmerksam gemacht und historische Entwicklungslinien vorgestellt. Die Elternuniversität ist als innovativer Ansatz der Erwachsenenbildung daher methodisch interaktiv, dialogisch und kommunikativ aufgestellt (vgl. Wolff/ Stork 2012, S. 88-90). Eine besondere Beachtung erfahren Eltern, die Hilfe zur Erziehung beanspruchen, in der Werkstatt für Familienhilfe. Auf der Grundlage aller bereits erarbeiteten 4 Individuelle Konzepte in der Sozialpädagogischen Familienhilfe 46 Materialien wird noch einmal die jeweilige Familiensituation betrachtet und der eigene Entwicklungsbedarf eingeschätzt. Dafür wird ein Entwicklungskalender angefertigt, in dem selbständig von den jeweiligen Teilnehmenden eingeschätzt wird, was sie ändern wollen, was dafür getan werden muss und in welchem zeitlichen Rahmen das Ziel erreicht werden soll. Der Dialog eröffnet damit einen neuen Möglichkeitsraum für die Familie, der Veränderung wieder vorstellbar werden lässt und neue Entwicklungen anstößt (vgl. Müller 2009, S. 112). 4.1.2.4 Zeitliche Einordnung Das Dialogische ElternCoaching und Konfliktmanagement ist ein zeitlich anspruchsvolles Konzept. Die Teilnahme an den Werkstätten dauert meist über ein Jahr hinaus. Dabei ist es wichtig zu betonen, dass die Zeiten der Werkstätten als Auszeiten vom hektischen Alltag verstanden werden, in der experimentiert, studiert, nachgedacht und neuen Leuten offen begegnet werden kann. Vor allem in Bezug auf die Erziehung und Entwicklung der eigenen Kinder ist ein antizipiertes und zukunftsorientiertes Denken besonders wertvoll. Deshalb wird in vielen Fällen mit Beginn dieses Konzeptes erarbeitet, was in einem Jahr erreicht werden möchte. Das erlaubt es, nach dem Jahr einen guten Abschluss in der Beantwortung der Fragen zu finden, wie es gelungen ist, die Ziele zu erreichen und wer sie dabei unterstützt hat (vgl. Wolff/ Stork 2012, S. 34-36). 4.1.2.5 Vorteile und Chancen Die Begegnung auf gleicher Augenhöhe wird durch Anerkennungsarbeit auf drei Ebenen bewirkt. Zunächst wird positionale Anerkennungsarbeit geleistet durch den vorurteilsfreien Blick auf den Menschen in seinen sozialen Milieus und den damit einhergehenden Sichtweisen sowie seinen jeweiligen sozialen Orten. Darüber hinaus ist dann die moralische Anerkennungsarbeit leistbar. Verstanden wird darunter die erlebte moralische Gleichberechtigung, zum Beispiel bei der Ideenfindung von Konfliktlösestrategien. Zuletzt bleibt noch, die emotionale Anerkennungsarbeit hervorzuheben, die darin besteht, die Menschen in ihrer Individualität zu akzeptieren und wertzuschätzen (vgl. Müller 2009, S. 113). Die dadurch möglich werdende partizipatorische Zusammenarbeit von Eltern und Fachkräften erlaubt es, die häufige Einseitigkeit der Hilfebeziehungen zu überwinden und eine Erziehungs- und Bildungspartnerschaft aufzubauen (vgl. Wolff/ Stork 2012, S. 115). Der im Dialog geschaffene Möglichkeitsraum bietet 4 Individuelle Konzepte in der Sozialpädagogischen Familienhilfe 47 dann die Chance einer offenen Begegnung und eines geleichberechtigten Geben und Nehmens aller Teilnehmenden (vgl. Wolff/ Stork 2012, S. 16). Solche mehrseitigen, offenen Lernarrangements profitieren und fördern zugleich die Interund Multiprofessionalität der Sozialen Arbeit (vgl. Wolff/ Stork 2012, S. 115). Daher ist das Dialogische ElternCoaching und Konfliktmanagement aufgrund der dialogischen Arbeitsweise und der Anerkennungsebenen ein Konzept gelebter Demokratie (vgl. Müller 2009, S. 113). Aus der kommunikativen Mannigfaltigkeit heraus entsteht eine Vielfalt von Handlungs- und Verstehensmöglichkeiten, die die Chance, in Konflikten Lösungen zu finden, die allen Familienmitgliedern gerecht werden, erhöht (vgl. Wolff/ Stork 2012, S. 27-35). Die Erfahrung der Gegenseitigkeit auf Augenhöhe wiederrum verhilft den Eltern zu einem neuen Rollenverständnis gegenüber den Fachkräften (vgl. Wolff/ Stork 2012, S. 116). Es entsteht so ein geeigneter Rahmen, der es auch erlaubt über Ratlosigkeit zu sprechen. Nicht nur die Eltern können ihr Unverständnis kundtun, sondern auch Fachkräfte ihre Ratlosigkeit in bestimmten Situationen eröffnen (vgl. Müller 2009, S. 108). Zusammengefasst ergibt sich aus dem Konzept die Chance, zum einen die Routinen im Alltag zu hinterfragen und zum anderen, die entstandenen Strukturen von Nähe und Distanz in der Zusammenarbeit aufzubrechen. Gleichzeitig wird der Netzwerkausbau gefördert, sowie die Organisationsstrukturen weiterentwickelt und miteinander verknüpft (vgl. Wolff/ Stork 2012, S. 115). 4.1.3 Zwischenfazit [von Kohls/Nastola] Die im Unterkapitel – Adressaten und ihre Lebenswelt – des dritten Kapitels vorgestellten Bezugspunkte der Lebensweltorientierung in der Sozialen Arbeit, erfahrene Zeit, erfahrener Raum und die sozialen Bezüge werden von den soeben vorgestellten Konzepten unterschiedlich aufgegriffen. So entscheiden die Adressaten der Eltern-AG zum Beispiel selbständig über Zeit und Ort der Gruppentreffen, so dass sie sich wohlfühlen können und es zu ihren individuellen Tagesabläufen passt. Darüber hinaus bietet die spezifische Zielgruppenausrichtung einen niedrigschwelligen Zugang für die Adressaten. Damit ist gemeint, dass beispielsweise für Zielgruppen, bestehend aus Adressaten mit Migrationshintergrund, kulturell bedingt oft ähnliche Begründungszusammenhänge für bestimmte Lebenssituationen wie Schulzeit, 4 Individuelle Konzepte in der Sozialpädagogischen Familienhilfe 48 Partnerschaft et cetera bestehen und dadurch schon eine gemeinsame Basis für die Zusammenarbeit gegeben ist. Der erfahrene Raum und die sozialen Bezüge werden im Konzept des Dialogischen ElternCoaching insoweit betont, dass die positionale Anerkennungsarbeit in Form einer vorurteilsfreien Arbeitsweise mit dem wertfreien Blick auf die Adressaten in ihren sozialen Bezügen an ihren sozialen Orten grundlegend ist und damit der Respekt vor ihrer Alltäglichkeit gewahrt wird. Weiter bekommen die Fachkräfte sowie die Adressaten jeweils eine neue Zuschreibung, weg von der Helfer-Adressaten-Beziehung hin zu einer Erziehungs- und Bildungspartnerschaft. Durch die neuen kommunikativen Möglichkeitsräume im Dialog eröffnet sich somit auch die Möglichkeit, eine neue Struktur von Raum, Zeit und sozialen Bezügen selbständig zu entwickeln, die allen Familienmitgliedern gerecht wird. Schlussendlich ermöglichen beide Konzepte die Routinen im Alltag aufzubrechen, und den Aufbau eines stabilen sozialen Netzwerkes zu fördern. 4.2 In Bezug auf die Adressaten in ihren spezifischen sozialen Milieus [von Kohls/Nastola] In diesem Abschnitt der Arbeit werden exemplarisch drei Konzepte vorgestellt, die einen Zugang zu den Adressaten in ihren spezifischen sozialen Milieus ermöglichen. Dabei ist die Auswahl dieser an der außerordentlichen Bedeutung der Familie als Herkunftsmilieu ausgerichtet. Im anschließenden Zwischenfazit wird die jeweilige Betonung der außerordentlichen Bedeutung von Familie als Herkunftsmilieu durch die vorgestellten Konzepte herausgearbeitet. 4.2.1 Familienrat [von Kohls/Nastola] Der Familienrat, auch als Family Group Conference bezeichnet, stammt ursprünglich aus Neuseeland und beschreibt ein Entscheidungsfindungsverfahren für Familien (vgl. Früchtel/ Straub 2011, S. 49). 4.2.1.1 Merkmale Grundgedanke des Familienrates ist es, die Partizipationsmöglichkeiten in der Kinder- und Jugendhilfe zu erhöhen und gleichzeitig mit einem hohen Grad an Flexibilität anschlussfähig an die diversen Familienkonstellationen mit ihren 4 Individuelle Konzepte in der Sozialpädagogischen Familienhilfe 49 unterschiedlichen Handlungs- und Lebenskonzepten zu sein. Dabei beschreibt der Familienrat ein Verfahren zur aktiven Beteiligung von Familien an der Hilfeplanung sowie Entscheidungsfindung. Darüber hinaus sieht ein Familienrat auch eine Aktivierung und Beteiligung des sozialen Netzwerkes im Hilfeplanungsprozess für Kinder, Jugendliche und ihre Familien vor und begünstigt so eine lebensweltorientierte Arbeitsweise der Fachkraft. Jedoch ist das Verfahren des Familienrates nicht als eigenständige Hilfe zur Erziehung zu sehen. Aufgrund des enorm hohen Beteiligungsgrades der Familie an der Lösung ihrer Problemlagen und Konflikte, erfährt die Familie eine besondere Form der Wertschätzung und Bestärkung und motiviert sie zumeist nachhaltig. Kurzum ist der Familienrat ein universell einsetzbares Verfahren mit dem Ziel der Aktivierung des sozialen Netzwerks der Familie, um durch adressatenzentrierte Hilfepläne für Entlastung zu sorgen (vgl. Bandow u.a. 2011, S. 9-10). 4.2.1.2 Adressaten Das Konzept des Familienrates stützt sich auf die Grundannahme, dass nur die Familie selbst die eigentliche Fachkraft für diese sein kann. Darüber hinaus geht das Verfahren davon aus, dass mit Unterstützung des Netzwerks und gegebenenfalls einer professionellen Fachkraft jede Problem- und Konfliktsituation lösbar ist. Des Weiteren geht das Konzept davon aus, dass jede Familie ein Netzwerk hat, was zwangsweise nicht nur ausschließlich Verwandtschaft umfassen muss. Denn als Ressourcenträger im Netzwerk können auch Eltern von Freunden der Kinder, Nachbarn, Gemeindemitglieder oder sogar Arbeitgeber verstanden werden. Aus diesen Gründen lassen sich keine speziellen Adressatengruppen für den Familienrat bestimmen. Besonders gut können jedoch Familien die Hilfeform des Familienrats annehmen, welche mit den bewährten Hilfen kaum zu erreichen sind oder anderen Kulturkreisen entstammen (vgl. Bandow u.a. 2011, S. 20-21). 4 Individuelle Konzepte in der Sozialpädagogischen Familienhilfe 50 4.2.1.3 Ablauf Die Organisation des Rates übernimmt die Familie mit Unterstützung eines Koordinators oder einer Koordinatorin, im weiteren Verlauf der Arbeit zusammenfassend als Koordinator bezeichnet, selbst. Zusätzlich ist eine fachliche Zurückhaltung der fallzuständigen Fachkraft des Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) vor und während des Familienrates vorgesehen. Die Aufgaben des Koordinators werden in fast allen Fällen von spezialisierten Mitarbeiter/innen freier Träger übernommen. Der Prozess des Familienrates ist durch aufeinanderfolgende Phasen gekennzeichnet. Die Vorbereitungsphase dient dazu, dass der Koordinator in Zusammenarbeit mit der Familie potenzielle Teilnehmende am Familienrat bestimmt. Vor dem Hintergrund der Sorgeformulierung, also der fachlichen Problemlage aus Sicht des ASD, schlägt der Koordinator entsprechend relevante Experten/innen vor. Diese sollen den Teilnehmenden während des Familienrates zur Seite stehen und ihnen alle notwendigen Informationen in Bezug auf die Problemlage geben. Je nach Problemlage macht es zum Beispiel Sinn, bei Suchtproblematiken in der Familie Experten aus diesem Fachgebiet einzuladen oder bei Problemen mit Kindern pädagogische Konzepte oder Beiträge zur Entwicklungspsychologie in den Familienrat zu integrieren. Damit wird sichergestellt, dass der Familienrat sich über die jeweiligen spezifischen Anforderungen an die angestrebte Problemlösung bewusst ist, um so in der Lage zu sein, fundierte Entscheidungen zu treffen. Zudem werden neben den teilnehmenden Personen auch Datum und Zeitpunkt sowie der Ort des Familienrates ausgemacht. Erfahrungsgemäß dauert die Vorbereitungszeit in der Abhängigkeit von der jeweiligen Falllage vier bis acht Wochen. Der anschließende eigentliche Familienrat ist nochmals in drei Teilabschnitte unterteilt. Im ersten Abschnitt der Informationsphase wird der Auftrag des Familienrates geklärt und zum anderen werden die Inputs der geladenen Experten/innen gehört und mögliche Fragen der Teilnehmenden durch sie beantwortet. Während der gesamten Phase soll die Familie durch die Fachkräfte wiederholt darin bestärkt werden, dass sie selbständig in der Lage sind, kompetente Lösungen zu finden und einen entsprechenden Plan für die Familie zu entwickeln. Daraufhin verlassen die Fachkräfte und die Experten den Familienrat und die Familienphase (Family-only-Phase) beginnt. In diesem geschützten 4 Individuelle Konzepte in der Sozialpädagogischen Familienhilfe 51 Rahmen werden dann alle Dinge besprochen, auch die, die aus vermeintlicher Angst oder Scharm vor der Fachkraft des ASD oder der Koordination nicht angesprochen worden sind. In dieser Phase werden mögliche Problemlösungen von der Familie in Zusammenarbeit mit den Teilnehmenden diskutiert und darauf aufbauend ein detaillierter Plan formuliert. Ist der Familienrat zu einer Einigung gelangt, kommen Koordinator und fallführende Fachkraft des ASD wieder hinzu. In diesem als Entscheidungs- und Konkretisierungsphase bezeichnetem Abschnitt präsentiert die Familie zunächst ihren entwickelten Plan. Daraufhin prüft die fallführende Fachkraft des ASD, ob der Plan die Anforderungen des formulierten Auftrages erfüllt. Ist dies der Fall, unterzeichnen alle Teilnehmenden des Familienrats den Plan und beginnen unverzüglich mit dessen Umsetzung. Falls einige Teile des Plans aus Sicht der Fachkraft noch einer Überarbeitung bedürfen, wird der Familie die Möglichkeit gegeben, erneut darüber zu verhandeln. Oft erfährt der Plan auch erst in dieser Phase eine Konkretisierung der Details nach dem Handlungsschema wer, wann, was, mit wem, wo und wie lange macht. Abschließend wird vereinbart, wann die Familie dem Familienrat und der fallzuständigen Fachkraft des ASD erste Ergebnisse vorstellt. Dieses zweite Treffen, auch Folgerat genannt, findet in der Regel nach acht bis zwölf Wochen statt und bietet dem Familienrat gegebenenfalls die Möglichkeit noch Veränderung oder Ergänzungen des Plans vorzunehmen. Für den Zeitraum zwischen Familienrat und Folgerat sind eindeutige Kommunikationsstrukturen festgelegt. Diese sehen vor, dass die Verantwortung für die Plandetails in den Händen der Teilnehmenden liegt, aber bei auftretenden Problemen mit der fallführenden Fachkraft des ASD Rücksprache gehalten wird. In vielen Fällen wird auch ein Familienratsmitglied bestimmt, das Abweichungen und Unstimmigkeiten gesammelt der fallführenden Fachkraft mitteilt, wenn diese zu ernsthaften Problemen führen sollten (vgl. Bandow u.a. 2011, S. 12-14). 4 Individuelle Konzepte in der Sozialpädagogischen Familienhilfe 52 4.2.1.4 Zeitliche Einordnung In der Frage nach dem geeigneten Zeitpunkt für einen Familienrat im Hilfeprozess gibt es keine einheitliche Antwort, sondern ist von Familie und Problemlage abhängig. So kann ein Familienrat sowohl vor als auch während einer Hilfe zur Erziehung passend sein. Gestützt wird diese Feststellung auch durch die guten Ergebnisse, die bei der Inanspruchnahme des Konzeptes, in akuten Krisensituationen oder beim Erstkontakt erzielt wurden. Häufig spricht das Konzept aber insbesondere Familien mit langjähriger Jugendamtserfahrung an. Gleichwohl ist es ebenso denkbar, dass die Familie dieses Konzept zunächst für sich ausschließt, dennoch kann im weiteren Verlauf des Hilfeprozesses ein erneutes Angebot des Konzeptes durch die Fachkraft unterbreitet werden (vgl. Bandow u.a. 2011, S. 21-22). 4.2.1.5 Vorteile und Chancen Für die Familien ergeben sich aus dem Konzept Familienrat unterschiedlichste Vorteile. Besonders das hohe Maß an Selbstbestimmung, durch die im Prozess des Familienrates gebotene Gestaltungs- und Entscheidungsmacht der Familie, ist im Vergleich zum gewöhnlichen Hilfeprozess hervorzuheben. Die kooperative Zusammenarbeit von ASD und Familie führt zum einen dazu, dass das Jugendamt von den Familien eher als ein kooperativer Partner und nicht als eine investigative Kontrollinstanz gesehen wird. Zum anderen dazu, dass durch eine aktive Beteiligung der Familie am Hilfeplanungsprozess, der ASD zu einem umfassenderen Einblick in die Ressourcen und sozialen Netzwerke der Familie gelangt. Zeitgleich wird der Familie ein autonomer Raum zur Verfügung gestellt, der es ihr ermöglicht, die eigene Privatsphäre in einem hohen Maße aufrechtzuerhalten. Aus der Sicht des ASD formuliert bedeutet dies, dass nur so viel Einfluss von ihm auf das Ergebnis genommen wird, um dem gesetzlichen Auftrag gerecht zu werden, ohne dabei die Familie zu entmündigen. Also kann das Konzept Familienrat als Bindeglied zwischen den Auflagen des Wächteramtes des ASD und dem Bürgerecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit beschrieben werden. Grundsätzlich sind Familien dadurch eher in der Lage, sozialpädagogische Hilfen anzunehmen, wodurch weiterführende Hilfen dort geleistet werden können, wo sie gewollt sind. Als Experten für ihr Leben verstanden, erfährt die Familie Wertschätzung und Anerkennung durch die professionellen Fachkräfte und sieht sich einem niedrigschwelligen Hilfeprozess 4 Individuelle Konzepte in der Sozialpädagogischen Familienhilfe 53 gegenüber, in dem durch den Rückhalt im Netzwerk eine Veränderung der Problemwahrnehmung erfolgt. Die dadurch entstehende enge Bindung ans eigene Netzwerk eröffnet der Familie eine konstante Unterstützung in Krisensituationen, ungeachtet der Fallstundenzahl der Fachkraft. Die Aktivierung des sozialen Netzwerkes wird dabei als ein positives Erlebnis von der Familie beschrieben (vgl. Bandow u.a. 2011, S. 14-17). Damit ist Familienrat keine Hilfeleistung im herkömmlichen Sinne, sondern ein Prozess mit Empowerment- und Netzwerkeffekt, der jedoch noch einer Organisationsoptimierung bedarf. Der Empowermenteffekt des Familienrates entsteht durch die Erhöhung der Beteiligungsoptionen der Adressaten in Form einer Entscheidungsinstanz im Hilfesystem. Folglich ist der Ansatz des Familienrats, nicht – für –, sondern – mit – den Adressaten zu arbeiten. Durch die Mobilisierung von bürgerlichen und professionellen Ressourcen im sozialen Umfeld der Adressaten, infolge des deutlich erweiterten Kreises der Mitwirkungsberechtigten, ist der Netzwerkeffekt gekennzeichnet, welcher zur Stärkung des Gemeinwesens beiträgt. Schlussendlich ergibt sich durch die vom Familienrat angestrebte Symbiose von Hilfesystem und Unterstützung aus der Lebenswelt ein standardisierten Weiter- oder Angebotspalette Neuentwicklungsbedarf der Kinder- und der bisweilen Jugendhilfe durch entsprechende Öffnung oder Flexibilisierung des Hilfesystems (vgl. Früchtel/ Straub 2011, S. 49-50). 4.2.2 Familien-Coaching [von Kohls] „Familien-Coaching ist ein lösungs- und ressourcenorientierter Ansatz für die Arbeit mit dem Interaktionssystem ‚Familie‘.“ (Pallasch u.a. 2013, S. 41) Das Konzept zielt darauf ab, die Familien durch Beratung und Begleitung bei der Bewältigung ihrer Probleme zu unterstützen und zu fördern (vgl. Pallasch u.a. 2013, S. 40). 4 Individuelle Konzepte in der Sozialpädagogischen Familienhilfe 54 4.2.2.1 Merkmale Das Konzept Familien-Coaching ist eine pragmatische, individualisierte sowie lösungs- und zielorientierte Hilfe in Form von Begleitung, Beratung wie Unterstützung von Familien in schwierigen Lebenslagen mit dem Wunsch auf Veränderung. Grundvoraussetzung ist dabei, dass dem Handeln, Denken und Fühlen sowie der Kultur eines jeden Familienmitglieds mit Akzeptanz und Respekt begegnet wird und darüber hinaus der Familie Achtung und Wertschätzung durch den Familien-Coach zuteilwird. Auf dieser Grundlage ist es in der gemeinsamen Arbeit mit der Familie möglich, gemeinsame Lösungswege zu entwerfen, deren Realisation zu begleiten und zu unterstützen, sowie zeitgleich das Selbstmanagement der Familie zu fördern und auszubauen. Beratung im speziellen zeichnet sich im Familie-Coaching dadurch aus, dass der Familien-Coach über die eigentliche Beratung in Bezug auf das definierte Ziel hinaus gegebenenfalls weiterführende oder ergänzende professionelle Hilfen durch Therapeuten, Ärzte oder andere Experten aus anderen Fachrichtungen empfiehlt. Der Berater benötigt zudem einen umfangreichen Methodenkoffer, um eine adäquate Hilfe zu gewährleisten und sich auf die Individualität einer jeden Familie einlassen zu können. Im Familie-Coaching können dies neben den Grundlagen der Gesprächsführung wie Zuhören, Pausen ertragen oder dem zirkulären Fragen auch ganz praktisch ausgerichtete Methoden wie gemeinsames Malen oder gemeinsames Ball- und Brettspiel sein (vgl. Pallasch u.a. 2013, S. 40-44). 4.2.2.2 Adressaten Familien-Coaching – Familien begleiten und Beraten ist ein Konzept das sich an Familien in schwierigen Lebenslagen richtet, die nach geeigneten Lösungen suchen oder ein gemeinsames Ziel verfolgen wollen. Das Familien-Coaching kann von der gesamten Familie oder aber nur von einzelnen Familienmitgliedern genutzt werden. Da die Familienstruktur für das Familien-Coaching nicht von Relevanz ist, kann die Hilfe zum Beispiel allein auf die Eltern oder nur auf die Kinder ausgerichtet sein. Da bedeutet, dass das Familien-Coaching sowohl von der ganzen Familie aber auch von einzelnen oder spezifischen Subsystemen der Familie, sprich von Gruppen unterschiedlichen Alters oder unterschiedlicher Rollenzuweisung innerhalb der Familie, sogenannten Coachee, in Anspruch genommen werden kann (vgl. Pallasch u.a. 2013, S. 40). Daraus ergeben sich 4 Individuelle Konzepte in der Sozialpädagogischen Familienhilfe 55 diverse Einsatzmöglichkeiten. Zum einen kann ein als solches bezeichnetes Persönlichkeitscoaching durchgeführt werden, welches das Coaching einzelner Familienmitglieder wie Mutter, Vater oder aber der Kinder vorsieht. Zum anderen ist auch ein Gruppencoaching bei interpersonellen Konflikten innerhalb der Familie möglich, oder aber, wenn interpersonelle Konflikte in bestimmten Kleingruppen der Familie wie Geschwistergruppen oder Eltern-Kind-Gruppen zu Spannungen in der jeweiligen Kleingruppe führen (vgl. Pallasch u.a. 2013, S. 47-48). 4.2.2.3 Ablauf Als ein aktivierendes, komplexes lösungs- und zielorientiertes Beratungskonzept, das sich zwischen Therapie und Training verorten lässt, ist Familien-Coaching – Familien beraten und begleiten daher kein starres Modell, sondern vielmehr ein flexibles und wandelbares Konzept, welches darum als eine Alternative zu den klassischen Beratungsformen zu sehen ist. Ein weiterer wesentlicher Unterschied im Vergleich zu den traditionellen Beratungsformen ist, dass der Familien-Coach im Verlauf des Coachingprozesses mit verschiedenen Coachee unterschiedlicher Altersstruktur arbeitet. Das heißt, er arbeitet sowohl mit Erwachsenen, als auch mit Kindern oder Jugendlichen unterschiedlichen Alters. Der Ablaufprozess des Familien-Coachings ist in fünf Prozessschritte unterteilt. Wünschen sich bestimmte Familienmitglieder oder die gesamte Familie Beratungen und Begleitung bei der Lösung eines Problems, wird im ersten Prozessabschnitt, dem Gespräch mit der Familie, das familiale Anliegen geklärt. Daraufhin bündelt der Familien-Coach alle relevanten Informationen der einzelnen Familienmitglieder, weil ansonsten die daran anschließende gemeinsame Lösungswegfindung, aufgrund der unterschiedlichen Bedürfnisse der jeweiligen Familienmitglieder, aussichtslos bleibt. Danach erstellt der Familien-Coach entlang seiner pädagogischen Diagnose eine oder mehrere Hypothesen, die er der Familie vorstellt. Im Anschluss daran, also im dritten Prozessabschnitt, stellt der Familien-Coach der Familie mögliche Methoden vor, welche nach seinem Dafürhalten situationsangemessen und nutzbringend für die Problemlösung sind. Dieser unterbreitete Vorschlag ist verhandelbar und wird erst nach der Annahme durch die Familie im vierten Prozessabschnitt in die Tat umgesetzt. Diese gemeinsame Arbeitsphase setzt jedoch eine aktive Mitarbeit der Familie an der Erarbeitung von Lösungsmöglichkeiten und Zielsetzungen voraus. Die fünfte und damit letzte Prozessphase ist gekennzeichnet durch die Überprüfung der 4 Individuelle Konzepte in der Sozialpädagogischen Familienhilfe 56 Zielerreichung. Wurde das gesetzte Ziel beziehungsweise die gesetzten Ziele erreicht und sind alle Familienmitglieder mit dem Ergebnis zufrieden, wird die Zusammenarbeit beendet. Sollte das nicht der Fall sein, werden neue Ziele mit der Familie verfasst und anschließend im selben Ablaufschema bearbeitet (vgl. Pallasch u.a. 2013, S. 47-49). 4.2.2.4 Zeitliche Einordnung Das Konzept Familien-Coaching ist eine kurzfristige und zeitlich begrenzte Hilfeform für einzelne Familienmitglieder oder die gesamte Familie (vgl. Pallasch u.a. 2013, S. 40). Während des Ablaufprozesses des Familien-Coachings arbeiten Familie und Familien-Coach Hand in Hand. Demzufolge begleitet und berät der FamilienCoach die Familie für einen begrenzten Zeitraum. Sobald die Lösung des Problems gefunden wurde, um das formulierte Wunschziel zu erreichen, wird die Familie in der Zeit bis zur Zielerreichung vom Familien-Coach begleitet und unterstützt. Jedoch ist Familien-Coaching nicht allein ein interessantes Konzept für das Arbeitsfeld Familie, sondern führt darüber hinaus auch zur Erweiterung der Grundkompetenzen von Pädagogen oder Sozialarbeitern (vgl. Pallasch u.a. 2013, S. 49). 4.2.2.5 Vorteile und Chancen Der Familien-Coach begleitet, berät und unterstützt Familien bei der Entwicklung und Bearbeitung individueller und gemeinsamer Ziele von Familienmitgliedern. Im Hilfeprozess werden so, neben der Umsetzung von Lösungsstrategien, die Kompetenzen der Adressarten des Familien-Coachings gestärkt, um den Erziehungsfragen und eventuellen Lern- und Verhaltensproblemen der Kinder oder Jugendlichen souverän entgegentreten zu können. Weiter werden Familien zur besseren Bewältigung von außer- und innerfamilialen Beziehungsproblemen sowie Problemen des Alltags befähigt. Hervorzuheben ist, dass jedes Familienmitglied eine individuelle Stärkung der persönlichen Kompetenzen durch die Aktivierung der bestehenden familialen und persönlichen Ressourcen erfährt (vgl. Pallasch u.a. 2013, S. 45). Der größte Vorteil des Konzeptes liegt jedoch im Erlernen des Selbstmanagements. Die dadurch erzielte verbesserte Selbststeuerung im beruflichen und privaten Alltag ermöglicht es, dem Adressaten 4 Individuelle Konzepte in der Sozialpädagogischen Familienhilfe 57 des Familien-Coachings eigene adäquate Problembewältigungsstrategien zu entwickeln (vgl. Pallasch u.a. 2013, S. 40). Abschließend bleibt zu konstatieren, dass für Waldemar Pallasch FamilienCoaching „daher auf dem Hintergrund gesellschaftlicher Herausforderungen eine gebotene und sinnvolle Einrichtung von Beratung für Familien“ (Pallasch u.a. 2013, S. 5) ist. 4.2.3 Heidelberger Modell [von Nastola] Das „Heidelberger Modell der Sozialpädagogischen Familien- und Erziehungshilfe“, dessen Begründerin Marga Rothe ist, wird schon seit 1987 von der Arbeitsgemeinschaft zur Förderung von Kindern und Jugendlichen e.V. in der gleichnamigen Stadt Heidelberg als Fortbildungsmaßnahme angeboten. Darüber hinaus erschien im Jahre 1990 dieses Modell zum ersten Mal in Form einer schriftlichen Handlungsanleitung (vgl. Gut 2014, S. 31). 4.2.3.1 Merkmale Vier verschiedene Theorierichtungen – die positive Psychotherapie nach Nossrat Peseschkian, die systemorientierte Familienarbeit nach Selvini-Palazzoli, Menuschin und die Logotherapie nach Viktor E. Frankl, die initiatische Therapie nach Karlfried Graf Dürkheim – dienen als gedankliche Grundlagen für die daraus abgeleiteten handlungsleitenden Theorien des Heidelberger Modells. Des Weiteren unterstützen diese Grundlagen die Entwicklung konkreter Werkzeuge zur Diagnostik, Intervention und Reflexion innerhalb der SPFH. Die positive Psychotherapie richtet den Fokus der SPFH auf die Unterscheidung zwischen Grund- und Aktualfähigkeiten eines Menschen. Zum einen meint dies, dass jeder Mensch generell Grundfähigkeiten besitzt, abgesehen von seiner Kultur, Umwelt und Gesundheit, die es ihm ermöglichen, zu kommunizieren und zwischenmenschliche Beziehungen einzugehen. Zum anderen gibt es die Aktualfähigkeiten eines Menschen, diese charakterisieren die voneinander nicht unabhängigen kulturellen Spielregeln des Zusammenlebens. Aufgrund dieser Unterscheidung ist es der SPFH möglich, eine differenzierte Sicht auf die familialen Konfliktsituationen vorzunehmen (vgl. Gut 2014, S. 32). Aus der Familientherapie nutzt die SPFH nach dem Heidelberger Modell in erster Linie die zirkuläre Betrachtungsweise menschlicher Interaktion, infolgedessen rückt die 4 Individuelle Konzepte in der Sozialpädagogischen Familienhilfe 58 Ursache-Wirkungslogik in den Hintergrund. Außerdem fokussiert sie sich auf die übergeordneten Systeme wie beispielsweise das erweiterte soziale Umfeld, die Familie und die Schule, folglich wird sich nicht auf einen Indexpatienten festgelegt. Aus Sicht der Logotherapie ist der Mensch fragend, sinnsuchend und leidend, er soll in dem Vertrauen in eine positive Zukunft und in seiner aktiven Gestaltung des Lebens Stärkung erfahren. Wichtige Aspekte aus der initiatischen Therapie sind das Entsagen von Bevormundung und Besitzergreifung, das Achten der Andersartigkeit der Menschen wie auch das Begleiten der eigenen Gestaltung des Lebens (vgl. Gut 2014, S. 31). Ein fester Bestandteil des Heidelberger Modells ist die SPFH, und sie wird im Rahmen der Hilfen zur Erziehung als ein Unterstützungsangebot geleistet. Im § 31 des achten Sozialgesetzbuches wird die SPFH als intensive Betreuung und Begleitung der Familie in Erziehungsaufgaben und in Prozessen der Konflikt- und Krisenlösungen, wie auch der Bewältigung des Alltags bezeichnet. Weiterhin soll die SPFH Hilfe zur Selbsthilfe leisten und den Kontakt mit Ämtern und Institutionen unterstützen. Darüber hinaus richtet sich die SPFH an die gesamte Familie und ist auf einen längeren Zeitraum angelegt. Die Selbsthilfepläne, die auf den Hilfeplänen des Jugendamtes aufbauen (vgl. AGFJ Familienhilfe-Stiftung 2015, Internetquelle), werden zwei- bis dreimal im Jahr an das zuständige Jugendamt weitergegeben (vgl. Gut 2014, S. 33). Der Selbsthilfeplan ist ein wesentliches Merkmal des Heidelberger Modells. Hier werden die erarbeiteten Ziele in einzelnen Handlungsschritten in Zusammenarbeit mit den Familien präzise geplant und erreichbar gemacht (vgl. AGFJ Familienhilfe-Stiftung 2015, Internetquelle). Ein weiterer wichtiger Bestandteil des Heidelberger Modells ist die Familienorientierte Schülerhilfe, die aus der Sozialpädagogischen Familienhilfe des oben genannten Modells heraus entwickelt wurde. Zudem leistet die Schülerhilfe einen wesentlichen Beitrag zur Lösung von zwei sich wechselseitig bedingenden Zukunftsproblemen, die noch nicht ausreichend in den Fokus gerückt wurden. Einerseits richtet sie den Blick auf das Problem der dauerhaften Ausgrenzung eines beträchtlichen Teils der jungen Menschen am Arbeitsleben und andererseits der sich dadurch bedingenden Ausgrenzung am gesellschaftlichen Leben mit jeglichen bekannten Folgen für das psychische und physische Wohlbefinden. Aufgrund dessen steigen die Kosten im Sozial- und Gesundheitswesen, und die Gewaltbereitschaft der ausgegrenzten Kinder- und 4 Individuelle Konzepte in der Sozialpädagogischen Familienhilfe 59 Jugendlichen nimmt zu. Demzufolge hat die Familienorientierte Schülerhilfe „Teilnahme ermöglichen“ als ein zentrales Ziel (vgl. AGFJ Familienhilfe-Stiftung 2015, Internetquelle). Damit die Ziele der Familienorientierten Schülerhilfe und der Sozialpädagogischen Familienhilfe erreicht werden, kam es zur Gründung des Projektes „Integration statt Isolation“. Inhaltlich stützt es sich auf die Grundannahme, dass alle Menschen ein Ziel benötigen, damit das Leben für sie eine Bedeutung hat. Weiterhin braucht der Mensch, um Bestätigung und Anerkennung zu erfahren, eine Aufgabe. Hinsichtlich dieser Aussage wird jemand, der keine Aufgabe hat, buchstäblich zu dieser. Um der Ausgrenzung und Isolation der Jugendlichen und Kinder etwas entgegenzusetzen, erfahren die Eltern, Kinder und Jugendlichen eine Hilfestellung durch die Fachkraft zur Nutzung von Angeboten des Internetquelle). Gemeinwesens (vgl. AGFJ Familienhilfe-Stiftung 2015, 4 Individuelle Konzepte in der Sozialpädagogischen Familienhilfe 60 4.2.3.2 Adressaten Einleitend ist zu konstatieren, dass es durchaus nicht angebracht ist, grundsätzliche Ausschlusskriterien für die Auswahl von Jugendlichen und Familien aufzustellen. Es zeigen mehrfach genau die Eltern, Jugendliche und Kinder eine enorme Entwicklung am Ende ihrer Betreuungszeit, die zuvor als hoffnungslos erschienen. Adressaten des Konzeptes sind primär Eltern und Alleinerziehende, die sich, angesichts massiver Belastungen, wie beispielsweise Scheidung und Trennung vom Partner oder Krankheit sowie Verlust der Arbeit, zeitweilig nicht im Stande fühlen, für die positive Entwicklung der Kinder eine adäquate zuverlässige Größe darzustellen und den Kindern emotional zugewandt zu sein. Diese Situation wird durch die Eltern als Belastung empfunden und hemmt beziehungsweise überfordert sie in der Alltagsbewältigung sowie in der nötigen Erziehung der Kinder. Aufgrund dessen versucht die Fachkraft, zum einen auf der Ebene des Kindes und zum anderen auf der Ebene der Eltern eine Entlastung zu schaffen. Dadurch besteht die Möglichkeit, dass die Eltern sich neu orientieren und eine Veränderung eintritt. Hier zeigt uns die Vergangenheit, dass in der Praxis eine steigende Zahl an Familien begleitet werden, in welchen die Eltern nicht nur Lebenskrisen bewältigen, sondern auch parallel Traumata verarbeiten müssen. Genau diese Familien haben einen enormen Bedarf an Unterstützung. Die Begleitung der Familie durch die Fachkraft innerhalb der SPFH ist bedeutend länger, intensiver und auch die Entwicklung ist im Wesentlichen davon abhängig, wie stark sich die Eltern mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen, um dann ihr Leben neue zu strukturieren (vgl. Rothe 2013, S. 16-17). 4.2.3.3 Ablauf Ein wesentlicher Aspekt der SPFH nach dem Heidelberger Modell ist die Persönlichkeit der Fachkraft und nicht ausschließlich das methodische Vorgehen für eine gelingende Familienhilfe. Demnach sind wichtige Bausteine der Persönlichkeit, die Vorbildfunktion, die Kooperationsbereitschaft und die Beziehungsfähigkeit, die Geduld sowie die Fähigkeit, die Familien auf ihrem eigenen Weg zu begleiten und nicht die persönlichen Ziele aufzudrängen (vgl. Gut 2014, S. 31). Zu Beginn der Hilfe müssen sich Fachkraft und Familie miteinander austauschen, welche Ziele und Aufgaben im Fokus stehen (vgl. Rothe 2013, S. 26), also sich dem Ziel zuwenden und nicht von der Problematik entfernen (vgl. AGFJ 4 Individuelle Konzepte in der Sozialpädagogischen Familienhilfe Familienhilfe-Stiftung 2015, Internetquelle). Die 61 Fachkraft versucht, in Zusammenarbeit mit der Familie verborgene Fähigkeiten aufzuzeigen und ihnen diese ins Bewusstsein zu rufen. Beide Parteien richten an dieser Stelle ihren Blick nicht auf die Defizite, sondern auf verfügbaren Ressourcen, an denen angeknüpft werden kann. Die Fachkraft begleitet den Jugendlichen oder die Familie auf dem Weg zu ihrem persönlichen Ziel, das einen hohen Stellenwert für sie hat. Ferner sorgt er dafür, dass jeder Mensch oder jede Familie Vertrauen in seine verborgenen Möglichkeiten und Kräfte erlangt. Die Fachkraft vermittelt zwischen der als häufig nicht freundlich empfundenen „Außenwelt“ und dem bekannten sozialen Umfeld, da die andersartige Sprache wie auch die fremden Kommunikationsregeln oftmals Angst bei den Jugendlichen und den Familien hervorrufen. Infolgedessen bewirkt Angst Aggression, und Aggression bewirkt wiederum ein Abwehrverhalten bei diversen Institutionen wie etwa Ämtern, Berufsbildungseinrichtungen oder Schulen. Von anderen abgelehnt zu werden, erzeugt bei Jugendlichen und Familien ein Gefühl der Minderwertigkeit. Bedingt durch dieses Gefühl schwindet das Vertrauen in die persönlichen Fähigkeiten und Kräfte. Damit die Jugendlichen und Familien aus dieser unangenehmen Konstellation herauskommen, muss die Fachkraft sensibel Unterstützung leisten, aber nicht in der Form, dass sie selber handelt. Dementsprechend macht die Fachkraft Mut und gibt Vertrauen, dass die Familien und Jugendlichen selbständig sich der Situation stellen können. Die Selbsthilfepläne sind aus einer solchen Haltung heraus eine folgerichtige Konsequenz (vgl. Rothe 2013, S. 13-14). Der Selbsthilfeplan ist Ausgangspunkt für eine auf Vertrauen und auf Hilfe zur Selbsthilfe ausgerichtete Zusammenarbeit und wird ausnahmslos zwischen der Familie und der Fachkraft besprochen (vgl. Gut 2014, S. 33). Außerdem werden die Selbsthilfepläne auch als Grundlage für andere Berichte genutzt. Durch diese Selbsthilfepläne wird unterbunden, dass über Probleme anderer Menschen berichtet wird und Informationen über sie, wie auch ihr Versagen weitergetragen werden. Unter diesem Aspekt wird die Würde des jeweiligen Menschen anerkannt. Der Leitspruch der Selbsthilfepläne lautet „Hinkommen zum Ziel statt Wegkommen vom Problem“. Aufgrund dessen richten sie sich nach den Möglichkeiten sowie an den Fähigkeiten der Familien und Jugendlichen aus. Wenn trotz verfügbarer Rahmenbedingungen und geeigneter Hilfestellung ein Jugendlicher oder eine Familie den zusammen erarbeiteten Selbsthilfeplan nicht 4 Individuelle Konzepte in der Sozialpädagogischen Familienhilfe 62 einhält, so wird mit dem zuständigen Mitarbeiter des ASD und der Familie gemeinschaftlich eine Prüfung vorgenommen. Es kann natürlich sein, dass die im Vorfeld benannten Ziele nicht die tatsächlichen erreichten Ziele sind. Des Weiteren wird überprüft, ob eventuell andere Rahmenbedingungen durch die Familie gewünscht werden. Dazu steht noch zur Diskussion, ob die Familie überhaupt die erforderlichen Veränderungen zulässt. Sollte dies nicht der Fall sein, so müsste die SPFH eingestellt werden und die Familie erhält eine Mitteilung über die daraus resultierenden Folgen (vgl. Rothe 2013, S. 14). 4.2.3.4 Zeitliche Einordnung Die im Vorfeld veranschlagte Wochenarbeitszeit für die Familienarbeit beträgt zwischen fünf und zwanzig Stunden, innerhalb dieser Zeit wird nicht nur mit der Familie gearbeitet, sondern beispielsweise auch Verwaltungstätigkeiten, Supervisionen und Teamsitzungen wahrgenommen. Die Zeitspanne der SPFH beträgt für gewöhnlich ein bis zwei Jahre, darüber hinaus ist es möglich, eine Verlängerung der Hilfe zu erhalten. Hier ist zu bemerken, dass infolge der Erfahrungen in der Praxis diese Zeit in den meisten Hilfen auch benötigt wird, damit die Ziele oder Teilziele der Arbeit mit der Familie erreicht werden (vgl. Jordan/ Maykus/ Stuckstätte 2012, S. 207). 4.2.3.5 Vorteile und Chancen Verschiedenste Vorteile und Chancen der SPFH und Familienorientierte Schülerhilfe nach dem Heidelberger Modell ergeben sich hieraus für die Familien. So werden die Eltern befähigt, schrittweise die Verantwortung für ihre Kinder zu übernehmen und die Entwicklung dieser positiv zu gestalten. Außerdem wird durch die Integration in verfügbare Angebote, die das Gemeinwesen zur Verfügung stellt, vermieden, dass die Familien ausgegrenzt werden. Durch das ansteigende Vertrauen in die eigenen Kräfte der Familie wird abweichendes und aggressives Verhalten abgewendet und Möglichkeiten zur Bewältigung des Alltags geschaffen. Darüber hinaus soll verhindert werden, dass die Kinder eine kostenintensive stationäre Hilfe, mit den bekannten Auswirkungen, erfahren müssen, die für sie nach Beendigung der Fremdunterbringung eine mühsame Neuorientierung erforderlich macht (vgl. Rothe 2013, S. 107). 4 Individuelle Konzepte in der Sozialpädagogischen Familienhilfe 63 4.2.4 Zwischenfazit [von Kohls/Nastola] Auf die im Unterkapitel – Familie als individualisiertes Herkunftsmilieu – des dritten Kapitels hervorgehobene Individualität von Familienkulturen wird besonders im Konzept Familienrat eingegangen. Durch die Leitidee des Konzeptes, dass nur die Familie Experte für die eigene Familienkultur sein kann und die Arbeitsweise der eigenständigen Problemlösung, lediglich von den professionellen Fachkräften, moderiert, kann die Gefahr auf Fremdnormierung durch Fachkräfte umgangen werden. Alle drei vorgestellten Konzepte ermöglichen es, den Familien sich einen eigenen normativen Rahmen zu generieren und die im Laufe der Zeit auftretenden dynamischen Prozesse von den Fachkräften für einen bestimmten Zeitraum begleitet zu werden. Das Hauptziel, den einzelnen Familienmitgliedern wieder ein akzeptables Leben in ihrer Familienkultur zu ermöglichen, nimmt besonders das Konzept Familien-Coaching in den Blick. Weil mit einzelnen Familienmitgliedern, Subsystemen oder der gesamten Familie an den jeweils herausgestellten Problemen gearbeitet wird, um durch das erlernte Selbstmanagement zur einer verbesserten Selbststeuerung im privaten Alltag zu gelangen und dadurch eigene situationsangemessene Problembewältigungsstrategien entwickeln zu können. Sowohl Heidelberger Modell als auch Familien-Coaching und Familienrat schaffen angemessene Zugänge zu den individuellen Kulturen der Familie, die gelingende Interventionen im Familienmilieu möglich machen. 4 Individuelle Konzepte in der Sozialpädagogischen Familienhilfe 4.3 In Bezug auf die gesellschaftlichen 64 Teilsysteme der Adressaten [von Kohls/Nastola] In diesem Abschnitt der Arbeit werden zwei beispielhafte Konzepte für die Ermöglichung von Inklusion oder Exklusion in beziehungsweise aus gesellschaftlichen Teilsystemen vorgestellt. Das anschließende Zwischenfazit widmet sich der Herausstellung der spezifischen Möglichkeiten der Unterstützung der Adressaten bei Inklusion und Exklusion durch die vorgestellten Konzepte. 4.3.1 Empowerment Hauptaugenmerk legt das Konzept Empowerment in der Sozialen Arbeit auf das Lebensgefühl einer Person und die Betonung des Gefühls von Macht und Kontrolle über das eigene Leben (vgl. Buchholz-Graf 2001, S. 88). Anders gesagt, das Ziel des Konzepts Empowerment ist die Entwicklung oder Wiederherstellung einer selbständigen Entscheidungsmacht über die alltagsbestimmenden Umstände (vgl. Herriger 2014, S. 20). 4.3.1.1 Merkmale Das Kernstück der Empowerment-Perspektive ist die Entwicklung einer professionellen Arbeitshaltung, um die Entdeckung und Aktivierung sozialer Kräfte der Adressaten zu ermöglichen. Demnach ist Empowerment eine Hilfeform der Bemächtigung beziehungsweise Wiederbemächtigung. Empowerment umfasst dabei alle sozialen Bewegungen, die von demoralisierten und machtlosen Menschen zur Aneignung von Kraft, Macht und Gestaltungsvermögen genutzt werden. Das führt zur Verbesserung der Selbstbestimmung über die eigenen Lebensumstände und verhilft zu einer gerechten Verteilung von Macht und Einflussnahme der Adressaten am politischen und gesellschaftlichen Geschehen (vgl. Buchholz-Graf 2001, S. 94-95). 4 Individuelle Konzepte in der Sozialpädagogischen Familienhilfe 65 4.3.1.2 Adressaten und zeitliche Einordung Empowerment ist sowohl eine sozialarbeiterische Grundhaltung als auch ein Konzept mit einem allumfassenden Praxisanspruch. In Einzelhilfen wie der SPFH soll mit der Hilfe kontraproduktiven von Empowerment Verhaltensmustern den Adressaten aufgezeigt und Auswege diese in aus adäquaten Hilfeformen bearbeitet werden (vgl. Lambers 2013, S. 319). Demzufolge sind die Adressaten des Konzepts gleich denen der SPFH, welche im zweiten Kapitel genauer beschrieben wurden. Weiter wird Empowerment damit während des gesamten Hilfeverlaufs der SPFH, also über ein bis zwei Jahre oder darüber hinweg, bei Verlängerung der Hilfe gefördert (vgl. Jordan/ Maykus/ Stuckstätte 2012, S. 207). 4.3.1.3 Ablauf Das Konzept Empowerment realisiert sich in der sozialen Einzelhilfe über die Methoden der Motivierenden Gesprächsführung, der Ressourcendiagnostik, dem Unterstützungsmanagement sowie durch biografisches Lernen in Verbindung mit dem Kompetenzdialog. Motivierende Gesprächsführung, auch als Motivational Interviewing benannt ist eine Form klientenzentrierter Gesprächsführung, die darauf abzielt, Menschen zur Problemveränderung zu motivieren. Dieser Arbeitsansatz eignet sich besonders für Adressaten mit langjähriger Hilflosigkeitserfahrung (vgl. Herriger 2014, S. 89). Die Ressourcendiagnostik richtet ihren Blick insbesondere auf die Defizitanalyse durch vielfältige Diagnostik- und Testverfahren sowie Fragebogenverfahren zur detaillierten Darstellung der unzureichenden Bewältigungskompetenzen und Unzulänglichkeiten. Es lassen sich im Bereich der Einzelhilfen wie der SPFH drei mögliche Einsatzorte der Empowerment-Arbeit herausstellen. In den Erstgesprächen der Hilfeplanung sowie der Erstdiagnostik ist eine genaue Bestimmung der vorhandenen Ressourcen unabdingbar. Im Hilfeprozess direkt dient die prozessbegleitende Reflexion dazu, aktuelle Ressourcen zu veranschaulichen, schon eingetretene Veränderungen festzuhalten und Gründe für die Nichterschließung von Ressourcen herauszustellen, sowie das weiterführende Hilfeverfahren neu zu gliedern und auszurichten. Abschließend kann zum Ende des Hilfeprozesses durch die Fallevaluation eine Prognose zur Ressourcenentwicklung erstellt werden, mit deren Daten die Konstruktion eines Ressourcennetzwerks möglich wird, das es zu stabilisieren gilt (vgl. Herriger 2014, 4 Individuelle Konzepte in der Sozialpädagogischen Familienhilfe 66 S. 93). Das Unterstützungsmanagement verläuft entlang eines vorgegebenen Prozessplans, der die Abfolge der Prozessschritte des methodischen Vorgehens bestimmt. Vom vorgegebenen Prozessplan des Unterstützungsmanagement kann in Einzelfällen aber auch abgewichen werden. Ziel ist zum einen die Bildung eines Ressourcen-Netzwerkes durch vernetzende, koordinierende und arrangierende Hilfeleistung, die zum anderen dazu führt, dass Netzwerk ohne pädagogische Anleitung und in Eigenregie zu nutzen (vgl. Herriger 2014, S. 105). Biografisches lernen und Kompetenzdialog sind zwei Varianten der biografischen Arbeit mit den Adressaten. Der Unterschied zwischen beiden Arbeitsansätzen besteht in der zeitlichen Fokussierung, die deren Interpretation anleiten. Erinnerungsarbeit und biografisches Lernen beschäftigt sich mit der erlebten, subjektiv gefärbten Vergangenheit. Es werden vergangene Lebenszusammenhänge beleuchtet und nach verlorengegangen Lebenskräften gesucht. Der Kompetenzdialog ist dagegen ausdrücklich zukunftsorientiert. Das bedeutet, auf die Zukunft ausgerichtete Lebensarrangements mit einem Zugewinn an Lebensautonomie, Umweltkontrolle und Selbstverfügung zu entwerfen. Jedoch werden die biografischen Ansätze nie allein in ihrer Reinform Anwendung finden (vgl. Herriger 2014, S. 112-113). 4.3.1.4 Vorteile und Chancen Empowerment kann die Adressaten dazu befähigen, eine der vielfältigen Lebensformen für sich zu wählen und darüber hinaus eigenverantwortliche Entscheidungen, vor allem auch in unsicheren Zeiten für sich zu treffen. Weiter können sich die Adressaten als Subjekte verstehen, welche die Umstände ihres Lebens in Eigenregie produktiv gestalten und erwünschte Veränderungen eigenständig erreichen können. Zudem kann Empowerment dazu beitragen, dass die Adressaten ihre persönlichen Wünsche, Interessen, Phantasien sowie Bedürfnisse wahren und erneuten Bevormundungen durch Dritte souverän begegnen. Ferner werden Adressaten des Empowerments dazu befähigt, sich selbständig Zugang zu Informationen, Unterstützungsressourcen wie auch Dienstleistung beschaffen zu können und diese für sich somit nutzbar zu machen. Besonders hervorzuheben ist jedoch die Bemächtigung der Adressaten dazu, sich ihre Rechte auf Mitwirkung und Teilhabe einzufordern und den fortwährenden Mustern der Entrechtung die Stirn zu bieten (vgl. Herriger 2014, S. 20). 4 Individuelle Konzepte in der Sozialpädagogischen Familienhilfe 67 4.3.2 Ressourcenorientierung In der ressourcenorientierten Arbeit wird der Fokus auf die Verfügbarkeit, Verteilung sowie die Beschaffenheit des Bestands der sozialen und personalen Ressourcen der Adressaten gelegt, um diesen gegebenenfalls gemeinsam zu erweitern (vgl. Buchholz-Graf 2001, S. 88). 4.3.2.1 Merkmale Das Ressourcenkonzept geht davon aus, dass jeder Mensch zur Bewältigung der Anforderungen, die der Alltag an ihn stellt, mehr oder weniger Hilfsmittel benötigt. Um große oder kleine Probleme in der Bewältigung des Alltags zu meistern, bedarf es somit einer Verfügbarkeit verschiedenster, situationsabhängiger Ressourcen. Demnach wird durch das Ressourcenkonzept ein Zusammenhang zwischen der Ressourcenqualität wie auch der Gesundheit und Befindlichkeit der Adressaten hergestellt. Man unterscheidet dabei Umweltressourcen und personale Ressourcen. Unter personalen Ressourcen werden psychische, physische und materielle Faktoren gefasst, wie etwa die körperliche und seelische Belastbarkeit in Stresssituationen oder die jeweiligen beruflichen Möglichkeiten und die daraus resultierende finanziellen Möglichkeiten. Hervorzuheben sind im Besonderen die Ressourcen Problemlösungskompetenz, Bewältigungsoptimismus und das ausgeprägte Selbstwertgefühl. Die Umweltressourcen hingegen beschreiben konkrete Lebensbedingungen wie Quantität und Qualität der sozialen Netzwerke und deren Verfügbarkeit. Das bedeutet, dass der Umweltseite der sozioökonomische Status, die Integration in konfliktfreie soziale Netzwerke, die starke Bindungsqualität sowie umfassende soziale und emotionale Unterstützung als Ressourcen von besonderer Bedeutung zuzuschreiben sind. Ganz allgemein sind Ressourcen all jene Hilfsmittel zur Lebensbewältigung, welche von der jeweiligen Person als förderlich, schützenswert und notwendig bezeichnet beziehungsweise verstanden werden (vgl. Buchholz-Graf 2001, S. 89-91). Für die Arbeit der Sozialpädagogischen Familienhilfe bedeutet das Konzept der Ressourcenorientierung, dass im sozialen Nahraum der Familie nach Ressourcen gesucht wird, durch welche sie in Belastungssituationen Unterstützung erfahren (vgl. Winkelmann 2014, S. 115). 4 Individuelle Konzepte in der Sozialpädagogischen Familienhilfe 68 4.3.2.2 Adressaten und zeitliche Einordung Wie im zweiten Kapitel aufgezeigt, unterscheidet man Konzepte mit einem umfassenden Geltungsanspruch für die Soziale Arbeit, von Konzepten welche direkt auf die SPFH Ressourcenorientierung ausgerichtet beschreibt sind dabei (vgl. ein Gut Konzept 2014, mit S. 25). umfassendem Geltungsanspruch für die Soziale Arbeit und somit auch für die Arbeit der SPFH (vgl. Buchholz-Graf 2001, S. 85). Folglich sind damit die Adressaten des Konzepts auch die Adressaten der SPFH, welche schon im Verlauf dieser Arbeit beschrieben wurden. Aufgrund des umfassen Geltungsanspruches für die Soziale Arbeit begleitet der ressourcenorientierte Ansatz den gesamten Hilfeprozess von in der Regel ein bis zwei Jahren und darüber hinaus auch während einer eventuellen Verlängerung (vgl. Jordan/ Maykus/ Stuckstätte 2012, S. 207). 4.3.2.3 Ablauf Im Ressourcenorientierten Arbeitsansatz ist die Hauptaufgabe der Fachkraft der SPFH, die Familie beim Zugang zu Ressourcen zu unterstützen. Da Familien in der SPFH oftmals mit der Beantragung und dem Umgang mit sozialstaatlichen Leistungen überfordert sind, ist es in diesen Fällen die erste Aufgabe der Fachkraft, zur Stabilisierung der materiellen Grundsicherung der Familie beizutragen, bevor weitere Interventionen möglich sind. Das bedeutet für die Fachkräfte, dass sie über umfassende Grundlagen im Bereich der sozialstaatlichen Leistungen verfügen müssen, um den von ihnen betreuten Familien, neben der Moderation von diesbezüglich meist schwierigen Gesprächssituationen auch die angemessene Unterstützung zukommen zu lassen. Anzumerken ist, dass der Unterstützungsgrad auf die Familie und die jeweilige Situation zugeschnitten sein muss, um einer weiteren Entmutigung durch eine zu weitreichende Übernahme beziehungsweise die Entmündigung durch die Fachkraft, oder aber durch zu geringe Unterstützung und somit einer erneuten negativen Erfahrung im Umgang mit sozialstaatlichen Institutionen vorzubeugen. Allgemein entstehen Probleme laut dem Konzept der Ressourcenorientierung immer dann, wenn für die jeweilige Anforderung, die das Leben an die Familie stellt, zu wenige Ressourcen zur Bewältigung dieser verfügbar sind. Ein Belastungsfaktor von elementarer Bedeutung für Kinder und Jugendliche ist häufig die Armut ihrer Familie. Damit geht oft auch ein schwierigerer Zugang zu 4 Individuelle Konzepte in der Sozialpädagogischen Familienhilfe 69 außerfamilialen Ressourcen wie Freizeitaktivitäten und Bildungsmöglichkeiten einher. Daraus ergibt sich eine weitere Kernaufgabe für die ressourcenorientierte Arbeitsweise der Fachkraft der SPFH. So müssen die Fachkräfte über einen großen Wissenspool in Bezug auf die Hilfeangebote der Kommunen verfügen, um sie für die Familien zugänglich zu machen. Diese Kontextressourcennutzung wird von Familien zunächst häufig als eine Bedrohung wahrgenommen. Denn eine Öffnung nach außen bedeutet für die Familie auch immer, einen gewissen Kontrollverlust gegenüber ihrer Umwelt zu akzeptieren. Deren Nutzung muss darum dem Entwicklungstempo der Familie angepasst sein und eingeübt werden. Nochmal auf den Punkt gebracht, gilt es im ressourcenorientierten Ansatz in der Sozialpädagogischen Familienhilfe über die Sichtbarmachung der Ressourcen im Umfeld, individuelle Zugänge zu gestalten, welche der Situation der Familie angemessen sind, um einem eventuellen Überforderungsmoment der Familie entgegenzuwirken. Denn das bietet die Grundlage für eine gelingende und nachhaltige Hilfeleistung (vgl. Winkelmann 2014, S. 181-183). 4.3.2.4 Vorteile und Chancen Die Ressourcenförderung öffnet der Familie den Zugang zu neuen, alternativen Verhaltens- und Denkmustern, die zur Erweiterung der Handlungs- und Entscheidungsoptionen einer Familie beitragen. Anknüpfungspunkt hierfür, sind die herausgearbeiteten Potenziale, die eine Stärkung der individuellen Kompetenzen ermöglichen. Neben der Förderung der soeben beschrieben internen Ressourcen einer Familie ist auch die Förderung der externen Ressourcen wichtig. Hervorzuheben ist dabei die Förderung der sozialen Ressourcen zum Aufbau eines stabilen Netzwerks, auf das die Familie in Krisensituationen zurückgreifen kann. Das führt zum einen zur Verbesserung des subjektiven Wohlbefindens der einzelnen Familienmitglieder und zum anderen ermöglicht eine Ressourcennutzung auch nach Beendigung der Hilfe, selbständig Veränderungen bei Bedarf in die Wege zu leiten und umzusetzen (vgl. Winkelmann 2014, S. 19-22). 4 Individuelle Konzepte in der Sozialpädagogischen Familienhilfe 70 4.3.3 Zwischenfazit Das Konzept Ressourcenorientierung betont die Rolle der Fachkraft als interdisziplinärer Vermittler, wie sie in 3.4.2 dieser Arbeit beschrieben wurde. Mit dem Wissenspool über die jeweiligen kommunalen Angebote und der Vermittlung ergänzender professioneller Hilfeangebote in Verbindung mit deren Zugangsbegleitung ermöglicht die Ressourcenorientierung den Zugriff der Adressaten auf die in ihren Augen notwendigen Teilsysteme. Empowerment befähigt darüber hinaus zu einem Verselbständigungsprozess in Bezug auf die Beschaffung von Informationen, Unterstützungsressourcen und Dienstleistungen der modernen Gesellschaft. Somit befähigt Ressourcenorientierung in Verbindung mit Empowerment die Adressaten dazu, ihre Rechte auf Mitwirkung und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, insbesondere den gesellschaftlichen Teilsystemen selbständig einzufordern. 5 Fazit 71 5 Fazit [von Kohls/Nastola] Wie in der Arbeit deutlich geworden ist, scheint das traditionelle Familienbild von Vater, Mutter und Kind in fast allen Menschen verankert zu sein. Das führt offensichtlich dazu, dass fast jeder diese klassische Familiensituation zumindest über einen gewissen Zeitraum hinweg lebt. Vor allem die allgegenwärtige mediale Darstellung vom Familienidyll hat uns nachdenklich werden lassen. Hohes C ist nur eine von vielen Werbesendungen, die den Zuschauern suggerieren, dass glückliche Familien immer aus Eltern und Kindern bestehen und in Eigenheimen mit gepflegten Gärten leben. Das dies gar nicht so oft der Fall ist und die Familien auch glücklich in anderen Lebensformen sein können ist offensichtlich nicht werbewirksam genug und verdeutlicht nochmals die bedeutsame Rolle des Familienideals unserer heutigen Gesellschaft. Trotz aller gelebten Emanzipation ist es interessant zu beobachten, dass egal in welcher Lebensform eine Familie organisiert ist, mit Geburt des ersten Kindes das traditionelle Rollenverständnis in den meisten Familien wieder Einzug hält. Sei es bedingt durch tradierte Denk- und Verhaltensmuster oder alleinig durch das fast allen innewohnende Familienideal, sehen sich die Familien damit großen Herausforderungen gegenüber. Besonders dann, wenn die tradierten Verhaltens- und Denkmuster auf die gelebte Lebensform keine Anwendung finden können, sind Konflikte und Krisen scheinbar vorprogrammiert. Summa summarum sind die Gründe für die Individualität von Familien durch mehrere sich bedingende Faktoren gekennzeichnet. Ist uns allen eine Idealvorstellung unabhängig von der Herkunftsfamilienerfahrung gemein, sind davon abweichende Lebensformen in unserer heutigen Gesellschaft nicht mehr tabuisiert und werden offen gelebt. Sind Lebensformen noch als Muster für bestimmte Arten des Zusammenlebens von Menschen zu verstehen, können Familienkulturen begründet in der Eigenart der Menschen, die diese ausmachen, keinen allgemeingültigen Merkmalen zugeordnet werden. Sprich, keine Familienkultur gleicht einer anderen sowie auch kein Mensch einem anderen gleicht, und die Kombination der Individuen innerhalb einer Familie deren Kultur einzigartig macht. Diese aufgezeigte Individualität von Familien bedeutet für die auf die gesamte Familie ausgerichtet SPFH, dass sie über eine enorme Handlungsvielfalt verfügen muss, die es erlaubt, der Einzigartigkeit einer jeden 5 Fazit 72 Familie gerecht zu werden. Dementsprechend ist die Arbeitsweise der SPFH nicht methodisch-konzeptionell geregelt, sondern die Fachkraft benötigt einen umfassenden Pool an Konzepten, um eine gelingende, auf den Einzelfall zugeschnittene Hilfe leisten zu können. Unsere Hauptfrage scheint damit schon beinahe beantwortet, aber so individuell die Familien sind, so individuell sind auch ihre Probleme. Um diese Probleme gruppieren und damit besser fassbar zu machen hilft es, Probleme entlang der drei Dimensionen der SPFH nach Müller zu unterscheiden. So gibt es Problemlagen, die dem Individuum in seiner Lebenswelt zuzuordnen sind. Das können beispielsweise Probleme bei der eigenen Tagesstrukturierung sein oder aus ihr resultierende. Weiter können Probleme, die das System Familie betreffen, wie zum Beispiel Konflikte zwischen Geschwistern oder zwischen Eltern und Kindern, der zweiten vorgestellten Dimensionen zugeordnet werden. Zuletzt zeigen sich bei vielen Adressaten der SPFH auch Probleme bei der Inklusion oder Exklusion in beziehungsweise aus den gesellschaftlichen Teilsystemen, wie etwa geringe Teilhabechancen am Bildungssystem oder dem Ausschluss von sozialen Leistungen. Diese aufgezeigten Bespiele sind nur exemplarisch für diverse Problemlagen, die sich den einzelnen Dimensionen zuordnen lassen. Gestützt wird die Annahme, dass sich Probleme gruppieren lassen auch dadurch, dass die meisten Konzepte einen Schwerpunkt auf spezielle Problemlagen legen und damit ebenfalls einer bestimmten Dimension zuordenbar werden. Wie in Kapitel zwei aufgezeigt, unterscheiden sich die Konzepte insofern voneinander, dass sie entweder einen umfassenden Geltungsanspruch für die Soziale Arbeit haben oder aber speziell auf die SPFH ausgerichtet sind. Eltern-AG ist eigentlich ein präventives Konzept unabhängig von der SPFH. Nichtsdestotrotz kann es in unseren Augen in bestimmten Fällen eine gelungene Ergänzung zur Elternarbeit der SPFH leisten, da die Probleme der Eltern mit anderen Eltern in ähnlichen Problemlagen besprochen und bearbeitet werden können. Das Dialogische ElternCoaching und Konfliktmanagement richtet sich hingegen direkt an die Adressaten der Kinder- und Jugendhilfe. Gleichzeitig hat es aber auch wie die Eltern-AG eher ergänzenden Charakter im Hilfeprozess der SPFH. Der Familienrat ist zuvorderst ebenfalls ein Konzept, welches unabhängig von der SPFH Einsatz finden soll. Wir sind aber der Auffassung, dass der Familienrat als Konzept in die Arbeit der SPFH integrierbar sein kann und auch in 5 Fazit 73 angemessenen Fällen anzuwenden ist. Familien-Coaching ist gleichfalls ein Konzept, dass nicht speziell für die Arbeit der SPFH entwickelt wurde, aber durchaus sinnstiftend eingesetzt werden kann. Mit dem Heidelberger Modell wurde dann ein spezielles Konzept, welches direkt auf die SPFH ausgerichtet ist, vorgestellt und deren Arbeit hauptsächlich auf familiale Problemlagen fokussiert ist. Die Bearbeitung von Teilhabeproblematiken nimmt in der SPFH aus eigener Erfahrung viel Zeit in Anspruch, jedoch war es uns nicht möglich, ein speziell darauf angelegtes Konzept ausfindig zu machen. Für uns sind die Konzepte Ressourcenorientierung und Empowerment, welche einen umfassenden Geltungsanspruch in der Sozialen Arbeit haben, am ehesten auf diese Probleme ausgerichtet. Es kann also hervorgehoben werden, dass die jeweiligen Konzepte einen individuellen Zugang zu Familien und deren Problemlagen bietet, aber eben nur Zugänge. Wir sind der Auffassung, dass kein Konzept ein allgemeingültiges Rezept für die „Genesung“ einer Familie sein kann. Sie bieten lediglich Zugänge zu bestimmten Problemlagen einer Familie. Da Problemsituationen oftmals einander bedingen, werden trotz Schwerpunktsetzung auch Probleme, die eigentlich anderen Dimensionen zugeordnet werden können, angesprochen und bearbeitet. Sei es zum Beispiel die Fotoanalyse im Dialogischen ElternCoaching und Konfliktmanagement, die Copingstrategien aufzeigen, die eigentlich in der zweiten Dimension von Relevanz sind, die Ressourcenorientierung des Familienrats oder das Projekt „Integration statt Isolation“ des Heidelberger Modells, welches die Inklusion in gesellschaftliche Teilsysteme ermöglichen soll. Damit sind wir abschließend der Auffassung, dass nur über adäquate Konzepte ein Zugang zur Individualität einer Familie möglich ist und die Unterteilung in Dimensionen grundsätzlich sinnvoll ist. Aber wir vertreten den Standpunkt, dass die Individualität einer Familie gerade darin liegt, dass sich ihre Problemlagen gegenseitig bedingen und damit deren Probleme ohne eine multiperspektivische Sichtweise nicht umfassend und nachhaltig lösbar sind. Folglich wäre es somit unmöglich, die Familie dazu zu befähigen, eine eigene Problemlösefähigkeit zu entwickeln. Literaturverzeichnis 74 Literaturverzeichnis AGFJ Familienhilfe-Stiftung: Familienorientierte Schülerhilfe nach dem Heidelberger Modell. Url: http://www.heidelbergermodell.de/familienorientiertesch%C3%BClerhilfe-nach-dem-heidelberger-modell [Stand 11.06.2015] AGFJ Familienhilfe-Stiftung: Integration statt Isolation. Url: http://www.heidelbergermodell.de/integration-statt-isolation-0 [Stand 11.06.2015] AGFJ Familienhilfe-Stiftung: Sozialpädagogische Familienhilfe nach dem Heidelberger Modell. Url: http://www.heidelbergermodell.de/sozialp%C3%A4dagogische-familienhilfe-nachdem-heidelberger-modell [Stand 10.06.2015] AGFJ Familienhilfe-Stiftung: Unsere Leitlinien. Url: http://www.heidelbergermodell.de/unsere-leitlinien-0 [Stand 10.06.2015] Armbruster, Meinrad. 2006. Eltern-AG. Das Empowerment-Programm für mehr Elternkompetenz in Problemfamilien. Heidelberg: Carl-Auer Verlag. Bandow, Yasemin u.a.. 2011. Familienrat in der Praxis - ein Leitfaden. Berlin: Eigenverlag des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge e.V.. Buchholz-Graf, Wolfgang. 2001. Empowerment und Ressourcenorientierung in der Familien-, Kinder- und Jugendhilfe. Zwei Konzepte, ihre Allianz und ihr Methoden. In: Kreuzer, Max. Hrsg. Handlungsmodelle in der Familienhilfe. Zwischen Networking und Beziehungsempowerment. Neuwied u.a.: Luchterhand Verlag. S. 85-109. Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung: Familien und Lebensformen. Url: http://www.bibdemografie.de/DE/ZahlenundFakten/12/familien_und_lebensformen_node.html [Stand 29.04.2015] Eckes-Granini Deutschland GmbH: hohes C Zeit für Familie. Url: https://www.hohesc.de/specials/zeit-fuer-familie/projekte [Stand 28.04.2015] Früchtel, Frank/ Straub, Ute. Mädchen und Gewalt. Standards des Familienrates. In: Forum Erziehungshilfen. 17 (2011). H.1, S. 47-50. Literaturverzeichnis 75 Goldbrunner, Hans. 1996. Arbeit mit Problemfamilien. Systemische Perspektiven für Familientherapie und Sozialarbeit. Mainz: Matthias-Grünewald-Verlag. 5. Auflage 1996. Gut, Andreas. 2014. Aufsuchen, Unterstützen, Beraten. Lebensweltorientierung und Familientherapie in der Sozialpädagogischen Familienhilfe. Heidelberg: CarlAuer Verlag. Herriger, Norbert. 2014. Empowerment in der Sozialen Arbeit. Eine Einführung. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer. 5., erweiterte und aktualisierte Auflage 2014. Jordan, Erwin/ Maykus, Stephan/ Stuckstätte, Eva C.. 2012. Kinder- und Jugendhilfe. 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Die Arbeit hat mit gleichem bzw. in wesentlichen Teilen gleichem Inhalt noch keiner Prüfungsbehörde vorgelegen. Neubrandenburg, 01.Juli 2015 Annegret Kohls Jan Nastola
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