Bücher am Sonntag - Neue Zürcher Zeitung

Nr. 10 | 29. November 2015
NZZ am Sonntag
Siegfried Lenz
Der grosse
Erzähler ist neu
zu entdecken
4
Jugendbuch
Computer
hacken leicht
gemacht
15
Schwächelnd
Um die Männer
ist es schlecht
bestellt
20
Holocaust
US-Historiker
Snyder über
Unmenschen
23
Bücher
am Sonntag
Die wilden Jahre der alten Tante.
NEU
Ihre wichtigsten Kampfmittel waren Humor, Spott und
Sarkasmus. Die ersten Redaktoren der «Zürcher Zeitung»
waren rebellische junge Männer, die der Zensur trotzten,
den kirchlichen Glauben infrage stellten und das eine oder
andere Mal dafür im Gefängnis landeten. Dieses Buch
handelt von der Entstehungsgeschichte des modernen
politischen Journalismus und der «Neuen Zürcher Zeitung»,
die ihn geprägt hat. Es entführt den Leser in die abenteuerlichen ersten 20 Jahre der «Zürcher Zeitung», welche die
Spätaufklärung, mehrere Revolutionen und den Zusammenbruch des Ancien Régime sahen.
Urs Hafner
Subversion im Satz
Die turbulenten Jahre der «Neuen Zürcher Zeitung»
(1780-1798)
2015, 180 S., 20 Abb., gebunden mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-03810-093-5
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Fr.
4 Aus dem Kloster geflohen, Kämpfer für die Pressefreiheit.
Franz Xaver Bronner, von 1795 bis 1798 Redaktor der Zürcher
Zeitung. Anonymer Stich, ohne Datum.
122
5 Der Richtungswechsel zeigt den Redaktorenwechsel an.
Als einziges illustratives Element ziert der forsche Postreiter die Zürcher Zeitung während
ihrer ersten vier Jahrzehnte, mit Ausnahme der Zeit der Helvetik. Er schmückte schon die
Montags-Zeitung, die Vorgängerin der Zürcher Zeitung. Jedes Mal, wenn ein neuer Redaktor
sein Amt antritt, ändert der Reiter die Richtung.
123
nzz-libro.ch
38.– / € 38.–
6 Zürich wird im 18. Jahrhundert auch «Athen an der Limmat» genannt, steht aber unter
strenger geistlicher Zensur.
Ansicht der Stadt Zürich, um 1780. Radierung von Johann Rudolf Holzhalb nach einer
Zeichnung von Johann Jakob Koller.
124
7 «Die Weltgegebenheiten nicht früher anzeigen, als sie geschehen sind.»
Ein ironisches Statement mit tiefem Sinn. Die erste Ausgabe der Zürcher Zeitung,
12. Januar 1780.
Inhalt
Die sanfte
Kraft
der Feder
Siegfried Lenz
(Seite 4).
Illustration von
André Carrilho
Belletristik
4
6
7
8
9
10
11
12
13
Siegfried Lenz: Die Erzählungen
Von Manfred Papst
Raoul Schrott: Die Kunst an nichts zu
glauben
Von Claudia Mäder
Elena Chizhova: Die Terrakottafrau
Von Sabina Meier Zur
Lee Child: Der Anhalter
Von Bruno Steiger
Pier Paolo Pasolini: Kleines Meerstück
Von Angelika Overath
Olivier Rolin: Der Meteorologe
Von Martin Zingg
Christoph Schreier (Hrsg.): New York Painting
Von Gerhard Mack
Adolf Muschg: Die japanische Tasche
Von Charles Linsmayer
Umberto Eco: Nullnummer
Von Sandra Leis
Andor Endre Gelléri: Die Grosswäscherei
Von Janika Gelinek
Kurzkritiken Belletristik
13 Eduard von Keyserling: Fräulein Rosa Herz
Von Manfred Papst
Ulrike Ulrich: Draussen um diese Zeit
Von Regula Freuler
Fred Vargas: Das barmherzige Fallbeil
Von Regula Freuler
Zsuzsanna Gahse: Jan, Janka, Sara und ich
Von Manfred Papst
Kinder- und Jugendbuch
14 Matthew Quick: Goodbye Bellmont
Von Daniel Ammann
Abby Hanlon: Donner und Dory
Von Verena Hoenig
Timo Parvela, Pasi Pitkänen: Pekkas geheime
Aufzeichnungen
Von Verena Hoenig
Läden und Leuchtketten behaupten es seit Wochen, und nach dem ersten
Glühwein wollen wir es gerne glauben: Die Zeit der Wünsche steht vor der
Tür. Jene unserer Leser liegen uns besonders am Herzen, und so kommen
wir mit Vergnügen der Anregung eines jungen Bücherfreundes nach. Ein
Teilnehmer des diesjährigen Zukunftstages gab jüngst zu Protokoll, dass er
als Chefredaktor der NZZ für mehr Kindertitel in den «Büchern am Sonntag» sorgen würde – wir empfehlen ihm, direkt auf Seite 14 vorzublättern.
Die weiteren Punkte seiner Wunschliste stellen uns vor grössere Probleme.
An der ersehnten «Anti-Hausaufgaben-Maschine» tüfteln wir noch. Und
die Welt ohne Krieg, die wir uns nicht weniger als unser jugendlicher Leser
wünschen, scheint in immer weitere Ferne zu rücken. Was vermag die
Feder gegen das Schwert? Nicht viel, ist man versucht zu sagen. Nicht
nichts, sagt uns Serhij Zhadan. Der ostukrainische Autor macht in brechend
vollen Sälen seiner Heimat die Erfahrung, dass Bücher in Kriegszeiten wie
Therapiemittel wirken. Mehr über die tröstliche Kraft der Kultur lesen Sie
im Porträt von Kahtrin Meier-Rust ab S. 16.
Der (post-)sowjetische Osten steht auch in den Romanen von Elena
Chizhova (S. 7) und Olivier Rolin (S. 10) im Zentrum; zudem laden wir Sie in
mexikanische (S. 29), amerikanische (S. 26) oder männliche (S. 20)
Problemgebiete ein und hoffen, mit unseren 45 Rezensionen den einen
oder anderen Lesewunsch in Ihnen zu wecken! Claudia Mäder
Hillary T. Smith: Hellwach
Von Christine Knödler
Katrin Zipse: Die Quersumme von Liebe
Von Andrea Lüthi
15 Chris Köver, Daniel Burger,
Sonja Eismann: Hack’s selbst
Von Daniel Ammann
Irène Cohen-Janca, Maurizio A.C.
Quarello: Die letzte Reise
Von Hans ten Doornkaat
Bärbel Oftring: Tatort Natur
Von Verena Hoenig
V. Ballhaus, R. Habinger: Kritzl & Klecks
Von Christine Knödler
Lutz van Dijk: Afrika – Geschichte eines bunten
Kontinents
Von Sabine Sütterlin
Porträt
16 Wenn Bücher zu Zufluchtsstätten werden
Kathrin Meier-Rust hat mit dem
ukrainischen Dichter und Aktivisten Serhij
Zhadan über Kultur und Krieg gesprochen
Kolumne
19 Charles Lewinsky
Das Zitat von Ludwig Börne
Kurzkritiken Sachbuch
19 Arnold van de Laar: Schnitt
Von Kathrin Meier-Rust
Urs Hafner: Subversion im Satz.
Die turbulenten Anfänge der «Neuen Zürcher
Zeitung» (1780–1798)
Von Claudia Mäder
Thomas Frischknecht: Die Pionierin am Mikrofon.
Tudi Weder-Greiner
Von Simone Karpf
Bernadetta Craveri: Marie Antoinette und die
Halsbandaffäre
Von Kathrin Meier-Rust
Sachbuch
20 Cornelia Koppetsch, Sarah Speck: Wenn der
Mann kein Ernährer mehr ist
Toni Tholen: Männlichkeiten in der Literatur
Matthias Franz, André Karger (Hrsg.):
Angstbeisser, Trauerkloss, Zappelphilipp?
Von Walter Hollstein
22 Michael Schmieder: Dement, aber nicht
bescheuert
Von Klara Obermüller
23 Timothy Snyder: Black Earth
Von Urs Bitterli
24 Rüdiger Jungbluth: Die Quandts
Von Sebastian Bräuer
Paul Nolte: Hans-Ulrich Wehler
Von Victor Mauer
25 Ueli Mäder: Macht.ch
Von René Scheu
Jean-Henri Fabre: Pilze
Von Simone Karpf und Claudia Mäder
26 PaulTheroux:TiefimSüden
MichaelKimmel:AngryWhiteMen
Von Peter Studer
27 DavidSchoenbaum:DieVioline
Von Corinne Holtz
28 Sigrid Bauschinger: Die Cassirers
Von Claudia Kühner
Rudolf Taschner: Die Mathematik des Daseins
Von André Behr
29 Johann Hari: Drogen
Carmen Boullosa, Mike Wallace: Es reicht
Von Michael Holmes
30 Beatrice Schumacher: Kleine Geschichte der
Stadt Luzern
Von Alexis Schwarzenbach
Das amerikanische Buch
Stacy Schiff: The Witches: Salem, 1692
Von Andreas Mink
Agenda
31 Willi Wottreng: Einmal richtig spinnen können
Von Manfred Papst
Chefredaktion Felix E.Müller (fem.) Redaktion Claudia Mäder (cmd., Leitung), Regula Freuler (ruf.), Simone Karpf (ska.), Kathrin Meier-Rust (kmr.), Manfred Papst (pap.)
Ständige Mitarbeit Urs Bitterli, Hildegard Elisabeth Keller, Manfred Koch, Gunhild Kübler, Sandra Leis, Charles Lewinsky, Andreas Mink, Klara Obermüller,
Angelika Overath, Martin Zingg Produktion Eveline Roth, Björn Vondras (Art Director), Susanne Meures (Bildredaktion), Manuela Klingler (Layout), Korrektorat St.Galler Tagblatt AG
Verlag NZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich, Telefon 0442581111, Fax 0442617070, E-Mail: [email protected]
29. November 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3
Belletristik
Erzählungen Das Werk von Siegfried Lenz (1926–2014) beeindruckt durch seine Welthaltigkeit,
Farbigkeit und Konsequenz. Der Wahlhamburger war ein grosser Geschichtenerfinder. In einer
Gesamtausgabe seiner Erzählungen ist er neu zu entdecken
EinKellervollmitJoha
Siegfried Lenz: Die Erzählungen.
Hoffmann und Campe, Hamburg 2015.
2 Bände in Schuber, 1600 Seiten, Fr. 68.–.
Von Manfred Papst
Bollerup liegt nördlich von Kiel. Die
meisten Leute im Dorf heissen Feddersen. Da sind zum Beispiel Friedrich und
Leo. Ihre Familien sind verfeindet. Seit
zweihundert Jahren haben sie kein Wort
mehr miteinander gesprochen. Als Kröten und Iltisse bezeichnen sie einander
gegenüber Dritten. Doch einmal wird das
Schweigen unterbrochen. Die beiden
Männer sind in ihren Booten hinausgefahren, um Reusen aufzunehmen, geraten in einen Sturm, ertrinken um ein
Haar und können sich als Nichtschwimmer nur retten, indem sie sich aneinanderklammern, bis sie von mächtigen
Wellen ans Ufer gespült werden. Dort
leeren sie ihre Flachmänner mit Rum.
«Schade um die Aale», sagt Friedrich
nach einer Weile. «Ja, schade um die
Aale», sagt Leo. Dann gehen die beiden
untergehakt über die Steilküste zurück
bis zum Dorfplatz, wo sie sich voneinander lösen: «Kröte», zischt der eine, und
der andere zischt zurück «Gefleckter
Iltis, du!» Das war’s dann wohl wieder für
zweihundert Jahre.
Solche Geschichten erzählt uns Siegfried Lenz. Sein Vorrat an Figuren, Ideen,
Anekdoten ist unerschöpflich. Manche
seiner Erzählungen sind lustig und skurril, manche sind bewegend, ja erschüt-
Hommage an S. Lenz
Neben den Erzählungen in zwei Bänden
hat der Verlag Hoffmann & Campe zwei
Bücher herausgebracht, die seinen verstorbenen Autor ehren: «Siegfried Lenz,
1926–2014. Eine Hommage», 111 S., Fr.
17.90, E-Book 7.90, sowie «Siegfried Lenz.
Der Autor und sein Verlag», 133 S., Fr.
23.90, E-Book 7.90. Die erste Publikation
versammelt die Nachrufe der wichtigsten deutschen Publizisten auf den Autor
sowie die Reden, die an der Trauerfeier
Ende Oktober 2014 in Hamburg von Helmut Schmidt, Karl-Heinz Ott und anderen
gehalten wurden; die zweite enthält die
Reden, die Siegfried Lenz an diversen
Verlagsanlässen gehalten hat, vor allem
aber eine komplette Bibliografie mit
Farbabbildungen der Umschläge – ein
interessantes Stück Verlagsgeschichte.
4 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. November 2015
ternd, manche sind alles auf einmal.
Angestrengt wirken sie nie. Aber sie sind
nicht blosse Causerien. Sie haben eine
Haltung, sie haben eine Botschaft. «Was
sind Geschichten?», hat Siegfried Lenz
sich einmal gefragt und folgende Antwort gegeben: «Man kann sagen, zierliche Nötigungen der Wirklichkeit, Farbe
zu bekennen. Man kann aber auch sagen:
Versuche, die Wirklichkeit da zu verstehen, wo sie nichts preisgeben möchte.»
Genau diese verborgene Wirklichkeit hat
er in seinen Werken immer wieder aufgespürt und gestaltet.
1951 veröffentlichte Siegfried Lenz bei
Hoffmann & Campe sein erstes Buch «Es
waren Habichte in der Luft». Seinem Verlag blieb er über mehr als sechzig Jahre
treu. Ein gutes halbes Hundert Bücher
hat er ihm anvertraut: Romane, Novellen, Erzählungen, Dramen, Gedichte.
Treu blieb er auch sich selbst. Er war ein
Erzähler von altem Schrot und Korn, kein
Experimentator und Innovator, aber
einer, der in Figuren, Dialogen, Landschaften und Geschichten dachte.
Von Moden liess sich Siegfried Lenz
nicht beirren. Schon ab Mitte der 1950er
Jahre zählte der 1926 im ostpreussischen
Lyck geborene Autor zu den erfolgreichsten deutschen Schriftstellern. «So zärtlich war Suleyken», ein Band heiterer Geschichten aus seiner masurischen Heimat, die Romane «Der Mann im Strom»,
«Brot und Spiele» und «Stadtgespräch»
sowie die Erzählungsbände «Jäger des
Spotts» und «Das Feuerschiff» begründeten seinen Ruhm, der mit dem weltweit
erfolgreichen Roman «Deutschstunde»
von 1968 seinen Zenit erreichte.
Als Traditionalist abgebucht
In den folgenden Jahren und mit den
weiteren grossen Deutschland-Romanen
«Das Vorbild», «Heimatmuseum» und
«Exerzierplatz» zählte Siegfried Lenz mit
Heinrich Böll und Günter Grass zu den
wirkungsmächtigsten Autoren der Bundesrepublik. Einem Teil der Literaturkritik und namentlich der marxistisch
imprägnierten Germanistik jener Jahre
wurde er jedoch zunehmend suspekt.
Ein kritischer Bewahrer, kein leichtfertiger Zertrümmerer, zudem ein bedächtig
auftretender, nachdenklicher Mann – das
passte nicht zum Zeitgeist. Plötzlich galt
Siegfried Lenz als Gestriger und wurde
als Traditionalist abgebucht. Der Wahlhamburger liess es sich nicht verdriessen
und legte mit der Regelmässigkeit eines
Uhrwerks weiterhin seine Bücher vor. Er
sah vieles kommen und gehen.
In seinen späten Jahren, zumal nach
der Publikation seiner Meisternovelle
«Schweigeminute» im Jahr 2008, stand
er plötzlich wieder im Zentrum des Interesses. Das hatte mehrere Gründe. Zum
einen war Siegfried Lenz, der passionierte Pfeifenraucher mit den hellen Augen,
ein milder, kluger Mensch. Kein Rechthaber wie Günter Grass, kein Berserker
wie Martin Walser, kein stets Beleidigter
wie Walter Kempowski. So umgetrieben,
nnisbeerwein
lich bringt sie alle Geschichten aus den
berühmten Erzählungsbänden «So zärt­
lich war Suleyken», «Das Feuerschiff»,
«Der Spielverderber», «Der Geist der Mi­
rabelle», «Einstein überquert die Elbe bei
Hamburg», «Das serbische Mädchen»
und «Ludmilla».
Sie wartet aber auch mit etlichen Tex­
ten auf, die bisher nur in Zeitungen oder
Zeitschriften greifbar waren und hier
nun erstmals in Buchform erscheinen.
Sie geht also über die bisherigen «Ge­
sammelten Erzählungen» hinaus und
schliesst auch die 2011 unter dem Titel
«Die Maske» erschienenen Texte ein.
Nicht aufgenommen wurde dagegen
«Schweigeminute», vermutlich weil das
Juwel als Novelle und nicht als Erzäh­
lung firmiert. Diese ein wenig beckmes­
serische Unterscheidung mag etwas
erstaunen, zumal die hier enthaltene
Erzählung «Das Feuerschiff» wesentlich
umfangreicher ist als «Schweigeminute»
und durchaus auch als Roman durch­
gehen könnte. Aber wir wollen nicht krit­
teln.
TEUTOPRESS
Ganz Gegenwart
zerrissen, von Zweifeln geplagt seine
vielfach scheiternden Figuren waren –
der Autor war die Freundlichkeit selbst.
Als grosszügig, humorvoll und gelassen
hat ihn auch sein langjähriger Freund
Helmut Schmidt geschildert. Doch das
Gewinnende der Person war nur das
eine. Hinzukam, dass der Tod der Litera­
tur, den manche 1968 verkündet hatten,
nicht stattfand, und jene an Tolstoi und
Tschechow, Hemingway und Faulkner
geschulte Form intensiven und gleich­
wohl unaufgeregten Erzählens, die Sieg­
fried Lenz seit je pflegte, allmählich wie­
der in ihr Recht gesetzt wurde.
Am 7. Oktober 2014 ist Siegfried Lenz
in Hamburg gestorben. Nun legt sein Ver­
lag eine gediegene zweibändige Ausgabe
seiner gesammelten Erzählungen vor,
die uns Lenz noch einmal in seiner
ganzen Vielfalt nahebringen. Die Edition
umfasst etwa 170 Texte. Selbstverständ­
Der 2014 verstorbene
Siegfried Lenz
war passionierter
Pfeifenraucher.
Bemerkenswert ist allemal, dass die
Ausgabe ohne Anmerkungen auskommt.
Mehr als eine editorische Notiz, Quellen­
nachweise und eine Zeittafel finden wir
nicht vor. Mehr brauchen wir aber auch
nicht. Denn Siegfried Lenz hat stets so
geschrieben, dass wir jedes Wort verste­
hen. Das ist bei bis zu 67 Jahre alten Tex­
ten nicht selbstverständlich. Viele der
Geschichten von Siegfried Lenz mögen
in versunkenen Welten spielen. Aber
nichts in ihnen ist vergangen. Sie sind
ganz Gegenwart.
Auch Sven Feddersen gehört zur Welt
von Bollerup. Er ist «ein langarmiger
Mann mit schleppenden Bewegungen,
mit wässrigen Augen und dem Hals eines
ausgewachsenen Truthahns» – und der
Erbe eines ansehnlichen Hofes. Erst im
Alter von 57 Jahren verlobt er sich mit
einer gewissen Elke Brummel. Die Hoch­
zeit, ein gewaltiges Fest, lässt dann aber
nochmals neun Jahre auf sich warten.
Warum nur? Der Friseur Hugo Feddersen
fasst sich am Fest ein Herz und fragt den
Bräutigam. Sven erwidert: «Als mein
Onkel starb, da hinterliess er mir einen
ganzen Keller voll Johannisbeerwein. Es
gibt nichts, was ich so gerne trinke wie
dieses Zeugs. Nachdem ich die erste Fla­
sche probiert hatte, sagte ich mir: Heira­
ten kannst du, wenn der Keller leer ist;
denn so ein Tröpfchen, das trinkt man
besser allein.» ●
29. November 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 5
Belletristik
Lyrik Raoul Schrott erdichtet Quellen aus der Vormoderne und schreibt über das Hier und Jetzt
BibelderWeltlichkeit
Raoul Schrott: Die Kunst an nichts zu
glauben. Hanser, München 2015.
168 Seiten, Fr. 23.90.
Von Claudia Mäder
Mit Buchtiteln ist es so eine Sache. Nicht
immer treffen die phantasievollen Kreationen von Verlagen und Autoren den
Geschmack der Leser respektive den Inhalt des Werks. Den vorliegenden Titel
von Raoul Schrott aber darf man nicht
nur interessiert zur Hand, sondern mit
jedem Wort beim Namen nehmen, ja
man muss das sogar tun, um in dieses so
merkwürdige wie brillante Werk einzutauchen.
«Die Kunst an nichts zu glauben» – das
ist zunächst einmal die Überschrift eines
atheistischen Pamphlets von 1574. Nachdem sein Verfasser gehenkt und verbrannt worden war, zirkulierte das Büchlein weiter, und in der Bibliothek von
Ravenna will Schrott nun eine unbekannte Neubearbeitung aus der Zeit um
1700 aufgestöbert haben. «Manual der
transitorischen Existenz» nennt der Lyriker diesen Fund, den er uns nach einem
ausladenden Vorwort häppchenweise
präsentiert: Zahlreiche Auszüge aus dem
«Manual» bilden, umrahmt von Schrott’schen Gedichten aus den letzten Jahren,
den gedanklichen Sockel des Buches.
«Die Kunst an nichts zu glauben» – das
ist sodann auch ein Hinweis an uns Leser.
Raoul Schrott ist ein poetischer Tausendsassa, er hat Homer neu übersetzt, die
Lyrik mit der Hirnforschung vernetzt, ein
Epos über die Entstehung der Erde erarbeitet – und nun eine atheistische Bibel
erdichtet. Der fragliche Text stammt
zweifellos aus Schrotts Feder, die Maskerade ist aber alles andere als eine
selbstvernarrte Spielerei: Indem der
Autor die Entstehung seines Buchs in die
Frühaufklärung verlagert, verweist er
darauf, dass sich seine Gedanken aus
mannigfachen Quellen speisen. Der
Grundtenor des «Manuals» ist denn auch
kein streng atheistischer. Dass da kein
Gott ist, erwähnen zwar einzelne der Miniaturen, in der Hauptsache aber plädieren sie für eine radikale Ausrichtung auf
das Diesseits: «alles was wir erleben –
alles was real ist – sind einzelne
augenblicke.» Nicht nur hinsichtlich
eines fernen Jenseits, sondern schon
über den einzelnen Moment hinaus ist
Zukunft «fiktion und fraglich» und das
vergängliche Hier und Jetzt die einzige
Behausung des Menschen.
Nie will der Verstand diesen Sentenzen widersprechen. Und doch bleibt es
eine Kunst, an nichts zu glauben. Der
stringenten Logik des «Manuals» stellt
Schrott sinnigerweise Gedichte zur Seite,
die einzelne Menschen – zumeist Berufstätige, aber auch Liebende oder Scheidende – aus dem Alltag sprechen lassen;
das Daheimsein «in all diesem vorüber»
erweist sich dabei öfters als ungemütlich, so dass etwa der Architekt entscheidet, die Kulisse der Beständigkeit mit
weiteren Bauten zu bestücken. Keine beanstandet die Unzulänglichkeit der rein
präsentischen Existenz aber eindringlicher als die Ärztin, die über den Menschen sagt: «er lebt auch von dem was
zukünftig ist und undeutbar / ohne diesen gleisnerischen trost werden seine
pupillen trüber / ist er das mündel der
angst / blut schweiss und tränen / eine
wandelnde lungenmaschine.»
Inwieweit Schrott die titelgebende
Kunst beherrscht, ist offen. Fraglos ist,
dass er die magische Kraft besitzt, den
ins Dasein geworfenen Menschen mit
Worten ein kleines Zuhause zu zimmern
– einen Gedankenhort, der Mut schöpfen
lässt für das, was uns einzig übrigbleibt,
nämlich «weiterzumachen unter einem
in sternen zerstreuten himmel». ●
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6 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. November 2015
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Roman Die Petersburger Autorin Elena Chizhova erzählt von einer jungen Akademikerin,
die sich im Russland der 1990er Jahre als alleinerziehende Mutter durchschlagen muss
Raubtierkapitalismus
imHinterhof
«Die Terrakottafrau»
bietet einen betont
weiblichen Blick auf
die Umbrüche im
postsowjetischen
Russland.
Elena Chizhova: Die Terrakottafrau.
Deutsch von Dorothea Trottenberg.
dtv, München 2015. 384 Seiten,
Fr. 23.90, E-Book 16.90.
An die 1990er Jahre erinnert man sich in
Russland heute ungern. Die damals neu
errungene Meinungs- und Pressefreiheit
interessiert heute kaum jemanden mehr.
Die meisten Russen verbinden die Neunziger mit sozialer Unsicherheit, Kriminalisierung, Versorgungsengpässen und
zerbrochenen Biografien. Der Roman
«Die Terrakottafrau» der Petersburger
Schriftstellerin Elena Chizhova nimmt
sich eben dieser ungeliebten Umbruchszeit an. Wie schon in ihrem ersten, auf
Deutsch erschienenen Roman «Die stille
Macht der Frauen» über die Sowjetzeit,
für den sie 2009 den russischen BookerPreis erhielt, zeichnet Chizhova auch
hier wieder ein wunderbar vielschichtiges, spannungsgeladenes Bild der Epoche des Untergangs der Sowjetunion.
Tatjana, promovierte Philologin und
Hochschullehrerin, hat sich vor kurzem
von ihrem lebensuntüchtigen, lethargischen Mann, einem Historiker, getrennt.
Die Rubelkrise von 1998 trifft sie als alleinerziehende Mutter einer halbwüchsigen Tochter hart. Die bescheidenen Ersparnisse sind dahin, und ihr Gehalt ist
gerade mal drei Kilogramm Fleisch wert.
Während ihr Ex-Mann über die neue
Publikationsfreiheit staunt und ihr vorwirft, in diesem historischen Moment
keine politische Position zu beziehen,
kann Tatjana nur daran denken, wie sie
die Grundnahrungsmittel beschaffen
soll. Als ihr zufällig ein lukrativer Job
bei einem Möbelproduzenten angeboten
wird, zögert sie nicht.
Wer oben ist, gewinnt
Tatjana wird damit schrittweise in die
zwielichtigen Gepflogenheiten der Geschäftswelt eingeweiht. Das Dickicht aus
doppelter Buchführung, Scheinverträgen, gefälschten Stempeln, Bestechung
und eigenmächtigen Sicherheitsdiensten hat streckenweise den Sog eines Krimis – eine Reverenz an das in der Perestroika-Zeit äusserst populäre Genre.
Diese Innenansicht des kleinen Unternehmertums fällt auch deshalb so realistisch aus, weil die Autorin in den neunziger Jahren selbst dort gearbeitet hat.
Im Büro eines schmutzigen, maroden
Hinterhauses von Petersburg steht Tatjana vor einem dostojewskischen Dilemma. Sie soll die überzogenen staatlichen
Zollgebühren auf das Importgeschäft
umgehen helfen. Die Löwenmutter, die
ein Kind ernähren muss, versagt sich die
Opferrollen der Dostojewski-Heldinnen
SIMON CROFTS / ANZENBERGER
Von Sabina Meier Zur
und unterwirft sich dem Darwinismus
der neuen Zeit. Sie hat gar keine Wahl.
«Im Tierreich nennt man das die Nahrungskette. Das ist das Naturgesetz. Wer
oben ist, gewinnt.»
Feinfühlig registriert Tatjana nun die
winzigsten Persönlichkeitsveränderungen an sich selbst. Sie verliert ihr Wissen
über Literatur, stolpert über die ihr anerzogenen Tugenden, übernimmt die harte
Stimme und das Machtgehabe ihres
Chefs. Als sie an sich selbst ein «wölfisches» Verhalten bemerkt, erschrickt sie
über diese schleichende Anpassung an
den Raubtierkapitalismus.
Ununterbrochen leistet Tatjana die
Übersetzungsarbeit zwischen den Epochen – aber die sozialen Rollen sind unberechenbar geworden. Einen ehrlichen
Menschen nennt man nun dumm. Und
ausgerechnet der junge Mitarbeiter, den
sie als ehrlich verteidigte, versucht, die
Firma zu bestehlen. Zu Hause ist es nicht
anders, die Familienverhältnisse sind
verworren, und die alten Geschlechterrollen stehen Kopf. In der neuen russischen Patchworkfamilie verdient Tatjana
das Geld, ihre ebenfalls alleinerziehende
Freundin Jana kümmert sich um die
beiden halbwüchsigen Kinder und die
Hausarbeit. Die Freundinnen lachen
zwar über ihre «lesbische» Zweckehe,
wundern sich aber über die verschwundenen Männer.
Gewinner der neuen Zeit sind die Kinder, fraglos übernehmen sie die ökonomischen Werte. In einem brillant wiedergegebenen Streitgespräch zwischen
Mutter und Tochter kommt es zu einer
Aussprache über die Sowjetzeit. Die Mutter ärgert sich über die Verharmlosung
der stalinschen Verfolgungen, ermahnt
sich jedoch ständig, einerseits cool zu
bleiben, anderseits aber auch nicht locker zu lassen. Doch gegen den jugendlichen Optimismus der Tochter kommt sie
nicht an. Als eine der wenigen bleibt Tatjana gänzlich unbeeindruckt von der modischen Sowjetnostalgie.
Ausstieg bringt Freiheit
Vor dem Hintergrund des Untergangs der
sowjetischen «Zivilisation» und der Entthronung der Intelligenzia ist dies eine
Geschichte der Selbstfindung. Als die
Entfremdung von ihr selbst für sie unerträglich wird, steigt Tatjana aus der Geschäftswelt aus und findet zurück in eine
bescheidene Existenz als Nachhilfelehrerin. In Strickmütze und SecondhandKleidern bleibt sie auf der Seite der
«Loser», wie es auf Russisch jetzt heisst.
Doch hier, am Rande der Gesellschaft,
verhilft ihr die groteske antike Terrakottafigur einer alten schwangeren Frau zu
neuer Freiheit – als Schriftstellerin.
Der virtuose Stil des Romans ist durchtränkt mit literarischen Zitaten und Anspielungen, die Dorothea Trottenberg für
die deutsche Ausgabe präzise übersetzt
und kenntnisreich kommentiert hat.
Tastend bewegt man sich als Leserin vorwärts durch Dialogfetzen, Abschweifungen, Zeitsprünge. Zuweilen droht der
Faden der Geschichte verloren zu gehen
– bis plötzlich ein Wort im Rückblick
ganze Passagen erhellt. Kunstvoll bietet
der Roman eine betont weibliche Sicht
auf die Petersburger Intelligenzia in der
Umbruchszeit (Kleider sind zum Beispiel
ein Dauerthema unter den Protagonistinnen). Elena Chizhova ist ein unsentimentales und komplexes Porträt dieses
Biotops gelungen, in dessen Abgründen
und Skurrilitäten sich die Erfahrung
einer ganzen Generation findet. ●
29. November 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7
Belletristik
Kriminalroman Lee Childs Romane um den ehemaligen Militärpolizisten Jack Reacher spielen im
amerikanischen Niemandsland. Auch der zwanzigste Band der Kult-Serie überzeugt
MitderReisezahnbürste
gegendieBösewichte
«Reacher stieg in Sharon Springs aus,
weil es dort eine ordentliche Strasse nach
Süden gab. Er rechnete sich aus, dass es
nach San Diego ungefähr tausend Meilen
waren – oder mehr, wenn er ein paar Umwege machte.» Der Schluss von «Outlaw», dem 2008 erschienenen zwölften
Band von Lee Childs Romanen um den
ehemaligen Militärpolizisten Jack Reacher, kann als geradezu idealtypisch für
alle Bücher der Reihe bezeichnet werden. Sie enden immer gleich; ähnliches
gilt für etliche Buchanfänge. Es sind
wohl nicht zuletzt diese Schematismen,
die das vom Autor zuverlässig geschürte
Suchtpotenzial der Reihe ausmachen, bis
hin zu Band 20, «Der Anhalter».
Mythischer Einzelgänger
Seinen ersten «Reacher» veröffentlichte
Child 1997. Seither kam Jahr für Jahr ein
neuer Band dazu, ein jeder millionenfach in der ganzen Welt verkauft. «Der
Anhalter» schaffte es gar auf die SpiegelBestsellerliste, eine oder zwei Wochen
konnte das Buch den Platz behaupten,
bevor sein Autor sich wieder auf die Position des global gefeierten Geheimtipps
verwiesen sah. Ein Grund dafür könnte
in der Frage nach der gattungsmässigen
Zuordnung der Reihe liegen. JackReacher-Romane sind weder Krimis
noch Thriller im herkömmlichen Sinn,
selbst die auch schon vorgeschlagene
Kategorisierung «Hard-boiled-Western»
trifft die Sache nicht. Klarheit mag ein
Blick auf die Figur Jack Reacher ver-
KELLY RYERSON / GETTY IMAGES
Von Bruno Steiger
Der Held aus Lee Childs Roman-Serie reist ziellos durch die USA und bringt
dabei etliche Verbrecher zur Strecke.
schaffen. Sie steht im weiten Feld der
Spannungsliteratur ziemlich allein da.
Reacher ist ein Einzelgänger geradezu
mythischen Zuschnitts. Als solcher, als
Phantom fast, durchstreift er die legendären Weiten Nordamerikas in jeder
beliebigen Richtung, durch öder nicht
denkbare Landstriche, ohne definiertes
Ziel noch Beweggrund. Seinen Dienst als
Major bei der Militärpolizei hat er vor
Jahren quittiert. Seither ist er ohne jede
berufliche Bindung, ohne festen Wohnsitz. Möglichst abgelegene Motels dienen
ihm als Übernachtungsmöglichkeiten.
Sein persönliches Eigentum besteht aus
einer Reisezahnbürste und der Kreditkarte, mit der er bei Bedarf auf die seiner-
Onlineshop für secondhand
Lektüre mit über 50 000
Büchern
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8 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. November 2015
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zeit vom Militär ausgerichtete Abfindung
zugreift, etwa, wenn er sich saubere,
neue Kleidung beschaffen muss.
Reacher besitzt weder eine Uhr noch
eine Waffe. Er weiss in jedem Augenblick
die jeweilige Uhrzeit auf die Sekunde
genau; seine Waffe ist sein Körper. In
jedem Band wird sein Äusseres mindestens einmal ausführlich beschrieben. Er
ist einsfünfundneunzig gross, hundertzehn Kilogramm schwer, hundertzehn
Kilogramm gestähltes Kampfgewicht
sind es. Seinen Kopf setzt er vorwiegend
zum Zählen und Rechnen ein, Wahrnehmung ist ihm nie etwas anderes als Einschätzung einer bestimmten Lage. Er
funktioniert wie ein Automat, vor allem
bei Gefahr. Und Gefahr lauert immer und
überall. So ist denn die Erzählanlage
stets dieselbe: Reacher macht irgendwo
Halt, hört per Zufall von einem üblen,
meist den Staat und die Gesellschaft gefährdende Ausmasse annehmenden Verbrechen, bringt die Sache in Ordnung
und zieht weiter, nur ganz selten weniger
als zwei Dutzend erschlagene, erstochene, zuweilen auch schlicht erwürgte
Bösewichte zurücklassend. Zurückbleibt
auch, es darf nicht unerwähnt bleiben,
regelmässig eine jener cleveren Schönen, die Reacher während und nach der
«Arbeit» mit fachlicher Kompetenz und
weiblicher Fürsorge zur Seite stehen.
Von «Zeit und Geometrie» sind Reachers Aktionen bestimmt; dasselbe gilt
für die Dramaturgie und die sprachliche
Abwicklung des Geschehens. Gewisse
Längen nimmt man dabei gerne, ja mit
Freuden in Kauf, die Frage: «Wie kommt
der Autor da nur raus?» stellt sich immer
wieder. Auch wenn die Romane vordergründig wie Schachpartien funktionieren, wirken sie seltsam improvisiert, wie
aus dem Stegreif geschrieben. Der eigentliche Plot wird häufig nur in ein paar
Ein soziales Projekt der Stiftung Tosam www.tosam.ch
Lee Child: Der Anhalter.
Aus dem Englischen von Wulf Bergner.
Blanvalet, München 2015. 445 Seiten,
Fr. 28.90, E-Book 18.90.
Erzählungen Pier Paolo Pasolini kehrt mit zwei frühen poetischen Texten
in die Welt des Friauls zurück, wo er seine Jugend verbracht hat
Im Schatten junger Knabenbeine
Pier Paolo Pasolini: Kleines Meerstück.
Folio Verlag Wien, Bozen 2015.
160 Seiten, Fr. 31.90.
Von Angelika Overath
Nebensätzen erwähnt; nach Childs Überzeugung soll nicht irgendeine Handlung
im Zentrum stehen, sondern die Hauptfigur. Ebenso eingehend, fast obsessiv
widmet sich der Autor der Schilderung
von Strassenverläufen, Tankstellen,
Autobahnraststätten. Jedes in der Handlung vorkommende Fahrzeug wird ebenso detailliert beschrieben wie etwa die
Speisen, die Reacher bei irgendeinem
Zwischenhalt verzehrt, in Unmengen
und mit viel Kaffee, wie es sich gehört.
Kommerz und Ästhetik
Amerikanischer geht’s nicht, könnte
man nun denken. Umso erstaunlicher erscheint die Tatsache, dass es sich beim
Autor um einen waschechten Briten handelt. Lee Child, mit bürgerlichem Namen
Jim Grant, wurde 1954 in Coventry geboren. Nach dem Jurastudium zog es ihn
zum Fernsehen, wo er als Produzent von
vielfach ausgezeichneten Serien wie
etwa «Prime Suspect» Furore machte.
Zum Schreiben entschloss er sich nach
seiner Entlassung; damit verbunden war
der Entschluss zum erfolgreichen, will
sagen: einträglichen Schreiben. Dies
schien ihm nur in den USA möglich, wo
er seit langem lebt.
Bei seiner Fernsehtätigkeit war Child
zur Überzeugung gekommen, dass Kommerzialität ästhetische Ansprüche nicht
zwingend ausschliessen muss. Stilmässig orientiert er sich nach eigener Aussage mit Vorliebe an Sachbüchern; es
mag eine Erklärung sein für die schnörkellose, sich aller literarischen Mätzchen
enthaltende Sprache seiner Bücher. Es
ist nicht zuletzt die erzählerische Ökonomie, die, gepaart mit diskret ausgespielter Eleganz, noch die absurdesten Wendungen in den Reacher-Romanen glaubwürdig erscheinen lässt und den Leser
mitreisst: wohin auch immer. ●
Die beiden frühen Texte Pasolinis (1922–
1975) «Romàns» und «Kleines Meerstück» sind postum 1994 auf Italienisch
und 1996 auf Deutsch in der Übersetzung
der jung verstorbenen Maria Fehringer
bei Folio erschienen. Zum 40. Todestag
des Autors hat der Verlag sie nun dankenswerterweise wieder aufgelegt. Sie
führen zurück in ein verlorenes ländliches Friaul, in dem Pasolini viele Sommerferien verbrachte und später als
Junglehrer arbeitete. Unter der Anschuldigung, er habe sich an Buben vergriffen
(was widerlegt wurde), musste Pasolini
den Schuldienst aufgeben. Mit der
geliebten Mutter floh er nach Rom.
«Romàns» und «Kleines Meerstück» sind
geprägt von der extremen Spannung des
jungen Autors zwischen einem bürgerlich-katholischen Elternhaus und seiner
als schuldhaft und schicksalhaft empfundenen Homosexualität.
Stilistisch könnten die beiden Texte
nicht verschiedener sein. «Romàns» erzählt psychologisch genau und mit sinnlichen Impressionen von einem jungen
Kaplan, der 1947 in ein friaulisches Dorf
kommt und dort in die politisch-sozialen
Spannungen der Nachkriegszeit gerät.
Für die Söhne der Tagelöhner und Kleinbauern macht er eine Schule auf. Abends
diskutiert er mit dem kommunistischen
Berufsschullehrer. Sein gesellschaftliches Engagement ist aber durchtränkt
von «der Sache», seiner Sehnsucht nach
den schönen, fussballspielenden Knaben
in den kurzen Hosen. Auch wenn er sie
nach bestem Wissen und Gewissen unterrichtet, fühlt er sich ihnen doch sündhaft verbunden. Vor allem der schöne,
scheue vierzehnjährige Cesare beschäftigt ihn, und der junge Kaplan bricht zusammen, als Cesare mit seinem Vater
nach Kanada auswandert.
«Kleines Meerstück» betritt poetisch
freieren Boden. Hier liegen Sacile und
Cremona am Meer. In ungeheuren Überblendungen mischt Pasolini – der das
Meer noch nicht gesehen hatte – Kindheitserinnerungen und Leseerfahrungen. Seine Ozeane, seine Lagunen der
Imagination durchfluten die gegenwärtig erlebten Flusslandschaften des Po.
Und der Leser gerät in ein Sprachmeer,
das sich aus Bildern, Begehren und
Sound speist. So erzählt die kleine Prosa
im Grunde davon, «wie ein ästhetisches
Bewusstsein entsteht», schreibt Maike
Albath in ihrem schönen Nachwort. ●
Ausgangspunkt für Pasolinis poetische Erkundungen des Meers: die Flusslandschaft des Po.
TOBIAS
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Hans-Ulrich Regius
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29. November 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 9
Belletristik
Roman Der französische Autor Olivier Rolin erzählt die erschütternde Geschichte eines linientreuen
russischen Meteorologen, der zum Opfer von Stalins Terrorsystems wird
Jederdenunziertjeden
Olivier Rolin: Der Meteorologe.
Aus dem Französischen von Holger Fock
und Sabine Müller. Liebeskind,
München 2015. 191 Seiten, Fr. 27.90.
Von Martin Zingg
Er weiss alles über die Wolken. Und weil
am Himmel so vieles entschieden wird,
ist er einige Jahre lang eine einflussreiche Person: Alexei Feodossjewitsch Wangenheim – Meteorologe, Begründer und
ab 1929 erster Direktor des Hydro-Meteorologischen Dienstes der Sowjetunion.
Wangenheim sammelt und interpretiert
meteorologische Daten, die wichtig sind
für die Luftfahrt, für den Schiffsverkehr
und vor allem für die Landwirtschaft der
jungen Sowjetunion. Und als auch die
Stratosphäre erforscht werden soll, greift
die sowjetische Forschung auf seine
Messinstrumente zurück, er scheint unentbehrlich. Wangenheim hat Jahrgang
1881 und lebt in Moskau. Er ist verheiratet, hat eine Tochter und ist ein treues
und gutgläubiges Mitglied der kommunistischen Partei.
Seine Unentbehrlichkeit als Meteorologe währt indes nicht lange. Am Abend
des 8. Januar 1934 wartet seine Frau
vergeblich in den Kolonnaden des Bol-
Lust auf Farbe Vom sinnlichen Umgang mit Malmitteln
Da scheint einer masslos zu schreien: Der Mund ist weit
aufgerissen, im Hirn brennen gerade die Synapsen
durch, und die graue Masse beginnt in schmutzigem
Grün auszulaufen, als wäre ein Schädel einfach eine
Lache Farbe, die keine Ruhe zum Trocknen erhält. Das ist
es zunächst einmal auch, was wir sehen. Man glaubt es
Elizabeth Cooper, wenn sie von einer «Liebe zur Farbe
und zum sinnlichen Umgang mit Malmitteln» spricht.
Die 1972 geborene Malerin ist geprägt von der Pop Art,
ihrer Lust auf Comics und ihrer Erinnerung an Kindersendungen aus den siebziger Jahren. Als Highschool10 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. November 2015
Studentin hat sie 1989 als Weihnachtswichtel bei Macys
gejobbt und das so empfunden, als würde sie in einem
Bild herumlaufen. Daraus nimmt sie sich die Freiheit für
eine knallige Palette und einen körperhaften Umgang
mit Farbe. Sie zählt zu den jüngeren Künstlern, die der
Malerei in der Metropole am Hudson ein fulminantes
Comeback bescheren. Der Band macht mit elf ausgewählten Positionen deutlich, wie heterogen Malerei in
New York heute ist. Gerhard Mack
Christoph Schreier (Hrsg.): New York Painting. Hirmer,
München 2015. 192 Seiten, 100 Farbabb., Fr. 49.90.
schoi-Theaters auf ihn. Gemeinsam wollte man sich eine Oper von Rimski-Korsakow ansehen. Aber kurz zuvor hat die
Staatspolizei Wangenheim verhaftet.
Noch glaubt er an ein Versehen, weil er
auch lange gar nicht weiss, weshalb er
eingesperrt ist und gefoltert wird. Dass
es dafür gar keine Gründe braucht, wird
er erst später realisieren.
«Der Meteorologe»: So kühl, so sachlich lautet der Titel des jüngsten Buches
von Olivier Rolin, das die Geschichte von
Wangenheim erzählt. Der französische
Autor schildert darin nicht allein das
Schicksal des leidenschaftlichen Wetterforschers, sondern skizziert gleichzeitig
auch das politische Klima in der Stalinära, das diesem keineswegs aussergewöhnlichen Menschen zum Verhängnis
geworden ist.
Wangenheim wird unter anderem «Organisation und Steuerung der konterrevolutionären Sabotagetätigkeit» in der
Behörde vorgeworfen, die er leitet: Fälschung von Wettervorhersagen mit dem
Ziel, der Landwirtschaft zu schaden. Er
ist denunziert worden. In jenen Jahren
denunziert jeder jeden. Wer seine Haut
retten will, liefert einen anderen ans
Messer. Wangenheim landet in einem
Lager auf den Solowetzki-Inseln im
Weissen Meer. Er kann in einer Bibliothek arbeiten, er hält Vorträge und
schreibt Briefe. In Briefen an hohe Funktionäre und selbst an Stalin beteuert er
seine Unschuld, und seiner Frau schildert er den Alltag im Gulag. Seiner Tochter wiederum schickt er charmante kleine Bilderrätsel und Zeichnungen von
Pflanzen und Tieren (die im Buch wiedergegeben werden).
Olivier Rolin, geboren 1947 und in frühen Jahren militanter Maoist, verhandelt
auch in diesem Buch seine einstige politische Naivität. Und seit Jahrzehnten ist
er immer wieder unterwegs in Russland.
Auf einer seiner Reisen ist er zufällig auf
das Album mit diesen Bildern gestossen
und damit auf das Schicksal Alexei Wangenheims. Dieser ist im Herbst 1937 in
einer Massenexekution umgebracht worden, die Zahl der Toten war als Plansoll
definiert.
Jahrzehnte danach hat Rolin mit Hilfe
von mutigen Menschen der «Memorial»Initiative die Spur des Meteorologen
Wangenheim aufgenommen und dessen
Leben anhand der erhaltenen Briefe rekonstruiert. Er hat in Archiven gesucht,
ist in jene Gegend gereist, wo das Massengrab liegt und hat es ausfindig gemacht. Der Roman verschränkt auf sehr
behutsame Weise Fiktion und sorgfältig
recherchierte Lebensgeschichte – voller
Respekt für eine Generation, die zuerst
an die Versprechungen des Kommunismus glaubte und dann Opfer des Terrorsystems wurde. Holger Fock und Sabine
Müller haben das berührende Porträt
vorzüglich übersetzt. Die derzeitige politische Lage verleiht Rolins Buch eine bedrückende Aktualität. ●
Roman Adolf Muschg lässt eine Tasche verschwinden und frühere Romanfiguren auferstehen
Adolf Muschg: Die japanische Tasche.
C.H. Beck, München 2015. 484 Seiten,
Fr. 28.90, E-Book 22.–.
MAURITIUS IMAGES
Helden,dieihreAugennicht
zumSterbenschliessen
Von Charles Linsmayer
Er suche jetzt «über allem die Begegnung mit dem Unmöglichen», beendet PR-Agent Bischof in Adolf
Muschgs Erstling «Im Sommer
des Hasen» 1965 sein Kündigungsschreiben, und er sei
entschlossen, «jeden Weg
künftig so allein zu gehen,
wie ich den letzten ohnehin gehen müsste». 1974,
in «Albissers Grund», ist
Bischof als Constantin
Zerutt wieder da, und
obwohl der Roman in
einen Vampirakt mündet, gegen den spätere
muschgsche Schrecklichkeiten Zuckerschlecken sind – sterbend
beisst der Psychologe
Zerutt dem Arzt ein Ohr
ab –, heisst es zuletzt: «Er
schloss das eine Auge,
aber nicht zum Sterben,
nie mehr zum Sterben,
oder noch lange nicht; eine
kurze Weile nicht; Jahre,
die man nicht mehr zu
fürchten und zu erzählen
braucht, wenn es nur gelingt,
sie zu leben.» Was ihm dann
auch gelingt, taucht Zerutt 1984
in «Das Licht und der Schlüssel»
doch wieder auf: als schreibender
Vampir Samstag, der in einem Amsterdamer Keller haust und der kranken
Mona im nächtlichen Gespräch bekennt:
«Alles Geschriebene ist ein Heimkehrversuch.» 15 Jahre geht es, bis der Revenant 2001 in «Sutters Glück» als Gerichtsreporter Emil Gygax wieder da ist und
am Ende wie seine Frau Ruth durch das
Wasser des Silsersees ins Totenreich
zurückkehrt. Für nochmals 15 Jahre,
denn diesen Herbst, in «Die japanische
Tasche», wird Gygax – «Für gute Christen
müsste Auferstehen normal sein!» – aus
der Eisstarre eines kanadischen Kühlschranks wieder aufgetaut.
Magisches und Alltägliches
Natürlich ruft der Roman so die magischmythische Dimension des Parzival-Romans «Der rote Ritter» in Erinnerung,
gleichzeitig aber führt er, was die Handlung und die Bezüge zur Naturwissenschaft betrifft, mitten in die heutige Aktualität und in Adolf Muschgs Alltag hinein. Der Verlust einer japanischen Tasche
2013 im Zürcher Hauptbahnhof und die
Der Verlust einer
japanischen Tasche
inspirierte Adolf
Muschg zu seinem
neuen Roman.
Attacke eines Kriminellen
2006 während eines Historikertags in Konstanz hätten
die Keimzelle des Romans
geliefert, erzählte Muschg
2014 der «NZZ am Sonntag».
Aber nicht nur Zürich und
Konstanz, auch sein Atelier in Männedorf, das
Tagungszentrum Boldern und sein Berliner
Wohnsitz bilden die
Schauplätze, an denen er den Roman
von 1980 bis 2009
spielen lässt.
Als Emil Gygax
2 00 6 e r s tm al s
e r sc h ei nt u nd
gleich schon als
Berater in Liebesdinge n a ktiv
w i rd, ist de r
Roman schon
hal b er zäh lt.
E l i n o r G y r,
e h e m a l s
Eurythmielehrerin, hütet
das «Auerhahn»
genannte Atelier
ihres früh verstorbenen Vaters.
Zeitweilig ist da
der im Waisenhaus
aufgewachsene Historiker Beat Schneider zu Gast. Seine
Ehe mit der stummen
Zeichnerin LouAnne
Wimmer zerbricht, als er
sie einer von einem Dritten
aufgenommenen Nacktfoto
wegen ins Gesicht schlägt. Von
Schuld gequält, fokussiert er, als
LouAnne in der Psychiatrie gelandet ist,
seine Liebe auf die Tasche, die sie ihm
zuvor aus Japan mitgebracht hat. Als ihm
die Tasche im Hauptbahnhof Zürich abhanden kommt, verschwindet er spurlos. Schneider ist auch die Attacke am
Konstanzer Historikertag zugeordnet,
die ihm ein Wiedersehen mit Iris Duss ermöglicht – der einzigen Frau, die auf gleicher Ebene mit ihm verkehrt und die er
auf den ersten Seiten des Romans bei
einem Zugunfall kennengelernt hat.
Weitere «Auerhahn»-Habitués sind
die deutschen Historiker Guy Matthéy –
ein homosexueller Studienkollege
Schneiders – und Paul Niethammer
sowie der Sohn des Letzteren, der an der
zerbrochenen Ehe seiner Eltern leidende
angehende Molekularbiologe Fränk, der
Schneider aus Stammzellen neu kreieren
will. Und nicht zuletzt natürlich Gygax,
der Licht in Schneiders Herkunft bringt.
Er war es nämlich, der ihn während einer
Arbeitswoche im «Wolferlei» (Boldern)
1958 mit der stummen Megi gezeugt hat.
Nun aber, da Schneider vermisst wird,
entdeckt Gygax im «Burgfried» Blätter,
auf denen die tote LouAnne etwas wie
Schneiders Genom fixiert hat. Falls eine
biologische Rekonstruktion überhaupt
nötig ist, legt der Zufallsfund in einer Illustrierten doch nahe, dass der Vermisste mit Iris Duss auf die Osterinsel ausgewandert ist.
Emil Gygax aber verirrt sich im Wald
und findet in ein Totenreich zurück, das
sich als japanisch verkleidetes «Tal der
Dachse» entpuppt. Da erwartet ihn «der
Andere», von dem er nicht weiss, ob es
der endgültige Tod ist oder nicht. Für alle
Fälle endet das Buch schon mal mit dem
Satz: «Aber er hatte noch etwas vor.»
Gescheiterte Paarbildungen
Ob es der Molekularbiologie gelingt,
bleibt offen. Die Literatur aber kann es
bei aller Zeitbedingtheit der einzelnen
Publikationen bewerkstelligen, einen
Menschen immer wieder auferstehen
und sich in immer neuen Zusammenhängen engagieren zu lassen: Im Ringen
um den europäischen Zugang zum Rätsel
Japan, in einem erbittert geführten
Generationenkonflikt, mit radikaler
Schweiz-Kritik von Amsterdam aus, im
Umgang mit Schuld und Reue beim
Krebstod der Ehefrau und zuletzt nun als
Exponent einer Zeit, in der die Ehe als
solche zur Debatte steht. «Die Liebe mag
unteilbar sein, aber Menschen sind es
nicht», erklärt Emil Gygax, der Revenant,
und bringt so all die gescheiterten Paarbildungen eines Romans auf den Punkt,
den man als vital-erzählfreudige Momentaufnahme, aber auch als Teil einer
hoffentlich noch lange nicht beendeten
Comédie humaine lesen kann. ●
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29. November 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 11
Belletristik
Roman Umberto Eco legt mit «Nullnummer» eine ungelenke Parodie auf die italienische
Medienlandschaft der 1990er Jahre vor
HandbuchfürunseriösenJournalismus
Umberto Eco: Nullnummer. Aus dem
Italienischen von Burkhart Kroeber.
Hanser, München 2015. 240 Seiten,
Fr. 31.90, E-Book 24.90.
Korrupt, anbiedernd
und seicht sind
die italienischen
Zeitungen in
Umberto Ecos Urteil.
Von Sandra Leis
Italien im Jahr 1992: Die politische Elite
gerät wegen Korruption, Amtsmissbrauch und illegaler Parteienfinanzierung massiv unter Druck. Umfangreiche
juristische Ermittlungen unter dem
Namen «Mani pulite» besiegeln das Ende
der sogenannten Ersten Republik. Wichtige Parteien wie die Democrazia Cristiana oder der Partito Socialista Italiano liegen ermattet am Boden, und ihr Versagen ist der Nährboden für neue politische Bewegungen, insbesondere für Silvio Berlusconi und seine 1994 gegründete Forza Italia.
1992 also war ein Schlüsseljahr und
rückt heuer gleich zweimal ins öffentliche Bewusstsein: Zum einen mit der
zehnteiligen italienischen Politserie
«1992», die auf Sky zu sehen war. Zum
anderen mit dem Roman «Nullnummer»
von Umberto Eco. Der renommierte Semiotiker, der mit dem Buch «Der Name
der Rose» weltberühmt wurde, blendet
zurück ins Jahr 1992 und rekonstruiert
die Tage zwischen dem 6. April und dem
11. Juni. Doch nicht die politischen Verwerfungen stehen im Zentrum, sondern
die Lancierung einer neuen Zeitung mit
dem Titel «Domani». Hauptaktionär ist
ein im Hintergrund agierender, Berlusconi nachempfundener Unternehmer
und Verleger. Er will der feinen Gesellschaft in monatlichen Probeläufen, sogenannten Nullnummern, mit schmutzigen Geschichten Angst einjagen. Gelingt
das, so sein Kalkül, wird der erlauchte
Kreis ihn bitten, die Idee mit der Zeitung
fallen zu lassen und Teil des Clubs zu
werden.
Hauptfigur ist der Ich-Erzähler Colonna, der als rechte Hand des Chefredaktors die Artikel redigiert und als Ghost-
writer für die Zeit danach ein Buch
schreiben soll über die Gepflogenheiten
der kleinen Redaktion. Allerdings mit
verfälschten Vorzeichen: Der Chefredaktor erscheint als Kämpfer für hehre journalistische Grundsätze; seine Redaktoren hingegen sind Duckmäuser und
schreiben den Lesern nach dem Maul.
Die Realität freilich sieht anders aus,
und der 50-jährige Colonna erzählt satirisch überzeichnet, wie Leute durch den
Dreck gezogen, Behauptungen in die
Welt gesetzt und Richtigstellungen ins
falsche Licht gerückt werden. Ein Untersuchungsrichter, der seine Nase vielleicht auch in die Geschäfte des Verlegers
stecken könnte, wird vorsorglich diskreditiert. Möchte eine Redaktorin aber eine
Pizzeria als Waschanlage für Schwarzgeld entlarven, so winkt der Chef ab. Er
will weder das Finanzamt gegen die Zeitung aufbringen noch die Mafia.
Von einer anderen Recherche erfährt
der Chef erst, als es zu spät ist: Demnach
soll Mussolini einen Doppelgänger gehabt haben, der 1945 an seiner Statt erschossen wurde. Mussolini selber soll
entweder im Vatikan Zuflucht gefunden
haben oder nach Argentinien geflohen
sein. Publiziert ist keine Zeile, trotzdem
»Grossartig
und visionär«
David Bielmann, Schriftsteller
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Adrian Suter
Die schrecklich schöne neue Welt
des Professor Furtwanger
Hardcover | 400 Seiten | ISBN 978-3-9524463-8-6
12 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. November 2015
wird der Journalist ermordet und das Revolverblatt umgehend geschlossen.
Düster ist das Bild, das Umberto Eco
von Italien zeichnet, und ausweglos die
Situation der vierten Gewalt, der Medien: Entweder sind sie anbiedernd und
seicht, oder sie sind investigativ und ihre
Macher bezahlen im schlimmsten Fall
mit dem Tod. Trotzdem wirkt Ecos
Roman inhaltlich von vorgestern und stilistisch ungelenk. Das liegt zum einen an
der Medienschelte, die einer vergangenen Zeit angehört. 1992 steckte das Internet noch in den Kinderschuhen, und soziale Netzwerke gab es auch keine. Und
wenn der Chefredaktor die aufkommenden Handys als vorübergehende Mode
abtut, so wissen wir vor allem eines: Das
ist verdammt lang her. Zum anderen –
und das ist entscheidend – fehlt dem begnadeten Autor von Komplotten und
Verschwörungsgeschichten der literarische Zugriff. Der sonst so wortgewandte
und dialogstarke Umberto Eco hat dieses
Buch, das nach eigenen Angaben sein
letztes sein soll, wohl recht schnell heruntergeschrieben und liefert statt eines
furiosen historischen Romans eine ziemlich fade Parodie auf einen hässlichen
Journalismus von einst. ●
Was 1945 in Afrika mit der Vorgeschichte
beginnt, endet im Jahr 2100. Oberf lächlich
betrachtet leben die Menschen dann in einer
friedfertigen Welt im Wohlstand. In Tat
und Wahrheit aber herrscht die totale
Kontrolle und es droht das ewige böse Reich –
denn Adolf Hitler soll von den Toten
erweckt werden.
Roman 1931 erschien das einzige Buch des
ungarischen Autors Andor Endre Gelléri
Nur noch Glühbirnen
bringen Erheiterung
Kurzkritiken Belletristik
Eduard von Keyserling: Fräulein Rosa Herz.
Manesse, Zürich 2015. 576 Seiten,
Fr. 35.90.
Ulrike Ulrich: Draussen um diese Zeit.
Luftschaft, Wien 2015. 198 Seiten,
Fr. 27.90, E-Book 9.90.
In seinem ersten und umfangreichsten
Roman erzählt Eduard von Keyserling
(1855–1918) nicht wie in den meisten seiner späteren Werke vom Niedergang des
baltischen Adels. «Fräulein Rosa Herz»,
1887 erstmals erschienen, ist ein Kleinstadtroman – und seinem biedermeierlich anmutenden Titel zum Trotz ein
höchst moderner und kritischer. Die Titelfigur ist ein Mädchen von siebzehn
Jahren, das sich hinaussehnt aus der
Enge seiner Umgebung: Es will nicht
Lehrerin an einer Töchterschule werden,
und es will nicht den Ladendiener Lurch
heiraten. Rosa verliebt sich in den weltläufigen Neuankömmling Ambrosius
Tellerat. Dem aber fehlt es an Entschlusskraft, die Liebe scheitert an den Zwängen
einer bigotten Gesellschaft, die Keyserling mit beissender Ironie schildert.
Wiebke Porombka arbeitet in ihrem klugen Nachwort den Rang dieses erstaunlichen Erstlings überzeugend heraus.
Seit vielen Jahren lebt die gebürtige Düsseldorferin Ulrike Ulrich als freie Schriftstellerin in Zürich. Entstanden sind diese
Erzählungen jedoch an vielen Orten. Da
ist die nymphomanische Comic-Zeichnerin in New York, der besessene verlassene Zürcher Workaholic oder die unmotivierte Arbeitslosenmotivatorin in
Wien. Zehn so melancholische wie präzise Porträts. Das Schluss- und Glanzstück des Bandes «Draussen um diese
Zeit» ist ein Zwischenbericht an jene
Kommission, die der Ich-Erzählerin (wie
auch Ulrich in Realität) einen Förderbeitrag zugesprochen hat. Die Zwischenbericht-Autorin will erklären, warum sie
diesen Text eigentlich gar nicht schreiben kann, kommt dabei vom Hölzchen
aufs Stöckchen, und am Ende haben wir
eine wunderbar sinnierende Meta-Geschichte u. a. über Römer Häuserbesetzer. Die Kommission darf sich glücklich
schätzen – und wir uns mit ihr.
Fred Vargas: Das barmherzige Fallbeil.
Deutsch v. W. Schwarze. Limes, München
2015. 508 S., Fr. 28.90, E-Book 18.90.
Zsuzsanna Gahse: Jan, Janka, Sara und ich .
Edition Korrespondenzen, Wien 2015.
176 Seiten, Fr. 27.90.
Als wir Fred Vargas vor Jahren in einem
Pariser Café fragten, wie viel sie für ihre
an historischen Details reichen Krimis
recherchiere, lächelte die Bestsellerautorin verschmitzt: «Zéro.» Frédérique
Audoin-Rouzeau, wie die studierte Archäologin eigentlich heisst, hat mit JeanBaptiste Adamsberg einen Eigenbrötler
vor dem Herrn erfunden. Als «Wolkenschaufler» beschreibt sie ihren Kommissar, der ebenso bekannt ist für ungewöhnliche Ermittlungsmethoden wie für
sein schlagkräftiges Team, das Hirn, Herz
und Muskelkraft vereint. In «Das barmherzige Fallbeil» hat Adamsberg es mit
rätselhaften vermeintlichen Suiziden zu
tun. Die Opfer waren alle Mitglieder der
«Gesellschaft zum Studium der Schriften
Maximilien Robespierres», neben ihnen
findet man eine Art Guillotine-Zeichen.
Und auch wenn dieses nicht wahr ist – es
ist verdammt gut erfunden.
Zsuzsanna Gahse, 1946 in Budapest geboren, lebt seit vielen Jahren in der
Schweiz. Experimentell und wagemutig
ist ihr Werk. Es verlangt seiner Leserschaft einiges ab, aber es belohnt sie
auch. Gerade in diesem neuen Buch. Es
ist eine vielstimmige Komposition. 23
Personen reden hier über Büren, einen
rasch anwachsenden Ort am Wellenberg.
In einem Tonstudio finden sie sich ein.
Sie sprechen ungefiltert und machen
ihren Gefühlen Luft. Auch Durchreisende äussern sich. Zu diesem Chor fügt sich
eine Figur namens Ich. Sie wohnt nicht
im Ort, sondern weiter unten im Tal. Das
Geschehen am Wellenberg nimmt sie so
wahr, als wäre es ein Bühnenstück. Zsuzsanna Gahse hört ihren Figuren genau
zu. Sie schafft ein polyfones Epos, das
zeigt, wie sich eine ehemals dörfliche
Welt durch neue Lebensformen zu einer
globalen Banlieue verwandelt.
Andor Endre Gelléri: Die Grosswäscherei.
Aus dem Ungarischen von Timea Tankó.
Guggolz, Berlin 2015. 240 Seiten,
Fr. 31.90.
Von Janika Gelinek
Es beginnt mit dreissig gräflichen Hemden, die gelb verfärbt in der Grosswäscherei Phönix ankommen. Dem
Waschmeister Rusz gelingt es nicht, die
Flecken zu entfernen, und prompt wird
er vom Inhaber Jenö Taube entlassen, in
dessen unbewegtem rosafarbenem Gesicht nur die Augen hervorstechen: «Sie
glichen grauen Steinchen, die einen aus
einer Pfütze anstarrten.»
Doch er, der jüdische Unternehmer,
der sich aus erbärmlichsten Verhältnissen emporgearbeitet hat, er, der in Saus
und Braus lebte und sich aus der verzweifelten Armut der bei ihm angestellten Arbeiter, der vielen von ihm verführten Mädchen, nicht das Geringste machte, ausgerechnet er leidet nun an Lebensüberdruss und Lebensekel. Alles dringt
ungefiltert auf ihn ein, die gelbe Suppe
mit den schillernden Fettaugen, die Suppenschüssel, die sich «wie ein bunter
Porzellanvogel dampfend auf dem Tisch
niederlässt», der gekochte Hahn, dessen
«bläuliche gebrochene Knochen» in der
Paprikasosse herumschwimmen. In seinem abgedunkelten Büro verbringt er
den Tag nun zumeist schlafend, währendvondraussen dieWäschereimädchen
«mit den rotgeschminkten Lippen leise
kichernd» hereinsehen. Eine der letzten
Freuden ist die Ankunft einiger Kartons
mit Glühbirnen: «Er entnahm ihnen
kühle und grosse Glasfrüchte. Weisse,
grüne, blaue, rote Leuchten, die in goldenen Gewinden mündeten.» Seine Frau
registriert bestürzt seinen Verfall: «Ja,
Jenö Taube hatte etwas Tragisches
bekommen, diese Gestalt, die
zuvor mit grossen Belangen,
grossen Erlebnissen um
sich geworfen hatte, war
nun zu solchen Glühbirnenfreuden gesunken.»
Allein schon eine solche
Passage lässt die Virtuosität ahnen, mit der dieser
glühende kleine Roman
von 1931 verfasst wurde.
Nun ist er erstmals ins Deutsche übertragen worden. Alle
Farben leuchten in ihm zugleich zart und kräftig, voll ihres
heimlich zerstörerischen Potenzials: als nie wieder herauszuwaschende Flecken.
Andor Endre Gelléri
schrieb keinen weiteren Roman mehr; mit
nicht einmal 40 Jahren starb er 1945 im
KZ Mauthausen. ●
Manfred Papst
Regula Freuler
Regula Freuler
Manfred Papst
29. November 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 13
Kinder- und Jugendbuch
Kurzkritiken
Matthew Quick: Goodbye Bellmont.
dtv, München 2015. 256 Seiten, Fr. 24.90,
E-Book 18.70 (ab 14 Jahren).
Spurensuche Ein 16-jähriges Mädchen will
mehr über ihren toten Vater erfahren
Abby Hanlon: Donner und Dory!
cbt, München 2015. 160 Seiten,
Fr. 15.50 (ab 7 Jahren).
Albträume und
Verdrängtes
Katrin Zipse: Die Quersumme von Liebe.
Magellan, Bamberg 2015. 288 Seiten,
Fr. 26.90 (ab 15 Jahren).
Für Finley dreht sich alles um Basketball
und seine Freundin Erin. Aber wie jedes
Jahr, wenn die Spielsaison beginnt, machen die Verliebten Schluss, um nach
den Wettkämpfen wieder zusammenzufinden. Ein Sportstipendium ist ihre einzige Chance, dem tristen Bellmont mit
seinen Drogen und Rassenkonflikten zu
entkommen. Doch dieses Jahr hat der
Coach für den verschlossenen Finley
eine besondere Aufgabe: Er soll sich mit
einem neuen Mitschüler anfreunden,
dessen Eltern ermordet wurden. Nicht
genug damit, dass der Sonderling sich
Boy21 nennt und für einen Ausserirdischen hält, das Ausnahmetalent könnte
Finleys Startplatz in der Mannschaft gefährden. Aber als Erin ins Visier der irischen Mafia gerät, muss Finley sich der
eigenen Familiengeschichte stellen, um
seine grosse Liebe zu retten.
Dory ist überzeugt, sie könnte das beste
Baby der Welt sein. Aber nein: Wieder
darf sie beim Vater-Mutter-Kind-Spielen
nicht mitmachen. Ihre Geschwister finden das Nesthäkchen einfach nur nervig.
Zum Glück hat Dory eine blühende Phantasie und schafft sich so imaginäre Spielkameraden. Gerade die Abenteuer mit
der vampirzahnigen Frau Knorpel-Knacker halten Leseanfänger in Atem und
lassen sie sicher lachen. Aber ist Dory
nun doch ein Quälgeist? Zumindest ist
sie das quicklebendigste Mädchen unter
der Sonne, dazu unwiderstehlich in
ihrem Bemühen, Schwester und Bruder
zu umwerben und sich selbst bei Laune
zu halten. Davon erzählen gut dosiert
kurze Textabschnitte, witzige Bildsequenzen und Sprechblasen. Ideal für
Erstleserinnen, die sich bestimmt auch
freuen, dass Folgebände angezeigt sind.
Daniel Ammann
Verena Hoenig
Timo Parvela/Pasi Pitkänen: Pekkas
geheime Aufzeichnungen. Hanser,
München 2015. 104 S., Fr. 15.90 (ab 9 J.).
Hilary T. Smith: Hellwach. Fischer JB,
Frankfurt 2015. 367 Seiten, Fr.21.90
(ab 14 Jahren).
Pekka will eigentlich alles richtig machen, steht aber sehr oft auf der Leitung;
gewiss kein Superhirn, eher ein liebenswerter Tollpatsch. Für Fans der kultigen
«Ella»-Geschichten des finnischen Autors Timo Parvela ist der Zweitklässler
ein alter Bekannter. Jetzt erhält der
«Klassendödel», der schon mal die grossartige Idee hat, seine Badehose in der Mikrowelle zu trocknen, eine eigene Reihe.
Echten Klamauk gibt’s da zu lesen – und
dank der vielen cartoonigen Illustrationen auch zu sehen. Pekkas Onkel Remu
kommt in den Ferien zu Besuch und verliebt sich in dessen Schwimmlehrerin.
Dass er im Wasser meist untergeht wie
ein Stein, wäre noch zu verkraften. Aber
was der unbeholfene, pedantische Onkel
und sein tapsiger Neffe sonst noch leisten, preist man am besten an als Laurel
und Hardy im Kinderbuch.
«Vielleicht sollte man Menschen nicht
danach beurteilen, was aus ihnen geworden ist, sondern danach, was sie trotz
allem geblieben sind.» Dies ist nur eine
der vielen Sentenzen, an denen «Hellwach» reich ist. Sonst geht hier
feuerwerkartig die Post ab: Kaum sind
die Eltern verreist, bricht Kiri aus, hängt
ihre Piano-Wunderkind-Laufbahn an
den Nagel, verliebt sich in Skunk, deckt
Familiengeheimnisse und Lebenslügen
auf. Auch ihre eigenen. Drogen, Liebe,
Sex, Kunst, Mondschein und Mondscheinsonate geben den Sound im Hintergrund, Dialoge in atemlosem Staccato
den Rhythmus. Und eine Flut aus
(Sprach-)Bildern fängt ein Lebensgefühl
ein, das den Ausbruch zelebriert, um zur
Freiheit zu gelangen. Hier wird anarchisch ausprobiert, wie verrückt gelitten,
geliebt, gelebt. Mitreissend!
Verena Hoenig
14 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. November 2015
Christine Knödler
Von Andrea Lüthi
In einem feuchten Haus mit zerbrochenen Scheiben schläft ein Mädchen. Ein
Junge namens Puma sitzt daneben und
liest ihre Geschichte, die sie auf losen
Blättern aufgezeichnet hat. Ausserdem
ist von einem düsteren Ölgemälde die
Rede: Auf einer Strasse, «die aus dem
dunkelgrauen Nichts kommt», geht ein
Mädchen. Ein nachträglich gemalter
schwarzer Balken zerteilt ein Haus mit
einer Glocke auf dem Dach.
Die deutsche Autorin Katrin Zipse
reicht ihren Lesern auf den ersten Seiten
starke Bilder, die sich noch nicht einordnen lassen, aber sofort fesseln. Erzählt
wird aus zwei Perspektiven; die Aufzeichnungen der schlafenden Luzie
wechseln mit Pumas Rückblenden. Nach
und nach erschliessen sich einem die Zusammenhänge, und plötzlich entwickelt
der Roman einen gewaltigen Sog, der bis
zum Schluss anhält.
Die Sechzehnjährige kann sich kaum
an ihren Vater erinnern – einen Künstler
und leidenschaftlichen Kletterer. Er sei
abgestürzt, als sie fünf Jahre alt war, sagt
ihre Mutter. Sie sprechen nie darüber,
denn dann fühlt sich Luzie, als würde sie
von einer riesigen Flutwelle überrollt.
Bisher hatte sie geglaubt, auch ihre Oma
sei schon lange tot – bis sie die Todesanzeige im Müll findet. Warum lügt die
Mutter ihre Tochter an, und warum
weicht auch die Tante aus, zu der Luzie
Kontakt aufnimmt? Heimlich sucht Luzie
im Dorf der Grossmutter nach der Wahrheit. Sie findet verunstaltete Bilder ihres
Vaters und ein Haus mit Glocke auf dem
Dach. Es ist ihr seltsam vertraut und löst
zugleich Ängste in ihr aus.
Katrin Zipse lockt einen ständig auf
falsche Fährten; der Roman liest sich
spannend wie ein Krimi. Eine feine Liebesgeschichte ist darin eingewoben,
denn Luzie lernt in der Kletterhalle Puma
kennen, mit dem sie mehr verbindet, als
sie ahnt. Doch geht es der Autorin
nicht bloss um die Auflösung von
Familienrätseln, die erste Liebe und das
Erwachsenwerden, sondern vor allem
um Verdrängung und Schuldgefühle.
Eindringlich und einfühlsam beschreibt
Zipse, wie die Figuren mit einem schrecklichen Ereignis umgehen und es in ihr
Leben einordnen. Alle gehen dabei einen
anderen Weg, ohne dass einer für den
richtigen erklärt wird. ●
Digital Ideen für technische Basteleien
rund um Computer und Internet
Hacken statt Häkeln
Kurzkritiken
Irène Cohen-Janca, Maurizio A.C. Quarello:
Die letzte Reise. Jacoby & Stuart, Berlin
2015. 76 Seiten, Fr. 21.90 (alle Alter).
Bärbel Oftring: Tatort Natur!
Haupt, Bern 2015. 128 Seiten,
Fr. 29.90 (ab 8 Jahren).
Janusz Korczak hat nicht nur selbst für
Kinder geschrieben, sein Waisenhaus im
Warschauer Ghetto und seine Zivilcourage waren auch Stoff für Jugendromane.
Und selbst wenn in den letzten Jahren
eindrückliche illustrierte Kinderbücher
über sein Wirken erschienen, Maurizio
A.C. Quarello schafft starke Bilder, die
den grossen Pädagogen als Kinderfreund
mit aufrechtem Gang zeigen. Ernsthaft,
gefasst und mit Kindern an der Hand
gehen er und zehn weitere Erwachsene
durch die Strassen, zur Bahn, in die Gaskammern. Die Ausklapptafel (in Kinderbüchern meist ein Mittel für Schaueffekte) strahlt Ruhe und Stärke aus, während
der Illustrator sonst auch intime, zärtliche Momente inszeniert. Gekonnt nimmt
er so die Stimmung des Textes auf, der
mal sachlich berichtet, mal anrührend
eine Episode ausgestaltet.
Der Totenkopfschwärmer hüllt sich in
einen Tarnduft und bricht in den Bienenstock ein, weil er wild auf Honig ist. Der
Maulwurf hält Regenwürmer gefangen.
Können also auch Tiere zu Verbrechern
werden? Ja, doch nicht aus niederen Beweggründen wie Menschen. In der Tierwelt geht es ums eigene Überleben und
das der Art. Das Buch «Tatort Natur!»
stellt 60 «Fälle» vor, meist aus unserer
Umgebung. Jede Doppelseite enthält
einen Steckbrief des Täters, die Beschreibung des Opfers und der Tatwaffe. Quizfragen, Detektivaufgaben und Experimente kommen hinzu. Man liest sich in
den reich bebilderten Kriminalgeschichten fest und wird nebenbei schlau: Wer
hätte gedacht, dass der Maulwurf nur
Lebendnahrung mag und deshalb beim
Anlegen seines Fressvorrats eine geniale
Frischhaltemethode einsetzt?
Verena Ballhaus und Renate Habinger: Kritzl
& Klecks. Nilpferd/G&G, Berlin 2015. 46
Ausklappseiten, Fr. 37.90 (ab 6 Jahren).
Lutz van Dijk: Afrika – Geschichte eines
bunten Kontinents. Hammer, Wuppertal
2015. 320 S., Fr. 34.90 (ab 12 Jahren).
Wenn zwei so ungewöhnliche Grafikerinnen das Zusammenspiel suchen, dann
können Qualität und Phantasie gewinnen: Verena Ballhaus in München zeichnet, was das Zeug hält – sie ist im Buch
Herr Kritzl. Renate Habinger malt in Niederösterreich in allen Farben – sie übernimmt den Part von Frau Klecks. Zusammen machen sie «Eine Entdeckungsreise
ins Land des Zeichnens und Malens». Die
wird zum Abenteuer. Denn was die beiden gewitzten Figuren so draufhaben,
wie man zeichnet, tüpfelt, kratzt und
schabt, was man mit Pinseln, Scheren,
Sieb und Wasser, mit Aquarell und Temperafarben, mit Linien, Flächen, Formen
alles machen kann, erfährt man hier.
Tubentier, Fingerfink und viele andere
haben ihren grossen Auftritt. Das Ergebnis: eine Seh- und Mitmach-Schule voll
blauer und anderer Wunder.
In der Schule kommt Afrika bestenfalls
als Objekt europäischer Kolonialpolitik
vor. Nachrichten von dort handeln meist
von Seuchen, Kriegen und Korruption.
Der deutsch-niederländische Schriftsteller Lutz van Dijk erzählt die Geschichte
des Kontinents zweistimmig: Während
er – von den Ursprüngen der Menschheit
bis zum Jahr 2015 – Höhen und Tiefen,
Erfolge und Katastrophen schildert,
kommt in Ausschnitten aus Dokumenten
und Zitaten von Zeitzeugen stets auch
Afrika selbst zu Wort. Register, Zeittafel
und viele Karten helfen, das Geschehen
in den zurzeit 54 Staaten zwischen Kairo
und Kapstadt zu verorten. Damit bietet
das Buch nicht nur lebendigen, anschaulichen Geschichtsunterricht. Es eignet
sich auch zum Nachschlagen, um die
Nachrichten aus Afrika richtig einzuordnen. Gehört also in jedes Bücherregal.
Chris Köver, Daniel Burger, Sonja Eismann:
Hack′s selbst! Digitales Do it yourself für
Mädchen. Beltz & Gelberg, Weinheim
2015. 140 Seiten, Fr. 24.90 (ab 13 Jahren).
Von Daniel Ammann
Mit diesem Buch wird man schwer fertig.
Nicht weil die Materie kompliziert oder
langweilig wäre – ganz im Gegenteil –,
sondern weil die vielfältigen Ideen, Anleitungen und Linktipps immer wieder
vom Weiterlesen abhalten. Im Sinne der
Erfinderinnen bedeutet Hacken Dinge
auseinanderzunehmen, um zu verstehen, wie sie funktionieren, und dann
wieder so zusammenzusetzen, dass
etwas Neues oder Besseres dabei rauskommt. Das gilt für Gebrauchsgegenstände ebenso wie für technische Gadgets oder die Gesellschaft. Als überzeugende Vertreterinnen der Do-it-yourselfBewegung verstehen es die Autorinnen,
ihre Leserinnen neugierig zu machen
und zu allerlei technischen Basteleien,
kreativen Medienprojekten und sozialen
Aktionen anzustiften. Durch ein paar Stiche mit leitfähigem Garn lässt sich ein
gewöhnlicher Wollhandschuh touchtauglich machen. Das könnte man noch
vor Wintereinbruch in die Tat umsetzen.
Oder wer möchte nicht das Firmensignet
auf dem Laptop-Deckel mit einem eigenen Logo überkleben?
Hürden sind rasch überwunden. Ausprobieren und sich überraschen lassen,
lautet die Devise. Dass es bei der digitalen Medienarbeit auch Regeln zu beachten gilt, wird nicht verschwiegen. In kurzen Hinweisen und Erläuterungen erfahren die neuen Hackerinnen, wie sie ihre
Privatsphäre schützen und Spuren im
Internet verwischen können, was es mit
dem Copyright auf sich hat und worauf
es ankommt, damit Passwörter nicht zu
knacken sind.
Ob die aufgeweckten Leserinnen ein
eigenes Spiel entwickeln, aus einer Banane einen Game-Controller machen,
ein Video-Interview führen oder einen
Trickfilm gestalten, «Hack’s selbst» zeigt
ihnen, wie man es aus eigener Kraft anpackt, ermuntert aber
auch dazu, sich mit
anderen auszutauschen und Teil der
weltumspannenden
DIY-Community zu
werden. Interviews
mit engagierten Macherinnen und einem Gender-Aktivisten illustrieren mannigfaltige biografische Zugänge zur
Szene und verleihen den vorgestellten Projekten und Aktivitäten eine persönliche Note.
Das sind Rollenvorbilder.
Nicht nur für Mädchen. ●
Hans ten Doornkaat
Christine Knödler
Verena Hoenig
Sabine Sütterlin
29. November 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 15
Porträt
Der Rocksänger, Schriftsteller und Politaktivist Serhij Zhadan füllt in seiner ostukrainischen Heimat
Mehrzweckhallen und Kinosäle: Wo immer er seine Texte vorträgt, finden kriegsgeschüttelte
Landsleute Trost in der Kultur. Kathrin Meier-Rust hat ihn in Deutschland getroffen
WennBücherzu
Zufluchtsstätten
werden
Gleissende Spotlights, Menschengedränge und
über allem, wie eine Wolke, das konstante Brausen, das entsteht, wenn sehr viele Menschen in
einer sehr grossen Halle miteinander sprechen.
Den «Rimbaud von Charkiw» kratzt das nicht –
schliesslich ist er Sänger einer Punk-Rock-Band.
Schmal, jungenhaft, in grauen Jeans und grauem Hemd, lässt sich der ukrainische Sänger,
Dichter und Schriftsteller Serhij Zhadan am
«Spiegel»-Stand an der Frankfurter Buchmesse
befragen. Er sieht immer noch so jung aus wie in
den Videos seiner Band «Sobaky v Kosmossi»
(Hunde im Kosmos) auf YouTube, bloss die langen Haare, die sind jetzt sehr kurz, wie es sich
gehört für einen über Vierzigjährigen.
Serhij Zhadan ist nach Frankfurt gekommen,
um die deutsche Ausgabe seines Romans «Mesopotamien» vorzustellen. Lange war er ein Geheimtipp gewesen, eine Art postkommunistischer Punk neben den arrivierten ukrainischen
Lyriker und Romanautor
Serhij Zhadan, geboren 1974, hat seit 1991 zahlreiche Lyrikbände und Romane publiziert. Er war
Aktivist der Orangen Revolution von 2004 und
wurde im März 2014 bei der Erstürmung der Gebietsverwaltung von Charkiw von prorussischen
Besetzern krankenhausreif geschlagen. Für
seine literarischen Werke erhielt er zahlreiche
Preise. Seine wichtigsten auf Deutsch erschienenen Titel sind: «Die Geschichte der Kultur zu Anfang des Jahrhunderts» (2006), «Depeche Mode»
(2007), «Anarchy in the UKR» (2007), «Hymne der
demokratischen Jugend» (2009), «Big Mäc»
(2011), «Die Erfindung des Jazz im Donbass»
(2012). Zuletzt in Übersetzung erschienen:
Mesopotamien. Suhrkamp, Berlin 2015.
362 Seiten, Fr. 31.90, E-Book 25.–.
Käuze und Unglücksraben
In Frankfurt wird der Schriftsteller gerade umlagert. Noch ein letztes TV-Interview, auf Ukrainisch – dann gelingt es den Damen des Verlages,
ihn ins versprochene Zimmerchen hinter dem
Suhrkamp-Stand zu entführen. Die Scheinwerfer ist er damit los, und gegen die Lärmwolke
verspricht er vergnügt, mit lauter Stimme anzuschreien.
Nun also «Mesopotamien» – das Zweistromland. Gemeint ist damit wohl beides, die Stadt
Charkiw, die zwischen zwei Flüssen liegt, aber
auch die Ostukraine zwischen dem ukrainischen
Dnjepr im Westen und dem russischen Don im
Osten. Ganz abgesehen von der babylonischen
Vielstimmigkeit seiner Heimatstadt: «…und
dort, wo die frische Morgenluft aufstieg, im Sonnenfeuer und in Pappelflaumwolken, standen
Kirchen, Moscheen und Synagogen…» Für ihn
sei Mesopotamien aber auch eine Metapher für
die ideale mittelalterliche Stadt, erklärt Serhij
Zhadan im Gespräch, «einer Stadt mit Festungsmauern, die die Menschen nie verlassen, weil
sich alles, was man zum Leben braucht, innerhalb dieser Mauern findet. Die Menschen der
Ostukraine sind so, sie verlassen ihre Grenzen
nie. Die meisten von ihnen waren noch nicht
mal in der westlichen Ukraine».
In «Mesopotamien», im Grunde weniger ein
Roman denn ein lyrisches Prosawerk, herrscht
Die Menschen der Ostukraine
sind so, sie verlassen ihre
Grenzen nie. Die meisten
von ihnen waren noch nicht
einmal in der westlichen
Ukraine.
eine ganz andere Stimmung als in Zhadans früheren, grotesken, frechen und klamaukigen Erzählungen von den Wirren einer überstürzten
Privatisierung. Auch hier besteht das Personal
zwar wieder aus schrägen Typen und Unglücksraben, die oft gross auftreten und klein enden –
das Buch erzählt uns Geschichten von neun
Männern in Charkiw, deren Freundes- und
Liebeskreise sich manchmal unvermutet berühren. Es wird viel gefeiert, gesoffen, betrogen und
auch brutal geprügelt in diesem Roman, aber es
wird auch viel geliebt, mit und ohne Hoffnung.
Doch statt mit bissiger Satire werden diese
Menschen mit liebevoller Ironie übergossen –
«Mesopotamien» ist ein poetisches Gespinst,
immer wieder durchzogen von zarten christlichen und altbabylonischen Fäden. Und über
allen Geschichten leuchtet als heimliche Hauptperson die sommerlich heisse Stadt Charkiw,
mit ihren Aprikosenbäumen, ihren schattigen
Hinterhöfen und vergammelten Mietshäusern.
Das Buch ist eine einzige grosse Liebeserklärung
des Dichters an sein Charkiw, wo er seit 20 Jahren lebt. Er habe seine Stadt in der literarischen
Landschaft vermisst, habe ihr einen Mythos
geben wollen – das ist Serhij Zhadan in grossartiger Weise gelungen.
Wie lebt man heute, angesichts der andauernden Kämpfe im Osten, in Charkiw, der zweit-
▲
16 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. November 2015
Schriftstellern wie Jurij Andruchowytsch oder
Andrej Kurkow. Heute, mit rund 10 Lyrikbänden, mehreren Erzählbänden und drei Romanen
(s. Kasten) gilt er als Chronist seiner Generation
und als Sänger der ukrainischen Demokratiebewegung: Zhadan war schon Aktivist der Orangen
Revolution von 2004, dann des Maidan-Protestes von Februar 2014 in Kiew und in Charkiw, wo
er von Separatisten so arg verprügelt wurde,
dass er blutüberströmt im Krankenhaus landete.
KASIA STANISŁAWSKA
«Ich schreibe immer und überall. Und was ich schreibe, ist nicht zu trennen von den ukrainischen Geschehnissen.» Serhij Zhadan, hier in Warschau (2014).
29. November 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 17
Porträt
von Kind auf auch Russisch gehört und gelernt.
«Nein, wir hatten nie ein Sprachproblem in der
Ukraine, und wir haben es auch heute nicht.»
Der sogenannte Sprachenstreit sei ein Mythos,
den einzig die Politik auf beiden Seiten des Konfliktes hochschaukle und instrumentalisiere.
Im kleinen Prosaband «Anarchy in the UKR»
(Deutsch 2007) hat Zhadan köstliche Szenen aus
seiner Kindheit geschildert, die er im Gebiet der
heute besetzten ostukrainischen Stadt Luhansk
verbracht hatte: das riesige Lenin-Bild im Busbahnhof, das plötzlich verschwindet; lange
Fahrten mit seinem Vater auf der Suche nach
Autoersatzteilen; Maradona im Fernsehen, im
Juni 1986; die mit Speisen und Getränken vollgestellten langen Festtagstische.
ANDREW KRAVCHENKO / AP PHOTO
Kritisch, aber optimistisch
Ukrainische Demonstranten protestieren in Kiew gegen einen Wahlentscheid (August 2015).
▲
grössten Stadt der Ukraine? «Charkiw ist
ruhig und friedlich. Die Cafés sind voll, alles ist
wie immer. Das mutet mich manchmal geradezu
merkwürdig an, die Front ist immerhin nur
200 Kilometer entfernt. Und wenn am Radio
auch nicht mehr jeden Tag 10 Tote vermeldet
werden, so werden immer noch täglich ein, zwei
Menschen getötet. Das ist Krieg. Und zwar kein
Bürgerkrieg, sondern ein Krieg Russlands, das
einen Teil der Ukraine besetzt hat.»
Zhadan schrieb «Mesopotamien» im Jahr
2013, noch im tiefen Frieden, das Buch erschien
dann aber in der Ukraine just in jenen Februartagen, als auf dem Maidan in Kiew die ersten
Schüsse fielen. Seither erzählt Zhadan auf vielfältige Weise vom Krieg, in Reportagen und Interviews ebenso wie in seinem neuen Gedichtband «Marienleben»: «Ich schreibe immer und
überall. Und was ich schreibe, ist nicht zu trennen von den ukrainischen Geschehnissen. Alles
andere wäre künstlich.»
Krieg steigert Kulturbedürfnis
Zhadan, der ein Jahr in Wien und Deutschland
studiert hat, gut deutsch spricht, eine Diplomarbeit über Rainer Maria Rilke schrieb und deutsche Gedichte ins Ukrainische überträgt – neben
Rilke übersetzte er Gottfried Benn und Paul
Celan – war in diesem Jahr oft auf Lesereise in
Europa. Auch in der Schweiz ist er mehrmals
aufgetreten. Noch viel öfter liest er allerdings
in der Ukraine, vor allem im ostukrainischen
Kriegsgebiet: Allein im vergangenen Sommer
hat Zhadan hier rund hundertmal aus «Marienleben» gelesen, in brechend vollen Mehrzweckhallen, Stadien oder Kinosälen.
Wie unterscheiden sich Lesungen in Westeuropa von jenen in der Ostukraine? «Atmosphäre und Dynamik sind vollkommen verschieden», erklärt der Autor. In Europa seien es
eher ältere Menschen, die zu seinen Lesungen
kämen, Menschen, die sich mit Literatur auseinandersetzen und viele Fragen stellen zu seinem
Land. Dieses Interesse berühre ihn – «ich weiss
doch, wie viele Bücher in Deutschland auf dem
Markt sind.» Nein, eine blosse Pflichtübung
seien diese Auftritte keineswegs: «Die deutschsprachigen Länder sind für mich als Germanist
wichtig und immer interessant.» Zudem verhelfe einem die Literatur dazu, interessante Men18 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. November 2015
schen kennenzulernen, und das sei nicht selbstverständlich, «stellen Sie sich mal vor, ich würde
auf einer Bank arbeiten …»
In der Ostukraine dagegen ist sein Publikum
jung: «Die Leute kennen mich ja als Rocksänger.» Viele Menschen weinen in seinen Lesungen – was schrecklich und schwer zu ertragen
sei. Doch er verspüre auch eine unerhörte Dringlichkeit bei diesem Publikum. Zu seinem Erstaunen hätten die Menschen gerade in der Extremsituation des Krieges ein starkes Bedürfnis nach
Kultur: «Ich glaube, es hat damit zu tun, dass die
Kultur eine Rückverbindung zu ihrem normalen
früheren Leben herstellt. Schliesslich werden
wir alle nicht von Politikern und Parlamenten
geformt, sondern von den Büchern, die wir
lesen, und der Musik, die wir hören. Hierin suchen die Menschen Zuflucht. Es ist wie eine Therapie für sie. Das ist der Grund, warum wir
immer wieder dort hinfahren und auftreten.»
Übrigens auch mit Geld und Medikamenten,
Kleidern und Schuhen für notleidende Menschen und Soldaten im östlichen Krisengebiet –
Hilfsgütern, die Zhadan aus dem Erlös seiner
Konzerte und Lesungen bestreitet.
In unserem Gespräch spricht Serhij Zhadan,
der Ukrainer, perfektes Russisch. Mit welcher
Sprache ist er aufgewachsen? Die Frage stimmt
ihn geradezu fröhlich: «Bei uns zu Hause sprechen wir Surschyk. Surschyk ist eine Mischsprache aus Ukrainisch und Russisch: auf drei ukrainische Worte folgt das vierte auf Russisch, oder
auch umgekehrt.» Er komme eben aus einer
landwirtschaftlichen Gegend, seine Eltern
haben ihr ganzes Leben in der Landwirtschaft
gearbeitet, «und auf dem Land sprechen alle
Surschyk.» In der Primarschule wurde dann
ukrainisch gesprochen, aber natürlich habe er
Die Ukraine ist wie ein
vollkommen kaputtes Auto,
das man gerade auseinandergenommen hat. Es fährt nicht,
denn man muss es ja erst
wieder zusammensetzen.
Zhadan war 17, als die Sowjetunion zerfiel, er gehört gleichzeitig zur letzten sowjetischen
Generation und zur ersten Generation der unabhängigen Ukraine. Er sieht das als Glücksfall:
Seine Kindheit sei überaus normal gewesen,
«alle haben gearbeitet, es gab keinerlei Probleme. Die kamen erst später.» Seine Eltern seien
einfache Leute, sie leben noch heute, ruhig und
friedlich, wie er sagt, nur 70 Kilometer von
der Front entfernt. Einzig eine Tante habe sich
mit Literatur beschäftigt. Diese Germanistin,
Schriftstellerin und Lyrikerin habe ihm gute
Bücher verschafft und die ersten Gedichte des
10-Jährigen gelesen: «Ich hatte das Glück, eine
lebendige Schriftstellerin nahe zu haben, die
mich zärtlich zur Literatur hinführte. Sie war für
mich sehr wichtig und ist es immer noch.»
Wie sieht Zhadan die demokratische Regierung unter Präsident Poroschenko, die nun seit
einem Jahr im Amt ist? «Ich sehe sie, wie viele
Ukrainer im Westen und im Osten des Landes,
sehr kritisch. Und mir scheint, es ist jetzt Zeit,
diese Kritik auch mit lauter Stimme auszusprechen, nachdem man sich in den ersten Monaten natürlich zurückgehalten hat. Aber sie
scheinen sich etwas auszuruhen in Kiew, sie
glauben offenbar, einmal an der Macht sei für
immer an der Macht – wie das in den letzten 20
Jahren stets der Fall war. Nicht nur packt die
neue Regierung die Reformen nicht an, sie geht
auch nicht wirklich gegen die Korruption vor.
Das ist höchst beunruhigend, denn in dieser Regierung sitzen ja Aktivisten der ersten Stunde,
als es um unsere Unabhängigkeit ging.»
Zhadan kennt sie aus seiner Jugend. Seine
literaturkundige Tante gehörte nämlich zu
jenem Kreis der Charkower Intelligenzia, die
beim Zerfall der Sowjetunion sofort aktiv für die
ukrainische Unabhängigkeit eintrat. Durch sie
habe er sich schon in den frühen 90er Jahren mit
diesen neuen politischen Kräften solidarisiert.
Wird die Maidan-Bewegung wieder verstummen, wie es nach der Orangen Revolution geschah? Er sehe nichts von der Müdigkeit, die
nach 2004 um sich gegriffen habe. Im Gegenteil:
«Mit dem Krieg ist eine grosse, vom Staat ganz
unabhängige und freiwillige Solidaritäts- und
Hilfsbewegung entstanden. Diese Leute wollen
ganz einfach nie mehr so leben wie früher. Es ist
schwierig zu sagen, wie viele es genau sind.
Doch wir sind genug.» Und das sei Anlass für
einen verhaltenen Optimismus.
Die Lärmwolke hat uns inzwischen doch besiegt: Wir sind beide heiser. Einen letzten Gedanken möchte Serhij Zhadan mir aber unbedingt noch ins Tonband schreien: «Die Ukraine
ist wie ein vollkommen kaputtes Auto, das man
gerade auseinandergenommen hat. Es fährt
nicht, denn man muss es ja zuerst wieder zusammensetzen. Russland dagegen ist ein vollkommen kaputtes Auto in voller Fahrt – das
kann böse enden. Wir haben nicht weniger Probleme als Russland. Aber unsere Gesellschaft
verändert sich gerade sehr stark.» l
Kolumne
Charles LewinskysZitatenlese
Die Deutschen lesen
lieber ein Buch über
ein Buch als ein Buch.
Kurzkritiken Sachbuch
Arnold van de Laar: Schnitt!
Pattloch, München 2015. 430 Seiten,
Fr. 31.90, E-Book 22.–.
Urs Hafner: Subversion im Satz. Die turbulenten Anfänge der NZZ (1780–1798).
NZZ Libro, Zürich 2015. 207 S., Fr. 41.90.
Wie dem holländischen Seefahrer Pieter
Stuyvesant auf offener See sein linkes
Bein amputiert wurde. Wie der angeschossene Präsident Kennedy auch
durch einen Luftröhrenschnitt nicht gerettet werden konnte. Wie sich der
Schmied Jan de Doot im Amsterdam des
17. Jahrhunderts selbst (!) einen eigrossen Blasenstein herausschnitt. – Diese
ungewöhnliche Geschichte der Chirurgie
verlangt einiges an Nerven und Standfestigkeit. Der holländische Chirurg Arnold
van de Laar erzählt die Geschichte seines
Faches nämlich nicht chronologisch,
sondern anhand von 28 berühmten Patienten und ihren für die Chirurgie typischen Operationen. Dabei erklärt er nicht
nur sorgfältig jeden medizinischen Begriff, sondern vermittelt in höchst anschaulicher Weise die stupende Entwicklung seines Fachs vom blutigen, meist
tödlichen «Handwerk» zur minimalinvasiven Präzisionschirurgie.
Wenn die Zeitung so untergeht, wie sie
aufgekommen ist, können wir uns auf
grosse Zeiten freuen. Das markanteste
Merkmal der frühen NZZ war der Humor,
die Haltung ein Gebot der Not: Die ersten
Redaktoren, die der Historiker Urs Hafner in seinem Buch über die Anfangsjahre der NZZ vorstellt, waren aus Deutschland geflohen – um im «liberalen» Zürich
auf ein Zensursystem zu treffen, das nur
mit den feinen Spitzen der Satire zu
löchern war. Herrliche Zitate lassen
den Sprachwitz jenes 18. Jahrhunderts
funkeln, das der Autor in Kapiteln zur
Berichterstattung über Themen wie Maschinen oder Magnetisten in seiner ganzen Widersprüchlichkeit präsentiert. Für
Hokuspokus hatte die NZZ freilich nichts
übrig. Ihr Interesse galt der Wissenschaft: «Herr d’Acron, der Erfinder der
schwimmenden Batterien soll mit seiner
Erfindung zu Grunde gegangen seyn.»
Möge es der Zeitung anders ergehen!
Thomas Frischknecht: Die Pionierin am
Mikrofon. Trudi Weder-Greiner. NZZ
Libro, Zürich 2015. 144 Seiten, Fr. 38.–.
Benedetta Craveri: Marie Antoinette und
die Halsbandaffäre. Berenberg,
Berlin 2015. 80 Seiten, Fr. 31.90.
Unterhaltung und Information gab es
schon vor dem Internet – und Frauenkarrieren ebenso. In der Schweiz der 1930er
Jahre war der Landessender Beromünster der zentrale Informationskanal. Und
als während des Zweiten Weltkriegs viele
Redaktoren im Grenzdienst standen,
setzte sich die damals 28-jährige Germanistin Trudi Greiner hinters Mikrofon.
Als erste festangestellte Frau unter den
Programmschaffenden war sie verantwortlich für die Sendeformate für Frauen, Jugendliche und Kinder. Der mittlerweile verstorbene Journalist Thomas
Frischknecht zeichnet das Leben von
Trudi Weder-Greiner sorgfältig nach und
porträtiert eine innovative Frau, die ein
feines Gespür für die Themen der Zeit
bewies und sich, wenn auch im Vergleich
zu Zeitgenossinnen wie Iris von Roten
eher auf leiseren Sohlen, für die Gleichberechtigung der Frauen einsetzte.
Die Affäre um ein sündhaft teures
Diamantencollier für die französische
Königin Marie Antoinette ist so berühmt
wie berüchtigt. Nur hat man leider nie
verstanden, worum es in diesem Skandal
vier Jahre vor der Französischen Revolution eigentlich ging. Das schlanke Büchlein der italienischen Historikerin Benedetta Craveri erzählt die verwickelte
Geschichte anschaulich und prägnant.
Diese bietet einen unfassbar leichtgläubigen, steinreichen Kardinal; eine ruchlos-intrigante Comtesse ohne Geld, die
ihn mit diversen skrupellosen Komplizen zu melken versteht; zwei bankrotte
Juweliere; eine aus Mozarts «Figaro»
abgekupferte Gartenszene; ein protzighässliches «Halsband», das an das Geschirr eines Zirkuspferdes erinnert. Und
natürlich eine luxusverliebte Königin,
die in diesem Falle schuldlos war und am
Ende doch als Verliererin dasteht.
LUKAS MAEDER
Ludwig Börne
Der Autor Charles
Lewinsky arbeitet in
den verschiedensten
Sparten. Sein letzter
Roman «Kastelau»
ist im Verlag Nagel &
Kimche erschienen.
Nur die Deutschen? Ich bin mir da nicht
mehr so sicher, seit ich in einer Literatursendung des Schweizer Fernsehens
einmal den Satz gehört habe, gute Literatur sei nur solche, über die man Sekundärliteratur schreiben könne.
(Nein, ich verrate hier nicht, welche
Sendung das war. Bei den zahllosen
Literaturprogrammen, die SRF uns anbietet, werden Sie es auch bestimmt
nicht herausfinden können…)
Ein Buch über ein Buch hat immer
etwas von einem Zeugnis, in dem ein
unerbittlicher Lehrer den Autor benotet.
Der kann dann daraus entnehmen, ob
seine Arbeit den Anforderungen des
Lehrplans genügt. Meist genügt sie
nicht. Nur um zu loben, schreibt selten
jemand ein ganzes Buch.
Als Schriftsteller kann man aus solchen scharfsinnigen Analysen der eigenen Werke eine Menge spannender
Dinge erfahren. Zum Beispiel, welche
literarischen Vorbilder einen beim
Schreiben beeinflusst haben. Das ist
immer dann besonders interessant,
wenn es sich dabei um Werke handelt,
die man überhaupt nicht kennt. Ich
habe mir schon eine ganze Reihe von
Romanen notiert, die meinen Stil geprägt haben, und die ich irgendwann
einmal tatsächlich lesen will. Am besten
im Altersheim, wenn ich das eigene
Schreiben definitiv aufgegeben haben
werde.
Ein Buch über ein Buch hat auch
immer etwas von einer Restaurantkritik:
Man bekommt das Menu zwar Gang für
Gang detailliert beschrieben, aber man
weiss hinterher trotzdem nicht, ob es
einem auch schmecken würde. Dazu
muss man schon selber Messer und
Gabel in die Hand nehmen, manchmal
auch die Hummerschere oder das ganz
kleine Dessertlöffelchen. Dazu muss
man das besprochene Buch schon selber
lesen.
Natürlich, es gibt auch kluge und
lehrreiche Sekundärliteratur. Aber sie ist
noch schwerer zu finden als kluge und
lehrreiche Romane. Wer fachmännisch
einen Wein beschreibt, kann sich noch
so viele Adjektive für die verschiedenen
Geschmacksnoten einfallen lassen –
gegen einen einzigen Schluck aus dem
Weinglas hat seine Wortgewalt keine
Chance.
Um hier ein Wort zu verwenden, das
Kurt Tucholsky mal für Wein erfunden
hat: Ein Buch über ein Buch möpselt oft
nach. Und deshalb lese ich, statt Bücher
über Bücher, lieber Bücher über Bücher.
(Es ist ja Sonntag, und so haben Sie
sicher genügend Zeit, um den doppelten
Sinn dieser Formulierung auseinanderzuklamüsern. Oder Sie
warten einfach ab, bis
jemand ein Buch darüber
schreibt und ihn Ihnen
erklärt.)
Kathrin Meier-Rust
Simone Karpf
Claudia Mäder
Kathrin Meier-Rust
29. November 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 19
Sachbuch
Gender Das starke Geschlecht schwächelt und ist kränklicher, suchtanfälliger und lebensmüder als sein
weibliches Gegenüber. Doch anstatt das Schweigen über psychische Tabuthemen zu brechen, ziehen
sich viele moderne Paare in alte Rollenmuster zurück
AuchMännerhaben
eineSeele
Cornelia Koppetsch, Sarah Speck: Wenn der
Mann kein Ernährer mehr ist.
Geschlechterkonflikte in Krisenzeiten.
Suhrkamp, Berlin 2015. 297 Seiten,
Fr. 26.90, E-Book 22.–.
Toni Tholen: Männlichkeiten in der
Literatur. Konzepte und Praktiken
zwischen Wandel und Beharrung.
Transcript, Bielefeld 2015. 224 Seiten,
Fr. 39.90, E-Book 33.90.
Matthias Franz, André Karger (Hrsg.):
Angstbeisser, Trauerkloss, Zappelphilipp?
Seelische Gesundheit bei Männern und
Jungen. Vandenhoeck & Ruprecht,
Göttingen 2015. 271 Seiten, Fr. 34.90.
Von Walter Hollstein
1982 hat Ina Deter gesungen: «Neue Männer braucht das Land». Der Song entwickelte sich nicht nur zum Hit, sondern
auch zum gesellschaftlichen Programm:
Nach der Emanzipation der Frauen
wurde nun jene der Männer eingefordert. Vor allem populäre Medien machten hinfort überall «neue Männer» aus,
bei der Kindererziehung, in der Sexualität, beim Sport und sogar im Haushalt.
Männer, die in der Öffentlichkeit standen, erkannten die Zeichen der Zeit und
liessen sich mit ihren Kindern fotografieren, am Wickel- oder auch am Spültisch.
Vor lauter Euphorie gingen die skeptischen Stimmen unter. Der amerikanische Jungenpsychologe William Pollack
zum Beispiel hat immer wieder darauf
hingewiesen, «dass für den Umgang mit
Jungen noch immer jener überholte Verhaltenskodex Gültigkeit hat, der auf Vorstellungen aus dem 19. Jahrhundert zurückgeht». Der Kulturhistoriker George
L. Mosse belegt in diesem Kontext, dass
die traditionelle Männlichkeit sich trotz
aller gesellschaftlichen Veränderungen
behauptet hat. Selbst R. W. Connell – feministischer Männertheoretiker und inzwischen zur Frau mutiert – kommt zu
der Schlussfolgerung, dass die Füh20 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. November 2015
rungsebenen von Wirtschaft, Militär und
Politik noch immer die «korporative Inszenierung» der traditionellen Männlichkeit sind. Insofern ist das Bild vom
«neuen Mann», wie der kanadische
Psychiater Terrence Real geradezu ärgerlich anmerkt, ein «Ablenkungsmanöver»
von der harten Tatsache, dass das traditionelle Männerbild seine Gültigkeit behalten hat.
Veränderte Männlichkeit kann man
von ihren Trägern ehrlicherweise erst
dann einfordern, wenn die gesellschaftlichen Bedingungen es erlauben, sie
auch leben zu dürfen. Vorläufig wissen
weder «die Institutionen noch die Durchschnittsbürger», notierte Anthony Astrachan nach einer grossangelegten Untersuchung, «was sie mit Männern anfangen sollen, die die konventionellen Rollen des Ernährers und der Kinderbetreuerin tauschen oder auch nur leicht
modifizieren wollen».
Triumph der Tradition
Die Persistenz traditioneller Rollenbilder
– im übrigen auch auf Seite der Frauen –
belegt eine neue Arbeit der beiden Darmstädter Sozialwissenschafterinnen Cornelia Koppetsch und Sarah Speck: «Wenn
der Mann kein Ernährer mehr ist». Prinzipiell merken die Autorinnen an: «Seit
den siebziger Jahren haben sich in
den Geschlechterverhältnissen moderner Gesellschaften weitreichende Veränderungen vollzogen. Weniger denn je
scheint das klassische Arrangement Gültigkeit zu besitzen, in dem der Mann das
Haupteinkommen verdient und sich vorrangig als Familienernährer versteht,
während die Frau primär für Hausarbeit
und Kindererziehung zuständig ist. Die
meisten Paare wünschen sich heute
einvernehmlich ein egalitäres Modell.»
Doch wie schaut es damit in der Praxis
aus, in der harten Realität von Kommunikation, Rollenverständnis, Hausarbeit
und Sexualität? Koppetsch und Speck
haben zur Beantwortung dieser Frage
Paare aus unterschiedlichen sozialen Milieus interviewt. Die Ergebnisse harmonieren nur sehr beschränkt mit dem, was
«äusserlich», das heisst in den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen von
Politik, Gesetz und Wirtschaft, in Gang
gekommen ist. Sogar «bei einkommensegalitären Paaren» haben sich die traditionellen Rollenmuster im Beziehungsleben nicht entscheidend verändert.
Das geht so weit, dass neue Realitäten
schlicht verleugnet werden: «Die Rolle
der Familienernährerin wird von den
meisten Paaren unseres Samples einvernehmlich heruntergespielt, in der Öffentlichkeit kaschiert.» Offenbar sind
Traditionen und überlieferte Bilder stärker als eine sozial veränderte Wirklichkeit. Die Bedeutung der Studie von
Koppetsch und Speck liegt gerade darin,
dass sie solche unbequemen Wahrheiten
ungeschönt benennt; insofern gehört
dieses Buch sicher zu den wichtigsten
Publikationen im Bereich der Geschlechterliteratur der letzten Jahre.
Auch der redundant geäusserten
Überzeugung, dass Veränderungen im
Geschlechterverhältnis sich viel eher im
Privaten wie im Öffentlichen durchsetzen können, widersprechen die Autorinnen vehement. «Die hier geschilderten
Befunde deuten darauf hin, dass die Barrieren, die einer Veränderung von Rollen
entgegenstehen, im Privaten grösser
sind als in den öffentlichen, konkurrenzbestimmten Lebensbereichen.» Dementsprechend machen Koppetsch und Speck
in den privaten Lebenswelten eine sehr
viel höhere «Änderungsresistenz» aus als
in Politik, Wirtschaft oder Kultur.
Auch Toni Tholen beschäftigt sich
in seinem Buch über «Männlichkeiten in
der Literatur» vornehmlich mit dem
«Beharrungspotenzial von Männlichkeit». In einer sehr interessanten Untersuchung geht er der Frage nach, wie in
viel gelesener Belletristik – zum Beispiel
Handke, Knausgard, Grünbein oder
Schneider – Männerbilder tradiert, ver-
Franz und Karger konstatieren: «Seelisches Leid bei Männern stellt immer
noch ein Tabuthema dar (…) Vieles deutet darauf hin, dass seelisch bedingtes
Leiden und Sterben bei Jungen und Männern heute noch unterschätzt und zuweilen sogar übergangen wird. Dies liegt
nicht nur an den Männern, sondern auch
an kollektiven Abwehr- und Wahrnehmungsbedürfnissen.» Dabei wäre ein anderer Blick dringend angezeigt, denn das
Fazit der vielen Vorträge internationaler
Experten fiel in Düsseldorf dramatisch
aus: Das männliche Geschlecht schwächelt; es ist kränker als das weibliche,
stirbt früher, bringt sich häufiger um, leidet mehr unter Arbeitsstress, ist suchtanfälliger und bei alledem medizinisch
ungenügend versorgt.
ARMSTRONG ROBERTS / GETTY IMAGES
Gefangen im Rollenkäfig
Das herkömmliche
Männer- und
Familienbild ist auch
in heutigen Köpfen
noch fest verankert,
konstatiert die
Wissenschaft.
ändert oder eben verfestigt werden. Der
Ansatz ist seit den Untersuchungen von
Leo Löwenthal und Siegfried Kracauer
durchaus probat und wird eigentlich viel
zu wenig angewandt. Dabei ist es immer
wieder erstaunlich, was literarische und
populärkulturelle Erscheinungsformen
über den Zeitgeist verraten. Solches arbeitet Tholen auch eindrücklich am Phänomen «Männlichkeit» heraus, etwa an
den Veränderungen beim Vatersein. Bei
seinen Ausführungen über die «Krise der
Männlichkeit» – Tholen setzt das bezeichnenderweise in Anführungszei-
chen – ist allerdings seine Empathielosigkeit gegenüber dem eigenen Geschlecht erschreckend.
Anschauungsmaterial – in fast schon
makabrem Masse – würde er in einem
materialreichen Band finden, den Matthias Franz und André Karger über den
Dritten Wissenschaftlichen Männerkongress herausgegeben haben. Er hat im
September 2014 unter starker Schweizer
Beteiligung in Düsseldorf stattgefunden.
Das Thema: «Angstbeisser, Trauerkloss,
Zappelphilipp? Seelische Gesundheit bei
Männern und Jungen».
Matthias Franz macht in seinem Beitrag
dafür vor allem den «männlichen
Rollenkäfig» verantwortlich. «Auch Männer haben eine Seele! Das ist kein larmoyanter Vorwurf an die feministische
Adresse, sondern eine dringend notwendige Erinnerung, die sich an die
Männer richtet, die immer noch viel zu
oft unter Verleugnung ihrer seelischemotionalen Bedürfnisse mit rollenkonformer schweigsamer Härte gegen sich
und andere so tun, als ob alles in Ordnung wäre – obwohl es schon lange
brennt.» Das Problem ist aber nicht nur
ein subjektives der Männer. «Das Desinteresse an diesen Verhältnissen grenzt an
kollektive Empathielosigkeit. Es fehlt an
Angeboten und Programmen, die mit
wahrnehmbarer Wertschätzung auch
männer- und jungenspezifische Bedarfslagen aufgreifen.» Dieses Buch müsste
zur Standardausrüstung von Ärzten,
Therapeuten und Sozialarbeitern gehören, aber eigentlich auch zu jener jedes
Mannes in unseren Breitengraden. ●
Walter Hollstein ist emerit. Professor
für Politische Soziologie und hat mehrere Bücher zu Genderfragen publiziert.
29. November 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 21
Sachbuch
Demenz Das Verhalten der Patienten lässt sich nicht ändern. Der Umgang mit ihnen schon
DemChaoseinenAlltagbieten
Voraussetzungen nötig sind, damit Demenzkranke sich in ihrer Umgebung
wohl fühlen, beschreibt er in dem Buch,
das er als Summe seiner Erfahrungen am
Ende seiner Berufstätigkeit vorlegt.
Einer seiner Grundsätze lautet: «Das
Verhalten dementer Menschen lässt sich
nicht ändern, ändern lässt sich allein das
System.» Und das hat er, zusammen mit
seinem Team, in den letzten Jahren
getan. Er hat mit der Sonnweid einen Ort
geschaffen, der nach den Bedürfnissen
seiner Bewohner und nicht nach denjenigen der Betreuer ausgerichtet ist. Das
klingt einfach, hat aber Konsequenzen,
die sämtliche Bereiche einer Pflegeeinrichtung betreffen: die bauliche Gestaltung ebenso wie die Verpflegung, das Beschäftigungsprogramm ebenso wie die
tägliche Betreuung. Nicht umsonst plädiert Schmieder für einen «neuen Umgang mit Demenzkranken».
Was er unter diesem «neuen Umgang»
versteht, erläutert er anhand von Beispielen und Porträts einzelner Bewohner. Ein Pflegekonzept erwartet man von
ihm vergebens. Schmieder hat keins,
weil er das Verhalten jedes Einzelnen so
akzeptiert, wie es ist, und nicht, wie es
seinen Vorstellungen gemäss sein sollte.
Michael Schmieder: Dement, aber nicht
bescheuert. Für einen neuen Umgang mit
Demenzkranken. Ullstein, Berlin 2015.
220 Seiten, Fr. 27.90.
Von Klara Obermüller
Wenn man mit alten Menschen über die
Zukunft spricht, taucht sie unweigerlich
auf: die Angst vor Demenz. Anders als
andere zum Tode führende Leiden wird
diese Krankheit gleichgesetzt mit Verlust
von Autonomie, von Persönlichkeit und
Würde, letztlich von allem, was unser
Menschsein ausmacht. Da die Zahl der
Betroffenen kontinuierlich steigt und bis
heute keine Therapie in Sicht ist, erscheint die Angst nachvollziehbar.
Auch Michael Schmieder, der langjährige Leiter des Pflegeheims Sonnweid in
Wetzikon, kennt diese Angst. Er erlebt
sie täglich bei Patienten und ihren Angehörigen, die mit der Diagnose konfrontiert sind und sich entscheiden müssen,
wie die verbleibende Lebenszeit gestaltet werden soll. Schmieder will die Angst
nicht kleinreden, aber er weiss aus langjähriger Praxis, dass auch ein Leben mit
Demenz lebenswert sein kann. Welche
Prinzipien aber hat er sehr wohl. Es sind
dies, allem voran, Respekt und Empathie. Daran hält er eisern fest und erwartet Gleiches auch von seinen Mitarbeitern. Von einem altgedienten Pfleger sagt
er einmal, er bewundere an ihm seine
Gelassenheit, sein Feingefühl und seinen
Einfallsreichtum: Eigenschaften, die es
in der Tat braucht, wenn es gilt, der fortschreitenden Verwirrtheit wie der gesteigerten Emotionalität der Bewohner einer
Demenzeinrichtung gerecht zu werden.
Man erfährt bei der Lektüre viel über
die Besonderheiten demenzkranker Menschen: über ihr Dasein im Hier und Jetzt,
ihre Direktheit, ihr bisweilen bizarres
Verhalten. Man erhält Einblick in ihre
Welt und legt das Buch am Ende aus
der Hand in der Gewissheit, dass weder
Verletzlichkeit noch Verwirrtheit die
Würde eines Menschen in Frage zu stellen vermag. Würdelos kann einzig der
Umgang mit ihm sein. Auch dazu spricht
Schmieder in seinem bewegenden Buch
Klartext. Wer Demenzkranke verstehen
und von ihnen verstanden werden wolle,
müsse «die Sprache des Herzens» beherrschen, heisst es einmal. So einfach klingt
das, so selbstverständlich, und fällt doch
bisweilen so unendlich schwer. ●
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22 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. November 2015
Geschichte Der amerikanische Historiker Timothy Snyder versucht, den Holocaust zu verstehen, um die
Menschheit vor neuen Katastrophen zu bewahren
AugeinAugemitdemBösen
Timothy Snyder: Black Earth.
Der Holocaust und warum er sich
wiederholen kann. C.H. Beck, München
2015. 488 Seiten, Fr. 42.90, E-Book 27.–.
In den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts erschien unter dem Titel «Die
unsichtbare Flagge» ein Buch, das rasch
zum Bestseller wurde. Sein Verfasser
Peter Bamm, der als Truppenarzt der
deutschen Wehrmacht an der Ostfront
gedient hatte, nahm darin eine ebenso
irreführende wie wirkungsmächtige Unterscheidung vor. Er trennte die «anständige Truppe» an der Front strikt von den
«Anderen», etwa den Angehörigen der
Waffen-SS, die im besetzten Gebiet ihre
schrecklichen Untaten begingen.
Dass eine scharfe Scheidung zwischen
heldenhaftem Soldaten- und brutalem
Verbrechertum nicht möglich ist und es
Peter Bamms «sauberen Krieg» so nicht
gab, hat u.a. vor vier Jahren der amerikanische Historiker Timothy Snyder in seinem eindrücklichen Werk «Bloodlands»
gezeigt. Mit «Bloodlands» bezeichnet der
Autor ein riesiges Gebiet, das sich vom
Baltikum durch das östliche Polen, durch
Weissrussland bis zur Ukraine erstreckt.
Das Buch gibt eine drastische Darstellung der menschenverachtenden Vernichtungspolitik Stalins und Hitlers, welche in diesem Raum zwischen 1933 und
1945 etwa 14 Millionen Menschen das
Leben kostete.
Es eröffnet insofern neue Einsichten,
als sein Autor das Hauptaugenmerk auf
die Zeit vor dem Beginn der Deportation
deutscher Juden im Herbst 1941 richtet,
die von der Holocaust-Literatur bisher
weniger beachtet worden ist. Snyder
weiss das Grauenhafte mit engagierter
Eindringlichkeit zu schildern, und man
mag sich zuweilen fragen, ob der Autor
der Faszination, die vom Bösen in der
Geschichte auszugehen pflegt, nicht zu
sehr nachgegeben hat. Wie auch immer:
Timothy Snyder hat eines der beklemmendsten Bücher geschrieben, die man
über den Massenmord im 20. Jahrhundert lesen kann – was den Welterfolg von
«Bloodlands» nicht verhindert hat.
Hohe Tötungsbereitschaft
Nun hat Snyder seinem ersten grossen
Buch ein ebenso umfangreiches zweites
folgen lassen. In diesem setzt er sich zum
Ziel, die Geschichte des Holocaust im Gesamtzusammenhang darzustellen. Auch
hier liegt das Hauptaugenmerk auf dem
Völkermord in den «Bloodlands», und
manches wird wiederholt, was bereits im
ersten Buch zu lesen war. Der Autor erweitert jedoch seinen Betrachtungshorizont, indem er einleitend Hitlers «Lebensraum-Ideologie» darstellt und die
Konzentrationslager, insbesondere jenes
von Auschwitz, stärker einbezieht. Das
Buch liest sich da am überzeugendsten,
EUGENE ERIC KIM
Von Urs Bitterli
Timothy Snyder will
mit seinem Buch ein
Mahnmal gegen die
Unmenschlichkeit
des Holocaust setzen
(hier: Gedenkstätte in
San Francisco).
wo der Autor, auf unbekannte Quellen
und entlegene Fachliteratur gestützt, die
Phasen der Judenverfolgung in verschiedenen Regionen Osteuropas beschreibt.
Wir erfahren erneut vieles über die
Vernichtungsmaschinerie hinter der
Front, die unmittelbar nach dem Vormarsch der deutschen Truppen in Gang
gesetzt wurde, und der nicht nur Juden,
sondern auch alle möglichen «weltanschaulichen Gegner» sowie Frauen und
Kinder zum Opfer fielen. Und wir erfahren viel über die Verführbarkeit des
Menschen. «Wie ab Juni 1941 deutlich
wurde», schreibt Snyder, «leisteten so
gut wie alle Deutschen, denen man befahl, einen Zivilisten, ob Jude oder nicht,
zu töten, dieser Anweisung Folge – obwohl ein Ersuchen um Freistellung von
solchen Einsatzaufgaben keine schwerwiegenden Konsequenzen hatte.»
Als fragwürdig oder doch irritierend
wird mancher Leser Snyders weitgehende Gleichsetzung von Stalins «Klassenkrieg» mit Hitlers «Rassenkrieg» empfinden, welche Unterschiede eher unterschlägt als herausarbeitet. Auch stellt der
Verfasser einen Kausalzusammenhang
zwischen den Massenverbrechen Stalins
und Hitlers her, indem er immer wieder
betont, erst die zeitlich vorausgehende
Besatzungs- und Kollektivierungspolitik
Stalins habe, indem sie jede staatliche
Ordnung zerstörte, die Voraussetzungen
für Hitlers Judenverfolgung in Osteuropa
geschaffen. Ältere Leser von Snyders
neuem Buch werden sich an den «Historikerstreit» vor dreissig Jahren erinnern.
Damals wandten sich deutsche Professoren, angeführt von Jürgen Habermas und
Hans-Ulrich Wehler, vehement gegen
den «neokonservativen Revisionismus»
gewisser Kollegen, denen sie vorwarfen,
Stalins und Hitlers Völkermord in unzulässiger Weise zu vergleichen. Dies führe,
so der Kern des Vorwurfs, zu einer fatalen Relativierung der Völkermorde und
stelle insbesondere die «Singularität» der
Naziverbrechen in Frage. Heute ist die
erbitterte Auseinandersetzung von damals verstummt, und Snyder, ein Vertreter der jüngeren Historikergeneration,
scheint davon nie gehört zu haben.
Im Reich der Spekulation
Aus Vorwort und Schlusswort seines Buches geht hervor, dass Timothy Snyder
mit seinem Buch dazu beitragen will,
dass Ähnliches wie der Holocaust sich
nie mehr wiederholt. Der Autor weiss,
dass die bedrückende Auflistung der Verbrechen, die er vornimmt, nicht genügt
und dass, wie Joachim Fest einmal formulierte, aus Mitgefühl Erkenntnis werden muss. «Den Holocaust zu verstehen», schreibt Snyder, «ist unsere Chance, vielleicht unsere letzte, um Menschheit und Menschlichkeit zu bewahren.»
Wenn der Autor aber im Schlusskapitel
seines Buches die Gefahr einer neuen
Menschheitskatastrophe an die Wand
malt, wechselt er von der Wissenschaft
in den Bereich der Spekulation. Das Böse
ist nun einmal, wie Jacob Burckhardt
sich ausdrückte, «Teil der grossen weltgeschichtlichen Ökonomie». Die Geschichtsschreibung kann dies zwar
bewusst machen, aber nicht ändern. ●
Urs Bitterli ist emeritierter Professor
der Geschichte der Universität Zürich.
29. November 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 23
Sachbuch
Wirtschaftsgeschichte Blicke hinter die Kulissen der reichsten Familie Deutschlands
Mit Unvernunft zum Milliardenvermögen
Rüdiger Jungbluth: Die Quandts.
Deutschlands erfolgreichste
Unternehmerfamilie. Campus, Frankfurt
2015. 416 Seiten, Fr. 39.90, E-Book 7.90.
Von Sebastian Bräuer
Am Anfang stand ein Akt ökonomischer
Unvernunft. Als Emil Quandt im Jahr
1883 die Textilfabrik im brandenburgischen Pritzwalk übernahm, für die er
bis dahin gearbeitet hatte, herrschte in
Deutschland eine schwere Wirtschaftskrise. Reihenweise gingen Firmen in den
Konkurs, ganze Regionen stürzten ins
Elend. In Pritzwalk überlebte eine einzige von elf Tuchfabriken: die von Emil
Quandt. Was seitdem dank Fleiss und
Aufopferungsbereitschaft, aber auch
Härte und politischem Opportunismus
gelang, gehört zu den erstaunlichsten
Episoden der deutschen Wirtschaftsgeschichte.
Die Quandts stiegen zur reichsten Familie des Landes auf und kontrollieren
heute u.a. knapp die Hälfte des Autokonzerns BMW. Das «Manager Magazin»
schätzt alleine das Vermögen des bekanntesten Teils der Dynastie, der im
August verstorbenen Johanna Quandt
sowie ihrer Kinder Stefan Quandt und
Susanne Klatten auf 31 Milliarden Euro.
Der Autor Rüdiger Jungbluth beschäftigt sich seit Jahren mit der Dynastie.
Schon für seine erste Familienbiografie,
erschienen 2002, gewährten ihm die
wichtigsten Vertreter der aktuellen Generation, die sonst nach aussen äusserst
zurückhaltend auftreten, mehrere Interviews. Jetzt hat Jungbluth das Werk vollständig überarbeitet. Dabei hat er u.a.
die 2011 veröffentlichten Erkenntnisse
des Historikers Joachim Scholtyseck be-
rücksichtigt. Scholtyseck belegt in einer
Studie, dass die Unternehmer als Mitläufer vom Naziregime profitierten, auch
wenn sie nicht als eifernde Ideologen
auftraten. Sie beschäftigten Zwangsarbeiter und Häftlinge von Konzentrationslagern.
Jungbluth beschreibt die dunklen Kapitel schonungslos, verzichtet aber auf
platte Urteile. Der langjährige Journalist
der Wochenzeitung «Die Zeit» schildert
den Aufstieg der Quandts sachlich und
distanziert, aber wohlwollend. Er stützt
seine Schilderungen auf eine beeindruckend tiefe Recherche in Tagebüchern
und zeitgeschichtlichen Dokumenten.
Dennoch liest sich das Buch unterhaltsam wie ein Roman. Wer von einer deutschen Familiengeschichte gefesselt werden möchte, muss nicht auf die Buddenbrooks zurückgreifen. Die Realität kann
mindestens so spannend sein. ●
Geschichte Paul Nolte legt eine biografische Skizze über Hans-Ulrich Wehler vor
Chronist der deutschen Gesellschaft
Paul Nolte: Hans-Ulrich Wehler. Historiker
und Zeitgenosse. C.H. Beck, München
2015. 208 Seiten, Fr. 26.90.
Von Victor Mauer
Bielefeld war überall: an Hochschulen
und Schulen, in Zeitschriften und Kolumnen. Bielefeld war Historische Sozialwissenschaft, und Historische Sozialwissenschaft war Hans-Ulrich Wehler.
Ein Jahr nach Wehlers Tod legt der an der
FU Berlin lehrende Paul Nolte eine biografische Skizze über seinen einstigen
Mentor vor. Wer deshalb eine posthume
Ehrerbietung erwartet, sieht sich aber
getäuscht. Bei aller Sympathie hält Paul
Nolte sich an den vornehmsten Grundsatz der Wissenschaft, den Hans-Ulrich
Wehler selbst zu oft mit Füssen trat: sine
ira et studio.
Herausgekommen ist nicht nur eine
elegant geschriebene Einordnung des
Historikers und Zeitgenossen, sondern
auch ein Beitrag zur Geschichte der Geschichtswissenschaft in der Bundesrepublik seit den 1960er Jahren – kurzweilig und doch mit Tiefgang, selektiv bis
zur Schlagseite, gelegentlich repetitiv,
selten widersprüchlich. Während der
chronologische Rahmen hinter dem inhaltlichen Fokus verblasst, wird der Lauf
des Lebens zum Kreislauf: dem hart erkämpften Aufstieg folgt der beanspruchte Platz an der Sonne und diesem fast
nahtlos der Rückzug auf Raten.
Thesen gegen den Trend wurden zum
Trendsetter, bevor sie wie die Sonderwegsthese wieder entsorgt wurden. Anders erging es der theoriegeleiteten
Struktur- und Systemanalyse. Bis heute
verleiht sie dem Fach Impulse, ohne
jedoch die reklamierte Hegemonie zu er-
ringen. Dass Wehlers Ansatz zum Reduktionismus neigt, erfahren wir schon deshalb nicht, weil Nolte erst gar nicht auf
die Methodendebatte der 1970er eingeht.
Dass es auch anders geht, zeigt die abgewogene Analyse der letzten Lebensphase, in der der Doyen der Sozialgeschichte
und Chronist der deutschen Gesellschaft
im «Geistergespräch mit Max Weber»
(Klaus Harpprecht) den Abwehrkampf
gegen die Alltags-, Mentalitäts- und Kulturgeschichte führte – mit einer Polemik,
die, frei von Ironie, zum Mittel des Erkenntnisfortschritts verklärt wurde.
Gewiss, Wehler war wichtig und wirkmächtig, letztlich aber, wie Nolte festhält, nur eine Figur des Übergangs. Sein
Absolutheitsanspruch wirkte befremdlich. Wissenschaft lebt nun einmal vom
vielstimmigen Diskurs. Wäre es anders,
wäre Wehlers Aufstieg nicht möglich und
Bielefeld nicht überall gewesen. ●
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24 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. November 2015
Nur Fr.
39.90
Gesellschaft Ueli Mäder will wissen, wer in der Schweiz das Sagen hat. Es ist das Kapital, meint der
Soziologe in marxistischer Manier
Wasmachtmächtig?
Ueli Mäder: Macht.ch. Geld und Macht in
der Schweiz. Rotpunkt, Zürich 2015.
509 Seiten, Fr. 39.90.
Von René Scheu
Wer die Macht hat, hat das Sagen. Und
wer das Geld, hat die Macht. Ist die Botschaft, die der Titel suggeriert, wirklich
zutreffend? Das neue Buch von Ueli
Mäder verspricht jedenfalls Aufklärung
über die wahren Verhältnisse im Lande.
Der streitbare Soziologe liefert gleich
zu Beginn eine furchteinflössende methodische Einhegung seines ambitiösen
Unterfangens, ein Who is who seiner intellektuellen Helden von Weber bis Bourdieu, von Gramsci bis Foucault. Wer dennoch weiterliest, erkennt bald, dass die
soziologische Suppe zwar heiss gekocht,
aber bestenfalls lauwarm serviert wird.
«Macht.ch» ist trotz Eingangsbrimborium kein systematisches Werk, sondern
eine Sammlung von persönlichen Anekdoten und Analysen des Ueli Mäder, der
als Interviewer in eigener Sache ständig
unterwegs ist. Seine Tour de Suisse führt
ihn an Medienkongresse, Rotarier-Treffen und Stiftungstage. Er trifft dabei auf
arrivierte Leute – tendenziell männlichen Geschlechts und fortgeschrittenen
Alters –, mit denen er über seine Berufung, die Schweiz und die Macht plaudert. Dazu zählen zum Beispiel Christoph Blocher, Roger de Weck, Helmut
Hubacher, Björn Johansson, Heinz Karrer, Oswald Sigg, Gerhard Schwarz, Rolf
Soiron, Daniel Vasella. Im Kopf des Lesers verfestigt sich der Eindruck: Ueli
Mäder macht hier Halbprivates öffentlich. Vielleicht darum, weil für ihn alles
Private immer schon politisch ist?
Ueli Mäder, einst Mitglied der kommunistischen Progressiven Organisationen
der Schweiz (POCH), steht jedenfalls zu
seinen politischen Präferenzen. Und legt
auch transparent dar, wie diese sein akademisches Arbeiten prägen: «Bei der
vorliegenden Auseinandersetzung mit
Machfragen spielt wohl meine persönliche sozialistische Grundhaltung mit.»
Wissenschaft ist stets normativ, das Bekenntnis darum ein Akt der Aufrichtigkeit. So viel Offenheit verdient Respekt!
Allerdings bestimmen diese Präferenzen auch die Denkprämissen – und entwerten dadurch die mutmasslichen Erkenntnisse. Mäder geht, klassisch marxistisch, auch im 21. Jahrhundert vom
Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit aus. Zugespitzt: Die wenigen Kapitalisten herrschen ungebrochen, die vielen
Arbeiter werden ausgebeutet und sind,
da sie sich vom eigenen prekären Wohlstand blenden lassen, einfach zu blöd,
um dies zu merken. Die Herrschenden
halten sich verschiedene Lakaien, die die
Welt in ihrem Sinne verklären und die
«neoliberale Transformation» vorantreiben. Dazu zählen die Medienvertreter,
die im Dienste des Kapitals stehen; die
Politikerlobbyisten, die sich von den
Banken und Multis bezahlen lassen; die
Ökonomen, die in den Akademien und
den Denkfabriken ihre bessere Vernunft
aufdemAltarderFinanzmarktgläubigkeit
opfern.
Man möchte Ueli Mäder aus der Ferne
zurufen: Nein, bei einer Zwangsabgabenquote von rund 50 Prozent leben wir
nicht im Turbokapitalismus, sondern im
«korporativen Kapitalismus» (Marcuse),
oder noch besser: im «steuerstaatlich
zugreifenden
Semisozialismus
auf
eigentumswirtschaftlicher Grundlage»
(Sloterdijk); nein, Abstimmungsergebnisse lassen sich hierzulande nicht zuverlässig kaufen, siehe Ausgang der Masseneinwanderungsinitiative; nein, die
direkte Demokratie geht nicht nächstens
vor die Hunde; nein, die Bürger sind
nicht doof und auch nicht bloss verlust-
angstgetrieben; und nein, eine Demokratisierung aller Lebensbereiche ist nicht
besser als deren angebliche Ökonomisierung, weil erstere trotz Partizipationsmöglichkeit am Ende stets Fremd- statt
Selbstbestimmung bedeutet.
Ueli Mäders Summa der letzten Jahre
bietet einigen Unterhaltungs-, jedoch
kaum Erkenntniswert. Eine Ausnahme
bilden zwei im Anhang publizierte Fallstudien des wie Mäder in Basel lehrenden Soziologen Peter Streckeisen. Die
Untersuchungen
zum
helvetischen
«Bankenstaat» und zur Ökonomisierung
des Verwaltungsapparats sind angewandte Macht- und Diskursanalyse vom
Feinsten. Als Leser, der den Buchtitel
ernst nimmt, hätte man sich weniger Mäder-Plauderton und mehr echte Machtkritik gewünscht. ●
Champignons 700 liebevoll gepinselte Schönheiten
Jeden Herbst durchstreifen unzählige Pilzliebhaber die
Wälder auf der Suche nach den schönsten Exemplaren
der wunderlichen Objekte. Zur Gattung der
«Mykophilen» – der Pilzfreunde – zählte auch der französische Naturwissenschafter und Schriftsteller JeanHenri Fabre (1823–1915). Bekannt vor allem als
Beobachter und Beschreiber des Insektenlebens, hat
Fabre im ausgehenden 19. Jahrhundert an die 700 südfranzösische Pilze porträtiert – mit einem Wasserfarbkasten und ohne zuvor je gemalt zu haben. Dass
seiner Sammlung «der künstlerische Zug» abgeht, wie
der Wissenschafter selber befürchtete, wird nach einem
Blick in den vorliegenden Prachtsband niemand behaupten: Vom halbkugeligen Ackerling über das
gallertfleischige Krüppelfüsschen bis zum olivstieligen
Zärtling treten einem Fabres «champignons» als so akribisch wie liebevoll gepinselte Schönheiten gegenüber.
Wer noch kein Pilzliebhaber ist, muss es durch dieses
Buch unweigerlich werden. ska./cmd.
Jean-Henri Fabre: Pilze. Hrsg. von Judith Schalansky.
Matthes & Seitz, Berlin 2015 (erscheint am 15. Dezember). 605 Seiten, 700 Abbildungen, Fr. 139.–.
29. November 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25
Sachbuch
USA Ein Roadtrip durch die grosse Tristesse der amerikanischen Südstaaten und eine unheimliche
Begegnung mit zornigen weissen Männern
AufNebenstrassenunterwegs
Paul Theroux: Tief im Süden. Reisen durch
ein anderes Amerika. Hoffmann und
Campe, Hamburg 2015. 604 Seiten,
zahlr. Abb., Fr. 35.90, E-Book 25.90.
Michael Kimmel: Angry White Men. Die USA
und ihre zornigen Männer. Orell Füssli,
Zürich 2015. 352 S., Fr. 26.90, E-Book 20.90.
Alle vier Jahre steigt das Interesse für die
amerikanischen Politverläufe. Mit einer
Vorlaufzeit von etwa einem Jahr bis zu
den Präsidentschaftswahlen häufen sich
auch deutsche Übersetzungen von Büchern, die das merkwürdige Geschehen
jenseits des Atlantiks verständlicher machen. Zwei Neuerscheinungen haben wir
hier herausgegriffen.
Unser erster Fund stellt «ein anderes
Amerika» vor, nämlich den «tiefen
Süden», wo doch die meisten Schweizer
US-Reisenden sich im Dreieck New York–
Boston–Chicago bewegen. «Tief im
Süden» kreuzte der 74-jährige Reiseschriftsteller Paul Theroux, der sich
einen Namen mit farbig beschriebenen
Eisenbahnfahrten auf mehreren Kontinenten gemacht hatte. Diesmal aber war
er ausschliesslich in seinem Privatauto
unterwegs, auf Nebenstrassen. Theroux’
liebste Metapher ist der MississippiFluss, der «Ole Man River». Die «grosse
Tristesse» des Südens zeige sich darin,
dass der alte Wasserweg verschlammt
ist, die Industrien weggezogen sind
(meist ins billiger produzierende Ausland), Armut vorherrscht. Die politische
Klasse schaut weg. Ja, auch die Clintons,
die Bushs, diese in Arkansas, Texas und
Florida gewachsenen Dynastien.
Wie immer lässt sich Theroux treiben;
er zählt meist auf den Zufall, der ihm
die aufschlussreichsten Begegnungen
beschert. Mit seinem alten Freund, dem
Fotografen Steve McCurry, baute er vier
Bildstrecken aus dem Süden in den
600-seitigen Band ein. Sie ergänzen
seine Texte wunderbar.
Der Wut auf der Spur
Die andere Neuerscheinung ist von
schwererem Kaliber. Der New Yorker
Soziologieprofessor Michael Kimmel, bekannt geworden mit Forschungen über
amerikanische Maskulinität und den
Segen des Feminismus, hat sich diesmal
ein brisantes politisches Thema ausgesucht: «Angry White Men». Woher
kommt die auffällige Zunahme der zornigen – mitunter gewalttätigen – Männer in
den Vereinigten Staaten, die Waffenkultur im amerikanischen Süden, die
Häufung der Amokläufe an Schulen, die
Macht der Waffenlobby, der Zulauf zu
kompromissfeindlichen rechtskonservativen Bewegungen wie der Tea Party?
In den Anmerkungen seines 350-seitigen Buchs arbeitete der Autor eine reichhaltige Liste von Fachliteratur ein; der
Haupttext liest sich aber leicht, denn
Kimmel ist ein begabter Vermittler seiner
Erkenntnisse, wie auch seine witzigen
26 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. November 2015
GABE SOUZA / GETTY IMAGES
Von Peter Studer
Jeder Bürger ein
Waffenexperte: «Tief
im Süden» ist das
Sammeln von Pistolen
und Gewehren ein
verbreitetes Hobby.
Ansprachen vor stürmisch applaudierenden Universitätsstudenten belegen.
Am stärksten fährt seine Darstellung
da ein, wo er Unterhaltungen mit «zornigen weissen Männern» wiedergibt,
Amokläufe mit genauen Tat-und Täterprofilen rekonstruiert. Als Hauptmotiv
der Wut in der unteren weissen Mittelschicht diagnostiziert der Soziologe etwa
in dieser Reihenfolge Globalisierungskritik, Immigrationsfeindlichkeit, Rassismus, Antisemitismus, Antifeminismus – in jeweils unterschiedlichen Mischungen. Besonders häufig macht er
eine kränkende Enteignung als Antrieb
aus – das Gefühl, dass einem etwas weggenommen wird, worauf man doch als
hartarbeitender Weisser ein Anrecht seit
mehreren Generationen verdient habe.
Auf gesellschaftliche Verwerfungen
stiess auch Paul Theroux. Der YankeeReisende ist literarisch gebildet. Etliche
seiner schönsten Anekdoten gelten denn
auch William Faulkner und anderen weniger bekannten Erzählern. Faulkner hat
1955 einen seiner «schärfsten und wütendsten Angriffe» (Theroux) nach dem
Lynchmord an einem schwarzen Teenager verfasst, der zu einem Auslöser für
die von schwarzen und weissen getragenen Protestmärsche wurde. Sie standen
am Anfang der Integrationsbewegung im
Süden, deren Erfolge und Misserfolge
der Reiseberichterstatter skizziert.
Im heutigen Dorf Money (sic) fand
Theroux aber nur noch die Ruinen des
Täterhauses im fast entvölkerten Dorf –
und ein bescheidenes Gedenkmuseum,
dessen schwarze Wärterin meinte, mental habe sich viel zu wenig verändert hier
unten. In den Flussdeltas ging Theroux
den Selbsthilfegenossenschaften der
schwarzen Farmer nach, aber auch die
neu entstandene schwarze Prominenz
besuchte er. So sass er an einer Buchvernissage des Urgesteins John Lewis, seit
1986 ununterbrochen nationaler Kongressabgeordneter aus Atlanta, «heute
wie ein Heiliger verehrt». Nach der Ver-
anstaltung vor ausschliesslich schwarzem Publikum scheuchten junge schwarze Assistenten in piekfeinen Anzügen
den zerknitterten weissen Autofahrer
hochmütig weg. Welch ein Kontrast zur
Freundlichkeit der vielen zufälligen Gesprächspartner im Süden, die sich jederzeit auf einen Schwatz einliessen!
Schlemmen und schiessen
Politische Aperçus mischt Theroux unbekümmert mit Exkursen über die Verwendung des Worts «Nigger» früher und
heute. Oder mit Beschreibungen von leckeren Soulfood-Gerichten und CatfishPlatten, zu denen man sich gerne hinsetzen würde. Fasziniert besuchte der Autor
aber auch mehrere Waffenmessen, Abwechslung im Alltag ländlicher Städtchen, wo sich jeder Passant als Waffenexperte, und oft auch als Sammler alter
amerikanischer Gewehre, ja sogar
schnellfeuernder osteuropäischer AK-47
outete. Man fühle sich irgendwie bedroht, fanden etliche Männer und Frauen; solche Passagen verweisen zurück
auf Kimmels vertiefte Analyse.
Zwar findet man sich «Tief im Süden»,
wo es an Karten, einem Inhaltsverzeichnis und Register mangelt, weniger leicht
zurecht als bei den «Angry Men», die
Lektüre lohnen aber beide Werke. ●
Peter Studer, ehem. Chefredaktor des
«Tages-Anzeigers» und des Schweizer
Fernsehens, war von 1966–1974 USAKorrespondent und hat das Land
immer wieder bereist und beschrieben.
«Mein langer Weg»
von Heidi Vogel
«Die kurze Unachtsamkeit meiner Mutter, aus der
die Erlaubnis, auf dem Schnee hinunterzurutschen, hervorging, veränderte mein Leben für
immer. Aber das Leben ist trotz vieler
Einschränkungen auch als Behinderte lebenswert.» Telefonische Bestellung: +43 2610 431 11.
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Musik Der Historiker David Schoenbaum präsentiert eine Sozial- und Kulturgeschichte der Violine
ImHimmelvollerGeigen
Von Corinne Holtz
1998 verkauft ein Auktionshaus in Köln
eine als Stradivari geltende Geige an den
Unterhaltungsmusiker André Rieu. Rieu
bietet am Telefon zwei Millionen Mark –
und wird kurz darauf von Experten darauf aufmerksam gemacht, dass die angebliche «Strad» eine zusammengesetzte
Geige mit französischer Decke aus dem
19. Jahrhundert ist. Heute wird für eine
echte «Strad» bis zu 10 Millionen Dollar
gezahlt.
Ist das der ganz normale Wahnsinn,
den Händler und Musiker gleichermassen befördern, wenn ihnen (angeblich)
eine italienische Geige erster Klasse vor
die Füsse fällt? Was zählt mehr: «Ton
oder Zettel»? Das fragliche Instrument
war jahrzehntelang von herausragenden
Geigern (darunter Mischa Elman) «ohne
einen Widerspruch oder eine Beschwerde» gespielt worden. Lässt sich daraus
schliessen, dass eine «Strad» auch dann
schön klingen kann, wenn sie nur teilweise «echt» ist?
David Schoenbaum lässt die Leserin
weiterdenken – und bleibt als Historiker
Anwalt der Geschichte. Schoenbaum ist
1968 als Autor des Buchs «Die braune Revolution. Eine Sozialgeschichte des Dritten Reichs» berühmt geworden. Ausserdem ist er ein passionierter Amateurgeiger und hat mit dem Handwerk des
Forschers eine «Kulturgeschichte des
vielseitigsten Instruments der Welt» verfasst. Sie liest sich spannend wie ein
Krimi und fokussiert bei aller Akribie
stets auf das Wesentliche.
Der Autor verarbeitet sein Material aus
zwanzig Jahren Recherche in vier Kapiteln: Geigenbau – Geigenhandel – Geigenspiel – Geigen, die die Welt bedeuten.
Dabei wird mit den Mythen und Tabus
des Betriebs aufgeräumt und der Blick
Wird zumeist von
Angehörigen der
weissen Mittelklasse
unters Kinn
genommen: die Geige,
aus sozialhistorischer
Warte betrachtet.
Biografie und werk eines
verkannten künstlers
GeorG M. Hilbi
Georg M. Hilbi
emil dill (1861–1938)
248 S. zweisprachig (d/e) 130 Abb. Geb. CHF 58
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aufstieg und niedergang
einer stickereidynastie
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Emil (1861–1938)
Dill
Jolanda Spirig
sticken und Beten
lung. Die professionellen Orchester der
Welt sind weitgehend weiss. In den
USA liegt die Quote
von Afroamerikanern
und Latinos bei 1,8
Prozent, auch in den europäischen Orchestern trifft man
selten auf nichtweisse Musiker.
Schwarze Geigerinnen finden,
wenn, den Weg in den Jazz (wie
etwa Regina Carter, die 2002 als erste
Jazzmusikerin überhaupt Paganinis
«Kanone» spielen durfte) oder bringen
es wie Ginger Smock (1920–1995) «als
bronzefarbene Zigeunerin» bis nach Las
Vegas und Hawaii. Smock war Mitglied
der Los Angeles Junior Philharmonic,
spielte unter Otto Klemperer und
gefiel den Managern des KlassikLabels RCA, solange sie nicht
wussten, dass die Interpretin
der Demo-Aufnahme «ein farbiges Mädchen von da oben in
San Francisco» war.
Der Autor rückt in seinen
Darstellungen stets den Menschen ins Licht. «Er hatte keine
praktische Kenntnis von menschlichen Beziehungen», sagt Jeremy
Menuhin über seinen berühmten
Vater. Die Japanerin Midori wiederum, die mit 21 Jahren bis zu 95 Konzerte jährlich spielte, verfiel «immer tiefer
in Rebellion, Anorexie und suizidale Depression». Anders Maddalena Lombardini Sirmen, die als 15-Jährige durchsetzte, bei Giuseppe Tartini in Padua zu lernen, und anfing, ihre Karriere als Geigerin und Komponistin an die Hand zu
nehmen.
Wo andere sich von der Fülle des Materials überwältigen lassen, führt hier
ein Autor Regie, den der «Wunsch nach
Aufklärung» antreibt. Schoenbaum hat
mit seiner Sozial- und Kulturgeschichte
der Violine einen neuen Standard geschaffen. Das Buch dürfte als Referenzwerk in die Musikgeschichtsschreibung
eingehen und gleichwohl ein breites Publikum interessieren. ●
www.chronos-verlag.ch
auf Themen gelenkt, die bisher
kaum Beachtung gefunden haben.
So dokumentiert der Autor im
Kapitel «Rasse, Klasse und Geschlecht», dass die Mehrheit bekannter Geigerinnen und Geiger seit
über zwei Jahrhunderten aus der
amorphen «Mittelklasse» kommt –
«beginnend mit Paganinis Vater, der
aus dem Milieu der Genueser Hafenarbeiter stammte, bis hin zum
Vater von Joshua Bell», der eine
Professur an der Indiana University innehat.
Hautfarbe und Geschlecht
sind ebenfalls Gegenstand der
Darstel-
David Schoenbaum: Die Violine.
Eine Kulturgeschichte des vielseitigsten
Instruments der Welt. Bärenreiter/
Metzler, Kassel/Stuttgart 2015.
730 Seiten, Fr. 71.–.
Die Textildynastie Jacob Rohner:
Familie, Firma, Klerus (1873–1988)
280 S. 140 Abb. Geb. CHF 38
29. November 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27
Sachbuch
Familienbiografie Elf Porträts über eine der prägendsten deutschen Intellektuellenfamilien spiegeln
die Geschichte des jüdischen Lebens seit dem 19. Jahrhundert
Sigrid Bauschinger: Die Cassirers.
Unternehmer, Kunsthändler,
Philosophen. Biographie einer Familie.
C.H. Beck, München 2015. 463 Seiten,
Fr. 42.90, E-Book 27.–.
Von Claudia Kühner
Oft wurde die Familie mit den Manns
verglichen. Doch die Cassirers sind nie so
weit ins öffentliche Bewusstsein vorgedrungen wie der grosse Schriftsteller
und seine schreibenden Nachkommen.
Ihre berühmtesten Vertreter – die Kunstsammler und -verleger Paul und Bruno
Cassirer und ihr Cousin, der Philosoph
Ernst Cassirer – haben Intellektuelle,
Sammler und Kenner fasziniert, aber
kein Millionenpublikum angesprochen.
Dazu waren sie entschieden zu wenig exzentrisch, und einen «Zauberer», zu dem
alle hochschauten, gab es in dieser Familie auch nicht.
In ihrer ausgezeichneten Familienbiografie zeigt die Germanistin Sigrid
Bauschinger, dass der Vergleich gleichwohl etwas für sich hat: Zwar waren
nicht alle Mitglieder gleich bedeutend
oder erfolgreich, aber dem «FamilienBiotop» der Cassirers entwuchsen viele
Persönlichkeiten, die für die deutsche
Kultur, Wissenschaft und Wirtschaft
Bleibendes geleistet haben.
Die Darstellung, die in elf Porträts über
vier Generationen reicht, ist zugleich die
typische Geschichte eines «jüdischen»
Aufstiegs, der im 19. Jahrhundert begann. War die erste Generation mit dem
Aufbau beschäftigt – bei den Cassirers in
der Holz- Kabel- und Cellulose-Industrie
–, wandten sich die Kinder bereits vielfach geistiger Tätigkeit zu. Auch die
Frauen übrigens, deren Bildungshunger
die Eltern nicht unterbanden. Anders als
viele Vertreter des jüdischen (Gross-)
Bürgertums liessen sich die Cassirers mit
nur wenigen Ausnahmen aber nicht taufen, selbst wenn sie die Religion kaum
praktizierten. Das ist erstaunlich, denn
die Taufe galt oft als letzter Schritt zur
gesellschaftlichen Anpassung. Für die
nächste Generation der Familie wird
dann das Exil zur prägenden Erfahrung.
Weitsichtig haben die meisten Cassirers
Deutschland frühzeitig verlassen. Heute
leben die Nachfahren in aller Welt, den
Weg zurück suchte nach 1945 keiner
mehr. Charakteristisch für die Familie
über die Generationen hinweg war aber
ihr enger Zusammenhalt, den die Mitglieder selbst unter den schwierigen Bedingungen des Exils wahrten.
Im Zentrum der Biografie stehen natürlich Paul (1871–1926), Bruno (1872–
1941) und Ernst Cassirer (1874–1945). Als
Kunsthändler und Verleger bereiteten
Paul und Bruno der Moderne den Weg,
gegen den wilhelminischen Kunstgeschmack, während Ernst Cassirer als
Kulturphilosoph Weltruhm erlangte, in
Deutschland aber als Jude erst im Alter
von 45 Jahren zu einem regulär bezahlten Lehrstuhl kam.
Daneben erschliesst Sigrid Bauschinger auch weniger bekannte Familienkapitel und zeigt etwa, dass auch die
Odenwaldschule auf die Cassirers zurückgeht, genauer auf Edith Cassirer
(1885–1982). Zusammen mit ihrem Mann
Paul Geheeb und finanziert vom Vater
gründete sie 1910 diese Reformschule,
baute sie auf und aus und führte sie ab
1934 unter grössten Mühen in der
Schweiz weiter. Als Ecole d’Humanité
besteht sie ob Meiringen bis heute, während die ursprüngliche Odenwaldschule
in Deutschland von den pädagogischen
GEHEEB-ARCHIV /ÉCOLE D'HUMANITÉ
DerKosmosderCassirers
Franz Cassirer als Husar (um 1904), Eva Cassirer vor ihrem Wohnwagen in
Wales (1941) und das Ehepaar Edith und Paul Geheeb (1925).
Nachfahren in den moralischen und
finanziellen Ruin getrieben worden ist.
Ihr Buch schliesst Sigrid Bauschinger
mit den Porträts dreier besonderer Frauen: der Schauspielerin Tilla Durieux, von
1910 bis 1926 mit Paul Cassirer verheiratet; Eva Cassirer, der Gönnerin Rainer
Maria Rilkes, und schliesslich Nadine
Gordimer, die in Südafrika den Nationalökonomen und Kunsthändler Reinhold
Cassirer geheiratet hat.
Sind die berühmten Mitglieder der
Familie schon vielfach beschrieben
worden, ist es das Verdienst von Sigrid
Bauschinger, einen Familienkosmos lebendig werden zu lassen – ohne die geistigen Leistungen zu vernachlässigen. ●
Mathematik Rudolf Taschner präsentiert ein komplexes Wissenschaftskonzept in theatralen Akten
Verspielte Spieltheorie
Rudolf Taschner: Die Mathematik des
Daseins. Eine kurze Geschichte der
Spieltheorie. Hanser, Berlin 2015.
251 Seiten, Fr. 31.90, E-Book 24.90.
Von André Behr
Die mathematische Spieltheorie gehört
heute zur Grundausbildung jedes Wirtschaftswissenschafters, Evolutionsbiologen oder Konfliktforschers. Das verdankt sie insbesondere dem lebenslustigen Südstaatler John Nash, dessen
berührende Biografie Stoff des erfolgreichen Hollywoodfilms «A beautiful mind»
war. Der hochbegabte und vielseitige
Nash hatte als 22-jähriger 1950 eine Dissertation vorgelegt, in der er für die Strategiewahl in gewissen Spielen ein Gleichgewicht beschrieb. Die Tragweite dieser
28 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. November 2015
Idee wurde zwar nicht sogleich erkannt,
brachte ihm aber 1994, nach Jahrzehnten
einer durchlittenen Erkrankung an Schizophrenie, den Nobelpreis ein.
Was dieses sogenannte «Nash-Gleichgewicht» bedeutet, was man unter
«kooperativen» und «nichtkooperativen
Spielen» versteht oder welche Rolle
Glücksspiele, die doppelte Buchführung
oder das berühmte «Gefangenendilemma» in der Entwicklung der Spieltheorie
einnehmen, erklärt Rudolf Taschner in
seinem neusten Buch.
Dass der 62-jährige Mathematikprofessor von der Technischen Universität Wien ein kundiger Vermittler seines
Fachbereichs ist, erkennt man spätestens am schlauen «Glossar», in dem er
bei jedem Stichwort immer gleich auf ein
weiterführendes Buch verweist, das relevant für das ganze Gebiet ist.
Allerdings ist Taschners handlicher
Band kein Lehrbuch. Erzählt werden in
17 Kapiteln Geschichten, die man wie
Akte in einem Theaterstück verstehen
kann, und in denen alle Protagonisten zu
Wort kommen, die substanziell zur Entfaltung der Spieltheorie und ihrer Deutung beigetragen haben. So treten u.a.
die legendären Pascal, Fermat und Bernoulli sowie Morgenstern und von Neumann auf, deren Ansatz Nash einst revolutionierte, aber auch Mozart und eine
gewisse Marilyn vos Savant. Taschners
launischer Einfall, diese Akte nicht
streng zeitlich gemäss einer «historischen Wahrheit» zu ordnen und mit fiktiven Dialogen zu würzen, macht es dem
Leser inhaltlich nicht einfach. Dafür eignet sich das Buch bestens zum Schmökern, und Wesentliches lernen kann man
obendrein. ●
Drogen Zwei Analysen zu den Zusammenhängen zwischen repressiver Politik und eskalierendem Krieg
TeufelskreisausArmut,
KorruptionundGewalt
Von Michael Holmes
Seit etwa einem Jahrhundert tobt in allen
Weltregionen ein Krieg, den die meisten
Menschen wie eine Naturgewalt hinnehmen. Nun sind zwei Bücher erschienen,
die den Drogenkrieg als Ergebnis einer
verfehlten Repressionspolitik erklären
und erkunden. Einmal tut dies der britische Journalist Johann Hari. Für seine
imposante Streitschrift «Drogen – Die Geschichte eines langen Krieges» ist er an
die Fronten des Konflikts, aber auch in
Länder gereist, die hoffnungsvolle Alternativen erproben. Von überallher bringt
er fesselnde Reportagen, Porträts und
Interviews mit und ergänzt das Material
mit verblüffenden Forschungsbefunden.
Morde am Fliessband
Die Anfänge der Drogenprohibition schildert der Autor anhand archetypischer
Lebensgeschichten. Der eifernde Rassist
Harry Anslinger verschärfte als erster
Leiter des Federal Bureau of Narcotics
den 1914 begonnenen Anti-Drogen-Feldzug. Die Jazzlegende Billie Holliday kam
aufgrund ihrer von Armut und Gewalt
geprägten Kindheit nicht mehr vom Heroin los und wurde von Anslingers Agenten zugrunde gerichtet.
Sodann dokumentiert Hari, wie der
Krieg gegen die Drogen zum Krieg um die
Drogen führt, da die Rivalität um lukrative Schwarzmärkte mit Waffengewalt
ausgetragen werden muss. Eindringlich
beschrieb ein Ex-Bandenführer dem
Autor, wie er sich in einem New Yorker
Ghetto mit Härte und Gewalt behauptete. Im Gefängnis besuchte Hari einen
mexikanischen Ex-Profikiller, der seit
dem 13. Lebensjahr für ein Kartell wie am
Fliessband mordete. Nüchtern hält er
fest: «Das Drogenverbot schafft ein System, in dem wahnsinnige, sadistische
Gewalt einer funktionalen Logik gehorcht. Sie ist nötig und wird belohnt.»
Hari bespricht dieses System aus der
Perspektive unterschiedlicher Beteiligter
und nimmt so auch die Auswirkungen in
den Blick, die das Verbot auf die Drogenkonsumenten hat. Süchtige erklärten
Hari, wie die Repression die psychischen
Schmerzen und harten Lebensbedingungen verschlimmere, die sie in die Abhängigkeit getrieben hatten. Verschiedene
interviewte Wissenschafter bestätigen
diesen Eindruck: Ihnen zufolge halten
Im September
wurden in Mexiko und
Kolumbien mehr als
zwei Tonnen Kokain
beschlagnahmt. Hier
präsentiert die Polizei
den Drogenfund.
Drogenverbote die Abhängigen «in einem ewigen Elendskarussell» gefangen.
Die Hauptursache für Drogensüchte ist
laut den Experten nicht in den Substanzen selbst zu finden, sondern in Einsamkeit und Verzweiflung – nur so sei etwa
zu erklären, dass Schmerzpatienten in
vielen Ländern Opiate erhalten, ohne abhängig zu werden. So führen denn auch
90 Prozent aller Drogenkonsumenten ein
normales Leben.
Und die restlichen 10 Prozent? Überdurchschnittlich häufig enden sie in den
Vereinigten Staaten hinter Gittern: Die
USA weisen auch aufgrund des Krieges
gegen die Drogen die weltweit höchste
Gefangenenrate auf. Welche anderen
Wege gäbe es? Der Autor sprach mit Aktivisten, Polizisten und Politikern, die für
ein Ende der Verbotspolitik eintreten. Er
hat die Schweiz, Vancouver und Liverpool bereist, wo Fixerstuben und Hilfsprogramme zahlreiche Leben retteten.
Aus Uruguay sowie einigen US-Bundesstaaten berichtet er über die Legalisierung von Marihuana. In Portugal ging er
der Frage nach, warum seit der Entkriminalisierung aller Drogen 2001 die Zahlen
der Süchtigen und Drogentoten deutlich
zurückgegangen sind. Nüchtern und
skeptisch bespricht er verschiedene
Optionen und Folgen einer vorsichtigen
Dekriminalisierung.
Eine wohldurchdachte Drogenfreigabe fordern auch die mexikanische
Schriftstellerin Carmen Boullosa und der
US-Historiker Mike Wallace. In ihrem erschütternden Buch «¡Es reicht! Der Fall
Mexiko – Warum wir eine neue globale
Drogenpolitik brauchen» dokumentieren sie den mexikanischen Krieg gegen
die Drogen, der seit vielen Jahrzehnten
aufs Engste mit dem US-amerikanischen
verknüpft ist. Die Autoren zeigen, wie
die USA immer wieder massiven Druck
auf das schwächere Nachbarland ausgeübt haben, den Drogenkrieg zu verschärfen. Ausserdem haben sie dessen Militär
und Polizei trotz schwerer Menschenrechtsverletzungen und Verbindungen
zur Drogenmafia kritiklos unterstützt.
Wichtiger noch: Die Kartelle führen grausame Schlachten um Zugänge zu US-Drogenmärkten, die deren Haupteinnahmequelle darstellen.
Für eine Dekriminalisierung
Eindrücklich beschreiben Boullosa und
Wallace den Teufelskreis aus Armut, Korruption und Gewalt, der den Krieg am
Laufen hält. Arme Bauern und Slumbewohner, Polizisten, Richter, Journalisten
und Politiker müssen den Banden für
Bestechungsgelder dienen oder deren
Rache fürchten. «Silber oder Blei», fordern die Drogenbarone unverblümt. Sie
vergewaltigen, foltern, köpfen und verbrennen ihre Gegner. Die Autoren geben
den «neoliberalen» Reformen der letzten
dreissig Jahre einen Teil der Schuld an
der Gewalteskalation. Dagegen spricht,
dass die Armut in diesem Zeitraum deutlich zurückgegangen ist. Zugenommen
haben dagegen die Drogenprofite. Die
tiefgehenden Analysen der Autoren
legen nahe, dass die Dekriminalisierung
von Drogen in den USA die wirksamste
Hilfe für die fragile mexikanische Demokratie wäre. Letztlich werfen beide Bücher die Frage auf, ob der Krieg gegen die
Drogen nicht mehr Opfer gefordert hat
als die Drogen selbst. ●
JOHN VIZCAINO / REUTERS
Johann Hari: Drogen. Die Geschichte eines
langen Krieges. S. Fischer, Frankfurt am
Main 2015. 448 Seiten, Fr. 35.90,
E-Book 25.–.
Carmen Boullosa, Mike Wallace: ¡Es reicht!
Der Fall Mexiko: Warum wir eine neue
globale Drogenpolitik brauchen. Verlag
Antje Kunstmann, München 2015.
250 Seiten, Fr. 27.90.
29. November 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29
Sachbuch
Geschichte Luzern ist mehr als ein Postkartenidyll: Ein Fremdenführer weist Wege in die Vergangenheit
Jenseits von Kappelbrücke und KKL
Beatrice Schumacher: Kleine Geschichte der
Stadt Luzern. Hier+Jetzt, Baden 2015.
231 S., ca. 100 Abb., Fr.38.90.
Von Alexis Schwarzenbach
Warum nicht schon die Römer am Ausfluss des Vierwaldstättersees eine Siedlung angelegt haben, erfährt man in diesem Buch nicht. Alles andere dagegen
schon, denn Beatrice Schumacher gelingt auf gut zweihundert Seiten ein facettenreiches Porträt der Stadt Luzern.
Sie spannt den Bogen vom frühmittelalterlichen Marktflecken, der um das Kloster St. Leodegar herum entsteht, sich zur
Stadt wandelt, ein Territorium erwirbt
und bis zum Untergang der Alten Eidgenossenschaft einer ihrer Vororte ist, bis
hin zur Gegenwart, in der sich Luzern
von einem auf den Tourismus ausgerich-
teten Postkartenidyll zu einem modernen Verwaltungs- und Bildungszentrum
entwickeln will.
Den gängigen Mythos, der Gotthardverkehr habe beim Aufschwung der
Stadt eine zentrale Rolle gespielt, widerlegt Schumacher ebenso deutlich, wie
sie in allen Phasen der Stadtgeschichte
auf die prägende Rolle von Ausländern
verweist, seien es mittelalterliche Klosterbrüder, die aus allen Teilen Europas
nach Luzern kamen, oder die Touristenscharen aus aller Welt, die die Stadt seit
dem 19. Jahrhundert prägten.
Jedes Kapitel des Buchs beginnt an
einem anderen Ort der heutigen Stadt,
mit einer Weitwinkelaufnahme in Farbe
und einer Einführung in die Epoche, auf
die der jeweilige Platz verweist. Damit
wird das Buch zum Fremdenführer in die
Vergangenheit einer Stadt, die bis heute
von den allermeisten Touristen und ein-
heimischen Kulturpendlern wohl nur
ausschnittsweise wahrgenommen wird
– Schwanenplatz, KKL, Verkehrshaus.
Dass die Stadt Luzern deutlich mehr zu
bieten hat, steht ausser Frage, dass man
dies mit etwas mehr Engagement hätte
erzählen können ebenso. Denn dem
Buch fehlt eine passionierte Haltung,
was vermutlich seinen Entstehungsumständen geschuldet ist.
Neben der Autorin waren nicht nur
zwei Institutionen – die Gemeinnützige
Gesellschaft und das Stadtarchiv Luzern
–, sondern auch eine vierköpfige Begleitkommission an der Publikation beteiligt.
Das dürfte der Grund dafür sein, dass der
Text zwar weder Fremde noch Frauen je
ausser acht lässt, über weite Strecken jedoch den Eindruck eines Kompromisses
hinterlässt, der eingegangen werden
musste, um zu viele Interessen unter
einen Hut zu bringen. ●
Das amerikanische Buch Massenbegeisterung über den Hexenwahn
Dunkel war die Welt der Puritaner in
Neuengland, schreibt Stacy Schiff in
ihrem aktuellen Bestseller The Witches: Salem, 1692 (Little, Brown and
Company, 496 Seiten): «Schwarz wie
Krähen, Pech-Schwarz, BibelSchwarz». Ende des 17. Jahrhunderts
hatten die Kolonisten einen blutigen
Krieg gegen Indianer mit knapper Not
überstanden und waren anschliessend
in Konflikte untereinander und mit der
britischen Krone geraten. Der harte
Winter 1691/92 brachte den frommen
Siedlern rund um Boston neue Angriffe
von Ureinwohnern und den mit ihnen
verbündeten Franzosen. Am 20. Januar
1692 aber drang eine neue, bedrohlichere Dunkelheit in das Haus des Pastors Samuel Parris im Dorf Salem. Seine
neunjährige Tochter Betty und die elfjährige Nichte Abigail fielen in Krämpfe
und Verrenkungen, warfen Hausrat
umher und stiessen, von unsichtbaren
Nadeln gestochen, fremdartige Laute
aus. Bald ergriff das Unheil weitere
Mädchen und junge Mägde im Dorf.
Dann stellte ein ratloser Arzt die folgenschwere Diagnose: Verantwortlich
waren der Teufel und seine Gesandten,
Hexen und Hexer inmitten der abergläubischen Gemeinde.
So beginnt eine zentrale Episode der
amerikanischen Geschichte, die Hexenprozesse von Salem. Anscheinend lassen Berge von Fachliteratur, Erzählungen von Nathaniel Hawthorne und Arthur Millers Drama «Hexenjagd» das Interesse Amerikas an dem neun Monate
währenden Massenwahn ungestillt.
Nur so ist das starke Echo auf Stacy
Schiffs Buch «The Witches» erklärbar.
Von einem Verriss im Buchmagazin der
«New York Times» abgesehen, loben
Kritiker die gründlichen Recherchen
der Autorin und ihrer acht Assistenten.
30 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. November 2015
Geständnis der Sklavin Tituba beginnende Hysterie nach, die 14 Frauen
und fünf Männer an den Galgen brachte, auch zwei der Hexerei beschuldigte
Hunde nicht verschonte und in 25 Ortschaften zu Hunderten von Anschuldigungen führte. Die Justiz griff häufig
zu Folter. Da Geständnisse einen Freibrief darstellten und nur Leugner hingerichtet wurden, beschuldigten Männer ihre Frauen und Kinder ihre Eltern.
Überall wollten Kolonisten auf Besen
reitende Hexen und teuflische Spektren wie blaue Eber oder rote und gelbe
Vögel erkennen. Im Herbst 1692 hatte
der Wahn zahlreiche Familien ruiniert
und die ganze Region an den Rand von
Chaos und Anarchie gebracht. Mitte
Oktober desselben Jahres schritten
dann die häufig miteinander verwandten Kaufleute, Pastoren und Offiziellen
an der Spitze der Gesellschaft ein und
beendeten den Spuk ebenso rasch, wie
er begonnen hatte.
Die Hexenprozesse
von Salem bilden
ein Kernkapitel der
amerikanischen
Geschichte – Stacy
Schiff (unten) rollt es
ein weiteres Mal auf.
Ebenso professionell wirkt die mit
einem Essay Schiffs im «New Yorker»
anhebende Kampagne für das Buch mit
zahlreichen Auftritten und Medieninterviews der 54-Jährigen. Sie kennt das
Verlagsgeschäft und weiss, wie Bestseller funktionieren. Schiff war ursprünglich als Lektorin tätig, ehe sie 1995 mit
ihrem Erstling über Antoine de Saint
Exupéry eine erfolgreiche Karriere als
Sachbuchautorin begann. Auf Biografien spezialisiert, wurde Schiff unter
anderem mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet.
Dass sie eine Fülle an Informationen
flüssig in dramatische Zusammenhänge
stellen kann, beweist Schiff erneut in
den «Witches». Sie zeichnet die mit Anschuldigungen der Mädchen und einem
Der Leser bleibt jedoch etwas ratlos zurück. Wie die «Times» moniert, führt
die Lektüre der «Witches» über weite
Strecken durch ein Dickicht von Details, die durch zahlreiche Fussnoten
und 50 Seiten Anmerkungen eher noch
unübersichtlicher werden. Dies will
Schiff durch überzogen wirkende Schilderungen und unglaubwürdige Dialoge
wettmachen. Zum Abschluss bietet die
Autorin aus der Fachliteratur bekannte
Erklärungen und stellt den Hexenwahn
knapp in historische Zusammenhänge.
Aber den Mut zu frischen, eigenen Thesen über Teufelei und Hexenjagden in
Amerika fand Schiff nicht. So stellt sie
die Magnetwirkung von Salem für
Neuheiden fest, die tatsächlich an
schwarze Magie glauben. Aber was
dahinter steckt, bleibt offen. ●
Von Andreas Mink
Agenda
Künstlermaskenball Orgiastische Party in Zürich
Agenda Dezember 15
Basel
Donnerstag, 3. Dezember, 19.30 Uhr
Zeruya Shalev: Schmerz. Lesung und
Gespräch. Moderation: Sigrid Löffler,
Fr. 25.–. Volkshaus, Rebgasse 12–14.
Info: www.literaturhaus-basel.ch.
Montag, 7. Dezember, 19 Uhr
Elena Chizhova: Die Terrakottafrau. Lesung und Gespräch.
Moderation: Thomas Grob,
Fr. 20.–. Philosophicum,
St.Johanns-Vorstadt 19–21.
Reservation: 061 500 09 30.
Donnerstag, 10. Dezember, 19 Uhr
Rolf Lappert: Über den Winter. Lesung.
Moderation: Christine Lötscher, Fr. 17.–.
Literaturhaus, Barfüssergasse 3.
Tickets: www.ticketino.com.
Bern
1947 fand der Zürcher Maskenball erstmals statt. Alsbald wurde er zu einem gesellschaftlichen Ereignis.
Einmal pro Jahr waren in der strengen Zwinglistadt die
Regeln bürgerlichen Wohlverhaltens ausser Kraft gesetzt. Nun wurde so richtig gefeiert: mit Tanz, Musik
und Rauschmitteln aller Art. Bohème und Bourgeoisie
fanden für drei Tage oder vielmehr Nächte zusammen.
Der Geist von Dada erwachte zum Leben. Plakate, Fotos
und Erinnerungen zeugen von diesem so provokativen
wie lustvollen Fest. Willi Wottreng, Historiker und langjähriger Redaktor der «NZZ am Sonntag», hegt seit je ein
besonderes Interesse für alles Ungewöhnliche. Den Rändern der Gesellschaft gilt seine Sympathie. Über Rebellen, Fahrende und andere Aussenseiter hat er packende
Bücher geschrieben. Hier nun lässt er vor allem Bilder
sprechen. Die Masken, Gesichter und Dekorationen
führen uns ein Zürich vor, bei dem uns Hören und Sehen
vergeht. Porträts einzelner Protagonisten ergänzen
den grosszügig ausgestatteten Band. Manfred Papst
Willi Wottreng: «Einmal richtig spinnen können». Der
legendäre Künstlermaskenball in Zürich. Elster, Zürich
2015. 256 Seiten, zahlreiche Abb., Fr. 48.–.
Bestseller November 2015
Belletristik
Sachbuch
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2
3
4
5
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9
10
1
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3
4
5
6
7
8
9
10
Jojo Moyes: Ein ganz neues Leben.
Wunderlich. 528 Seiten, Fr. 28.90.
Lucinda Riley: Die Sturmschwester.
Goldmann. 576 Seiten, Fr. 22.90.
Jo Nesbø: Blood on Snow. Der Auftrag.
Ullstein. 192 Seiten, Fr. 17.90.
David Lagercrantz: Verschwörung.
Heyne. 608 Seiten, Fr. 26.90.
Eveline Hasler: Stürmische Jahre.
Nagel & Kimche. 224 Seiten, Fr. 25.90.
Monique Schwitter: Eins im Andern.
Droschl. 232 Seiten, Fr. 27.90.
M. Hjorth, H. Rosenfeldt: Die Menschen, die es
nicht verdienen. Wunderlich. 544 S., Fr. 28.90.
Hansjörg Schneider: Hunkelers Geheimnis.
Diogenes. 208 Seiten, Fr. 31.90.
Franz Hohler: Ein Feuer im Garten.
Luchterhand. 128 Seiten, Fr. 26.90.
Jussi Adler-Olsen: Takeover. Und sie dankte den
Göttern. DTV. 656 Seiten, Fr. 28.90.
Arno Renggli: Der Hund starb – was er nicht
überlebte. Wörterseh. 168 Seiten, Fr. 18.90.
Giulia Enders: Darm mit Charme.
Ullstein. 288 Seiten, Fr. 23.90.
Henning Mankell: Treibsand.
Zsolnay. 384 Seiten, Fr. 35.90.
Tilmann Lahme: Die Manns.
S. Fischer. 480 Seiten, Fr. 35.90.
Per Andersson: Vom Inder, der nach Schweden
fuhr. Kiepenheuer & Witsch. 336 S., Fr. 21.90.
Wilhelm Schmid: Gelassenheit.
Insel. 118 Seiten, Fr. 12.90.
Walter Däpp: Thierry Carrel – Von Herzen.
Werd & Weber. 212 Seiten, Fr. 42.90.
Ajahn Brahm: Der Elefant, der das Glück vergass.
Lotos. 240 Seiten, Fr. 24.90.
Rüdiger Safranski: Zeit.
Hanser. 272 Seiten, Fr. 35.90.
Duden: Die neue Rechtschreibung. 26. Aufl.
Bibliogr. Institut. 1216 Seiten, Fr. 32.90.
Erhebung GfK Entertainment AG im Auftrag des SBVV; 17.11.2015. Preise laut Angaben von www.buch.ch.
Mittwoch, 2. Dezember, 20 Uhr
Pedro Lenz: Der Gondoliere der Berge.
Lesung, Fr. 20.–. Buchhandlung
Stauffacher, Neuengasse 25/37.
Reservation: Tel. 031 313 63 63.
Sonntag, 13. Dezember, 11 Uhr
Franz Hohler: Lesung, Fr. 20.–. Zentrum
Paul Klee, Monument im Fruchtland 3.
Info: www.zpk.org.
Zürich
Dienstag, 1. Dezember, 19.30 Uhr
Café Philo: 25 Jahre Gender Trouble.
Gespräch mit Christine Abt und Michael
Pfister, Fr. 12.–. Literaturhaus, Limmatquai 62. Reservation: Tel. 044 254 00 00.
Donnerstag, 3. Dezember, 12.15 Uhr
Rüdiger Safranski: Zeit.
Lesung und Gespräch, Fr. 12.–.
Literaturhaus (siehe oben).
Sonntag, 6. Dezember, 20 Uhr
Zweifels Zwiegespräche. Gast: Peter von
Matt. Gespräch über Dürrenmatt,
Fr. 30.–. Schauspielhaus, Rämistrasse 34.
Tickets: www.schauspielhaus.ch.
Dienstag, 8. Dezember, 19.30 Uhr
Krimiabend. Mit Mitra Devi, Helmut
Maier, Jutta Motz u.a., Erlös geht an
«Zürcher Lighthouse». PBZ, Zähringerstrasse 17. Info: www.pbz.ch.
Montag, 14. Dezember, 19 Uhr
Elisabeth Bronfen: Mad Men. Buchpräsentation. Moderation: Johannes
Binotto, Cabaret Voltaire, Spiegelgasse 1.
Info: www.cabaretvoltaire.ch.
Montag, 14. Dezember, 19.30 Uhr
Lukas Bärfuss, Peter Rüedi, SusanneMarie Wrage: Begegnungen mit Friedrich Dürrenmatt. Gespräch. Moderation:
Roman Bucheli, Fr. 18.–. Literaturhaus.
Bücher am Sonntag Nr. 1
erscheint am 31.01.2016
Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher am
Sonntag» können bestellt werden per Fax 044 258 13 60
oder E-Mail [email protected]. Oder sind
– solange Vorrat – beim Kundendienst der NZZ,
Falkenstrasse 11, 8001 Zürich, erhältlich.
29. November 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 31
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DER ANGENEHMSTE WEG,
NOCH KLÜGER ZU WERDEN
Was hat es mit dem Schneemann auf sich? Was mit der Brille mit dem Loch
im Glas? Mit dem traurigen Ballon, dem die Luft ausgegangen ist?
Sie waren, wie alle anderen hier abgebildeten Objekte auch, Sujets auf dem
Titelblatt des «NZZ Folio». Wofür sie standen? Nicht für das Naheliegende.
Das «NZZ Folio» widmet sich jeden Monat einem Thema, das über den Tag
hinaus aktuell ist. Das Titelblatt interpretiert dieses Thema mit einem unerwarteten Dreh. So wie die Geschichten im Heft die Leserinnen und Leser
nicht nur informieren, sondern auch unterhalten und überraschen sollen.
Wer das «NZZ Folio» liest, wählt den angenehmsten Weg, noch klüger zu
werden.
Der Schneemann schmolz übrigens auf dem Titelblatt des Hefts «Diät» vor
sich hin, die zerschossene Lesebrille war ein Sinnbild für «Krimi», und der
schrumpelige Luftballon illustrierte «Seelennot».
Daniel Weber, Chefredaktor «NZZ Folio»
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für nur 20 Franken. SMS mit Keyword NZZFOLIO47,
Namen und Adresse an Nr. 880 (20 Rp./SMS) oder
unter nzz.ch/folio47
Dezember STAR WARS Von der Macht eines Films
Januar
GESCHÄFTSIDEEN Vom Geistesblitz zum Grosserfolg
Februar
IM PARADIES Von der Sehnsucht und der Sünde
März
HIERARCHIEN Wie sie entstehen, was sie bewirken