Nr. 10 | 29. November 2015 NZZ am Sonntag Siegfried Lenz Der grosse Erzähler ist neu zu entdecken 4 Jugendbuch Computer hacken leicht gemacht 15 Schwächelnd Um die Männer ist es schlecht bestellt 20 Holocaust US-Historiker Snyder über Unmenschen 23 Bücher am Sonntag Die wilden Jahre der alten Tante. NEU Ihre wichtigsten Kampfmittel waren Humor, Spott und Sarkasmus. Die ersten Redaktoren der «Zürcher Zeitung» waren rebellische junge Männer, die der Zensur trotzten, den kirchlichen Glauben infrage stellten und das eine oder andere Mal dafür im Gefängnis landeten. Dieses Buch handelt von der Entstehungsgeschichte des modernen politischen Journalismus und der «Neuen Zürcher Zeitung», die ihn geprägt hat. Es entführt den Leser in die abenteuerlichen ersten 20 Jahre der «Zürcher Zeitung», welche die Spätaufklärung, mehrere Revolutionen und den Zusammenbruch des Ancien Régime sahen. Urs Hafner Subversion im Satz Die turbulenten Jahre der «Neuen Zürcher Zeitung» (1780-1798) 2015, 180 S., 20 Abb., gebunden mit Schutzumschlag ISBN 978-3-03810-093-5 <wm>10CAsNsja1NLU01DU3tDAyMQMA2CUumw8AAAA=</wm> <wm>10CFXKoQ6AMAxF0S_q0tfRdmWSzC0Igp8haP5fkeEQV9zk9F418dfW9rMdVUMD5Ciy2JwkbrWIJF68AsjC0JUDLjDozxMjLHMe0xBAyIODYKQYDknPdb_gs7P7cgAAAA==</wm> Fr. 4 Aus dem Kloster geflohen, Kämpfer für die Pressefreiheit. Franz Xaver Bronner, von 1795 bis 1798 Redaktor der Zürcher Zeitung. Anonymer Stich, ohne Datum. 122 5 Der Richtungswechsel zeigt den Redaktorenwechsel an. Als einziges illustratives Element ziert der forsche Postreiter die Zürcher Zeitung während ihrer ersten vier Jahrzehnte, mit Ausnahme der Zeit der Helvetik. Er schmückte schon die Montags-Zeitung, die Vorgängerin der Zürcher Zeitung. Jedes Mal, wenn ein neuer Redaktor sein Amt antritt, ändert der Reiter die Richtung. 123 nzz-libro.ch 38.– / € 38.– 6 Zürich wird im 18. Jahrhundert auch «Athen an der Limmat» genannt, steht aber unter strenger geistlicher Zensur. Ansicht der Stadt Zürich, um 1780. Radierung von Johann Rudolf Holzhalb nach einer Zeichnung von Johann Jakob Koller. 124 7 «Die Weltgegebenheiten nicht früher anzeigen, als sie geschehen sind.» Ein ironisches Statement mit tiefem Sinn. Die erste Ausgabe der Zürcher Zeitung, 12. Januar 1780. Inhalt Die sanfte Kraft der Feder Siegfried Lenz (Seite 4). Illustration von André Carrilho Belletristik 4 6 7 8 9 10 11 12 13 Siegfried Lenz: Die Erzählungen Von Manfred Papst Raoul Schrott: Die Kunst an nichts zu glauben Von Claudia Mäder Elena Chizhova: Die Terrakottafrau Von Sabina Meier Zur Lee Child: Der Anhalter Von Bruno Steiger Pier Paolo Pasolini: Kleines Meerstück Von Angelika Overath Olivier Rolin: Der Meteorologe Von Martin Zingg Christoph Schreier (Hrsg.): New York Painting Von Gerhard Mack Adolf Muschg: Die japanische Tasche Von Charles Linsmayer Umberto Eco: Nullnummer Von Sandra Leis Andor Endre Gelléri: Die Grosswäscherei Von Janika Gelinek Kurzkritiken Belletristik 13 Eduard von Keyserling: Fräulein Rosa Herz Von Manfred Papst Ulrike Ulrich: Draussen um diese Zeit Von Regula Freuler Fred Vargas: Das barmherzige Fallbeil Von Regula Freuler Zsuzsanna Gahse: Jan, Janka, Sara und ich Von Manfred Papst Kinder- und Jugendbuch 14 Matthew Quick: Goodbye Bellmont Von Daniel Ammann Abby Hanlon: Donner und Dory Von Verena Hoenig Timo Parvela, Pasi Pitkänen: Pekkas geheime Aufzeichnungen Von Verena Hoenig Läden und Leuchtketten behaupten es seit Wochen, und nach dem ersten Glühwein wollen wir es gerne glauben: Die Zeit der Wünsche steht vor der Tür. Jene unserer Leser liegen uns besonders am Herzen, und so kommen wir mit Vergnügen der Anregung eines jungen Bücherfreundes nach. Ein Teilnehmer des diesjährigen Zukunftstages gab jüngst zu Protokoll, dass er als Chefredaktor der NZZ für mehr Kindertitel in den «Büchern am Sonntag» sorgen würde – wir empfehlen ihm, direkt auf Seite 14 vorzublättern. Die weiteren Punkte seiner Wunschliste stellen uns vor grössere Probleme. An der ersehnten «Anti-Hausaufgaben-Maschine» tüfteln wir noch. Und die Welt ohne Krieg, die wir uns nicht weniger als unser jugendlicher Leser wünschen, scheint in immer weitere Ferne zu rücken. Was vermag die Feder gegen das Schwert? Nicht viel, ist man versucht zu sagen. Nicht nichts, sagt uns Serhij Zhadan. Der ostukrainische Autor macht in brechend vollen Sälen seiner Heimat die Erfahrung, dass Bücher in Kriegszeiten wie Therapiemittel wirken. Mehr über die tröstliche Kraft der Kultur lesen Sie im Porträt von Kahtrin Meier-Rust ab S. 16. Der (post-)sowjetische Osten steht auch in den Romanen von Elena Chizhova (S. 7) und Olivier Rolin (S. 10) im Zentrum; zudem laden wir Sie in mexikanische (S. 29), amerikanische (S. 26) oder männliche (S. 20) Problemgebiete ein und hoffen, mit unseren 45 Rezensionen den einen oder anderen Lesewunsch in Ihnen zu wecken! Claudia Mäder Hillary T. Smith: Hellwach Von Christine Knödler Katrin Zipse: Die Quersumme von Liebe Von Andrea Lüthi 15 Chris Köver, Daniel Burger, Sonja Eismann: Hack’s selbst Von Daniel Ammann Irène Cohen-Janca, Maurizio A.C. Quarello: Die letzte Reise Von Hans ten Doornkaat Bärbel Oftring: Tatort Natur Von Verena Hoenig V. Ballhaus, R. Habinger: Kritzl & Klecks Von Christine Knödler Lutz van Dijk: Afrika – Geschichte eines bunten Kontinents Von Sabine Sütterlin Porträt 16 Wenn Bücher zu Zufluchtsstätten werden Kathrin Meier-Rust hat mit dem ukrainischen Dichter und Aktivisten Serhij Zhadan über Kultur und Krieg gesprochen Kolumne 19 Charles Lewinsky Das Zitat von Ludwig Börne Kurzkritiken Sachbuch 19 Arnold van de Laar: Schnitt Von Kathrin Meier-Rust Urs Hafner: Subversion im Satz. Die turbulenten Anfänge der «Neuen Zürcher Zeitung» (1780–1798) Von Claudia Mäder Thomas Frischknecht: Die Pionierin am Mikrofon. Tudi Weder-Greiner Von Simone Karpf Bernadetta Craveri: Marie Antoinette und die Halsbandaffäre Von Kathrin Meier-Rust Sachbuch 20 Cornelia Koppetsch, Sarah Speck: Wenn der Mann kein Ernährer mehr ist Toni Tholen: Männlichkeiten in der Literatur Matthias Franz, André Karger (Hrsg.): Angstbeisser, Trauerkloss, Zappelphilipp? Von Walter Hollstein 22 Michael Schmieder: Dement, aber nicht bescheuert Von Klara Obermüller 23 Timothy Snyder: Black Earth Von Urs Bitterli 24 Rüdiger Jungbluth: Die Quandts Von Sebastian Bräuer Paul Nolte: Hans-Ulrich Wehler Von Victor Mauer 25 Ueli Mäder: Macht.ch Von René Scheu Jean-Henri Fabre: Pilze Von Simone Karpf und Claudia Mäder 26 PaulTheroux:TiefimSüden MichaelKimmel:AngryWhiteMen Von Peter Studer 27 DavidSchoenbaum:DieVioline Von Corinne Holtz 28 Sigrid Bauschinger: Die Cassirers Von Claudia Kühner Rudolf Taschner: Die Mathematik des Daseins Von André Behr 29 Johann Hari: Drogen Carmen Boullosa, Mike Wallace: Es reicht Von Michael Holmes 30 Beatrice Schumacher: Kleine Geschichte der Stadt Luzern Von Alexis Schwarzenbach Das amerikanische Buch Stacy Schiff: The Witches: Salem, 1692 Von Andreas Mink Agenda 31 Willi Wottreng: Einmal richtig spinnen können Von Manfred Papst Chefredaktion Felix E.Müller (fem.) Redaktion Claudia Mäder (cmd., Leitung), Regula Freuler (ruf.), Simone Karpf (ska.), Kathrin Meier-Rust (kmr.), Manfred Papst (pap.) Ständige Mitarbeit Urs Bitterli, Hildegard Elisabeth Keller, Manfred Koch, Gunhild Kübler, Sandra Leis, Charles Lewinsky, Andreas Mink, Klara Obermüller, Angelika Overath, Martin Zingg Produktion Eveline Roth, Björn Vondras (Art Director), Susanne Meures (Bildredaktion), Manuela Klingler (Layout), Korrektorat St.Galler Tagblatt AG Verlag NZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich, Telefon 0442581111, Fax 0442617070, E-Mail: [email protected] 29. November 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3 Belletristik Erzählungen Das Werk von Siegfried Lenz (1926–2014) beeindruckt durch seine Welthaltigkeit, Farbigkeit und Konsequenz. Der Wahlhamburger war ein grosser Geschichtenerfinder. In einer Gesamtausgabe seiner Erzählungen ist er neu zu entdecken EinKellervollmitJoha Siegfried Lenz: Die Erzählungen. Hoffmann und Campe, Hamburg 2015. 2 Bände in Schuber, 1600 Seiten, Fr. 68.–. Von Manfred Papst Bollerup liegt nördlich von Kiel. Die meisten Leute im Dorf heissen Feddersen. Da sind zum Beispiel Friedrich und Leo. Ihre Familien sind verfeindet. Seit zweihundert Jahren haben sie kein Wort mehr miteinander gesprochen. Als Kröten und Iltisse bezeichnen sie einander gegenüber Dritten. Doch einmal wird das Schweigen unterbrochen. Die beiden Männer sind in ihren Booten hinausgefahren, um Reusen aufzunehmen, geraten in einen Sturm, ertrinken um ein Haar und können sich als Nichtschwimmer nur retten, indem sie sich aneinanderklammern, bis sie von mächtigen Wellen ans Ufer gespült werden. Dort leeren sie ihre Flachmänner mit Rum. «Schade um die Aale», sagt Friedrich nach einer Weile. «Ja, schade um die Aale», sagt Leo. Dann gehen die beiden untergehakt über die Steilküste zurück bis zum Dorfplatz, wo sie sich voneinander lösen: «Kröte», zischt der eine, und der andere zischt zurück «Gefleckter Iltis, du!» Das war’s dann wohl wieder für zweihundert Jahre. Solche Geschichten erzählt uns Siegfried Lenz. Sein Vorrat an Figuren, Ideen, Anekdoten ist unerschöpflich. Manche seiner Erzählungen sind lustig und skurril, manche sind bewegend, ja erschüt- Hommage an S. Lenz Neben den Erzählungen in zwei Bänden hat der Verlag Hoffmann & Campe zwei Bücher herausgebracht, die seinen verstorbenen Autor ehren: «Siegfried Lenz, 1926–2014. Eine Hommage», 111 S., Fr. 17.90, E-Book 7.90, sowie «Siegfried Lenz. Der Autor und sein Verlag», 133 S., Fr. 23.90, E-Book 7.90. Die erste Publikation versammelt die Nachrufe der wichtigsten deutschen Publizisten auf den Autor sowie die Reden, die an der Trauerfeier Ende Oktober 2014 in Hamburg von Helmut Schmidt, Karl-Heinz Ott und anderen gehalten wurden; die zweite enthält die Reden, die Siegfried Lenz an diversen Verlagsanlässen gehalten hat, vor allem aber eine komplette Bibliografie mit Farbabbildungen der Umschläge – ein interessantes Stück Verlagsgeschichte. 4 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. November 2015 ternd, manche sind alles auf einmal. Angestrengt wirken sie nie. Aber sie sind nicht blosse Causerien. Sie haben eine Haltung, sie haben eine Botschaft. «Was sind Geschichten?», hat Siegfried Lenz sich einmal gefragt und folgende Antwort gegeben: «Man kann sagen, zierliche Nötigungen der Wirklichkeit, Farbe zu bekennen. Man kann aber auch sagen: Versuche, die Wirklichkeit da zu verstehen, wo sie nichts preisgeben möchte.» Genau diese verborgene Wirklichkeit hat er in seinen Werken immer wieder aufgespürt und gestaltet. 1951 veröffentlichte Siegfried Lenz bei Hoffmann & Campe sein erstes Buch «Es waren Habichte in der Luft». Seinem Verlag blieb er über mehr als sechzig Jahre treu. Ein gutes halbes Hundert Bücher hat er ihm anvertraut: Romane, Novellen, Erzählungen, Dramen, Gedichte. Treu blieb er auch sich selbst. Er war ein Erzähler von altem Schrot und Korn, kein Experimentator und Innovator, aber einer, der in Figuren, Dialogen, Landschaften und Geschichten dachte. Von Moden liess sich Siegfried Lenz nicht beirren. Schon ab Mitte der 1950er Jahre zählte der 1926 im ostpreussischen Lyck geborene Autor zu den erfolgreichsten deutschen Schriftstellern. «So zärtlich war Suleyken», ein Band heiterer Geschichten aus seiner masurischen Heimat, die Romane «Der Mann im Strom», «Brot und Spiele» und «Stadtgespräch» sowie die Erzählungsbände «Jäger des Spotts» und «Das Feuerschiff» begründeten seinen Ruhm, der mit dem weltweit erfolgreichen Roman «Deutschstunde» von 1968 seinen Zenit erreichte. Als Traditionalist abgebucht In den folgenden Jahren und mit den weiteren grossen Deutschland-Romanen «Das Vorbild», «Heimatmuseum» und «Exerzierplatz» zählte Siegfried Lenz mit Heinrich Böll und Günter Grass zu den wirkungsmächtigsten Autoren der Bundesrepublik. Einem Teil der Literaturkritik und namentlich der marxistisch imprägnierten Germanistik jener Jahre wurde er jedoch zunehmend suspekt. Ein kritischer Bewahrer, kein leichtfertiger Zertrümmerer, zudem ein bedächtig auftretender, nachdenklicher Mann – das passte nicht zum Zeitgeist. Plötzlich galt Siegfried Lenz als Gestriger und wurde als Traditionalist abgebucht. Der Wahlhamburger liess es sich nicht verdriessen und legte mit der Regelmässigkeit eines Uhrwerks weiterhin seine Bücher vor. Er sah vieles kommen und gehen. In seinen späten Jahren, zumal nach der Publikation seiner Meisternovelle «Schweigeminute» im Jahr 2008, stand er plötzlich wieder im Zentrum des Interesses. Das hatte mehrere Gründe. Zum einen war Siegfried Lenz, der passionierte Pfeifenraucher mit den hellen Augen, ein milder, kluger Mensch. Kein Rechthaber wie Günter Grass, kein Berserker wie Martin Walser, kein stets Beleidigter wie Walter Kempowski. So umgetrieben, nnisbeerwein lich bringt sie alle Geschichten aus den berühmten Erzählungsbänden «So zärt lich war Suleyken», «Das Feuerschiff», «Der Spielverderber», «Der Geist der Mi rabelle», «Einstein überquert die Elbe bei Hamburg», «Das serbische Mädchen» und «Ludmilla». Sie wartet aber auch mit etlichen Tex ten auf, die bisher nur in Zeitungen oder Zeitschriften greifbar waren und hier nun erstmals in Buchform erscheinen. Sie geht also über die bisherigen «Ge sammelten Erzählungen» hinaus und schliesst auch die 2011 unter dem Titel «Die Maske» erschienenen Texte ein. Nicht aufgenommen wurde dagegen «Schweigeminute», vermutlich weil das Juwel als Novelle und nicht als Erzäh lung firmiert. Diese ein wenig beckmes serische Unterscheidung mag etwas erstaunen, zumal die hier enthaltene Erzählung «Das Feuerschiff» wesentlich umfangreicher ist als «Schweigeminute» und durchaus auch als Roman durch gehen könnte. Aber wir wollen nicht krit teln. TEUTOPRESS Ganz Gegenwart zerrissen, von Zweifeln geplagt seine vielfach scheiternden Figuren waren – der Autor war die Freundlichkeit selbst. Als grosszügig, humorvoll und gelassen hat ihn auch sein langjähriger Freund Helmut Schmidt geschildert. Doch das Gewinnende der Person war nur das eine. Hinzukam, dass der Tod der Litera tur, den manche 1968 verkündet hatten, nicht stattfand, und jene an Tolstoi und Tschechow, Hemingway und Faulkner geschulte Form intensiven und gleich wohl unaufgeregten Erzählens, die Sieg fried Lenz seit je pflegte, allmählich wie der in ihr Recht gesetzt wurde. Am 7. Oktober 2014 ist Siegfried Lenz in Hamburg gestorben. Nun legt sein Ver lag eine gediegene zweibändige Ausgabe seiner gesammelten Erzählungen vor, die uns Lenz noch einmal in seiner ganzen Vielfalt nahebringen. Die Edition umfasst etwa 170 Texte. Selbstverständ Der 2014 verstorbene Siegfried Lenz war passionierter Pfeifenraucher. Bemerkenswert ist allemal, dass die Ausgabe ohne Anmerkungen auskommt. Mehr als eine editorische Notiz, Quellen nachweise und eine Zeittafel finden wir nicht vor. Mehr brauchen wir aber auch nicht. Denn Siegfried Lenz hat stets so geschrieben, dass wir jedes Wort verste hen. Das ist bei bis zu 67 Jahre alten Tex ten nicht selbstverständlich. Viele der Geschichten von Siegfried Lenz mögen in versunkenen Welten spielen. Aber nichts in ihnen ist vergangen. Sie sind ganz Gegenwart. Auch Sven Feddersen gehört zur Welt von Bollerup. Er ist «ein langarmiger Mann mit schleppenden Bewegungen, mit wässrigen Augen und dem Hals eines ausgewachsenen Truthahns» – und der Erbe eines ansehnlichen Hofes. Erst im Alter von 57 Jahren verlobt er sich mit einer gewissen Elke Brummel. Die Hoch zeit, ein gewaltiges Fest, lässt dann aber nochmals neun Jahre auf sich warten. Warum nur? Der Friseur Hugo Feddersen fasst sich am Fest ein Herz und fragt den Bräutigam. Sven erwidert: «Als mein Onkel starb, da hinterliess er mir einen ganzen Keller voll Johannisbeerwein. Es gibt nichts, was ich so gerne trinke wie dieses Zeugs. Nachdem ich die erste Fla sche probiert hatte, sagte ich mir: Heira ten kannst du, wenn der Keller leer ist; denn so ein Tröpfchen, das trinkt man besser allein.» ● 29. November 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 5 Belletristik Lyrik Raoul Schrott erdichtet Quellen aus der Vormoderne und schreibt über das Hier und Jetzt BibelderWeltlichkeit Raoul Schrott: Die Kunst an nichts zu glauben. Hanser, München 2015. 168 Seiten, Fr. 23.90. Von Claudia Mäder Mit Buchtiteln ist es so eine Sache. Nicht immer treffen die phantasievollen Kreationen von Verlagen und Autoren den Geschmack der Leser respektive den Inhalt des Werks. Den vorliegenden Titel von Raoul Schrott aber darf man nicht nur interessiert zur Hand, sondern mit jedem Wort beim Namen nehmen, ja man muss das sogar tun, um in dieses so merkwürdige wie brillante Werk einzutauchen. «Die Kunst an nichts zu glauben» – das ist zunächst einmal die Überschrift eines atheistischen Pamphlets von 1574. Nachdem sein Verfasser gehenkt und verbrannt worden war, zirkulierte das Büchlein weiter, und in der Bibliothek von Ravenna will Schrott nun eine unbekannte Neubearbeitung aus der Zeit um 1700 aufgestöbert haben. «Manual der transitorischen Existenz» nennt der Lyriker diesen Fund, den er uns nach einem ausladenden Vorwort häppchenweise präsentiert: Zahlreiche Auszüge aus dem «Manual» bilden, umrahmt von Schrott’schen Gedichten aus den letzten Jahren, den gedanklichen Sockel des Buches. «Die Kunst an nichts zu glauben» – das ist sodann auch ein Hinweis an uns Leser. Raoul Schrott ist ein poetischer Tausendsassa, er hat Homer neu übersetzt, die Lyrik mit der Hirnforschung vernetzt, ein Epos über die Entstehung der Erde erarbeitet – und nun eine atheistische Bibel erdichtet. Der fragliche Text stammt zweifellos aus Schrotts Feder, die Maskerade ist aber alles andere als eine selbstvernarrte Spielerei: Indem der Autor die Entstehung seines Buchs in die Frühaufklärung verlagert, verweist er darauf, dass sich seine Gedanken aus mannigfachen Quellen speisen. Der Grundtenor des «Manuals» ist denn auch kein streng atheistischer. Dass da kein Gott ist, erwähnen zwar einzelne der Miniaturen, in der Hauptsache aber plädieren sie für eine radikale Ausrichtung auf das Diesseits: «alles was wir erleben – alles was real ist – sind einzelne augenblicke.» Nicht nur hinsichtlich eines fernen Jenseits, sondern schon über den einzelnen Moment hinaus ist Zukunft «fiktion und fraglich» und das vergängliche Hier und Jetzt die einzige Behausung des Menschen. Nie will der Verstand diesen Sentenzen widersprechen. Und doch bleibt es eine Kunst, an nichts zu glauben. Der stringenten Logik des «Manuals» stellt Schrott sinnigerweise Gedichte zur Seite, die einzelne Menschen – zumeist Berufstätige, aber auch Liebende oder Scheidende – aus dem Alltag sprechen lassen; das Daheimsein «in all diesem vorüber» erweist sich dabei öfters als ungemütlich, so dass etwa der Architekt entscheidet, die Kulisse der Beständigkeit mit weiteren Bauten zu bestücken. Keine beanstandet die Unzulänglichkeit der rein präsentischen Existenz aber eindringlicher als die Ärztin, die über den Menschen sagt: «er lebt auch von dem was zukünftig ist und undeutbar / ohne diesen gleisnerischen trost werden seine pupillen trüber / ist er das mündel der angst / blut schweiss und tränen / eine wandelnde lungenmaschine.» Inwieweit Schrott die titelgebende Kunst beherrscht, ist offen. Fraglos ist, dass er die magische Kraft besitzt, den ins Dasein geworfenen Menschen mit Worten ein kleines Zuhause zu zimmern – einen Gedankenhort, der Mut schöpfen lässt für das, was uns einzig übrigbleibt, nämlich «weiterzumachen unter einem in sternen zerstreuten himmel». ● <wm>10CAsNsja1NLU01DU3NDcxMQIAJY2twA8AAAA=</wm> <wm>10CFXKoQ6AMAxF0S_q0te168okmVsQBD9D0Py_IuAQV9zkjNEs8dfat6PvzcIC5HBVeSeJl5YjUqnWAIgwbIEaA-H4eWJEyZznawggyISSBmmZXj3d5_UAicaYS3IAAAA=</wm> BYZANZ IN DER SCHWEIZ MUSÉE RATH, GENF 4 DEZEMBER 2015 – 13 MÄRZ 2016 Partenaire principal Avec le soutien de FONDATION MIGORE 6 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. November 2015 www.mah-geneve.ch Roman Die Petersburger Autorin Elena Chizhova erzählt von einer jungen Akademikerin, die sich im Russland der 1990er Jahre als alleinerziehende Mutter durchschlagen muss Raubtierkapitalismus imHinterhof «Die Terrakottafrau» bietet einen betont weiblichen Blick auf die Umbrüche im postsowjetischen Russland. Elena Chizhova: Die Terrakottafrau. Deutsch von Dorothea Trottenberg. dtv, München 2015. 384 Seiten, Fr. 23.90, E-Book 16.90. An die 1990er Jahre erinnert man sich in Russland heute ungern. Die damals neu errungene Meinungs- und Pressefreiheit interessiert heute kaum jemanden mehr. Die meisten Russen verbinden die Neunziger mit sozialer Unsicherheit, Kriminalisierung, Versorgungsengpässen und zerbrochenen Biografien. Der Roman «Die Terrakottafrau» der Petersburger Schriftstellerin Elena Chizhova nimmt sich eben dieser ungeliebten Umbruchszeit an. Wie schon in ihrem ersten, auf Deutsch erschienenen Roman «Die stille Macht der Frauen» über die Sowjetzeit, für den sie 2009 den russischen BookerPreis erhielt, zeichnet Chizhova auch hier wieder ein wunderbar vielschichtiges, spannungsgeladenes Bild der Epoche des Untergangs der Sowjetunion. Tatjana, promovierte Philologin und Hochschullehrerin, hat sich vor kurzem von ihrem lebensuntüchtigen, lethargischen Mann, einem Historiker, getrennt. Die Rubelkrise von 1998 trifft sie als alleinerziehende Mutter einer halbwüchsigen Tochter hart. Die bescheidenen Ersparnisse sind dahin, und ihr Gehalt ist gerade mal drei Kilogramm Fleisch wert. Während ihr Ex-Mann über die neue Publikationsfreiheit staunt und ihr vorwirft, in diesem historischen Moment keine politische Position zu beziehen, kann Tatjana nur daran denken, wie sie die Grundnahrungsmittel beschaffen soll. Als ihr zufällig ein lukrativer Job bei einem Möbelproduzenten angeboten wird, zögert sie nicht. Wer oben ist, gewinnt Tatjana wird damit schrittweise in die zwielichtigen Gepflogenheiten der Geschäftswelt eingeweiht. Das Dickicht aus doppelter Buchführung, Scheinverträgen, gefälschten Stempeln, Bestechung und eigenmächtigen Sicherheitsdiensten hat streckenweise den Sog eines Krimis – eine Reverenz an das in der Perestroika-Zeit äusserst populäre Genre. Diese Innenansicht des kleinen Unternehmertums fällt auch deshalb so realistisch aus, weil die Autorin in den neunziger Jahren selbst dort gearbeitet hat. Im Büro eines schmutzigen, maroden Hinterhauses von Petersburg steht Tatjana vor einem dostojewskischen Dilemma. Sie soll die überzogenen staatlichen Zollgebühren auf das Importgeschäft umgehen helfen. Die Löwenmutter, die ein Kind ernähren muss, versagt sich die Opferrollen der Dostojewski-Heldinnen SIMON CROFTS / ANZENBERGER Von Sabina Meier Zur und unterwirft sich dem Darwinismus der neuen Zeit. Sie hat gar keine Wahl. «Im Tierreich nennt man das die Nahrungskette. Das ist das Naturgesetz. Wer oben ist, gewinnt.» Feinfühlig registriert Tatjana nun die winzigsten Persönlichkeitsveränderungen an sich selbst. Sie verliert ihr Wissen über Literatur, stolpert über die ihr anerzogenen Tugenden, übernimmt die harte Stimme und das Machtgehabe ihres Chefs. Als sie an sich selbst ein «wölfisches» Verhalten bemerkt, erschrickt sie über diese schleichende Anpassung an den Raubtierkapitalismus. Ununterbrochen leistet Tatjana die Übersetzungsarbeit zwischen den Epochen – aber die sozialen Rollen sind unberechenbar geworden. Einen ehrlichen Menschen nennt man nun dumm. Und ausgerechnet der junge Mitarbeiter, den sie als ehrlich verteidigte, versucht, die Firma zu bestehlen. Zu Hause ist es nicht anders, die Familienverhältnisse sind verworren, und die alten Geschlechterrollen stehen Kopf. In der neuen russischen Patchworkfamilie verdient Tatjana das Geld, ihre ebenfalls alleinerziehende Freundin Jana kümmert sich um die beiden halbwüchsigen Kinder und die Hausarbeit. Die Freundinnen lachen zwar über ihre «lesbische» Zweckehe, wundern sich aber über die verschwundenen Männer. Gewinner der neuen Zeit sind die Kinder, fraglos übernehmen sie die ökonomischen Werte. In einem brillant wiedergegebenen Streitgespräch zwischen Mutter und Tochter kommt es zu einer Aussprache über die Sowjetzeit. Die Mutter ärgert sich über die Verharmlosung der stalinschen Verfolgungen, ermahnt sich jedoch ständig, einerseits cool zu bleiben, anderseits aber auch nicht locker zu lassen. Doch gegen den jugendlichen Optimismus der Tochter kommt sie nicht an. Als eine der wenigen bleibt Tatjana gänzlich unbeeindruckt von der modischen Sowjetnostalgie. Ausstieg bringt Freiheit Vor dem Hintergrund des Untergangs der sowjetischen «Zivilisation» und der Entthronung der Intelligenzia ist dies eine Geschichte der Selbstfindung. Als die Entfremdung von ihr selbst für sie unerträglich wird, steigt Tatjana aus der Geschäftswelt aus und findet zurück in eine bescheidene Existenz als Nachhilfelehrerin. In Strickmütze und SecondhandKleidern bleibt sie auf der Seite der «Loser», wie es auf Russisch jetzt heisst. Doch hier, am Rande der Gesellschaft, verhilft ihr die groteske antike Terrakottafigur einer alten schwangeren Frau zu neuer Freiheit – als Schriftstellerin. Der virtuose Stil des Romans ist durchtränkt mit literarischen Zitaten und Anspielungen, die Dorothea Trottenberg für die deutsche Ausgabe präzise übersetzt und kenntnisreich kommentiert hat. Tastend bewegt man sich als Leserin vorwärts durch Dialogfetzen, Abschweifungen, Zeitsprünge. Zuweilen droht der Faden der Geschichte verloren zu gehen – bis plötzlich ein Wort im Rückblick ganze Passagen erhellt. Kunstvoll bietet der Roman eine betont weibliche Sicht auf die Petersburger Intelligenzia in der Umbruchszeit (Kleider sind zum Beispiel ein Dauerthema unter den Protagonistinnen). Elena Chizhova ist ein unsentimentales und komplexes Porträt dieses Biotops gelungen, in dessen Abgründen und Skurrilitäten sich die Erfahrung einer ganzen Generation findet. ● 29. November 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7 Belletristik Kriminalroman Lee Childs Romane um den ehemaligen Militärpolizisten Jack Reacher spielen im amerikanischen Niemandsland. Auch der zwanzigste Band der Kult-Serie überzeugt MitderReisezahnbürste gegendieBösewichte «Reacher stieg in Sharon Springs aus, weil es dort eine ordentliche Strasse nach Süden gab. Er rechnete sich aus, dass es nach San Diego ungefähr tausend Meilen waren – oder mehr, wenn er ein paar Umwege machte.» Der Schluss von «Outlaw», dem 2008 erschienenen zwölften Band von Lee Childs Romanen um den ehemaligen Militärpolizisten Jack Reacher, kann als geradezu idealtypisch für alle Bücher der Reihe bezeichnet werden. Sie enden immer gleich; ähnliches gilt für etliche Buchanfänge. Es sind wohl nicht zuletzt diese Schematismen, die das vom Autor zuverlässig geschürte Suchtpotenzial der Reihe ausmachen, bis hin zu Band 20, «Der Anhalter». Mythischer Einzelgänger Seinen ersten «Reacher» veröffentlichte Child 1997. Seither kam Jahr für Jahr ein neuer Band dazu, ein jeder millionenfach in der ganzen Welt verkauft. «Der Anhalter» schaffte es gar auf die SpiegelBestsellerliste, eine oder zwei Wochen konnte das Buch den Platz behaupten, bevor sein Autor sich wieder auf die Position des global gefeierten Geheimtipps verwiesen sah. Ein Grund dafür könnte in der Frage nach der gattungsmässigen Zuordnung der Reihe liegen. JackReacher-Romane sind weder Krimis noch Thriller im herkömmlichen Sinn, selbst die auch schon vorgeschlagene Kategorisierung «Hard-boiled-Western» trifft die Sache nicht. Klarheit mag ein Blick auf die Figur Jack Reacher ver- KELLY RYERSON / GETTY IMAGES Von Bruno Steiger Der Held aus Lee Childs Roman-Serie reist ziellos durch die USA und bringt dabei etliche Verbrecher zur Strecke. schaffen. Sie steht im weiten Feld der Spannungsliteratur ziemlich allein da. Reacher ist ein Einzelgänger geradezu mythischen Zuschnitts. Als solcher, als Phantom fast, durchstreift er die legendären Weiten Nordamerikas in jeder beliebigen Richtung, durch öder nicht denkbare Landstriche, ohne definiertes Ziel noch Beweggrund. Seinen Dienst als Major bei der Militärpolizei hat er vor Jahren quittiert. Seither ist er ohne jede berufliche Bindung, ohne festen Wohnsitz. Möglichst abgelegene Motels dienen ihm als Übernachtungsmöglichkeiten. Sein persönliches Eigentum besteht aus einer Reisezahnbürste und der Kreditkarte, mit der er bei Bedarf auf die seiner- Onlineshop für secondhand Lektüre mit über 50 000 Büchern <wm>10CAsNsjY0MDAx1TUysjQwNQAA185kLA8AAAA=</wm> <wm>10CFXKqw6AMBBE0S_aZmbLtl0qSV2DIPgagub_FQ-HuObm9F4t4Gtp6962SmAyUXXY892C5lTpMZBeSbiCNhMsGvOUf15ATxFxvEZIgQ9CmEXLgKZwHecN71ReVnIAAAA=</wm> Kontakt: [email protected] http://blog.buchplanet.ch 8 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. November 2015 http://facebook.com/buchplanet.ch http://www.twitter.com/buchplanet zeit vom Militär ausgerichtete Abfindung zugreift, etwa, wenn er sich saubere, neue Kleidung beschaffen muss. Reacher besitzt weder eine Uhr noch eine Waffe. Er weiss in jedem Augenblick die jeweilige Uhrzeit auf die Sekunde genau; seine Waffe ist sein Körper. In jedem Band wird sein Äusseres mindestens einmal ausführlich beschrieben. Er ist einsfünfundneunzig gross, hundertzehn Kilogramm schwer, hundertzehn Kilogramm gestähltes Kampfgewicht sind es. Seinen Kopf setzt er vorwiegend zum Zählen und Rechnen ein, Wahrnehmung ist ihm nie etwas anderes als Einschätzung einer bestimmten Lage. Er funktioniert wie ein Automat, vor allem bei Gefahr. Und Gefahr lauert immer und überall. So ist denn die Erzählanlage stets dieselbe: Reacher macht irgendwo Halt, hört per Zufall von einem üblen, meist den Staat und die Gesellschaft gefährdende Ausmasse annehmenden Verbrechen, bringt die Sache in Ordnung und zieht weiter, nur ganz selten weniger als zwei Dutzend erschlagene, erstochene, zuweilen auch schlicht erwürgte Bösewichte zurücklassend. Zurückbleibt auch, es darf nicht unerwähnt bleiben, regelmässig eine jener cleveren Schönen, die Reacher während und nach der «Arbeit» mit fachlicher Kompetenz und weiblicher Fürsorge zur Seite stehen. Von «Zeit und Geometrie» sind Reachers Aktionen bestimmt; dasselbe gilt für die Dramaturgie und die sprachliche Abwicklung des Geschehens. Gewisse Längen nimmt man dabei gerne, ja mit Freuden in Kauf, die Frage: «Wie kommt der Autor da nur raus?» stellt sich immer wieder. Auch wenn die Romane vordergründig wie Schachpartien funktionieren, wirken sie seltsam improvisiert, wie aus dem Stegreif geschrieben. Der eigentliche Plot wird häufig nur in ein paar Ein soziales Projekt der Stiftung Tosam www.tosam.ch Lee Child: Der Anhalter. Aus dem Englischen von Wulf Bergner. Blanvalet, München 2015. 445 Seiten, Fr. 28.90, E-Book 18.90. Erzählungen Pier Paolo Pasolini kehrt mit zwei frühen poetischen Texten in die Welt des Friauls zurück, wo er seine Jugend verbracht hat Im Schatten junger Knabenbeine Pier Paolo Pasolini: Kleines Meerstück. Folio Verlag Wien, Bozen 2015. 160 Seiten, Fr. 31.90. Von Angelika Overath Nebensätzen erwähnt; nach Childs Überzeugung soll nicht irgendeine Handlung im Zentrum stehen, sondern die Hauptfigur. Ebenso eingehend, fast obsessiv widmet sich der Autor der Schilderung von Strassenverläufen, Tankstellen, Autobahnraststätten. Jedes in der Handlung vorkommende Fahrzeug wird ebenso detailliert beschrieben wie etwa die Speisen, die Reacher bei irgendeinem Zwischenhalt verzehrt, in Unmengen und mit viel Kaffee, wie es sich gehört. Kommerz und Ästhetik Amerikanischer geht’s nicht, könnte man nun denken. Umso erstaunlicher erscheint die Tatsache, dass es sich beim Autor um einen waschechten Briten handelt. Lee Child, mit bürgerlichem Namen Jim Grant, wurde 1954 in Coventry geboren. Nach dem Jurastudium zog es ihn zum Fernsehen, wo er als Produzent von vielfach ausgezeichneten Serien wie etwa «Prime Suspect» Furore machte. Zum Schreiben entschloss er sich nach seiner Entlassung; damit verbunden war der Entschluss zum erfolgreichen, will sagen: einträglichen Schreiben. Dies schien ihm nur in den USA möglich, wo er seit langem lebt. Bei seiner Fernsehtätigkeit war Child zur Überzeugung gekommen, dass Kommerzialität ästhetische Ansprüche nicht zwingend ausschliessen muss. Stilmässig orientiert er sich nach eigener Aussage mit Vorliebe an Sachbüchern; es mag eine Erklärung sein für die schnörkellose, sich aller literarischen Mätzchen enthaltende Sprache seiner Bücher. Es ist nicht zuletzt die erzählerische Ökonomie, die, gepaart mit diskret ausgespielter Eleganz, noch die absurdesten Wendungen in den Reacher-Romanen glaubwürdig erscheinen lässt und den Leser mitreisst: wohin auch immer. ● Die beiden frühen Texte Pasolinis (1922– 1975) «Romàns» und «Kleines Meerstück» sind postum 1994 auf Italienisch und 1996 auf Deutsch in der Übersetzung der jung verstorbenen Maria Fehringer bei Folio erschienen. Zum 40. Todestag des Autors hat der Verlag sie nun dankenswerterweise wieder aufgelegt. Sie führen zurück in ein verlorenes ländliches Friaul, in dem Pasolini viele Sommerferien verbrachte und später als Junglehrer arbeitete. Unter der Anschuldigung, er habe sich an Buben vergriffen (was widerlegt wurde), musste Pasolini den Schuldienst aufgeben. Mit der geliebten Mutter floh er nach Rom. «Romàns» und «Kleines Meerstück» sind geprägt von der extremen Spannung des jungen Autors zwischen einem bürgerlich-katholischen Elternhaus und seiner als schuldhaft und schicksalhaft empfundenen Homosexualität. Stilistisch könnten die beiden Texte nicht verschiedener sein. «Romàns» erzählt psychologisch genau und mit sinnlichen Impressionen von einem jungen Kaplan, der 1947 in ein friaulisches Dorf kommt und dort in die politisch-sozialen Spannungen der Nachkriegszeit gerät. Für die Söhne der Tagelöhner und Kleinbauern macht er eine Schule auf. Abends diskutiert er mit dem kommunistischen Berufsschullehrer. Sein gesellschaftliches Engagement ist aber durchtränkt von «der Sache», seiner Sehnsucht nach den schönen, fussballspielenden Knaben in den kurzen Hosen. Auch wenn er sie nach bestem Wissen und Gewissen unterrichtet, fühlt er sich ihnen doch sündhaft verbunden. Vor allem der schöne, scheue vierzehnjährige Cesare beschäftigt ihn, und der junge Kaplan bricht zusammen, als Cesare mit seinem Vater nach Kanada auswandert. «Kleines Meerstück» betritt poetisch freieren Boden. Hier liegen Sacile und Cremona am Meer. In ungeheuren Überblendungen mischt Pasolini – der das Meer noch nicht gesehen hatte – Kindheitserinnerungen und Leseerfahrungen. Seine Ozeane, seine Lagunen der Imagination durchfluten die gegenwärtig erlebten Flusslandschaften des Po. Und der Leser gerät in ein Sprachmeer, das sich aus Bildern, Begehren und Sound speist. So erzählt die kleine Prosa im Grunde davon, «wie ein ästhetisches Bewusstsein entsteht», schreibt Maike Albath in ihrem schönen Nachwort. ● Ausgangspunkt für Pasolinis poetische Erkundungen des Meers: die Flusslandschaft des Po. TOBIAS <wm>10CAsNsja1NLU01jU3NjIxNAQA9YzoKw8AAAA=</wm> <wm>10CFXKsQ6AIAyE4Scq6bUWqIyGjTgYdxbj7PtPgpvD5fInX2vFAn_b6n7Wo5ibKyWVBZgRJMUCl5BsPESFYSs7ZwwSf54YHpW1T0OjRTs7cSLknqHhue4Xi3A0eXIAAAA=</wm> Das unerwünschte Buch Hans-Ulrich Regius SWICA-Gründer, langjähriger CEO Ein wirklichkeitsnaher Wirtschaftsroman von Hans-Ulrich Regius. Für alle, die sich wundern und Antworten dafür suchen, weshalb es die Grossbanken schaffen, trotz rekordtiefen Zinsen satte Gewinne zu machen, obwohl gleichzeitig in der Schweiz immer mehr Arbeitsplätze mit fatalen Auswirkungen verloren gehen. IN IHRER BUCHHANDLUNG ODER ONLINE: W W W. B O O K S . C H ISBN 978-3-7323-6787-0 Verkaufspreis CHF29.90 www.hans-ulrich-regius.ch 29. November 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 9 Belletristik Roman Der französische Autor Olivier Rolin erzählt die erschütternde Geschichte eines linientreuen russischen Meteorologen, der zum Opfer von Stalins Terrorsystems wird Jederdenunziertjeden Olivier Rolin: Der Meteorologe. Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller. Liebeskind, München 2015. 191 Seiten, Fr. 27.90. Von Martin Zingg Er weiss alles über die Wolken. Und weil am Himmel so vieles entschieden wird, ist er einige Jahre lang eine einflussreiche Person: Alexei Feodossjewitsch Wangenheim – Meteorologe, Begründer und ab 1929 erster Direktor des Hydro-Meteorologischen Dienstes der Sowjetunion. Wangenheim sammelt und interpretiert meteorologische Daten, die wichtig sind für die Luftfahrt, für den Schiffsverkehr und vor allem für die Landwirtschaft der jungen Sowjetunion. Und als auch die Stratosphäre erforscht werden soll, greift die sowjetische Forschung auf seine Messinstrumente zurück, er scheint unentbehrlich. Wangenheim hat Jahrgang 1881 und lebt in Moskau. Er ist verheiratet, hat eine Tochter und ist ein treues und gutgläubiges Mitglied der kommunistischen Partei. Seine Unentbehrlichkeit als Meteorologe währt indes nicht lange. Am Abend des 8. Januar 1934 wartet seine Frau vergeblich in den Kolonnaden des Bol- Lust auf Farbe Vom sinnlichen Umgang mit Malmitteln Da scheint einer masslos zu schreien: Der Mund ist weit aufgerissen, im Hirn brennen gerade die Synapsen durch, und die graue Masse beginnt in schmutzigem Grün auszulaufen, als wäre ein Schädel einfach eine Lache Farbe, die keine Ruhe zum Trocknen erhält. Das ist es zunächst einmal auch, was wir sehen. Man glaubt es Elizabeth Cooper, wenn sie von einer «Liebe zur Farbe und zum sinnlichen Umgang mit Malmitteln» spricht. Die 1972 geborene Malerin ist geprägt von der Pop Art, ihrer Lust auf Comics und ihrer Erinnerung an Kindersendungen aus den siebziger Jahren. Als Highschool10 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. November 2015 Studentin hat sie 1989 als Weihnachtswichtel bei Macys gejobbt und das so empfunden, als würde sie in einem Bild herumlaufen. Daraus nimmt sie sich die Freiheit für eine knallige Palette und einen körperhaften Umgang mit Farbe. Sie zählt zu den jüngeren Künstlern, die der Malerei in der Metropole am Hudson ein fulminantes Comeback bescheren. Der Band macht mit elf ausgewählten Positionen deutlich, wie heterogen Malerei in New York heute ist. Gerhard Mack Christoph Schreier (Hrsg.): New York Painting. Hirmer, München 2015. 192 Seiten, 100 Farbabb., Fr. 49.90. schoi-Theaters auf ihn. Gemeinsam wollte man sich eine Oper von Rimski-Korsakow ansehen. Aber kurz zuvor hat die Staatspolizei Wangenheim verhaftet. Noch glaubt er an ein Versehen, weil er auch lange gar nicht weiss, weshalb er eingesperrt ist und gefoltert wird. Dass es dafür gar keine Gründe braucht, wird er erst später realisieren. «Der Meteorologe»: So kühl, so sachlich lautet der Titel des jüngsten Buches von Olivier Rolin, das die Geschichte von Wangenheim erzählt. Der französische Autor schildert darin nicht allein das Schicksal des leidenschaftlichen Wetterforschers, sondern skizziert gleichzeitig auch das politische Klima in der Stalinära, das diesem keineswegs aussergewöhnlichen Menschen zum Verhängnis geworden ist. Wangenheim wird unter anderem «Organisation und Steuerung der konterrevolutionären Sabotagetätigkeit» in der Behörde vorgeworfen, die er leitet: Fälschung von Wettervorhersagen mit dem Ziel, der Landwirtschaft zu schaden. Er ist denunziert worden. In jenen Jahren denunziert jeder jeden. Wer seine Haut retten will, liefert einen anderen ans Messer. Wangenheim landet in einem Lager auf den Solowetzki-Inseln im Weissen Meer. Er kann in einer Bibliothek arbeiten, er hält Vorträge und schreibt Briefe. In Briefen an hohe Funktionäre und selbst an Stalin beteuert er seine Unschuld, und seiner Frau schildert er den Alltag im Gulag. Seiner Tochter wiederum schickt er charmante kleine Bilderrätsel und Zeichnungen von Pflanzen und Tieren (die im Buch wiedergegeben werden). Olivier Rolin, geboren 1947 und in frühen Jahren militanter Maoist, verhandelt auch in diesem Buch seine einstige politische Naivität. Und seit Jahrzehnten ist er immer wieder unterwegs in Russland. Auf einer seiner Reisen ist er zufällig auf das Album mit diesen Bildern gestossen und damit auf das Schicksal Alexei Wangenheims. Dieser ist im Herbst 1937 in einer Massenexekution umgebracht worden, die Zahl der Toten war als Plansoll definiert. Jahrzehnte danach hat Rolin mit Hilfe von mutigen Menschen der «Memorial»Initiative die Spur des Meteorologen Wangenheim aufgenommen und dessen Leben anhand der erhaltenen Briefe rekonstruiert. Er hat in Archiven gesucht, ist in jene Gegend gereist, wo das Massengrab liegt und hat es ausfindig gemacht. Der Roman verschränkt auf sehr behutsame Weise Fiktion und sorgfältig recherchierte Lebensgeschichte – voller Respekt für eine Generation, die zuerst an die Versprechungen des Kommunismus glaubte und dann Opfer des Terrorsystems wurde. Holger Fock und Sabine Müller haben das berührende Porträt vorzüglich übersetzt. Die derzeitige politische Lage verleiht Rolins Buch eine bedrückende Aktualität. ● Roman Adolf Muschg lässt eine Tasche verschwinden und frühere Romanfiguren auferstehen Adolf Muschg: Die japanische Tasche. C.H. Beck, München 2015. 484 Seiten, Fr. 28.90, E-Book 22.–. MAURITIUS IMAGES Helden,dieihreAugennicht zumSterbenschliessen Von Charles Linsmayer Er suche jetzt «über allem die Begegnung mit dem Unmöglichen», beendet PR-Agent Bischof in Adolf Muschgs Erstling «Im Sommer des Hasen» 1965 sein Kündigungsschreiben, und er sei entschlossen, «jeden Weg künftig so allein zu gehen, wie ich den letzten ohnehin gehen müsste». 1974, in «Albissers Grund», ist Bischof als Constantin Zerutt wieder da, und obwohl der Roman in einen Vampirakt mündet, gegen den spätere muschgsche Schrecklichkeiten Zuckerschlecken sind – sterbend beisst der Psychologe Zerutt dem Arzt ein Ohr ab –, heisst es zuletzt: «Er schloss das eine Auge, aber nicht zum Sterben, nie mehr zum Sterben, oder noch lange nicht; eine kurze Weile nicht; Jahre, die man nicht mehr zu fürchten und zu erzählen braucht, wenn es nur gelingt, sie zu leben.» Was ihm dann auch gelingt, taucht Zerutt 1984 in «Das Licht und der Schlüssel» doch wieder auf: als schreibender Vampir Samstag, der in einem Amsterdamer Keller haust und der kranken Mona im nächtlichen Gespräch bekennt: «Alles Geschriebene ist ein Heimkehrversuch.» 15 Jahre geht es, bis der Revenant 2001 in «Sutters Glück» als Gerichtsreporter Emil Gygax wieder da ist und am Ende wie seine Frau Ruth durch das Wasser des Silsersees ins Totenreich zurückkehrt. Für nochmals 15 Jahre, denn diesen Herbst, in «Die japanische Tasche», wird Gygax – «Für gute Christen müsste Auferstehen normal sein!» – aus der Eisstarre eines kanadischen Kühlschranks wieder aufgetaut. Magisches und Alltägliches Natürlich ruft der Roman so die magischmythische Dimension des Parzival-Romans «Der rote Ritter» in Erinnerung, gleichzeitig aber führt er, was die Handlung und die Bezüge zur Naturwissenschaft betrifft, mitten in die heutige Aktualität und in Adolf Muschgs Alltag hinein. Der Verlust einer japanischen Tasche 2013 im Zürcher Hauptbahnhof und die Der Verlust einer japanischen Tasche inspirierte Adolf Muschg zu seinem neuen Roman. Attacke eines Kriminellen 2006 während eines Historikertags in Konstanz hätten die Keimzelle des Romans geliefert, erzählte Muschg 2014 der «NZZ am Sonntag». Aber nicht nur Zürich und Konstanz, auch sein Atelier in Männedorf, das Tagungszentrum Boldern und sein Berliner Wohnsitz bilden die Schauplätze, an denen er den Roman von 1980 bis 2009 spielen lässt. Als Emil Gygax 2 00 6 e r s tm al s e r sc h ei nt u nd gleich schon als Berater in Liebesdinge n a ktiv w i rd, ist de r Roman schon hal b er zäh lt. E l i n o r G y r, e h e m a l s Eurythmielehrerin, hütet das «Auerhahn» genannte Atelier ihres früh verstorbenen Vaters. Zeitweilig ist da der im Waisenhaus aufgewachsene Historiker Beat Schneider zu Gast. Seine Ehe mit der stummen Zeichnerin LouAnne Wimmer zerbricht, als er sie einer von einem Dritten aufgenommenen Nacktfoto wegen ins Gesicht schlägt. Von Schuld gequält, fokussiert er, als LouAnne in der Psychiatrie gelandet ist, seine Liebe auf die Tasche, die sie ihm zuvor aus Japan mitgebracht hat. Als ihm die Tasche im Hauptbahnhof Zürich abhanden kommt, verschwindet er spurlos. Schneider ist auch die Attacke am Konstanzer Historikertag zugeordnet, die ihm ein Wiedersehen mit Iris Duss ermöglicht – der einzigen Frau, die auf gleicher Ebene mit ihm verkehrt und die er auf den ersten Seiten des Romans bei einem Zugunfall kennengelernt hat. Weitere «Auerhahn»-Habitués sind die deutschen Historiker Guy Matthéy – ein homosexueller Studienkollege Schneiders – und Paul Niethammer sowie der Sohn des Letzteren, der an der zerbrochenen Ehe seiner Eltern leidende angehende Molekularbiologe Fränk, der Schneider aus Stammzellen neu kreieren will. Und nicht zuletzt natürlich Gygax, der Licht in Schneiders Herkunft bringt. Er war es nämlich, der ihn während einer Arbeitswoche im «Wolferlei» (Boldern) 1958 mit der stummen Megi gezeugt hat. Nun aber, da Schneider vermisst wird, entdeckt Gygax im «Burgfried» Blätter, auf denen die tote LouAnne etwas wie Schneiders Genom fixiert hat. Falls eine biologische Rekonstruktion überhaupt nötig ist, legt der Zufallsfund in einer Illustrierten doch nahe, dass der Vermisste mit Iris Duss auf die Osterinsel ausgewandert ist. Emil Gygax aber verirrt sich im Wald und findet in ein Totenreich zurück, das sich als japanisch verkleidetes «Tal der Dachse» entpuppt. Da erwartet ihn «der Andere», von dem er nicht weiss, ob es der endgültige Tod ist oder nicht. Für alle Fälle endet das Buch schon mal mit dem Satz: «Aber er hatte noch etwas vor.» Gescheiterte Paarbildungen Ob es der Molekularbiologie gelingt, bleibt offen. Die Literatur aber kann es bei aller Zeitbedingtheit der einzelnen Publikationen bewerkstelligen, einen Menschen immer wieder auferstehen und sich in immer neuen Zusammenhängen engagieren zu lassen: Im Ringen um den europäischen Zugang zum Rätsel Japan, in einem erbittert geführten Generationenkonflikt, mit radikaler Schweiz-Kritik von Amsterdam aus, im Umgang mit Schuld und Reue beim Krebstod der Ehefrau und zuletzt nun als Exponent einer Zeit, in der die Ehe als solche zur Debatte steht. «Die Liebe mag unteilbar sein, aber Menschen sind es nicht», erklärt Emil Gygax, der Revenant, und bringt so all die gescheiterten Paarbildungen eines Romans auf den Punkt, den man als vital-erzählfreudige Momentaufnahme, aber auch als Teil einer hoffentlich noch lange nicht beendeten Comédie humaine lesen kann. ● HIER FINDEN SIE DAS BUCH VON DEM SIE NICHT WUSSTEN DASS SIE ES GESUCHT HABEN <wm>10CAsNsja1NLU01DU3tDA1MwIAxpU6qw8AAAA=</wm> <wm>10CFXKIQ6EQBBE0RP1pKp7a6AZucERBMGPIWjur3bBIX6-ecvSVPD0ndd93ppSSRs4qnqjVBK1Mb0M-p90BzUhgx6Bz8sbmDUQ_TZGGr0jLWCuXhPlOs4fEJ8iVHIAAAA=</wm> B B UCHHANDLUNG AM HOTTINGERPLATZ IM DEZEMBER MO–SA GEÖFFNET WWW.BUCHAH.CH 29. November 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 11 Belletristik Roman Umberto Eco legt mit «Nullnummer» eine ungelenke Parodie auf die italienische Medienlandschaft der 1990er Jahre vor HandbuchfürunseriösenJournalismus Umberto Eco: Nullnummer. Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber. Hanser, München 2015. 240 Seiten, Fr. 31.90, E-Book 24.90. Korrupt, anbiedernd und seicht sind die italienischen Zeitungen in Umberto Ecos Urteil. Von Sandra Leis Italien im Jahr 1992: Die politische Elite gerät wegen Korruption, Amtsmissbrauch und illegaler Parteienfinanzierung massiv unter Druck. Umfangreiche juristische Ermittlungen unter dem Namen «Mani pulite» besiegeln das Ende der sogenannten Ersten Republik. Wichtige Parteien wie die Democrazia Cristiana oder der Partito Socialista Italiano liegen ermattet am Boden, und ihr Versagen ist der Nährboden für neue politische Bewegungen, insbesondere für Silvio Berlusconi und seine 1994 gegründete Forza Italia. 1992 also war ein Schlüsseljahr und rückt heuer gleich zweimal ins öffentliche Bewusstsein: Zum einen mit der zehnteiligen italienischen Politserie «1992», die auf Sky zu sehen war. Zum anderen mit dem Roman «Nullnummer» von Umberto Eco. Der renommierte Semiotiker, der mit dem Buch «Der Name der Rose» weltberühmt wurde, blendet zurück ins Jahr 1992 und rekonstruiert die Tage zwischen dem 6. April und dem 11. Juni. Doch nicht die politischen Verwerfungen stehen im Zentrum, sondern die Lancierung einer neuen Zeitung mit dem Titel «Domani». Hauptaktionär ist ein im Hintergrund agierender, Berlusconi nachempfundener Unternehmer und Verleger. Er will der feinen Gesellschaft in monatlichen Probeläufen, sogenannten Nullnummern, mit schmutzigen Geschichten Angst einjagen. Gelingt das, so sein Kalkül, wird der erlauchte Kreis ihn bitten, die Idee mit der Zeitung fallen zu lassen und Teil des Clubs zu werden. Hauptfigur ist der Ich-Erzähler Colonna, der als rechte Hand des Chefredaktors die Artikel redigiert und als Ghost- writer für die Zeit danach ein Buch schreiben soll über die Gepflogenheiten der kleinen Redaktion. Allerdings mit verfälschten Vorzeichen: Der Chefredaktor erscheint als Kämpfer für hehre journalistische Grundsätze; seine Redaktoren hingegen sind Duckmäuser und schreiben den Lesern nach dem Maul. Die Realität freilich sieht anders aus, und der 50-jährige Colonna erzählt satirisch überzeichnet, wie Leute durch den Dreck gezogen, Behauptungen in die Welt gesetzt und Richtigstellungen ins falsche Licht gerückt werden. Ein Untersuchungsrichter, der seine Nase vielleicht auch in die Geschäfte des Verlegers stecken könnte, wird vorsorglich diskreditiert. Möchte eine Redaktorin aber eine Pizzeria als Waschanlage für Schwarzgeld entlarven, so winkt der Chef ab. Er will weder das Finanzamt gegen die Zeitung aufbringen noch die Mafia. Von einer anderen Recherche erfährt der Chef erst, als es zu spät ist: Demnach soll Mussolini einen Doppelgänger gehabt haben, der 1945 an seiner Statt erschossen wurde. Mussolini selber soll entweder im Vatikan Zuflucht gefunden haben oder nach Argentinien geflohen sein. Publiziert ist keine Zeile, trotzdem »Grossartig und visionär« David Bielmann, Schriftsteller <wm>10CAsNsja1NLU01DU3tDA1MwUAZQBeNQ8AAAA=</wm> <wm>10CFWKsQ6AIAwFv6ikr7VAZTRsxMG4sxhn_38S3BxeLu9yrRUL_G2r-1mPYm4OSsgWbZ4gKRa4hGSDAAvD1gEfUuXXE8OjsvbZEEDgDibJpKkvrOG57hdhaFcfcgAAAA==</wm> Adrian Suter Die schrecklich schöne neue Welt des Professor Furtwanger Hardcover | 400 Seiten | ISBN 978-3-9524463-8-6 12 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. November 2015 wird der Journalist ermordet und das Revolverblatt umgehend geschlossen. Düster ist das Bild, das Umberto Eco von Italien zeichnet, und ausweglos die Situation der vierten Gewalt, der Medien: Entweder sind sie anbiedernd und seicht, oder sie sind investigativ und ihre Macher bezahlen im schlimmsten Fall mit dem Tod. Trotzdem wirkt Ecos Roman inhaltlich von vorgestern und stilistisch ungelenk. Das liegt zum einen an der Medienschelte, die einer vergangenen Zeit angehört. 1992 steckte das Internet noch in den Kinderschuhen, und soziale Netzwerke gab es auch keine. Und wenn der Chefredaktor die aufkommenden Handys als vorübergehende Mode abtut, so wissen wir vor allem eines: Das ist verdammt lang her. Zum anderen – und das ist entscheidend – fehlt dem begnadeten Autor von Komplotten und Verschwörungsgeschichten der literarische Zugriff. Der sonst so wortgewandte und dialogstarke Umberto Eco hat dieses Buch, das nach eigenen Angaben sein letztes sein soll, wohl recht schnell heruntergeschrieben und liefert statt eines furiosen historischen Romans eine ziemlich fade Parodie auf einen hässlichen Journalismus von einst. ● Was 1945 in Afrika mit der Vorgeschichte beginnt, endet im Jahr 2100. Oberf lächlich betrachtet leben die Menschen dann in einer friedfertigen Welt im Wohlstand. In Tat und Wahrheit aber herrscht die totale Kontrolle und es droht das ewige böse Reich – denn Adolf Hitler soll von den Toten erweckt werden. Roman 1931 erschien das einzige Buch des ungarischen Autors Andor Endre Gelléri Nur noch Glühbirnen bringen Erheiterung Kurzkritiken Belletristik Eduard von Keyserling: Fräulein Rosa Herz. Manesse, Zürich 2015. 576 Seiten, Fr. 35.90. Ulrike Ulrich: Draussen um diese Zeit. Luftschaft, Wien 2015. 198 Seiten, Fr. 27.90, E-Book 9.90. In seinem ersten und umfangreichsten Roman erzählt Eduard von Keyserling (1855–1918) nicht wie in den meisten seiner späteren Werke vom Niedergang des baltischen Adels. «Fräulein Rosa Herz», 1887 erstmals erschienen, ist ein Kleinstadtroman – und seinem biedermeierlich anmutenden Titel zum Trotz ein höchst moderner und kritischer. Die Titelfigur ist ein Mädchen von siebzehn Jahren, das sich hinaussehnt aus der Enge seiner Umgebung: Es will nicht Lehrerin an einer Töchterschule werden, und es will nicht den Ladendiener Lurch heiraten. Rosa verliebt sich in den weltläufigen Neuankömmling Ambrosius Tellerat. Dem aber fehlt es an Entschlusskraft, die Liebe scheitert an den Zwängen einer bigotten Gesellschaft, die Keyserling mit beissender Ironie schildert. Wiebke Porombka arbeitet in ihrem klugen Nachwort den Rang dieses erstaunlichen Erstlings überzeugend heraus. Seit vielen Jahren lebt die gebürtige Düsseldorferin Ulrike Ulrich als freie Schriftstellerin in Zürich. Entstanden sind diese Erzählungen jedoch an vielen Orten. Da ist die nymphomanische Comic-Zeichnerin in New York, der besessene verlassene Zürcher Workaholic oder die unmotivierte Arbeitslosenmotivatorin in Wien. Zehn so melancholische wie präzise Porträts. Das Schluss- und Glanzstück des Bandes «Draussen um diese Zeit» ist ein Zwischenbericht an jene Kommission, die der Ich-Erzählerin (wie auch Ulrich in Realität) einen Förderbeitrag zugesprochen hat. Die Zwischenbericht-Autorin will erklären, warum sie diesen Text eigentlich gar nicht schreiben kann, kommt dabei vom Hölzchen aufs Stöckchen, und am Ende haben wir eine wunderbar sinnierende Meta-Geschichte u. a. über Römer Häuserbesetzer. Die Kommission darf sich glücklich schätzen – und wir uns mit ihr. Fred Vargas: Das barmherzige Fallbeil. Deutsch v. W. Schwarze. Limes, München 2015. 508 S., Fr. 28.90, E-Book 18.90. Zsuzsanna Gahse: Jan, Janka, Sara und ich . Edition Korrespondenzen, Wien 2015. 176 Seiten, Fr. 27.90. Als wir Fred Vargas vor Jahren in einem Pariser Café fragten, wie viel sie für ihre an historischen Details reichen Krimis recherchiere, lächelte die Bestsellerautorin verschmitzt: «Zéro.» Frédérique Audoin-Rouzeau, wie die studierte Archäologin eigentlich heisst, hat mit JeanBaptiste Adamsberg einen Eigenbrötler vor dem Herrn erfunden. Als «Wolkenschaufler» beschreibt sie ihren Kommissar, der ebenso bekannt ist für ungewöhnliche Ermittlungsmethoden wie für sein schlagkräftiges Team, das Hirn, Herz und Muskelkraft vereint. In «Das barmherzige Fallbeil» hat Adamsberg es mit rätselhaften vermeintlichen Suiziden zu tun. Die Opfer waren alle Mitglieder der «Gesellschaft zum Studium der Schriften Maximilien Robespierres», neben ihnen findet man eine Art Guillotine-Zeichen. Und auch wenn dieses nicht wahr ist – es ist verdammt gut erfunden. Zsuzsanna Gahse, 1946 in Budapest geboren, lebt seit vielen Jahren in der Schweiz. Experimentell und wagemutig ist ihr Werk. Es verlangt seiner Leserschaft einiges ab, aber es belohnt sie auch. Gerade in diesem neuen Buch. Es ist eine vielstimmige Komposition. 23 Personen reden hier über Büren, einen rasch anwachsenden Ort am Wellenberg. In einem Tonstudio finden sie sich ein. Sie sprechen ungefiltert und machen ihren Gefühlen Luft. Auch Durchreisende äussern sich. Zu diesem Chor fügt sich eine Figur namens Ich. Sie wohnt nicht im Ort, sondern weiter unten im Tal. Das Geschehen am Wellenberg nimmt sie so wahr, als wäre es ein Bühnenstück. Zsuzsanna Gahse hört ihren Figuren genau zu. Sie schafft ein polyfones Epos, das zeigt, wie sich eine ehemals dörfliche Welt durch neue Lebensformen zu einer globalen Banlieue verwandelt. Andor Endre Gelléri: Die Grosswäscherei. Aus dem Ungarischen von Timea Tankó. Guggolz, Berlin 2015. 240 Seiten, Fr. 31.90. Von Janika Gelinek Es beginnt mit dreissig gräflichen Hemden, die gelb verfärbt in der Grosswäscherei Phönix ankommen. Dem Waschmeister Rusz gelingt es nicht, die Flecken zu entfernen, und prompt wird er vom Inhaber Jenö Taube entlassen, in dessen unbewegtem rosafarbenem Gesicht nur die Augen hervorstechen: «Sie glichen grauen Steinchen, die einen aus einer Pfütze anstarrten.» Doch er, der jüdische Unternehmer, der sich aus erbärmlichsten Verhältnissen emporgearbeitet hat, er, der in Saus und Braus lebte und sich aus der verzweifelten Armut der bei ihm angestellten Arbeiter, der vielen von ihm verführten Mädchen, nicht das Geringste machte, ausgerechnet er leidet nun an Lebensüberdruss und Lebensekel. Alles dringt ungefiltert auf ihn ein, die gelbe Suppe mit den schillernden Fettaugen, die Suppenschüssel, die sich «wie ein bunter Porzellanvogel dampfend auf dem Tisch niederlässt», der gekochte Hahn, dessen «bläuliche gebrochene Knochen» in der Paprikasosse herumschwimmen. In seinem abgedunkelten Büro verbringt er den Tag nun zumeist schlafend, währendvondraussen dieWäschereimädchen «mit den rotgeschminkten Lippen leise kichernd» hereinsehen. Eine der letzten Freuden ist die Ankunft einiger Kartons mit Glühbirnen: «Er entnahm ihnen kühle und grosse Glasfrüchte. Weisse, grüne, blaue, rote Leuchten, die in goldenen Gewinden mündeten.» Seine Frau registriert bestürzt seinen Verfall: «Ja, Jenö Taube hatte etwas Tragisches bekommen, diese Gestalt, die zuvor mit grossen Belangen, grossen Erlebnissen um sich geworfen hatte, war nun zu solchen Glühbirnenfreuden gesunken.» Allein schon eine solche Passage lässt die Virtuosität ahnen, mit der dieser glühende kleine Roman von 1931 verfasst wurde. Nun ist er erstmals ins Deutsche übertragen worden. Alle Farben leuchten in ihm zugleich zart und kräftig, voll ihres heimlich zerstörerischen Potenzials: als nie wieder herauszuwaschende Flecken. Andor Endre Gelléri schrieb keinen weiteren Roman mehr; mit nicht einmal 40 Jahren starb er 1945 im KZ Mauthausen. ● Manfred Papst Regula Freuler Regula Freuler Manfred Papst 29. November 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 13 Kinder- und Jugendbuch Kurzkritiken Matthew Quick: Goodbye Bellmont. dtv, München 2015. 256 Seiten, Fr. 24.90, E-Book 18.70 (ab 14 Jahren). Spurensuche Ein 16-jähriges Mädchen will mehr über ihren toten Vater erfahren Abby Hanlon: Donner und Dory! cbt, München 2015. 160 Seiten, Fr. 15.50 (ab 7 Jahren). Albträume und Verdrängtes Katrin Zipse: Die Quersumme von Liebe. Magellan, Bamberg 2015. 288 Seiten, Fr. 26.90 (ab 15 Jahren). Für Finley dreht sich alles um Basketball und seine Freundin Erin. Aber wie jedes Jahr, wenn die Spielsaison beginnt, machen die Verliebten Schluss, um nach den Wettkämpfen wieder zusammenzufinden. Ein Sportstipendium ist ihre einzige Chance, dem tristen Bellmont mit seinen Drogen und Rassenkonflikten zu entkommen. Doch dieses Jahr hat der Coach für den verschlossenen Finley eine besondere Aufgabe: Er soll sich mit einem neuen Mitschüler anfreunden, dessen Eltern ermordet wurden. Nicht genug damit, dass der Sonderling sich Boy21 nennt und für einen Ausserirdischen hält, das Ausnahmetalent könnte Finleys Startplatz in der Mannschaft gefährden. Aber als Erin ins Visier der irischen Mafia gerät, muss Finley sich der eigenen Familiengeschichte stellen, um seine grosse Liebe zu retten. Dory ist überzeugt, sie könnte das beste Baby der Welt sein. Aber nein: Wieder darf sie beim Vater-Mutter-Kind-Spielen nicht mitmachen. Ihre Geschwister finden das Nesthäkchen einfach nur nervig. Zum Glück hat Dory eine blühende Phantasie und schafft sich so imaginäre Spielkameraden. Gerade die Abenteuer mit der vampirzahnigen Frau Knorpel-Knacker halten Leseanfänger in Atem und lassen sie sicher lachen. Aber ist Dory nun doch ein Quälgeist? Zumindest ist sie das quicklebendigste Mädchen unter der Sonne, dazu unwiderstehlich in ihrem Bemühen, Schwester und Bruder zu umwerben und sich selbst bei Laune zu halten. Davon erzählen gut dosiert kurze Textabschnitte, witzige Bildsequenzen und Sprechblasen. Ideal für Erstleserinnen, die sich bestimmt auch freuen, dass Folgebände angezeigt sind. Daniel Ammann Verena Hoenig Timo Parvela/Pasi Pitkänen: Pekkas geheime Aufzeichnungen. Hanser, München 2015. 104 S., Fr. 15.90 (ab 9 J.). Hilary T. Smith: Hellwach. Fischer JB, Frankfurt 2015. 367 Seiten, Fr.21.90 (ab 14 Jahren). Pekka will eigentlich alles richtig machen, steht aber sehr oft auf der Leitung; gewiss kein Superhirn, eher ein liebenswerter Tollpatsch. Für Fans der kultigen «Ella»-Geschichten des finnischen Autors Timo Parvela ist der Zweitklässler ein alter Bekannter. Jetzt erhält der «Klassendödel», der schon mal die grossartige Idee hat, seine Badehose in der Mikrowelle zu trocknen, eine eigene Reihe. Echten Klamauk gibt’s da zu lesen – und dank der vielen cartoonigen Illustrationen auch zu sehen. Pekkas Onkel Remu kommt in den Ferien zu Besuch und verliebt sich in dessen Schwimmlehrerin. Dass er im Wasser meist untergeht wie ein Stein, wäre noch zu verkraften. Aber was der unbeholfene, pedantische Onkel und sein tapsiger Neffe sonst noch leisten, preist man am besten an als Laurel und Hardy im Kinderbuch. «Vielleicht sollte man Menschen nicht danach beurteilen, was aus ihnen geworden ist, sondern danach, was sie trotz allem geblieben sind.» Dies ist nur eine der vielen Sentenzen, an denen «Hellwach» reich ist. Sonst geht hier feuerwerkartig die Post ab: Kaum sind die Eltern verreist, bricht Kiri aus, hängt ihre Piano-Wunderkind-Laufbahn an den Nagel, verliebt sich in Skunk, deckt Familiengeheimnisse und Lebenslügen auf. Auch ihre eigenen. Drogen, Liebe, Sex, Kunst, Mondschein und Mondscheinsonate geben den Sound im Hintergrund, Dialoge in atemlosem Staccato den Rhythmus. Und eine Flut aus (Sprach-)Bildern fängt ein Lebensgefühl ein, das den Ausbruch zelebriert, um zur Freiheit zu gelangen. Hier wird anarchisch ausprobiert, wie verrückt gelitten, geliebt, gelebt. Mitreissend! Verena Hoenig 14 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. November 2015 Christine Knödler Von Andrea Lüthi In einem feuchten Haus mit zerbrochenen Scheiben schläft ein Mädchen. Ein Junge namens Puma sitzt daneben und liest ihre Geschichte, die sie auf losen Blättern aufgezeichnet hat. Ausserdem ist von einem düsteren Ölgemälde die Rede: Auf einer Strasse, «die aus dem dunkelgrauen Nichts kommt», geht ein Mädchen. Ein nachträglich gemalter schwarzer Balken zerteilt ein Haus mit einer Glocke auf dem Dach. Die deutsche Autorin Katrin Zipse reicht ihren Lesern auf den ersten Seiten starke Bilder, die sich noch nicht einordnen lassen, aber sofort fesseln. Erzählt wird aus zwei Perspektiven; die Aufzeichnungen der schlafenden Luzie wechseln mit Pumas Rückblenden. Nach und nach erschliessen sich einem die Zusammenhänge, und plötzlich entwickelt der Roman einen gewaltigen Sog, der bis zum Schluss anhält. Die Sechzehnjährige kann sich kaum an ihren Vater erinnern – einen Künstler und leidenschaftlichen Kletterer. Er sei abgestürzt, als sie fünf Jahre alt war, sagt ihre Mutter. Sie sprechen nie darüber, denn dann fühlt sich Luzie, als würde sie von einer riesigen Flutwelle überrollt. Bisher hatte sie geglaubt, auch ihre Oma sei schon lange tot – bis sie die Todesanzeige im Müll findet. Warum lügt die Mutter ihre Tochter an, und warum weicht auch die Tante aus, zu der Luzie Kontakt aufnimmt? Heimlich sucht Luzie im Dorf der Grossmutter nach der Wahrheit. Sie findet verunstaltete Bilder ihres Vaters und ein Haus mit Glocke auf dem Dach. Es ist ihr seltsam vertraut und löst zugleich Ängste in ihr aus. Katrin Zipse lockt einen ständig auf falsche Fährten; der Roman liest sich spannend wie ein Krimi. Eine feine Liebesgeschichte ist darin eingewoben, denn Luzie lernt in der Kletterhalle Puma kennen, mit dem sie mehr verbindet, als sie ahnt. Doch geht es der Autorin nicht bloss um die Auflösung von Familienrätseln, die erste Liebe und das Erwachsenwerden, sondern vor allem um Verdrängung und Schuldgefühle. Eindringlich und einfühlsam beschreibt Zipse, wie die Figuren mit einem schrecklichen Ereignis umgehen und es in ihr Leben einordnen. Alle gehen dabei einen anderen Weg, ohne dass einer für den richtigen erklärt wird. ● Digital Ideen für technische Basteleien rund um Computer und Internet Hacken statt Häkeln Kurzkritiken Irène Cohen-Janca, Maurizio A.C. Quarello: Die letzte Reise. Jacoby & Stuart, Berlin 2015. 76 Seiten, Fr. 21.90 (alle Alter). Bärbel Oftring: Tatort Natur! Haupt, Bern 2015. 128 Seiten, Fr. 29.90 (ab 8 Jahren). Janusz Korczak hat nicht nur selbst für Kinder geschrieben, sein Waisenhaus im Warschauer Ghetto und seine Zivilcourage waren auch Stoff für Jugendromane. Und selbst wenn in den letzten Jahren eindrückliche illustrierte Kinderbücher über sein Wirken erschienen, Maurizio A.C. Quarello schafft starke Bilder, die den grossen Pädagogen als Kinderfreund mit aufrechtem Gang zeigen. Ernsthaft, gefasst und mit Kindern an der Hand gehen er und zehn weitere Erwachsene durch die Strassen, zur Bahn, in die Gaskammern. Die Ausklapptafel (in Kinderbüchern meist ein Mittel für Schaueffekte) strahlt Ruhe und Stärke aus, während der Illustrator sonst auch intime, zärtliche Momente inszeniert. Gekonnt nimmt er so die Stimmung des Textes auf, der mal sachlich berichtet, mal anrührend eine Episode ausgestaltet. Der Totenkopfschwärmer hüllt sich in einen Tarnduft und bricht in den Bienenstock ein, weil er wild auf Honig ist. Der Maulwurf hält Regenwürmer gefangen. Können also auch Tiere zu Verbrechern werden? Ja, doch nicht aus niederen Beweggründen wie Menschen. In der Tierwelt geht es ums eigene Überleben und das der Art. Das Buch «Tatort Natur!» stellt 60 «Fälle» vor, meist aus unserer Umgebung. Jede Doppelseite enthält einen Steckbrief des Täters, die Beschreibung des Opfers und der Tatwaffe. Quizfragen, Detektivaufgaben und Experimente kommen hinzu. Man liest sich in den reich bebilderten Kriminalgeschichten fest und wird nebenbei schlau: Wer hätte gedacht, dass der Maulwurf nur Lebendnahrung mag und deshalb beim Anlegen seines Fressvorrats eine geniale Frischhaltemethode einsetzt? Verena Ballhaus und Renate Habinger: Kritzl & Klecks. Nilpferd/G&G, Berlin 2015. 46 Ausklappseiten, Fr. 37.90 (ab 6 Jahren). Lutz van Dijk: Afrika – Geschichte eines bunten Kontinents. Hammer, Wuppertal 2015. 320 S., Fr. 34.90 (ab 12 Jahren). Wenn zwei so ungewöhnliche Grafikerinnen das Zusammenspiel suchen, dann können Qualität und Phantasie gewinnen: Verena Ballhaus in München zeichnet, was das Zeug hält – sie ist im Buch Herr Kritzl. Renate Habinger malt in Niederösterreich in allen Farben – sie übernimmt den Part von Frau Klecks. Zusammen machen sie «Eine Entdeckungsreise ins Land des Zeichnens und Malens». Die wird zum Abenteuer. Denn was die beiden gewitzten Figuren so draufhaben, wie man zeichnet, tüpfelt, kratzt und schabt, was man mit Pinseln, Scheren, Sieb und Wasser, mit Aquarell und Temperafarben, mit Linien, Flächen, Formen alles machen kann, erfährt man hier. Tubentier, Fingerfink und viele andere haben ihren grossen Auftritt. Das Ergebnis: eine Seh- und Mitmach-Schule voll blauer und anderer Wunder. In der Schule kommt Afrika bestenfalls als Objekt europäischer Kolonialpolitik vor. Nachrichten von dort handeln meist von Seuchen, Kriegen und Korruption. Der deutsch-niederländische Schriftsteller Lutz van Dijk erzählt die Geschichte des Kontinents zweistimmig: Während er – von den Ursprüngen der Menschheit bis zum Jahr 2015 – Höhen und Tiefen, Erfolge und Katastrophen schildert, kommt in Ausschnitten aus Dokumenten und Zitaten von Zeitzeugen stets auch Afrika selbst zu Wort. Register, Zeittafel und viele Karten helfen, das Geschehen in den zurzeit 54 Staaten zwischen Kairo und Kapstadt zu verorten. Damit bietet das Buch nicht nur lebendigen, anschaulichen Geschichtsunterricht. Es eignet sich auch zum Nachschlagen, um die Nachrichten aus Afrika richtig einzuordnen. Gehört also in jedes Bücherregal. Chris Köver, Daniel Burger, Sonja Eismann: Hack′s selbst! Digitales Do it yourself für Mädchen. Beltz & Gelberg, Weinheim 2015. 140 Seiten, Fr. 24.90 (ab 13 Jahren). Von Daniel Ammann Mit diesem Buch wird man schwer fertig. Nicht weil die Materie kompliziert oder langweilig wäre – ganz im Gegenteil –, sondern weil die vielfältigen Ideen, Anleitungen und Linktipps immer wieder vom Weiterlesen abhalten. Im Sinne der Erfinderinnen bedeutet Hacken Dinge auseinanderzunehmen, um zu verstehen, wie sie funktionieren, und dann wieder so zusammenzusetzen, dass etwas Neues oder Besseres dabei rauskommt. Das gilt für Gebrauchsgegenstände ebenso wie für technische Gadgets oder die Gesellschaft. Als überzeugende Vertreterinnen der Do-it-yourselfBewegung verstehen es die Autorinnen, ihre Leserinnen neugierig zu machen und zu allerlei technischen Basteleien, kreativen Medienprojekten und sozialen Aktionen anzustiften. Durch ein paar Stiche mit leitfähigem Garn lässt sich ein gewöhnlicher Wollhandschuh touchtauglich machen. Das könnte man noch vor Wintereinbruch in die Tat umsetzen. Oder wer möchte nicht das Firmensignet auf dem Laptop-Deckel mit einem eigenen Logo überkleben? Hürden sind rasch überwunden. Ausprobieren und sich überraschen lassen, lautet die Devise. Dass es bei der digitalen Medienarbeit auch Regeln zu beachten gilt, wird nicht verschwiegen. In kurzen Hinweisen und Erläuterungen erfahren die neuen Hackerinnen, wie sie ihre Privatsphäre schützen und Spuren im Internet verwischen können, was es mit dem Copyright auf sich hat und worauf es ankommt, damit Passwörter nicht zu knacken sind. Ob die aufgeweckten Leserinnen ein eigenes Spiel entwickeln, aus einer Banane einen Game-Controller machen, ein Video-Interview führen oder einen Trickfilm gestalten, «Hack’s selbst» zeigt ihnen, wie man es aus eigener Kraft anpackt, ermuntert aber auch dazu, sich mit anderen auszutauschen und Teil der weltumspannenden DIY-Community zu werden. Interviews mit engagierten Macherinnen und einem Gender-Aktivisten illustrieren mannigfaltige biografische Zugänge zur Szene und verleihen den vorgestellten Projekten und Aktivitäten eine persönliche Note. Das sind Rollenvorbilder. Nicht nur für Mädchen. ● Hans ten Doornkaat Christine Knödler Verena Hoenig Sabine Sütterlin 29. November 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 15 Porträt Der Rocksänger, Schriftsteller und Politaktivist Serhij Zhadan füllt in seiner ostukrainischen Heimat Mehrzweckhallen und Kinosäle: Wo immer er seine Texte vorträgt, finden kriegsgeschüttelte Landsleute Trost in der Kultur. Kathrin Meier-Rust hat ihn in Deutschland getroffen WennBücherzu Zufluchtsstätten werden Gleissende Spotlights, Menschengedränge und über allem, wie eine Wolke, das konstante Brausen, das entsteht, wenn sehr viele Menschen in einer sehr grossen Halle miteinander sprechen. Den «Rimbaud von Charkiw» kratzt das nicht – schliesslich ist er Sänger einer Punk-Rock-Band. Schmal, jungenhaft, in grauen Jeans und grauem Hemd, lässt sich der ukrainische Sänger, Dichter und Schriftsteller Serhij Zhadan am «Spiegel»-Stand an der Frankfurter Buchmesse befragen. Er sieht immer noch so jung aus wie in den Videos seiner Band «Sobaky v Kosmossi» (Hunde im Kosmos) auf YouTube, bloss die langen Haare, die sind jetzt sehr kurz, wie es sich gehört für einen über Vierzigjährigen. Serhij Zhadan ist nach Frankfurt gekommen, um die deutsche Ausgabe seines Romans «Mesopotamien» vorzustellen. Lange war er ein Geheimtipp gewesen, eine Art postkommunistischer Punk neben den arrivierten ukrainischen Lyriker und Romanautor Serhij Zhadan, geboren 1974, hat seit 1991 zahlreiche Lyrikbände und Romane publiziert. Er war Aktivist der Orangen Revolution von 2004 und wurde im März 2014 bei der Erstürmung der Gebietsverwaltung von Charkiw von prorussischen Besetzern krankenhausreif geschlagen. Für seine literarischen Werke erhielt er zahlreiche Preise. Seine wichtigsten auf Deutsch erschienenen Titel sind: «Die Geschichte der Kultur zu Anfang des Jahrhunderts» (2006), «Depeche Mode» (2007), «Anarchy in the UKR» (2007), «Hymne der demokratischen Jugend» (2009), «Big Mäc» (2011), «Die Erfindung des Jazz im Donbass» (2012). Zuletzt in Übersetzung erschienen: Mesopotamien. Suhrkamp, Berlin 2015. 362 Seiten, Fr. 31.90, E-Book 25.–. Käuze und Unglücksraben In Frankfurt wird der Schriftsteller gerade umlagert. Noch ein letztes TV-Interview, auf Ukrainisch – dann gelingt es den Damen des Verlages, ihn ins versprochene Zimmerchen hinter dem Suhrkamp-Stand zu entführen. Die Scheinwerfer ist er damit los, und gegen die Lärmwolke verspricht er vergnügt, mit lauter Stimme anzuschreien. Nun also «Mesopotamien» – das Zweistromland. Gemeint ist damit wohl beides, die Stadt Charkiw, die zwischen zwei Flüssen liegt, aber auch die Ostukraine zwischen dem ukrainischen Dnjepr im Westen und dem russischen Don im Osten. Ganz abgesehen von der babylonischen Vielstimmigkeit seiner Heimatstadt: «…und dort, wo die frische Morgenluft aufstieg, im Sonnenfeuer und in Pappelflaumwolken, standen Kirchen, Moscheen und Synagogen…» Für ihn sei Mesopotamien aber auch eine Metapher für die ideale mittelalterliche Stadt, erklärt Serhij Zhadan im Gespräch, «einer Stadt mit Festungsmauern, die die Menschen nie verlassen, weil sich alles, was man zum Leben braucht, innerhalb dieser Mauern findet. Die Menschen der Ostukraine sind so, sie verlassen ihre Grenzen nie. Die meisten von ihnen waren noch nicht mal in der westlichen Ukraine». In «Mesopotamien», im Grunde weniger ein Roman denn ein lyrisches Prosawerk, herrscht Die Menschen der Ostukraine sind so, sie verlassen ihre Grenzen nie. Die meisten von ihnen waren noch nicht einmal in der westlichen Ukraine. eine ganz andere Stimmung als in Zhadans früheren, grotesken, frechen und klamaukigen Erzählungen von den Wirren einer überstürzten Privatisierung. Auch hier besteht das Personal zwar wieder aus schrägen Typen und Unglücksraben, die oft gross auftreten und klein enden – das Buch erzählt uns Geschichten von neun Männern in Charkiw, deren Freundes- und Liebeskreise sich manchmal unvermutet berühren. Es wird viel gefeiert, gesoffen, betrogen und auch brutal geprügelt in diesem Roman, aber es wird auch viel geliebt, mit und ohne Hoffnung. Doch statt mit bissiger Satire werden diese Menschen mit liebevoller Ironie übergossen – «Mesopotamien» ist ein poetisches Gespinst, immer wieder durchzogen von zarten christlichen und altbabylonischen Fäden. Und über allen Geschichten leuchtet als heimliche Hauptperson die sommerlich heisse Stadt Charkiw, mit ihren Aprikosenbäumen, ihren schattigen Hinterhöfen und vergammelten Mietshäusern. Das Buch ist eine einzige grosse Liebeserklärung des Dichters an sein Charkiw, wo er seit 20 Jahren lebt. Er habe seine Stadt in der literarischen Landschaft vermisst, habe ihr einen Mythos geben wollen – das ist Serhij Zhadan in grossartiger Weise gelungen. Wie lebt man heute, angesichts der andauernden Kämpfe im Osten, in Charkiw, der zweit- ▲ 16 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. November 2015 Schriftstellern wie Jurij Andruchowytsch oder Andrej Kurkow. Heute, mit rund 10 Lyrikbänden, mehreren Erzählbänden und drei Romanen (s. Kasten) gilt er als Chronist seiner Generation und als Sänger der ukrainischen Demokratiebewegung: Zhadan war schon Aktivist der Orangen Revolution von 2004, dann des Maidan-Protestes von Februar 2014 in Kiew und in Charkiw, wo er von Separatisten so arg verprügelt wurde, dass er blutüberströmt im Krankenhaus landete. KASIA STANISŁAWSKA «Ich schreibe immer und überall. Und was ich schreibe, ist nicht zu trennen von den ukrainischen Geschehnissen.» Serhij Zhadan, hier in Warschau (2014). 29. November 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 17 Porträt von Kind auf auch Russisch gehört und gelernt. «Nein, wir hatten nie ein Sprachproblem in der Ukraine, und wir haben es auch heute nicht.» Der sogenannte Sprachenstreit sei ein Mythos, den einzig die Politik auf beiden Seiten des Konfliktes hochschaukle und instrumentalisiere. Im kleinen Prosaband «Anarchy in the UKR» (Deutsch 2007) hat Zhadan köstliche Szenen aus seiner Kindheit geschildert, die er im Gebiet der heute besetzten ostukrainischen Stadt Luhansk verbracht hatte: das riesige Lenin-Bild im Busbahnhof, das plötzlich verschwindet; lange Fahrten mit seinem Vater auf der Suche nach Autoersatzteilen; Maradona im Fernsehen, im Juni 1986; die mit Speisen und Getränken vollgestellten langen Festtagstische. ANDREW KRAVCHENKO / AP PHOTO Kritisch, aber optimistisch Ukrainische Demonstranten protestieren in Kiew gegen einen Wahlentscheid (August 2015). ▲ grössten Stadt der Ukraine? «Charkiw ist ruhig und friedlich. Die Cafés sind voll, alles ist wie immer. Das mutet mich manchmal geradezu merkwürdig an, die Front ist immerhin nur 200 Kilometer entfernt. Und wenn am Radio auch nicht mehr jeden Tag 10 Tote vermeldet werden, so werden immer noch täglich ein, zwei Menschen getötet. Das ist Krieg. Und zwar kein Bürgerkrieg, sondern ein Krieg Russlands, das einen Teil der Ukraine besetzt hat.» Zhadan schrieb «Mesopotamien» im Jahr 2013, noch im tiefen Frieden, das Buch erschien dann aber in der Ukraine just in jenen Februartagen, als auf dem Maidan in Kiew die ersten Schüsse fielen. Seither erzählt Zhadan auf vielfältige Weise vom Krieg, in Reportagen und Interviews ebenso wie in seinem neuen Gedichtband «Marienleben»: «Ich schreibe immer und überall. Und was ich schreibe, ist nicht zu trennen von den ukrainischen Geschehnissen. Alles andere wäre künstlich.» Krieg steigert Kulturbedürfnis Zhadan, der ein Jahr in Wien und Deutschland studiert hat, gut deutsch spricht, eine Diplomarbeit über Rainer Maria Rilke schrieb und deutsche Gedichte ins Ukrainische überträgt – neben Rilke übersetzte er Gottfried Benn und Paul Celan – war in diesem Jahr oft auf Lesereise in Europa. Auch in der Schweiz ist er mehrmals aufgetreten. Noch viel öfter liest er allerdings in der Ukraine, vor allem im ostukrainischen Kriegsgebiet: Allein im vergangenen Sommer hat Zhadan hier rund hundertmal aus «Marienleben» gelesen, in brechend vollen Mehrzweckhallen, Stadien oder Kinosälen. Wie unterscheiden sich Lesungen in Westeuropa von jenen in der Ostukraine? «Atmosphäre und Dynamik sind vollkommen verschieden», erklärt der Autor. In Europa seien es eher ältere Menschen, die zu seinen Lesungen kämen, Menschen, die sich mit Literatur auseinandersetzen und viele Fragen stellen zu seinem Land. Dieses Interesse berühre ihn – «ich weiss doch, wie viele Bücher in Deutschland auf dem Markt sind.» Nein, eine blosse Pflichtübung seien diese Auftritte keineswegs: «Die deutschsprachigen Länder sind für mich als Germanist wichtig und immer interessant.» Zudem verhelfe einem die Literatur dazu, interessante Men18 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. November 2015 schen kennenzulernen, und das sei nicht selbstverständlich, «stellen Sie sich mal vor, ich würde auf einer Bank arbeiten …» In der Ostukraine dagegen ist sein Publikum jung: «Die Leute kennen mich ja als Rocksänger.» Viele Menschen weinen in seinen Lesungen – was schrecklich und schwer zu ertragen sei. Doch er verspüre auch eine unerhörte Dringlichkeit bei diesem Publikum. Zu seinem Erstaunen hätten die Menschen gerade in der Extremsituation des Krieges ein starkes Bedürfnis nach Kultur: «Ich glaube, es hat damit zu tun, dass die Kultur eine Rückverbindung zu ihrem normalen früheren Leben herstellt. Schliesslich werden wir alle nicht von Politikern und Parlamenten geformt, sondern von den Büchern, die wir lesen, und der Musik, die wir hören. Hierin suchen die Menschen Zuflucht. Es ist wie eine Therapie für sie. Das ist der Grund, warum wir immer wieder dort hinfahren und auftreten.» Übrigens auch mit Geld und Medikamenten, Kleidern und Schuhen für notleidende Menschen und Soldaten im östlichen Krisengebiet – Hilfsgütern, die Zhadan aus dem Erlös seiner Konzerte und Lesungen bestreitet. In unserem Gespräch spricht Serhij Zhadan, der Ukrainer, perfektes Russisch. Mit welcher Sprache ist er aufgewachsen? Die Frage stimmt ihn geradezu fröhlich: «Bei uns zu Hause sprechen wir Surschyk. Surschyk ist eine Mischsprache aus Ukrainisch und Russisch: auf drei ukrainische Worte folgt das vierte auf Russisch, oder auch umgekehrt.» Er komme eben aus einer landwirtschaftlichen Gegend, seine Eltern haben ihr ganzes Leben in der Landwirtschaft gearbeitet, «und auf dem Land sprechen alle Surschyk.» In der Primarschule wurde dann ukrainisch gesprochen, aber natürlich habe er Die Ukraine ist wie ein vollkommen kaputtes Auto, das man gerade auseinandergenommen hat. Es fährt nicht, denn man muss es ja erst wieder zusammensetzen. Zhadan war 17, als die Sowjetunion zerfiel, er gehört gleichzeitig zur letzten sowjetischen Generation und zur ersten Generation der unabhängigen Ukraine. Er sieht das als Glücksfall: Seine Kindheit sei überaus normal gewesen, «alle haben gearbeitet, es gab keinerlei Probleme. Die kamen erst später.» Seine Eltern seien einfache Leute, sie leben noch heute, ruhig und friedlich, wie er sagt, nur 70 Kilometer von der Front entfernt. Einzig eine Tante habe sich mit Literatur beschäftigt. Diese Germanistin, Schriftstellerin und Lyrikerin habe ihm gute Bücher verschafft und die ersten Gedichte des 10-Jährigen gelesen: «Ich hatte das Glück, eine lebendige Schriftstellerin nahe zu haben, die mich zärtlich zur Literatur hinführte. Sie war für mich sehr wichtig und ist es immer noch.» Wie sieht Zhadan die demokratische Regierung unter Präsident Poroschenko, die nun seit einem Jahr im Amt ist? «Ich sehe sie, wie viele Ukrainer im Westen und im Osten des Landes, sehr kritisch. Und mir scheint, es ist jetzt Zeit, diese Kritik auch mit lauter Stimme auszusprechen, nachdem man sich in den ersten Monaten natürlich zurückgehalten hat. Aber sie scheinen sich etwas auszuruhen in Kiew, sie glauben offenbar, einmal an der Macht sei für immer an der Macht – wie das in den letzten 20 Jahren stets der Fall war. Nicht nur packt die neue Regierung die Reformen nicht an, sie geht auch nicht wirklich gegen die Korruption vor. Das ist höchst beunruhigend, denn in dieser Regierung sitzen ja Aktivisten der ersten Stunde, als es um unsere Unabhängigkeit ging.» Zhadan kennt sie aus seiner Jugend. Seine literaturkundige Tante gehörte nämlich zu jenem Kreis der Charkower Intelligenzia, die beim Zerfall der Sowjetunion sofort aktiv für die ukrainische Unabhängigkeit eintrat. Durch sie habe er sich schon in den frühen 90er Jahren mit diesen neuen politischen Kräften solidarisiert. Wird die Maidan-Bewegung wieder verstummen, wie es nach der Orangen Revolution geschah? Er sehe nichts von der Müdigkeit, die nach 2004 um sich gegriffen habe. Im Gegenteil: «Mit dem Krieg ist eine grosse, vom Staat ganz unabhängige und freiwillige Solidaritäts- und Hilfsbewegung entstanden. Diese Leute wollen ganz einfach nie mehr so leben wie früher. Es ist schwierig zu sagen, wie viele es genau sind. Doch wir sind genug.» Und das sei Anlass für einen verhaltenen Optimismus. Die Lärmwolke hat uns inzwischen doch besiegt: Wir sind beide heiser. Einen letzten Gedanken möchte Serhij Zhadan mir aber unbedingt noch ins Tonband schreien: «Die Ukraine ist wie ein vollkommen kaputtes Auto, das man gerade auseinandergenommen hat. Es fährt nicht, denn man muss es ja zuerst wieder zusammensetzen. Russland dagegen ist ein vollkommen kaputtes Auto in voller Fahrt – das kann böse enden. Wir haben nicht weniger Probleme als Russland. Aber unsere Gesellschaft verändert sich gerade sehr stark.» l Kolumne Charles LewinskysZitatenlese Die Deutschen lesen lieber ein Buch über ein Buch als ein Buch. Kurzkritiken Sachbuch Arnold van de Laar: Schnitt! Pattloch, München 2015. 430 Seiten, Fr. 31.90, E-Book 22.–. Urs Hafner: Subversion im Satz. Die turbulenten Anfänge der NZZ (1780–1798). NZZ Libro, Zürich 2015. 207 S., Fr. 41.90. Wie dem holländischen Seefahrer Pieter Stuyvesant auf offener See sein linkes Bein amputiert wurde. Wie der angeschossene Präsident Kennedy auch durch einen Luftröhrenschnitt nicht gerettet werden konnte. Wie sich der Schmied Jan de Doot im Amsterdam des 17. Jahrhunderts selbst (!) einen eigrossen Blasenstein herausschnitt. – Diese ungewöhnliche Geschichte der Chirurgie verlangt einiges an Nerven und Standfestigkeit. Der holländische Chirurg Arnold van de Laar erzählt die Geschichte seines Faches nämlich nicht chronologisch, sondern anhand von 28 berühmten Patienten und ihren für die Chirurgie typischen Operationen. Dabei erklärt er nicht nur sorgfältig jeden medizinischen Begriff, sondern vermittelt in höchst anschaulicher Weise die stupende Entwicklung seines Fachs vom blutigen, meist tödlichen «Handwerk» zur minimalinvasiven Präzisionschirurgie. Wenn die Zeitung so untergeht, wie sie aufgekommen ist, können wir uns auf grosse Zeiten freuen. Das markanteste Merkmal der frühen NZZ war der Humor, die Haltung ein Gebot der Not: Die ersten Redaktoren, die der Historiker Urs Hafner in seinem Buch über die Anfangsjahre der NZZ vorstellt, waren aus Deutschland geflohen – um im «liberalen» Zürich auf ein Zensursystem zu treffen, das nur mit den feinen Spitzen der Satire zu löchern war. Herrliche Zitate lassen den Sprachwitz jenes 18. Jahrhunderts funkeln, das der Autor in Kapiteln zur Berichterstattung über Themen wie Maschinen oder Magnetisten in seiner ganzen Widersprüchlichkeit präsentiert. Für Hokuspokus hatte die NZZ freilich nichts übrig. Ihr Interesse galt der Wissenschaft: «Herr d’Acron, der Erfinder der schwimmenden Batterien soll mit seiner Erfindung zu Grunde gegangen seyn.» Möge es der Zeitung anders ergehen! Thomas Frischknecht: Die Pionierin am Mikrofon. Trudi Weder-Greiner. NZZ Libro, Zürich 2015. 144 Seiten, Fr. 38.–. Benedetta Craveri: Marie Antoinette und die Halsbandaffäre. Berenberg, Berlin 2015. 80 Seiten, Fr. 31.90. Unterhaltung und Information gab es schon vor dem Internet – und Frauenkarrieren ebenso. In der Schweiz der 1930er Jahre war der Landessender Beromünster der zentrale Informationskanal. Und als während des Zweiten Weltkriegs viele Redaktoren im Grenzdienst standen, setzte sich die damals 28-jährige Germanistin Trudi Greiner hinters Mikrofon. Als erste festangestellte Frau unter den Programmschaffenden war sie verantwortlich für die Sendeformate für Frauen, Jugendliche und Kinder. Der mittlerweile verstorbene Journalist Thomas Frischknecht zeichnet das Leben von Trudi Weder-Greiner sorgfältig nach und porträtiert eine innovative Frau, die ein feines Gespür für die Themen der Zeit bewies und sich, wenn auch im Vergleich zu Zeitgenossinnen wie Iris von Roten eher auf leiseren Sohlen, für die Gleichberechtigung der Frauen einsetzte. Die Affäre um ein sündhaft teures Diamantencollier für die französische Königin Marie Antoinette ist so berühmt wie berüchtigt. Nur hat man leider nie verstanden, worum es in diesem Skandal vier Jahre vor der Französischen Revolution eigentlich ging. Das schlanke Büchlein der italienischen Historikerin Benedetta Craveri erzählt die verwickelte Geschichte anschaulich und prägnant. Diese bietet einen unfassbar leichtgläubigen, steinreichen Kardinal; eine ruchlos-intrigante Comtesse ohne Geld, die ihn mit diversen skrupellosen Komplizen zu melken versteht; zwei bankrotte Juweliere; eine aus Mozarts «Figaro» abgekupferte Gartenszene; ein protzighässliches «Halsband», das an das Geschirr eines Zirkuspferdes erinnert. Und natürlich eine luxusverliebte Königin, die in diesem Falle schuldlos war und am Ende doch als Verliererin dasteht. LUKAS MAEDER Ludwig Börne Der Autor Charles Lewinsky arbeitet in den verschiedensten Sparten. Sein letzter Roman «Kastelau» ist im Verlag Nagel & Kimche erschienen. Nur die Deutschen? Ich bin mir da nicht mehr so sicher, seit ich in einer Literatursendung des Schweizer Fernsehens einmal den Satz gehört habe, gute Literatur sei nur solche, über die man Sekundärliteratur schreiben könne. (Nein, ich verrate hier nicht, welche Sendung das war. Bei den zahllosen Literaturprogrammen, die SRF uns anbietet, werden Sie es auch bestimmt nicht herausfinden können…) Ein Buch über ein Buch hat immer etwas von einem Zeugnis, in dem ein unerbittlicher Lehrer den Autor benotet. Der kann dann daraus entnehmen, ob seine Arbeit den Anforderungen des Lehrplans genügt. Meist genügt sie nicht. Nur um zu loben, schreibt selten jemand ein ganzes Buch. Als Schriftsteller kann man aus solchen scharfsinnigen Analysen der eigenen Werke eine Menge spannender Dinge erfahren. Zum Beispiel, welche literarischen Vorbilder einen beim Schreiben beeinflusst haben. Das ist immer dann besonders interessant, wenn es sich dabei um Werke handelt, die man überhaupt nicht kennt. Ich habe mir schon eine ganze Reihe von Romanen notiert, die meinen Stil geprägt haben, und die ich irgendwann einmal tatsächlich lesen will. Am besten im Altersheim, wenn ich das eigene Schreiben definitiv aufgegeben haben werde. Ein Buch über ein Buch hat auch immer etwas von einer Restaurantkritik: Man bekommt das Menu zwar Gang für Gang detailliert beschrieben, aber man weiss hinterher trotzdem nicht, ob es einem auch schmecken würde. Dazu muss man schon selber Messer und Gabel in die Hand nehmen, manchmal auch die Hummerschere oder das ganz kleine Dessertlöffelchen. Dazu muss man das besprochene Buch schon selber lesen. Natürlich, es gibt auch kluge und lehrreiche Sekundärliteratur. Aber sie ist noch schwerer zu finden als kluge und lehrreiche Romane. Wer fachmännisch einen Wein beschreibt, kann sich noch so viele Adjektive für die verschiedenen Geschmacksnoten einfallen lassen – gegen einen einzigen Schluck aus dem Weinglas hat seine Wortgewalt keine Chance. Um hier ein Wort zu verwenden, das Kurt Tucholsky mal für Wein erfunden hat: Ein Buch über ein Buch möpselt oft nach. Und deshalb lese ich, statt Bücher über Bücher, lieber Bücher über Bücher. (Es ist ja Sonntag, und so haben Sie sicher genügend Zeit, um den doppelten Sinn dieser Formulierung auseinanderzuklamüsern. Oder Sie warten einfach ab, bis jemand ein Buch darüber schreibt und ihn Ihnen erklärt.) Kathrin Meier-Rust Simone Karpf Claudia Mäder Kathrin Meier-Rust 29. November 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 19 Sachbuch Gender Das starke Geschlecht schwächelt und ist kränklicher, suchtanfälliger und lebensmüder als sein weibliches Gegenüber. Doch anstatt das Schweigen über psychische Tabuthemen zu brechen, ziehen sich viele moderne Paare in alte Rollenmuster zurück AuchMännerhaben eineSeele Cornelia Koppetsch, Sarah Speck: Wenn der Mann kein Ernährer mehr ist. Geschlechterkonflikte in Krisenzeiten. Suhrkamp, Berlin 2015. 297 Seiten, Fr. 26.90, E-Book 22.–. Toni Tholen: Männlichkeiten in der Literatur. Konzepte und Praktiken zwischen Wandel und Beharrung. Transcript, Bielefeld 2015. 224 Seiten, Fr. 39.90, E-Book 33.90. Matthias Franz, André Karger (Hrsg.): Angstbeisser, Trauerkloss, Zappelphilipp? Seelische Gesundheit bei Männern und Jungen. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2015. 271 Seiten, Fr. 34.90. Von Walter Hollstein 1982 hat Ina Deter gesungen: «Neue Männer braucht das Land». Der Song entwickelte sich nicht nur zum Hit, sondern auch zum gesellschaftlichen Programm: Nach der Emanzipation der Frauen wurde nun jene der Männer eingefordert. Vor allem populäre Medien machten hinfort überall «neue Männer» aus, bei der Kindererziehung, in der Sexualität, beim Sport und sogar im Haushalt. Männer, die in der Öffentlichkeit standen, erkannten die Zeichen der Zeit und liessen sich mit ihren Kindern fotografieren, am Wickel- oder auch am Spültisch. Vor lauter Euphorie gingen die skeptischen Stimmen unter. Der amerikanische Jungenpsychologe William Pollack zum Beispiel hat immer wieder darauf hingewiesen, «dass für den Umgang mit Jungen noch immer jener überholte Verhaltenskodex Gültigkeit hat, der auf Vorstellungen aus dem 19. Jahrhundert zurückgeht». Der Kulturhistoriker George L. Mosse belegt in diesem Kontext, dass die traditionelle Männlichkeit sich trotz aller gesellschaftlichen Veränderungen behauptet hat. Selbst R. W. Connell – feministischer Männertheoretiker und inzwischen zur Frau mutiert – kommt zu der Schlussfolgerung, dass die Füh20 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. November 2015 rungsebenen von Wirtschaft, Militär und Politik noch immer die «korporative Inszenierung» der traditionellen Männlichkeit sind. Insofern ist das Bild vom «neuen Mann», wie der kanadische Psychiater Terrence Real geradezu ärgerlich anmerkt, ein «Ablenkungsmanöver» von der harten Tatsache, dass das traditionelle Männerbild seine Gültigkeit behalten hat. Veränderte Männlichkeit kann man von ihren Trägern ehrlicherweise erst dann einfordern, wenn die gesellschaftlichen Bedingungen es erlauben, sie auch leben zu dürfen. Vorläufig wissen weder «die Institutionen noch die Durchschnittsbürger», notierte Anthony Astrachan nach einer grossangelegten Untersuchung, «was sie mit Männern anfangen sollen, die die konventionellen Rollen des Ernährers und der Kinderbetreuerin tauschen oder auch nur leicht modifizieren wollen». Triumph der Tradition Die Persistenz traditioneller Rollenbilder – im übrigen auch auf Seite der Frauen – belegt eine neue Arbeit der beiden Darmstädter Sozialwissenschafterinnen Cornelia Koppetsch und Sarah Speck: «Wenn der Mann kein Ernährer mehr ist». Prinzipiell merken die Autorinnen an: «Seit den siebziger Jahren haben sich in den Geschlechterverhältnissen moderner Gesellschaften weitreichende Veränderungen vollzogen. Weniger denn je scheint das klassische Arrangement Gültigkeit zu besitzen, in dem der Mann das Haupteinkommen verdient und sich vorrangig als Familienernährer versteht, während die Frau primär für Hausarbeit und Kindererziehung zuständig ist. Die meisten Paare wünschen sich heute einvernehmlich ein egalitäres Modell.» Doch wie schaut es damit in der Praxis aus, in der harten Realität von Kommunikation, Rollenverständnis, Hausarbeit und Sexualität? Koppetsch und Speck haben zur Beantwortung dieser Frage Paare aus unterschiedlichen sozialen Milieus interviewt. Die Ergebnisse harmonieren nur sehr beschränkt mit dem, was «äusserlich», das heisst in den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen von Politik, Gesetz und Wirtschaft, in Gang gekommen ist. Sogar «bei einkommensegalitären Paaren» haben sich die traditionellen Rollenmuster im Beziehungsleben nicht entscheidend verändert. Das geht so weit, dass neue Realitäten schlicht verleugnet werden: «Die Rolle der Familienernährerin wird von den meisten Paaren unseres Samples einvernehmlich heruntergespielt, in der Öffentlichkeit kaschiert.» Offenbar sind Traditionen und überlieferte Bilder stärker als eine sozial veränderte Wirklichkeit. Die Bedeutung der Studie von Koppetsch und Speck liegt gerade darin, dass sie solche unbequemen Wahrheiten ungeschönt benennt; insofern gehört dieses Buch sicher zu den wichtigsten Publikationen im Bereich der Geschlechterliteratur der letzten Jahre. Auch der redundant geäusserten Überzeugung, dass Veränderungen im Geschlechterverhältnis sich viel eher im Privaten wie im Öffentlichen durchsetzen können, widersprechen die Autorinnen vehement. «Die hier geschilderten Befunde deuten darauf hin, dass die Barrieren, die einer Veränderung von Rollen entgegenstehen, im Privaten grösser sind als in den öffentlichen, konkurrenzbestimmten Lebensbereichen.» Dementsprechend machen Koppetsch und Speck in den privaten Lebenswelten eine sehr viel höhere «Änderungsresistenz» aus als in Politik, Wirtschaft oder Kultur. Auch Toni Tholen beschäftigt sich in seinem Buch über «Männlichkeiten in der Literatur» vornehmlich mit dem «Beharrungspotenzial von Männlichkeit». In einer sehr interessanten Untersuchung geht er der Frage nach, wie in viel gelesener Belletristik – zum Beispiel Handke, Knausgard, Grünbein oder Schneider – Männerbilder tradiert, ver- Franz und Karger konstatieren: «Seelisches Leid bei Männern stellt immer noch ein Tabuthema dar (…) Vieles deutet darauf hin, dass seelisch bedingtes Leiden und Sterben bei Jungen und Männern heute noch unterschätzt und zuweilen sogar übergangen wird. Dies liegt nicht nur an den Männern, sondern auch an kollektiven Abwehr- und Wahrnehmungsbedürfnissen.» Dabei wäre ein anderer Blick dringend angezeigt, denn das Fazit der vielen Vorträge internationaler Experten fiel in Düsseldorf dramatisch aus: Das männliche Geschlecht schwächelt; es ist kränker als das weibliche, stirbt früher, bringt sich häufiger um, leidet mehr unter Arbeitsstress, ist suchtanfälliger und bei alledem medizinisch ungenügend versorgt. ARMSTRONG ROBERTS / GETTY IMAGES Gefangen im Rollenkäfig Das herkömmliche Männer- und Familienbild ist auch in heutigen Köpfen noch fest verankert, konstatiert die Wissenschaft. ändert oder eben verfestigt werden. Der Ansatz ist seit den Untersuchungen von Leo Löwenthal und Siegfried Kracauer durchaus probat und wird eigentlich viel zu wenig angewandt. Dabei ist es immer wieder erstaunlich, was literarische und populärkulturelle Erscheinungsformen über den Zeitgeist verraten. Solches arbeitet Tholen auch eindrücklich am Phänomen «Männlichkeit» heraus, etwa an den Veränderungen beim Vatersein. Bei seinen Ausführungen über die «Krise der Männlichkeit» – Tholen setzt das bezeichnenderweise in Anführungszei- chen – ist allerdings seine Empathielosigkeit gegenüber dem eigenen Geschlecht erschreckend. Anschauungsmaterial – in fast schon makabrem Masse – würde er in einem materialreichen Band finden, den Matthias Franz und André Karger über den Dritten Wissenschaftlichen Männerkongress herausgegeben haben. Er hat im September 2014 unter starker Schweizer Beteiligung in Düsseldorf stattgefunden. Das Thema: «Angstbeisser, Trauerkloss, Zappelphilipp? Seelische Gesundheit bei Männern und Jungen». Matthias Franz macht in seinem Beitrag dafür vor allem den «männlichen Rollenkäfig» verantwortlich. «Auch Männer haben eine Seele! Das ist kein larmoyanter Vorwurf an die feministische Adresse, sondern eine dringend notwendige Erinnerung, die sich an die Männer richtet, die immer noch viel zu oft unter Verleugnung ihrer seelischemotionalen Bedürfnisse mit rollenkonformer schweigsamer Härte gegen sich und andere so tun, als ob alles in Ordnung wäre – obwohl es schon lange brennt.» Das Problem ist aber nicht nur ein subjektives der Männer. «Das Desinteresse an diesen Verhältnissen grenzt an kollektive Empathielosigkeit. Es fehlt an Angeboten und Programmen, die mit wahrnehmbarer Wertschätzung auch männer- und jungenspezifische Bedarfslagen aufgreifen.» Dieses Buch müsste zur Standardausrüstung von Ärzten, Therapeuten und Sozialarbeitern gehören, aber eigentlich auch zu jener jedes Mannes in unseren Breitengraden. ● Walter Hollstein ist emerit. Professor für Politische Soziologie und hat mehrere Bücher zu Genderfragen publiziert. 29. November 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 21 Sachbuch Demenz Das Verhalten der Patienten lässt sich nicht ändern. Der Umgang mit ihnen schon DemChaoseinenAlltagbieten Voraussetzungen nötig sind, damit Demenzkranke sich in ihrer Umgebung wohl fühlen, beschreibt er in dem Buch, das er als Summe seiner Erfahrungen am Ende seiner Berufstätigkeit vorlegt. Einer seiner Grundsätze lautet: «Das Verhalten dementer Menschen lässt sich nicht ändern, ändern lässt sich allein das System.» Und das hat er, zusammen mit seinem Team, in den letzten Jahren getan. Er hat mit der Sonnweid einen Ort geschaffen, der nach den Bedürfnissen seiner Bewohner und nicht nach denjenigen der Betreuer ausgerichtet ist. Das klingt einfach, hat aber Konsequenzen, die sämtliche Bereiche einer Pflegeeinrichtung betreffen: die bauliche Gestaltung ebenso wie die Verpflegung, das Beschäftigungsprogramm ebenso wie die tägliche Betreuung. Nicht umsonst plädiert Schmieder für einen «neuen Umgang mit Demenzkranken». Was er unter diesem «neuen Umgang» versteht, erläutert er anhand von Beispielen und Porträts einzelner Bewohner. Ein Pflegekonzept erwartet man von ihm vergebens. Schmieder hat keins, weil er das Verhalten jedes Einzelnen so akzeptiert, wie es ist, und nicht, wie es seinen Vorstellungen gemäss sein sollte. Michael Schmieder: Dement, aber nicht bescheuert. Für einen neuen Umgang mit Demenzkranken. Ullstein, Berlin 2015. 220 Seiten, Fr. 27.90. Von Klara Obermüller Wenn man mit alten Menschen über die Zukunft spricht, taucht sie unweigerlich auf: die Angst vor Demenz. Anders als andere zum Tode führende Leiden wird diese Krankheit gleichgesetzt mit Verlust von Autonomie, von Persönlichkeit und Würde, letztlich von allem, was unser Menschsein ausmacht. Da die Zahl der Betroffenen kontinuierlich steigt und bis heute keine Therapie in Sicht ist, erscheint die Angst nachvollziehbar. Auch Michael Schmieder, der langjährige Leiter des Pflegeheims Sonnweid in Wetzikon, kennt diese Angst. Er erlebt sie täglich bei Patienten und ihren Angehörigen, die mit der Diagnose konfrontiert sind und sich entscheiden müssen, wie die verbleibende Lebenszeit gestaltet werden soll. Schmieder will die Angst nicht kleinreden, aber er weiss aus langjähriger Praxis, dass auch ein Leben mit Demenz lebenswert sein kann. Welche Prinzipien aber hat er sehr wohl. Es sind dies, allem voran, Respekt und Empathie. Daran hält er eisern fest und erwartet Gleiches auch von seinen Mitarbeitern. Von einem altgedienten Pfleger sagt er einmal, er bewundere an ihm seine Gelassenheit, sein Feingefühl und seinen Einfallsreichtum: Eigenschaften, die es in der Tat braucht, wenn es gilt, der fortschreitenden Verwirrtheit wie der gesteigerten Emotionalität der Bewohner einer Demenzeinrichtung gerecht zu werden. Man erfährt bei der Lektüre viel über die Besonderheiten demenzkranker Menschen: über ihr Dasein im Hier und Jetzt, ihre Direktheit, ihr bisweilen bizarres Verhalten. Man erhält Einblick in ihre Welt und legt das Buch am Ende aus der Hand in der Gewissheit, dass weder Verletzlichkeit noch Verwirrtheit die Würde eines Menschen in Frage zu stellen vermag. Würdelos kann einzig der Umgang mit ihm sein. Auch dazu spricht Schmieder in seinem bewegenden Buch Klartext. Wer Demenzkranke verstehen und von ihnen verstanden werden wolle, müsse «die Sprache des Herzens» beherrschen, heisst es einmal. So einfach klingt das, so selbstverständlich, und fällt doch bisweilen so unendlich schwer. ● Hier UND Jetzt Verlag für Kultur und Geschichte ROLAND FLÜCKIGER-SEILER säntis BERG HOTELS Die Stadt unter der Stadt Berg mit bewegter Geschichte Adi Kälin ZWISCHEN ALPWEIDE UND GIPFELKREUZ HIER UND JETZT ALPINER TOURISMUS UND HOTELBAU 1830–1920 Zürich Untergrund Bilder von Alessandro Della Bella Marc Valance HIER UND JETZT HiER uNd JETZT Michael T. Ganz <wm>10CAsNsja1NLU01DU3NLa0NAcA4wPTgg8AAAA=</wm> <wm>10CFXKoQ6AMAxF0S_q0reu68okmVsQBD9D0Py_guEQV5zk9l418NfatqPtVV0dZBB3mwjRcn0RctEKIEaGLrCkYBX__cTwLCxjPgQQ4oBRSiRlcMnhPq8HDpaW1XIAAAA=</wm> Berghotels Säntis Zürich Untergrund zwischen Alpweide und Gipfelkreuz Berg mit bewegter Geschichte Die Stadt unter der Stadt Diccon Bewes 224 Seiten, gebunden Fr. 74.– Roland Flückiger-Seiler 264 Seiten, gebunden, mit Schutzumschlag Fr. 89.– Adi Kälin 256 Seiten, gebunden, mit Schutzumschlag Fr. 69.– «Ein Must für alle Kartenliebhaber» «Es ist ein Vergnügen, in dem reichhaltig bebilderten Band zu blättern» Die Alpen «Prallvoll mit historischen Episoden und prachtvoll bebildert» Mit 80 Karten durch die Schweiz Eine Zeitreise NZZ am Sonntag Marc Valance, Michael T. Ganz 232 Seiten, gebunden Fr. 49.– «Die UntergrundReportagen als Buch» Tages-Anzeiger Thomas Widmer Kronengasse 20f, 5400 Baden, Tel.+41 56 470 03 00, Bestellungen: www.hierundjetzt.ch 22 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. November 2015 Geschichte Der amerikanische Historiker Timothy Snyder versucht, den Holocaust zu verstehen, um die Menschheit vor neuen Katastrophen zu bewahren AugeinAugemitdemBösen Timothy Snyder: Black Earth. Der Holocaust und warum er sich wiederholen kann. C.H. Beck, München 2015. 488 Seiten, Fr. 42.90, E-Book 27.–. In den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts erschien unter dem Titel «Die unsichtbare Flagge» ein Buch, das rasch zum Bestseller wurde. Sein Verfasser Peter Bamm, der als Truppenarzt der deutschen Wehrmacht an der Ostfront gedient hatte, nahm darin eine ebenso irreführende wie wirkungsmächtige Unterscheidung vor. Er trennte die «anständige Truppe» an der Front strikt von den «Anderen», etwa den Angehörigen der Waffen-SS, die im besetzten Gebiet ihre schrecklichen Untaten begingen. Dass eine scharfe Scheidung zwischen heldenhaftem Soldaten- und brutalem Verbrechertum nicht möglich ist und es Peter Bamms «sauberen Krieg» so nicht gab, hat u.a. vor vier Jahren der amerikanische Historiker Timothy Snyder in seinem eindrücklichen Werk «Bloodlands» gezeigt. Mit «Bloodlands» bezeichnet der Autor ein riesiges Gebiet, das sich vom Baltikum durch das östliche Polen, durch Weissrussland bis zur Ukraine erstreckt. Das Buch gibt eine drastische Darstellung der menschenverachtenden Vernichtungspolitik Stalins und Hitlers, welche in diesem Raum zwischen 1933 und 1945 etwa 14 Millionen Menschen das Leben kostete. Es eröffnet insofern neue Einsichten, als sein Autor das Hauptaugenmerk auf die Zeit vor dem Beginn der Deportation deutscher Juden im Herbst 1941 richtet, die von der Holocaust-Literatur bisher weniger beachtet worden ist. Snyder weiss das Grauenhafte mit engagierter Eindringlichkeit zu schildern, und man mag sich zuweilen fragen, ob der Autor der Faszination, die vom Bösen in der Geschichte auszugehen pflegt, nicht zu sehr nachgegeben hat. Wie auch immer: Timothy Snyder hat eines der beklemmendsten Bücher geschrieben, die man über den Massenmord im 20. Jahrhundert lesen kann – was den Welterfolg von «Bloodlands» nicht verhindert hat. Hohe Tötungsbereitschaft Nun hat Snyder seinem ersten grossen Buch ein ebenso umfangreiches zweites folgen lassen. In diesem setzt er sich zum Ziel, die Geschichte des Holocaust im Gesamtzusammenhang darzustellen. Auch hier liegt das Hauptaugenmerk auf dem Völkermord in den «Bloodlands», und manches wird wiederholt, was bereits im ersten Buch zu lesen war. Der Autor erweitert jedoch seinen Betrachtungshorizont, indem er einleitend Hitlers «Lebensraum-Ideologie» darstellt und die Konzentrationslager, insbesondere jenes von Auschwitz, stärker einbezieht. Das Buch liest sich da am überzeugendsten, EUGENE ERIC KIM Von Urs Bitterli Timothy Snyder will mit seinem Buch ein Mahnmal gegen die Unmenschlichkeit des Holocaust setzen (hier: Gedenkstätte in San Francisco). wo der Autor, auf unbekannte Quellen und entlegene Fachliteratur gestützt, die Phasen der Judenverfolgung in verschiedenen Regionen Osteuropas beschreibt. Wir erfahren erneut vieles über die Vernichtungsmaschinerie hinter der Front, die unmittelbar nach dem Vormarsch der deutschen Truppen in Gang gesetzt wurde, und der nicht nur Juden, sondern auch alle möglichen «weltanschaulichen Gegner» sowie Frauen und Kinder zum Opfer fielen. Und wir erfahren viel über die Verführbarkeit des Menschen. «Wie ab Juni 1941 deutlich wurde», schreibt Snyder, «leisteten so gut wie alle Deutschen, denen man befahl, einen Zivilisten, ob Jude oder nicht, zu töten, dieser Anweisung Folge – obwohl ein Ersuchen um Freistellung von solchen Einsatzaufgaben keine schwerwiegenden Konsequenzen hatte.» Als fragwürdig oder doch irritierend wird mancher Leser Snyders weitgehende Gleichsetzung von Stalins «Klassenkrieg» mit Hitlers «Rassenkrieg» empfinden, welche Unterschiede eher unterschlägt als herausarbeitet. Auch stellt der Verfasser einen Kausalzusammenhang zwischen den Massenverbrechen Stalins und Hitlers her, indem er immer wieder betont, erst die zeitlich vorausgehende Besatzungs- und Kollektivierungspolitik Stalins habe, indem sie jede staatliche Ordnung zerstörte, die Voraussetzungen für Hitlers Judenverfolgung in Osteuropa geschaffen. Ältere Leser von Snyders neuem Buch werden sich an den «Historikerstreit» vor dreissig Jahren erinnern. Damals wandten sich deutsche Professoren, angeführt von Jürgen Habermas und Hans-Ulrich Wehler, vehement gegen den «neokonservativen Revisionismus» gewisser Kollegen, denen sie vorwarfen, Stalins und Hitlers Völkermord in unzulässiger Weise zu vergleichen. Dies führe, so der Kern des Vorwurfs, zu einer fatalen Relativierung der Völkermorde und stelle insbesondere die «Singularität» der Naziverbrechen in Frage. Heute ist die erbitterte Auseinandersetzung von damals verstummt, und Snyder, ein Vertreter der jüngeren Historikergeneration, scheint davon nie gehört zu haben. Im Reich der Spekulation Aus Vorwort und Schlusswort seines Buches geht hervor, dass Timothy Snyder mit seinem Buch dazu beitragen will, dass Ähnliches wie der Holocaust sich nie mehr wiederholt. Der Autor weiss, dass die bedrückende Auflistung der Verbrechen, die er vornimmt, nicht genügt und dass, wie Joachim Fest einmal formulierte, aus Mitgefühl Erkenntnis werden muss. «Den Holocaust zu verstehen», schreibt Snyder, «ist unsere Chance, vielleicht unsere letzte, um Menschheit und Menschlichkeit zu bewahren.» Wenn der Autor aber im Schlusskapitel seines Buches die Gefahr einer neuen Menschheitskatastrophe an die Wand malt, wechselt er von der Wissenschaft in den Bereich der Spekulation. Das Böse ist nun einmal, wie Jacob Burckhardt sich ausdrückte, «Teil der grossen weltgeschichtlichen Ökonomie». Die Geschichtsschreibung kann dies zwar bewusst machen, aber nicht ändern. ● Urs Bitterli ist emeritierter Professor der Geschichte der Universität Zürich. 29. November 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 23 Sachbuch Wirtschaftsgeschichte Blicke hinter die Kulissen der reichsten Familie Deutschlands Mit Unvernunft zum Milliardenvermögen Rüdiger Jungbluth: Die Quandts. Deutschlands erfolgreichste Unternehmerfamilie. Campus, Frankfurt 2015. 416 Seiten, Fr. 39.90, E-Book 7.90. Von Sebastian Bräuer Am Anfang stand ein Akt ökonomischer Unvernunft. Als Emil Quandt im Jahr 1883 die Textilfabrik im brandenburgischen Pritzwalk übernahm, für die er bis dahin gearbeitet hatte, herrschte in Deutschland eine schwere Wirtschaftskrise. Reihenweise gingen Firmen in den Konkurs, ganze Regionen stürzten ins Elend. In Pritzwalk überlebte eine einzige von elf Tuchfabriken: die von Emil Quandt. Was seitdem dank Fleiss und Aufopferungsbereitschaft, aber auch Härte und politischem Opportunismus gelang, gehört zu den erstaunlichsten Episoden der deutschen Wirtschaftsgeschichte. Die Quandts stiegen zur reichsten Familie des Landes auf und kontrollieren heute u.a. knapp die Hälfte des Autokonzerns BMW. Das «Manager Magazin» schätzt alleine das Vermögen des bekanntesten Teils der Dynastie, der im August verstorbenen Johanna Quandt sowie ihrer Kinder Stefan Quandt und Susanne Klatten auf 31 Milliarden Euro. Der Autor Rüdiger Jungbluth beschäftigt sich seit Jahren mit der Dynastie. Schon für seine erste Familienbiografie, erschienen 2002, gewährten ihm die wichtigsten Vertreter der aktuellen Generation, die sonst nach aussen äusserst zurückhaltend auftreten, mehrere Interviews. Jetzt hat Jungbluth das Werk vollständig überarbeitet. Dabei hat er u.a. die 2011 veröffentlichten Erkenntnisse des Historikers Joachim Scholtyseck be- rücksichtigt. Scholtyseck belegt in einer Studie, dass die Unternehmer als Mitläufer vom Naziregime profitierten, auch wenn sie nicht als eifernde Ideologen auftraten. Sie beschäftigten Zwangsarbeiter und Häftlinge von Konzentrationslagern. Jungbluth beschreibt die dunklen Kapitel schonungslos, verzichtet aber auf platte Urteile. Der langjährige Journalist der Wochenzeitung «Die Zeit» schildert den Aufstieg der Quandts sachlich und distanziert, aber wohlwollend. Er stützt seine Schilderungen auf eine beeindruckend tiefe Recherche in Tagebüchern und zeitgeschichtlichen Dokumenten. Dennoch liest sich das Buch unterhaltsam wie ein Roman. Wer von einer deutschen Familiengeschichte gefesselt werden möchte, muss nicht auf die Buddenbrooks zurückgreifen. Die Realität kann mindestens so spannend sein. ● Geschichte Paul Nolte legt eine biografische Skizze über Hans-Ulrich Wehler vor Chronist der deutschen Gesellschaft Paul Nolte: Hans-Ulrich Wehler. Historiker und Zeitgenosse. C.H. Beck, München 2015. 208 Seiten, Fr. 26.90. Von Victor Mauer Bielefeld war überall: an Hochschulen und Schulen, in Zeitschriften und Kolumnen. Bielefeld war Historische Sozialwissenschaft, und Historische Sozialwissenschaft war Hans-Ulrich Wehler. Ein Jahr nach Wehlers Tod legt der an der FU Berlin lehrende Paul Nolte eine biografische Skizze über seinen einstigen Mentor vor. Wer deshalb eine posthume Ehrerbietung erwartet, sieht sich aber getäuscht. Bei aller Sympathie hält Paul Nolte sich an den vornehmsten Grundsatz der Wissenschaft, den Hans-Ulrich Wehler selbst zu oft mit Füssen trat: sine ira et studio. Herausgekommen ist nicht nur eine elegant geschriebene Einordnung des Historikers und Zeitgenossen, sondern auch ein Beitrag zur Geschichte der Geschichtswissenschaft in der Bundesrepublik seit den 1960er Jahren – kurzweilig und doch mit Tiefgang, selektiv bis zur Schlagseite, gelegentlich repetitiv, selten widersprüchlich. Während der chronologische Rahmen hinter dem inhaltlichen Fokus verblasst, wird der Lauf des Lebens zum Kreislauf: dem hart erkämpften Aufstieg folgt der beanspruchte Platz an der Sonne und diesem fast nahtlos der Rückzug auf Raten. Thesen gegen den Trend wurden zum Trendsetter, bevor sie wie die Sonderwegsthese wieder entsorgt wurden. Anders erging es der theoriegeleiteten Struktur- und Systemanalyse. Bis heute verleiht sie dem Fach Impulse, ohne jedoch die reklamierte Hegemonie zu er- ringen. Dass Wehlers Ansatz zum Reduktionismus neigt, erfahren wir schon deshalb nicht, weil Nolte erst gar nicht auf die Methodendebatte der 1970er eingeht. Dass es auch anders geht, zeigt die abgewogene Analyse der letzten Lebensphase, in der der Doyen der Sozialgeschichte und Chronist der deutschen Gesellschaft im «Geistergespräch mit Max Weber» (Klaus Harpprecht) den Abwehrkampf gegen die Alltags-, Mentalitäts- und Kulturgeschichte führte – mit einer Polemik, die, frei von Ironie, zum Mittel des Erkenntnisfortschritts verklärt wurde. Gewiss, Wehler war wichtig und wirkmächtig, letztlich aber, wie Nolte festhält, nur eine Figur des Übergangs. Sein Absolutheitsanspruch wirkte befremdlich. Wissenschaft lebt nun einmal vom vielstimmigen Diskurs. Wäre es anders, wäre Wehlers Aufstieg nicht möglich und Bielefeld nicht überall gewesen. ● <wm>10CAsNsja1NLU01DU3NDc2sQAAvnI3JQ8AAAA=</wm> <wm>10CFWKOwrDQAwFT6TlPX1WlrcM7oyLkH6bkNr3rxK7SzEMA7PvIxpuHtvx2p4jKoqSTPPliqbZB0tbxs9AVzBWuhlSPf9-AasbbF6PEII-6WIqrFn0dr4_Xwg7to9yAAAA</wm> Nur Fr. 29.90 Aarau · Biel · Grenchen · Solothurn · Glattzentrum · Sihlcity · Zugerland · Zug · Luzern · Stans · Mythen Center Schwyz 24 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. November 2015 Nur Fr. 39.90 Gesellschaft Ueli Mäder will wissen, wer in der Schweiz das Sagen hat. Es ist das Kapital, meint der Soziologe in marxistischer Manier Wasmachtmächtig? Ueli Mäder: Macht.ch. Geld und Macht in der Schweiz. Rotpunkt, Zürich 2015. 509 Seiten, Fr. 39.90. Von René Scheu Wer die Macht hat, hat das Sagen. Und wer das Geld, hat die Macht. Ist die Botschaft, die der Titel suggeriert, wirklich zutreffend? Das neue Buch von Ueli Mäder verspricht jedenfalls Aufklärung über die wahren Verhältnisse im Lande. Der streitbare Soziologe liefert gleich zu Beginn eine furchteinflössende methodische Einhegung seines ambitiösen Unterfangens, ein Who is who seiner intellektuellen Helden von Weber bis Bourdieu, von Gramsci bis Foucault. Wer dennoch weiterliest, erkennt bald, dass die soziologische Suppe zwar heiss gekocht, aber bestenfalls lauwarm serviert wird. «Macht.ch» ist trotz Eingangsbrimborium kein systematisches Werk, sondern eine Sammlung von persönlichen Anekdoten und Analysen des Ueli Mäder, der als Interviewer in eigener Sache ständig unterwegs ist. Seine Tour de Suisse führt ihn an Medienkongresse, Rotarier-Treffen und Stiftungstage. Er trifft dabei auf arrivierte Leute – tendenziell männlichen Geschlechts und fortgeschrittenen Alters –, mit denen er über seine Berufung, die Schweiz und die Macht plaudert. Dazu zählen zum Beispiel Christoph Blocher, Roger de Weck, Helmut Hubacher, Björn Johansson, Heinz Karrer, Oswald Sigg, Gerhard Schwarz, Rolf Soiron, Daniel Vasella. Im Kopf des Lesers verfestigt sich der Eindruck: Ueli Mäder macht hier Halbprivates öffentlich. Vielleicht darum, weil für ihn alles Private immer schon politisch ist? Ueli Mäder, einst Mitglied der kommunistischen Progressiven Organisationen der Schweiz (POCH), steht jedenfalls zu seinen politischen Präferenzen. Und legt auch transparent dar, wie diese sein akademisches Arbeiten prägen: «Bei der vorliegenden Auseinandersetzung mit Machfragen spielt wohl meine persönliche sozialistische Grundhaltung mit.» Wissenschaft ist stets normativ, das Bekenntnis darum ein Akt der Aufrichtigkeit. So viel Offenheit verdient Respekt! Allerdings bestimmen diese Präferenzen auch die Denkprämissen – und entwerten dadurch die mutmasslichen Erkenntnisse. Mäder geht, klassisch marxistisch, auch im 21. Jahrhundert vom Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit aus. Zugespitzt: Die wenigen Kapitalisten herrschen ungebrochen, die vielen Arbeiter werden ausgebeutet und sind, da sie sich vom eigenen prekären Wohlstand blenden lassen, einfach zu blöd, um dies zu merken. Die Herrschenden halten sich verschiedene Lakaien, die die Welt in ihrem Sinne verklären und die «neoliberale Transformation» vorantreiben. Dazu zählen die Medienvertreter, die im Dienste des Kapitals stehen; die Politikerlobbyisten, die sich von den Banken und Multis bezahlen lassen; die Ökonomen, die in den Akademien und den Denkfabriken ihre bessere Vernunft aufdemAltarderFinanzmarktgläubigkeit opfern. Man möchte Ueli Mäder aus der Ferne zurufen: Nein, bei einer Zwangsabgabenquote von rund 50 Prozent leben wir nicht im Turbokapitalismus, sondern im «korporativen Kapitalismus» (Marcuse), oder noch besser: im «steuerstaatlich zugreifenden Semisozialismus auf eigentumswirtschaftlicher Grundlage» (Sloterdijk); nein, Abstimmungsergebnisse lassen sich hierzulande nicht zuverlässig kaufen, siehe Ausgang der Masseneinwanderungsinitiative; nein, die direkte Demokratie geht nicht nächstens vor die Hunde; nein, die Bürger sind nicht doof und auch nicht bloss verlust- angstgetrieben; und nein, eine Demokratisierung aller Lebensbereiche ist nicht besser als deren angebliche Ökonomisierung, weil erstere trotz Partizipationsmöglichkeit am Ende stets Fremd- statt Selbstbestimmung bedeutet. Ueli Mäders Summa der letzten Jahre bietet einigen Unterhaltungs-, jedoch kaum Erkenntniswert. Eine Ausnahme bilden zwei im Anhang publizierte Fallstudien des wie Mäder in Basel lehrenden Soziologen Peter Streckeisen. Die Untersuchungen zum helvetischen «Bankenstaat» und zur Ökonomisierung des Verwaltungsapparats sind angewandte Macht- und Diskursanalyse vom Feinsten. Als Leser, der den Buchtitel ernst nimmt, hätte man sich weniger Mäder-Plauderton und mehr echte Machtkritik gewünscht. ● Champignons 700 liebevoll gepinselte Schönheiten Jeden Herbst durchstreifen unzählige Pilzliebhaber die Wälder auf der Suche nach den schönsten Exemplaren der wunderlichen Objekte. Zur Gattung der «Mykophilen» – der Pilzfreunde – zählte auch der französische Naturwissenschafter und Schriftsteller JeanHenri Fabre (1823–1915). Bekannt vor allem als Beobachter und Beschreiber des Insektenlebens, hat Fabre im ausgehenden 19. Jahrhundert an die 700 südfranzösische Pilze porträtiert – mit einem Wasserfarbkasten und ohne zuvor je gemalt zu haben. Dass seiner Sammlung «der künstlerische Zug» abgeht, wie der Wissenschafter selber befürchtete, wird nach einem Blick in den vorliegenden Prachtsband niemand behaupten: Vom halbkugeligen Ackerling über das gallertfleischige Krüppelfüsschen bis zum olivstieligen Zärtling treten einem Fabres «champignons» als so akribisch wie liebevoll gepinselte Schönheiten gegenüber. Wer noch kein Pilzliebhaber ist, muss es durch dieses Buch unweigerlich werden. ska./cmd. Jean-Henri Fabre: Pilze. Hrsg. von Judith Schalansky. Matthes & Seitz, Berlin 2015 (erscheint am 15. Dezember). 605 Seiten, 700 Abbildungen, Fr. 139.–. 29. November 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25 Sachbuch USA Ein Roadtrip durch die grosse Tristesse der amerikanischen Südstaaten und eine unheimliche Begegnung mit zornigen weissen Männern AufNebenstrassenunterwegs Paul Theroux: Tief im Süden. Reisen durch ein anderes Amerika. Hoffmann und Campe, Hamburg 2015. 604 Seiten, zahlr. Abb., Fr. 35.90, E-Book 25.90. Michael Kimmel: Angry White Men. Die USA und ihre zornigen Männer. Orell Füssli, Zürich 2015. 352 S., Fr. 26.90, E-Book 20.90. Alle vier Jahre steigt das Interesse für die amerikanischen Politverläufe. Mit einer Vorlaufzeit von etwa einem Jahr bis zu den Präsidentschaftswahlen häufen sich auch deutsche Übersetzungen von Büchern, die das merkwürdige Geschehen jenseits des Atlantiks verständlicher machen. Zwei Neuerscheinungen haben wir hier herausgegriffen. Unser erster Fund stellt «ein anderes Amerika» vor, nämlich den «tiefen Süden», wo doch die meisten Schweizer US-Reisenden sich im Dreieck New York– Boston–Chicago bewegen. «Tief im Süden» kreuzte der 74-jährige Reiseschriftsteller Paul Theroux, der sich einen Namen mit farbig beschriebenen Eisenbahnfahrten auf mehreren Kontinenten gemacht hatte. Diesmal aber war er ausschliesslich in seinem Privatauto unterwegs, auf Nebenstrassen. Theroux’ liebste Metapher ist der MississippiFluss, der «Ole Man River». Die «grosse Tristesse» des Südens zeige sich darin, dass der alte Wasserweg verschlammt ist, die Industrien weggezogen sind (meist ins billiger produzierende Ausland), Armut vorherrscht. Die politische Klasse schaut weg. Ja, auch die Clintons, die Bushs, diese in Arkansas, Texas und Florida gewachsenen Dynastien. Wie immer lässt sich Theroux treiben; er zählt meist auf den Zufall, der ihm die aufschlussreichsten Begegnungen beschert. Mit seinem alten Freund, dem Fotografen Steve McCurry, baute er vier Bildstrecken aus dem Süden in den 600-seitigen Band ein. Sie ergänzen seine Texte wunderbar. Der Wut auf der Spur Die andere Neuerscheinung ist von schwererem Kaliber. Der New Yorker Soziologieprofessor Michael Kimmel, bekannt geworden mit Forschungen über amerikanische Maskulinität und den Segen des Feminismus, hat sich diesmal ein brisantes politisches Thema ausgesucht: «Angry White Men». Woher kommt die auffällige Zunahme der zornigen – mitunter gewalttätigen – Männer in den Vereinigten Staaten, die Waffenkultur im amerikanischen Süden, die Häufung der Amokläufe an Schulen, die Macht der Waffenlobby, der Zulauf zu kompromissfeindlichen rechtskonservativen Bewegungen wie der Tea Party? In den Anmerkungen seines 350-seitigen Buchs arbeitete der Autor eine reichhaltige Liste von Fachliteratur ein; der Haupttext liest sich aber leicht, denn Kimmel ist ein begabter Vermittler seiner Erkenntnisse, wie auch seine witzigen 26 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. November 2015 GABE SOUZA / GETTY IMAGES Von Peter Studer Jeder Bürger ein Waffenexperte: «Tief im Süden» ist das Sammeln von Pistolen und Gewehren ein verbreitetes Hobby. Ansprachen vor stürmisch applaudierenden Universitätsstudenten belegen. Am stärksten fährt seine Darstellung da ein, wo er Unterhaltungen mit «zornigen weissen Männern» wiedergibt, Amokläufe mit genauen Tat-und Täterprofilen rekonstruiert. Als Hauptmotiv der Wut in der unteren weissen Mittelschicht diagnostiziert der Soziologe etwa in dieser Reihenfolge Globalisierungskritik, Immigrationsfeindlichkeit, Rassismus, Antisemitismus, Antifeminismus – in jeweils unterschiedlichen Mischungen. Besonders häufig macht er eine kränkende Enteignung als Antrieb aus – das Gefühl, dass einem etwas weggenommen wird, worauf man doch als hartarbeitender Weisser ein Anrecht seit mehreren Generationen verdient habe. Auf gesellschaftliche Verwerfungen stiess auch Paul Theroux. Der YankeeReisende ist literarisch gebildet. Etliche seiner schönsten Anekdoten gelten denn auch William Faulkner und anderen weniger bekannten Erzählern. Faulkner hat 1955 einen seiner «schärfsten und wütendsten Angriffe» (Theroux) nach dem Lynchmord an einem schwarzen Teenager verfasst, der zu einem Auslöser für die von schwarzen und weissen getragenen Protestmärsche wurde. Sie standen am Anfang der Integrationsbewegung im Süden, deren Erfolge und Misserfolge der Reiseberichterstatter skizziert. Im heutigen Dorf Money (sic) fand Theroux aber nur noch die Ruinen des Täterhauses im fast entvölkerten Dorf – und ein bescheidenes Gedenkmuseum, dessen schwarze Wärterin meinte, mental habe sich viel zu wenig verändert hier unten. In den Flussdeltas ging Theroux den Selbsthilfegenossenschaften der schwarzen Farmer nach, aber auch die neu entstandene schwarze Prominenz besuchte er. So sass er an einer Buchvernissage des Urgesteins John Lewis, seit 1986 ununterbrochen nationaler Kongressabgeordneter aus Atlanta, «heute wie ein Heiliger verehrt». Nach der Ver- anstaltung vor ausschliesslich schwarzem Publikum scheuchten junge schwarze Assistenten in piekfeinen Anzügen den zerknitterten weissen Autofahrer hochmütig weg. Welch ein Kontrast zur Freundlichkeit der vielen zufälligen Gesprächspartner im Süden, die sich jederzeit auf einen Schwatz einliessen! Schlemmen und schiessen Politische Aperçus mischt Theroux unbekümmert mit Exkursen über die Verwendung des Worts «Nigger» früher und heute. Oder mit Beschreibungen von leckeren Soulfood-Gerichten und CatfishPlatten, zu denen man sich gerne hinsetzen würde. Fasziniert besuchte der Autor aber auch mehrere Waffenmessen, Abwechslung im Alltag ländlicher Städtchen, wo sich jeder Passant als Waffenexperte, und oft auch als Sammler alter amerikanischer Gewehre, ja sogar schnellfeuernder osteuropäischer AK-47 outete. Man fühle sich irgendwie bedroht, fanden etliche Männer und Frauen; solche Passagen verweisen zurück auf Kimmels vertiefte Analyse. Zwar findet man sich «Tief im Süden», wo es an Karten, einem Inhaltsverzeichnis und Register mangelt, weniger leicht zurecht als bei den «Angry Men», die Lektüre lohnen aber beide Werke. ● Peter Studer, ehem. Chefredaktor des «Tages-Anzeigers» und des Schweizer Fernsehens, war von 1966–1974 USAKorrespondent und hat das Land immer wieder bereist und beschrieben. «Mein langer Weg» von Heidi Vogel «Die kurze Unachtsamkeit meiner Mutter, aus der die Erlaubnis, auf dem Schnee hinunterzurutschen, hervorging, veränderte mein Leben für immer. Aber das Leben ist trotz vieler Einschränkungen auch als Behinderte lebenswert.» Telefonische Bestellung: +43 2610 431 11. E-Mail: offi[email protected] www.novumverlag.com Oder direkt: Angenweg 5, 6162 Entlebuch, Tel. 041 480 09 39 / [email protected] <wm>10CAsNsja1NLU01DU3tDAxNwQACp_qKg8AAAA=</wm> <wm>10CB2LMQoDMQwEX2Sx60i2FJXB3XFFyAdMTOr7f3UmxcDAMMeRJvjzGudnvNPCgqXTtTNpJoGW0cU8koRW0J6kUpsCWddUBVl8Vi27epltbXsYsB-fX8i1fjdrpQcHaQAAAA==</wm> Musik Der Historiker David Schoenbaum präsentiert eine Sozial- und Kulturgeschichte der Violine ImHimmelvollerGeigen Von Corinne Holtz 1998 verkauft ein Auktionshaus in Köln eine als Stradivari geltende Geige an den Unterhaltungsmusiker André Rieu. Rieu bietet am Telefon zwei Millionen Mark – und wird kurz darauf von Experten darauf aufmerksam gemacht, dass die angebliche «Strad» eine zusammengesetzte Geige mit französischer Decke aus dem 19. Jahrhundert ist. Heute wird für eine echte «Strad» bis zu 10 Millionen Dollar gezahlt. Ist das der ganz normale Wahnsinn, den Händler und Musiker gleichermassen befördern, wenn ihnen (angeblich) eine italienische Geige erster Klasse vor die Füsse fällt? Was zählt mehr: «Ton oder Zettel»? Das fragliche Instrument war jahrzehntelang von herausragenden Geigern (darunter Mischa Elman) «ohne einen Widerspruch oder eine Beschwerde» gespielt worden. Lässt sich daraus schliessen, dass eine «Strad» auch dann schön klingen kann, wenn sie nur teilweise «echt» ist? David Schoenbaum lässt die Leserin weiterdenken – und bleibt als Historiker Anwalt der Geschichte. Schoenbaum ist 1968 als Autor des Buchs «Die braune Revolution. Eine Sozialgeschichte des Dritten Reichs» berühmt geworden. Ausserdem ist er ein passionierter Amateurgeiger und hat mit dem Handwerk des Forschers eine «Kulturgeschichte des vielseitigsten Instruments der Welt» verfasst. Sie liest sich spannend wie ein Krimi und fokussiert bei aller Akribie stets auf das Wesentliche. Der Autor verarbeitet sein Material aus zwanzig Jahren Recherche in vier Kapiteln: Geigenbau – Geigenhandel – Geigenspiel – Geigen, die die Welt bedeuten. Dabei wird mit den Mythen und Tabus des Betriebs aufgeräumt und der Blick Wird zumeist von Angehörigen der weissen Mittelklasse unters Kinn genommen: die Geige, aus sozialhistorischer Warte betrachtet. Biografie und werk eines verkannten künstlers GeorG M. Hilbi Georg M. Hilbi emil dill (1861–1938) 248 S. zweisprachig (d/e) 130 Abb. Geb. CHF 58 <wm>10CAsNsja1NLU01DU3tDQxtgQAWbXh-A8AAAA=</wm> aufstieg und niedergang einer stickereidynastie <wm>10CFWKsQ6AIAwFv6ikj9JCZTRsxMG4sxhn_39S3Bwul0uu96qBP9a2HW2v6uqgDE_iM0LMVuExZH0NlMjQBSyOKGa_nxhuwjLmQwChDDBJoSRDWcJ9Xg8ou_lgcgAAAA==</wm> Emil (1861–1938) Dill Jolanda Spirig sticken und Beten lung. Die professionellen Orchester der Welt sind weitgehend weiss. In den USA liegt die Quote von Afroamerikanern und Latinos bei 1,8 Prozent, auch in den europäischen Orchestern trifft man selten auf nichtweisse Musiker. Schwarze Geigerinnen finden, wenn, den Weg in den Jazz (wie etwa Regina Carter, die 2002 als erste Jazzmusikerin überhaupt Paganinis «Kanone» spielen durfte) oder bringen es wie Ginger Smock (1920–1995) «als bronzefarbene Zigeunerin» bis nach Las Vegas und Hawaii. Smock war Mitglied der Los Angeles Junior Philharmonic, spielte unter Otto Klemperer und gefiel den Managern des KlassikLabels RCA, solange sie nicht wussten, dass die Interpretin der Demo-Aufnahme «ein farbiges Mädchen von da oben in San Francisco» war. Der Autor rückt in seinen Darstellungen stets den Menschen ins Licht. «Er hatte keine praktische Kenntnis von menschlichen Beziehungen», sagt Jeremy Menuhin über seinen berühmten Vater. Die Japanerin Midori wiederum, die mit 21 Jahren bis zu 95 Konzerte jährlich spielte, verfiel «immer tiefer in Rebellion, Anorexie und suizidale Depression». Anders Maddalena Lombardini Sirmen, die als 15-Jährige durchsetzte, bei Giuseppe Tartini in Padua zu lernen, und anfing, ihre Karriere als Geigerin und Komponistin an die Hand zu nehmen. Wo andere sich von der Fülle des Materials überwältigen lassen, führt hier ein Autor Regie, den der «Wunsch nach Aufklärung» antreibt. Schoenbaum hat mit seiner Sozial- und Kulturgeschichte der Violine einen neuen Standard geschaffen. Das Buch dürfte als Referenzwerk in die Musikgeschichtsschreibung eingehen und gleichwohl ein breites Publikum interessieren. ● www.chronos-verlag.ch auf Themen gelenkt, die bisher kaum Beachtung gefunden haben. So dokumentiert der Autor im Kapitel «Rasse, Klasse und Geschlecht», dass die Mehrheit bekannter Geigerinnen und Geiger seit über zwei Jahrhunderten aus der amorphen «Mittelklasse» kommt – «beginnend mit Paganinis Vater, der aus dem Milieu der Genueser Hafenarbeiter stammte, bis hin zum Vater von Joshua Bell», der eine Professur an der Indiana University innehat. Hautfarbe und Geschlecht sind ebenfalls Gegenstand der Darstel- David Schoenbaum: Die Violine. Eine Kulturgeschichte des vielseitigsten Instruments der Welt. Bärenreiter/ Metzler, Kassel/Stuttgart 2015. 730 Seiten, Fr. 71.–. Die Textildynastie Jacob Rohner: Familie, Firma, Klerus (1873–1988) 280 S. 140 Abb. Geb. CHF 38 29. November 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27 Sachbuch Familienbiografie Elf Porträts über eine der prägendsten deutschen Intellektuellenfamilien spiegeln die Geschichte des jüdischen Lebens seit dem 19. Jahrhundert Sigrid Bauschinger: Die Cassirers. Unternehmer, Kunsthändler, Philosophen. Biographie einer Familie. C.H. Beck, München 2015. 463 Seiten, Fr. 42.90, E-Book 27.–. Von Claudia Kühner Oft wurde die Familie mit den Manns verglichen. Doch die Cassirers sind nie so weit ins öffentliche Bewusstsein vorgedrungen wie der grosse Schriftsteller und seine schreibenden Nachkommen. Ihre berühmtesten Vertreter – die Kunstsammler und -verleger Paul und Bruno Cassirer und ihr Cousin, der Philosoph Ernst Cassirer – haben Intellektuelle, Sammler und Kenner fasziniert, aber kein Millionenpublikum angesprochen. Dazu waren sie entschieden zu wenig exzentrisch, und einen «Zauberer», zu dem alle hochschauten, gab es in dieser Familie auch nicht. In ihrer ausgezeichneten Familienbiografie zeigt die Germanistin Sigrid Bauschinger, dass der Vergleich gleichwohl etwas für sich hat: Zwar waren nicht alle Mitglieder gleich bedeutend oder erfolgreich, aber dem «FamilienBiotop» der Cassirers entwuchsen viele Persönlichkeiten, die für die deutsche Kultur, Wissenschaft und Wirtschaft Bleibendes geleistet haben. Die Darstellung, die in elf Porträts über vier Generationen reicht, ist zugleich die typische Geschichte eines «jüdischen» Aufstiegs, der im 19. Jahrhundert begann. War die erste Generation mit dem Aufbau beschäftigt – bei den Cassirers in der Holz- Kabel- und Cellulose-Industrie –, wandten sich die Kinder bereits vielfach geistiger Tätigkeit zu. Auch die Frauen übrigens, deren Bildungshunger die Eltern nicht unterbanden. Anders als viele Vertreter des jüdischen (Gross-) Bürgertums liessen sich die Cassirers mit nur wenigen Ausnahmen aber nicht taufen, selbst wenn sie die Religion kaum praktizierten. Das ist erstaunlich, denn die Taufe galt oft als letzter Schritt zur gesellschaftlichen Anpassung. Für die nächste Generation der Familie wird dann das Exil zur prägenden Erfahrung. Weitsichtig haben die meisten Cassirers Deutschland frühzeitig verlassen. Heute leben die Nachfahren in aller Welt, den Weg zurück suchte nach 1945 keiner mehr. Charakteristisch für die Familie über die Generationen hinweg war aber ihr enger Zusammenhalt, den die Mitglieder selbst unter den schwierigen Bedingungen des Exils wahrten. Im Zentrum der Biografie stehen natürlich Paul (1871–1926), Bruno (1872– 1941) und Ernst Cassirer (1874–1945). Als Kunsthändler und Verleger bereiteten Paul und Bruno der Moderne den Weg, gegen den wilhelminischen Kunstgeschmack, während Ernst Cassirer als Kulturphilosoph Weltruhm erlangte, in Deutschland aber als Jude erst im Alter von 45 Jahren zu einem regulär bezahlten Lehrstuhl kam. Daneben erschliesst Sigrid Bauschinger auch weniger bekannte Familienkapitel und zeigt etwa, dass auch die Odenwaldschule auf die Cassirers zurückgeht, genauer auf Edith Cassirer (1885–1982). Zusammen mit ihrem Mann Paul Geheeb und finanziert vom Vater gründete sie 1910 diese Reformschule, baute sie auf und aus und führte sie ab 1934 unter grössten Mühen in der Schweiz weiter. Als Ecole d’Humanité besteht sie ob Meiringen bis heute, während die ursprüngliche Odenwaldschule in Deutschland von den pädagogischen GEHEEB-ARCHIV /ÉCOLE D'HUMANITÉ DerKosmosderCassirers Franz Cassirer als Husar (um 1904), Eva Cassirer vor ihrem Wohnwagen in Wales (1941) und das Ehepaar Edith und Paul Geheeb (1925). Nachfahren in den moralischen und finanziellen Ruin getrieben worden ist. Ihr Buch schliesst Sigrid Bauschinger mit den Porträts dreier besonderer Frauen: der Schauspielerin Tilla Durieux, von 1910 bis 1926 mit Paul Cassirer verheiratet; Eva Cassirer, der Gönnerin Rainer Maria Rilkes, und schliesslich Nadine Gordimer, die in Südafrika den Nationalökonomen und Kunsthändler Reinhold Cassirer geheiratet hat. Sind die berühmten Mitglieder der Familie schon vielfach beschrieben worden, ist es das Verdienst von Sigrid Bauschinger, einen Familienkosmos lebendig werden zu lassen – ohne die geistigen Leistungen zu vernachlässigen. ● Mathematik Rudolf Taschner präsentiert ein komplexes Wissenschaftskonzept in theatralen Akten Verspielte Spieltheorie Rudolf Taschner: Die Mathematik des Daseins. Eine kurze Geschichte der Spieltheorie. Hanser, Berlin 2015. 251 Seiten, Fr. 31.90, E-Book 24.90. Von André Behr Die mathematische Spieltheorie gehört heute zur Grundausbildung jedes Wirtschaftswissenschafters, Evolutionsbiologen oder Konfliktforschers. Das verdankt sie insbesondere dem lebenslustigen Südstaatler John Nash, dessen berührende Biografie Stoff des erfolgreichen Hollywoodfilms «A beautiful mind» war. Der hochbegabte und vielseitige Nash hatte als 22-jähriger 1950 eine Dissertation vorgelegt, in der er für die Strategiewahl in gewissen Spielen ein Gleichgewicht beschrieb. Die Tragweite dieser 28 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. November 2015 Idee wurde zwar nicht sogleich erkannt, brachte ihm aber 1994, nach Jahrzehnten einer durchlittenen Erkrankung an Schizophrenie, den Nobelpreis ein. Was dieses sogenannte «Nash-Gleichgewicht» bedeutet, was man unter «kooperativen» und «nichtkooperativen Spielen» versteht oder welche Rolle Glücksspiele, die doppelte Buchführung oder das berühmte «Gefangenendilemma» in der Entwicklung der Spieltheorie einnehmen, erklärt Rudolf Taschner in seinem neusten Buch. Dass der 62-jährige Mathematikprofessor von der Technischen Universität Wien ein kundiger Vermittler seines Fachbereichs ist, erkennt man spätestens am schlauen «Glossar», in dem er bei jedem Stichwort immer gleich auf ein weiterführendes Buch verweist, das relevant für das ganze Gebiet ist. Allerdings ist Taschners handlicher Band kein Lehrbuch. Erzählt werden in 17 Kapiteln Geschichten, die man wie Akte in einem Theaterstück verstehen kann, und in denen alle Protagonisten zu Wort kommen, die substanziell zur Entfaltung der Spieltheorie und ihrer Deutung beigetragen haben. So treten u.a. die legendären Pascal, Fermat und Bernoulli sowie Morgenstern und von Neumann auf, deren Ansatz Nash einst revolutionierte, aber auch Mozart und eine gewisse Marilyn vos Savant. Taschners launischer Einfall, diese Akte nicht streng zeitlich gemäss einer «historischen Wahrheit» zu ordnen und mit fiktiven Dialogen zu würzen, macht es dem Leser inhaltlich nicht einfach. Dafür eignet sich das Buch bestens zum Schmökern, und Wesentliches lernen kann man obendrein. ● Drogen Zwei Analysen zu den Zusammenhängen zwischen repressiver Politik und eskalierendem Krieg TeufelskreisausArmut, KorruptionundGewalt Von Michael Holmes Seit etwa einem Jahrhundert tobt in allen Weltregionen ein Krieg, den die meisten Menschen wie eine Naturgewalt hinnehmen. Nun sind zwei Bücher erschienen, die den Drogenkrieg als Ergebnis einer verfehlten Repressionspolitik erklären und erkunden. Einmal tut dies der britische Journalist Johann Hari. Für seine imposante Streitschrift «Drogen – Die Geschichte eines langen Krieges» ist er an die Fronten des Konflikts, aber auch in Länder gereist, die hoffnungsvolle Alternativen erproben. Von überallher bringt er fesselnde Reportagen, Porträts und Interviews mit und ergänzt das Material mit verblüffenden Forschungsbefunden. Morde am Fliessband Die Anfänge der Drogenprohibition schildert der Autor anhand archetypischer Lebensgeschichten. Der eifernde Rassist Harry Anslinger verschärfte als erster Leiter des Federal Bureau of Narcotics den 1914 begonnenen Anti-Drogen-Feldzug. Die Jazzlegende Billie Holliday kam aufgrund ihrer von Armut und Gewalt geprägten Kindheit nicht mehr vom Heroin los und wurde von Anslingers Agenten zugrunde gerichtet. Sodann dokumentiert Hari, wie der Krieg gegen die Drogen zum Krieg um die Drogen führt, da die Rivalität um lukrative Schwarzmärkte mit Waffengewalt ausgetragen werden muss. Eindringlich beschrieb ein Ex-Bandenführer dem Autor, wie er sich in einem New Yorker Ghetto mit Härte und Gewalt behauptete. Im Gefängnis besuchte Hari einen mexikanischen Ex-Profikiller, der seit dem 13. Lebensjahr für ein Kartell wie am Fliessband mordete. Nüchtern hält er fest: «Das Drogenverbot schafft ein System, in dem wahnsinnige, sadistische Gewalt einer funktionalen Logik gehorcht. Sie ist nötig und wird belohnt.» Hari bespricht dieses System aus der Perspektive unterschiedlicher Beteiligter und nimmt so auch die Auswirkungen in den Blick, die das Verbot auf die Drogenkonsumenten hat. Süchtige erklärten Hari, wie die Repression die psychischen Schmerzen und harten Lebensbedingungen verschlimmere, die sie in die Abhängigkeit getrieben hatten. Verschiedene interviewte Wissenschafter bestätigen diesen Eindruck: Ihnen zufolge halten Im September wurden in Mexiko und Kolumbien mehr als zwei Tonnen Kokain beschlagnahmt. Hier präsentiert die Polizei den Drogenfund. Drogenverbote die Abhängigen «in einem ewigen Elendskarussell» gefangen. Die Hauptursache für Drogensüchte ist laut den Experten nicht in den Substanzen selbst zu finden, sondern in Einsamkeit und Verzweiflung – nur so sei etwa zu erklären, dass Schmerzpatienten in vielen Ländern Opiate erhalten, ohne abhängig zu werden. So führen denn auch 90 Prozent aller Drogenkonsumenten ein normales Leben. Und die restlichen 10 Prozent? Überdurchschnittlich häufig enden sie in den Vereinigten Staaten hinter Gittern: Die USA weisen auch aufgrund des Krieges gegen die Drogen die weltweit höchste Gefangenenrate auf. Welche anderen Wege gäbe es? Der Autor sprach mit Aktivisten, Polizisten und Politikern, die für ein Ende der Verbotspolitik eintreten. Er hat die Schweiz, Vancouver und Liverpool bereist, wo Fixerstuben und Hilfsprogramme zahlreiche Leben retteten. Aus Uruguay sowie einigen US-Bundesstaaten berichtet er über die Legalisierung von Marihuana. In Portugal ging er der Frage nach, warum seit der Entkriminalisierung aller Drogen 2001 die Zahlen der Süchtigen und Drogentoten deutlich zurückgegangen sind. Nüchtern und skeptisch bespricht er verschiedene Optionen und Folgen einer vorsichtigen Dekriminalisierung. Eine wohldurchdachte Drogenfreigabe fordern auch die mexikanische Schriftstellerin Carmen Boullosa und der US-Historiker Mike Wallace. In ihrem erschütternden Buch «¡Es reicht! Der Fall Mexiko – Warum wir eine neue globale Drogenpolitik brauchen» dokumentieren sie den mexikanischen Krieg gegen die Drogen, der seit vielen Jahrzehnten aufs Engste mit dem US-amerikanischen verknüpft ist. Die Autoren zeigen, wie die USA immer wieder massiven Druck auf das schwächere Nachbarland ausgeübt haben, den Drogenkrieg zu verschärfen. Ausserdem haben sie dessen Militär und Polizei trotz schwerer Menschenrechtsverletzungen und Verbindungen zur Drogenmafia kritiklos unterstützt. Wichtiger noch: Die Kartelle führen grausame Schlachten um Zugänge zu US-Drogenmärkten, die deren Haupteinnahmequelle darstellen. Für eine Dekriminalisierung Eindrücklich beschreiben Boullosa und Wallace den Teufelskreis aus Armut, Korruption und Gewalt, der den Krieg am Laufen hält. Arme Bauern und Slumbewohner, Polizisten, Richter, Journalisten und Politiker müssen den Banden für Bestechungsgelder dienen oder deren Rache fürchten. «Silber oder Blei», fordern die Drogenbarone unverblümt. Sie vergewaltigen, foltern, köpfen und verbrennen ihre Gegner. Die Autoren geben den «neoliberalen» Reformen der letzten dreissig Jahre einen Teil der Schuld an der Gewalteskalation. Dagegen spricht, dass die Armut in diesem Zeitraum deutlich zurückgegangen ist. Zugenommen haben dagegen die Drogenprofite. Die tiefgehenden Analysen der Autoren legen nahe, dass die Dekriminalisierung von Drogen in den USA die wirksamste Hilfe für die fragile mexikanische Demokratie wäre. Letztlich werfen beide Bücher die Frage auf, ob der Krieg gegen die Drogen nicht mehr Opfer gefordert hat als die Drogen selbst. ● JOHN VIZCAINO / REUTERS Johann Hari: Drogen. Die Geschichte eines langen Krieges. S. Fischer, Frankfurt am Main 2015. 448 Seiten, Fr. 35.90, E-Book 25.–. Carmen Boullosa, Mike Wallace: ¡Es reicht! Der Fall Mexiko: Warum wir eine neue globale Drogenpolitik brauchen. Verlag Antje Kunstmann, München 2015. 250 Seiten, Fr. 27.90. 29. November 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29 Sachbuch Geschichte Luzern ist mehr als ein Postkartenidyll: Ein Fremdenführer weist Wege in die Vergangenheit Jenseits von Kappelbrücke und KKL Beatrice Schumacher: Kleine Geschichte der Stadt Luzern. Hier+Jetzt, Baden 2015. 231 S., ca. 100 Abb., Fr.38.90. Von Alexis Schwarzenbach Warum nicht schon die Römer am Ausfluss des Vierwaldstättersees eine Siedlung angelegt haben, erfährt man in diesem Buch nicht. Alles andere dagegen schon, denn Beatrice Schumacher gelingt auf gut zweihundert Seiten ein facettenreiches Porträt der Stadt Luzern. Sie spannt den Bogen vom frühmittelalterlichen Marktflecken, der um das Kloster St. Leodegar herum entsteht, sich zur Stadt wandelt, ein Territorium erwirbt und bis zum Untergang der Alten Eidgenossenschaft einer ihrer Vororte ist, bis hin zur Gegenwart, in der sich Luzern von einem auf den Tourismus ausgerich- teten Postkartenidyll zu einem modernen Verwaltungs- und Bildungszentrum entwickeln will. Den gängigen Mythos, der Gotthardverkehr habe beim Aufschwung der Stadt eine zentrale Rolle gespielt, widerlegt Schumacher ebenso deutlich, wie sie in allen Phasen der Stadtgeschichte auf die prägende Rolle von Ausländern verweist, seien es mittelalterliche Klosterbrüder, die aus allen Teilen Europas nach Luzern kamen, oder die Touristenscharen aus aller Welt, die die Stadt seit dem 19. Jahrhundert prägten. Jedes Kapitel des Buchs beginnt an einem anderen Ort der heutigen Stadt, mit einer Weitwinkelaufnahme in Farbe und einer Einführung in die Epoche, auf die der jeweilige Platz verweist. Damit wird das Buch zum Fremdenführer in die Vergangenheit einer Stadt, die bis heute von den allermeisten Touristen und ein- heimischen Kulturpendlern wohl nur ausschnittsweise wahrgenommen wird – Schwanenplatz, KKL, Verkehrshaus. Dass die Stadt Luzern deutlich mehr zu bieten hat, steht ausser Frage, dass man dies mit etwas mehr Engagement hätte erzählen können ebenso. Denn dem Buch fehlt eine passionierte Haltung, was vermutlich seinen Entstehungsumständen geschuldet ist. Neben der Autorin waren nicht nur zwei Institutionen – die Gemeinnützige Gesellschaft und das Stadtarchiv Luzern –, sondern auch eine vierköpfige Begleitkommission an der Publikation beteiligt. Das dürfte der Grund dafür sein, dass der Text zwar weder Fremde noch Frauen je ausser acht lässt, über weite Strecken jedoch den Eindruck eines Kompromisses hinterlässt, der eingegangen werden musste, um zu viele Interessen unter einen Hut zu bringen. ● Das amerikanische Buch Massenbegeisterung über den Hexenwahn Dunkel war die Welt der Puritaner in Neuengland, schreibt Stacy Schiff in ihrem aktuellen Bestseller The Witches: Salem, 1692 (Little, Brown and Company, 496 Seiten): «Schwarz wie Krähen, Pech-Schwarz, BibelSchwarz». Ende des 17. Jahrhunderts hatten die Kolonisten einen blutigen Krieg gegen Indianer mit knapper Not überstanden und waren anschliessend in Konflikte untereinander und mit der britischen Krone geraten. Der harte Winter 1691/92 brachte den frommen Siedlern rund um Boston neue Angriffe von Ureinwohnern und den mit ihnen verbündeten Franzosen. Am 20. Januar 1692 aber drang eine neue, bedrohlichere Dunkelheit in das Haus des Pastors Samuel Parris im Dorf Salem. Seine neunjährige Tochter Betty und die elfjährige Nichte Abigail fielen in Krämpfe und Verrenkungen, warfen Hausrat umher und stiessen, von unsichtbaren Nadeln gestochen, fremdartige Laute aus. Bald ergriff das Unheil weitere Mädchen und junge Mägde im Dorf. Dann stellte ein ratloser Arzt die folgenschwere Diagnose: Verantwortlich waren der Teufel und seine Gesandten, Hexen und Hexer inmitten der abergläubischen Gemeinde. So beginnt eine zentrale Episode der amerikanischen Geschichte, die Hexenprozesse von Salem. Anscheinend lassen Berge von Fachliteratur, Erzählungen von Nathaniel Hawthorne und Arthur Millers Drama «Hexenjagd» das Interesse Amerikas an dem neun Monate währenden Massenwahn ungestillt. Nur so ist das starke Echo auf Stacy Schiffs Buch «The Witches» erklärbar. Von einem Verriss im Buchmagazin der «New York Times» abgesehen, loben Kritiker die gründlichen Recherchen der Autorin und ihrer acht Assistenten. 30 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. November 2015 Geständnis der Sklavin Tituba beginnende Hysterie nach, die 14 Frauen und fünf Männer an den Galgen brachte, auch zwei der Hexerei beschuldigte Hunde nicht verschonte und in 25 Ortschaften zu Hunderten von Anschuldigungen führte. Die Justiz griff häufig zu Folter. Da Geständnisse einen Freibrief darstellten und nur Leugner hingerichtet wurden, beschuldigten Männer ihre Frauen und Kinder ihre Eltern. Überall wollten Kolonisten auf Besen reitende Hexen und teuflische Spektren wie blaue Eber oder rote und gelbe Vögel erkennen. Im Herbst 1692 hatte der Wahn zahlreiche Familien ruiniert und die ganze Region an den Rand von Chaos und Anarchie gebracht. Mitte Oktober desselben Jahres schritten dann die häufig miteinander verwandten Kaufleute, Pastoren und Offiziellen an der Spitze der Gesellschaft ein und beendeten den Spuk ebenso rasch, wie er begonnen hatte. Die Hexenprozesse von Salem bilden ein Kernkapitel der amerikanischen Geschichte – Stacy Schiff (unten) rollt es ein weiteres Mal auf. Ebenso professionell wirkt die mit einem Essay Schiffs im «New Yorker» anhebende Kampagne für das Buch mit zahlreichen Auftritten und Medieninterviews der 54-Jährigen. Sie kennt das Verlagsgeschäft und weiss, wie Bestseller funktionieren. Schiff war ursprünglich als Lektorin tätig, ehe sie 1995 mit ihrem Erstling über Antoine de Saint Exupéry eine erfolgreiche Karriere als Sachbuchautorin begann. Auf Biografien spezialisiert, wurde Schiff unter anderem mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet. Dass sie eine Fülle an Informationen flüssig in dramatische Zusammenhänge stellen kann, beweist Schiff erneut in den «Witches». Sie zeichnet die mit Anschuldigungen der Mädchen und einem Der Leser bleibt jedoch etwas ratlos zurück. Wie die «Times» moniert, führt die Lektüre der «Witches» über weite Strecken durch ein Dickicht von Details, die durch zahlreiche Fussnoten und 50 Seiten Anmerkungen eher noch unübersichtlicher werden. Dies will Schiff durch überzogen wirkende Schilderungen und unglaubwürdige Dialoge wettmachen. Zum Abschluss bietet die Autorin aus der Fachliteratur bekannte Erklärungen und stellt den Hexenwahn knapp in historische Zusammenhänge. Aber den Mut zu frischen, eigenen Thesen über Teufelei und Hexenjagden in Amerika fand Schiff nicht. So stellt sie die Magnetwirkung von Salem für Neuheiden fest, die tatsächlich an schwarze Magie glauben. Aber was dahinter steckt, bleibt offen. ● Von Andreas Mink Agenda Künstlermaskenball Orgiastische Party in Zürich Agenda Dezember 15 Basel Donnerstag, 3. Dezember, 19.30 Uhr Zeruya Shalev: Schmerz. Lesung und Gespräch. Moderation: Sigrid Löffler, Fr. 25.–. Volkshaus, Rebgasse 12–14. Info: www.literaturhaus-basel.ch. Montag, 7. Dezember, 19 Uhr Elena Chizhova: Die Terrakottafrau. Lesung und Gespräch. Moderation: Thomas Grob, Fr. 20.–. Philosophicum, St.Johanns-Vorstadt 19–21. Reservation: 061 500 09 30. Donnerstag, 10. Dezember, 19 Uhr Rolf Lappert: Über den Winter. Lesung. Moderation: Christine Lötscher, Fr. 17.–. Literaturhaus, Barfüssergasse 3. Tickets: www.ticketino.com. Bern 1947 fand der Zürcher Maskenball erstmals statt. Alsbald wurde er zu einem gesellschaftlichen Ereignis. Einmal pro Jahr waren in der strengen Zwinglistadt die Regeln bürgerlichen Wohlverhaltens ausser Kraft gesetzt. Nun wurde so richtig gefeiert: mit Tanz, Musik und Rauschmitteln aller Art. Bohème und Bourgeoisie fanden für drei Tage oder vielmehr Nächte zusammen. Der Geist von Dada erwachte zum Leben. Plakate, Fotos und Erinnerungen zeugen von diesem so provokativen wie lustvollen Fest. Willi Wottreng, Historiker und langjähriger Redaktor der «NZZ am Sonntag», hegt seit je ein besonderes Interesse für alles Ungewöhnliche. Den Rändern der Gesellschaft gilt seine Sympathie. Über Rebellen, Fahrende und andere Aussenseiter hat er packende Bücher geschrieben. Hier nun lässt er vor allem Bilder sprechen. Die Masken, Gesichter und Dekorationen führen uns ein Zürich vor, bei dem uns Hören und Sehen vergeht. Porträts einzelner Protagonisten ergänzen den grosszügig ausgestatteten Band. Manfred Papst Willi Wottreng: «Einmal richtig spinnen können». Der legendäre Künstlermaskenball in Zürich. Elster, Zürich 2015. 256 Seiten, zahlreiche Abb., Fr. 48.–. Bestseller November 2015 Belletristik Sachbuch 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 Jojo Moyes: Ein ganz neues Leben. Wunderlich. 528 Seiten, Fr. 28.90. Lucinda Riley: Die Sturmschwester. Goldmann. 576 Seiten, Fr. 22.90. Jo Nesbø: Blood on Snow. Der Auftrag. Ullstein. 192 Seiten, Fr. 17.90. David Lagercrantz: Verschwörung. Heyne. 608 Seiten, Fr. 26.90. Eveline Hasler: Stürmische Jahre. Nagel & Kimche. 224 Seiten, Fr. 25.90. Monique Schwitter: Eins im Andern. Droschl. 232 Seiten, Fr. 27.90. M. Hjorth, H. Rosenfeldt: Die Menschen, die es nicht verdienen. Wunderlich. 544 S., Fr. 28.90. Hansjörg Schneider: Hunkelers Geheimnis. Diogenes. 208 Seiten, Fr. 31.90. Franz Hohler: Ein Feuer im Garten. Luchterhand. 128 Seiten, Fr. 26.90. Jussi Adler-Olsen: Takeover. Und sie dankte den Göttern. DTV. 656 Seiten, Fr. 28.90. Arno Renggli: Der Hund starb – was er nicht überlebte. Wörterseh. 168 Seiten, Fr. 18.90. Giulia Enders: Darm mit Charme. Ullstein. 288 Seiten, Fr. 23.90. Henning Mankell: Treibsand. Zsolnay. 384 Seiten, Fr. 35.90. Tilmann Lahme: Die Manns. S. Fischer. 480 Seiten, Fr. 35.90. Per Andersson: Vom Inder, der nach Schweden fuhr. Kiepenheuer & Witsch. 336 S., Fr. 21.90. Wilhelm Schmid: Gelassenheit. Insel. 118 Seiten, Fr. 12.90. Walter Däpp: Thierry Carrel – Von Herzen. Werd & Weber. 212 Seiten, Fr. 42.90. Ajahn Brahm: Der Elefant, der das Glück vergass. Lotos. 240 Seiten, Fr. 24.90. Rüdiger Safranski: Zeit. Hanser. 272 Seiten, Fr. 35.90. Duden: Die neue Rechtschreibung. 26. Aufl. Bibliogr. Institut. 1216 Seiten, Fr. 32.90. Erhebung GfK Entertainment AG im Auftrag des SBVV; 17.11.2015. Preise laut Angaben von www.buch.ch. Mittwoch, 2. Dezember, 20 Uhr Pedro Lenz: Der Gondoliere der Berge. Lesung, Fr. 20.–. Buchhandlung Stauffacher, Neuengasse 25/37. Reservation: Tel. 031 313 63 63. Sonntag, 13. Dezember, 11 Uhr Franz Hohler: Lesung, Fr. 20.–. Zentrum Paul Klee, Monument im Fruchtland 3. Info: www.zpk.org. Zürich Dienstag, 1. Dezember, 19.30 Uhr Café Philo: 25 Jahre Gender Trouble. Gespräch mit Christine Abt und Michael Pfister, Fr. 12.–. Literaturhaus, Limmatquai 62. Reservation: Tel. 044 254 00 00. Donnerstag, 3. Dezember, 12.15 Uhr Rüdiger Safranski: Zeit. Lesung und Gespräch, Fr. 12.–. Literaturhaus (siehe oben). Sonntag, 6. Dezember, 20 Uhr Zweifels Zwiegespräche. Gast: Peter von Matt. Gespräch über Dürrenmatt, Fr. 30.–. Schauspielhaus, Rämistrasse 34. Tickets: www.schauspielhaus.ch. Dienstag, 8. Dezember, 19.30 Uhr Krimiabend. Mit Mitra Devi, Helmut Maier, Jutta Motz u.a., Erlös geht an «Zürcher Lighthouse». PBZ, Zähringerstrasse 17. Info: www.pbz.ch. Montag, 14. Dezember, 19 Uhr Elisabeth Bronfen: Mad Men. Buchpräsentation. Moderation: Johannes Binotto, Cabaret Voltaire, Spiegelgasse 1. Info: www.cabaretvoltaire.ch. Montag, 14. Dezember, 19.30 Uhr Lukas Bärfuss, Peter Rüedi, SusanneMarie Wrage: Begegnungen mit Friedrich Dürrenmatt. Gespräch. Moderation: Roman Bucheli, Fr. 18.–. Literaturhaus. Bücher am Sonntag Nr. 1 erscheint am 31.01.2016 Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher am Sonntag» können bestellt werden per Fax 044 258 13 60 oder E-Mail [email protected]. Oder sind – solange Vorrat – beim Kundendienst der NZZ, Falkenstrasse 11, 8001 Zürich, erhältlich. 29. November 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 31 <wm>10CAsNsja1NLU01DU3tDSxNAMAQkCxkg8AAAA=</wm> <wm>10CFWKoQ6AMAwFv6hLX7u1K5MERxAEP0PQ_L9i4BD3knu5dW0l8ce8bMeytxIlQI7IYa8kcWtVJHH2BsCEUSZAQtXcfz0xwpS1vw0BBOtjpdL4NNd0n9cD7kGWrnIAAAA=</wm> DER ANGENEHMSTE WEG, NOCH KLÜGER ZU WERDEN Was hat es mit dem Schneemann auf sich? Was mit der Brille mit dem Loch im Glas? Mit dem traurigen Ballon, dem die Luft ausgegangen ist? Sie waren, wie alle anderen hier abgebildeten Objekte auch, Sujets auf dem Titelblatt des «NZZ Folio». Wofür sie standen? Nicht für das Naheliegende. Das «NZZ Folio» widmet sich jeden Monat einem Thema, das über den Tag hinaus aktuell ist. Das Titelblatt interpretiert dieses Thema mit einem unerwarteten Dreh. So wie die Geschichten im Heft die Leserinnen und Leser nicht nur informieren, sondern auch unterhalten und überraschen sollen. Wer das «NZZ Folio» liest, wählt den angenehmsten Weg, noch klüger zu werden. Der Schneemann schmolz übrigens auf dem Titelblatt des Hefts «Diät» vor sich hin, die zerschossene Lesebrille war ein Sinnbild für «Krimi», und der schrumpelige Luftballon illustrierte «Seelennot». Daniel Weber, Chefredaktor «NZZ Folio» Jetzt Probe lesen! Die nächsten 4 Ausgaben für nur 20 Franken. SMS mit Keyword NZZFOLIO47, Namen und Adresse an Nr. 880 (20 Rp./SMS) oder unter nzz.ch/folio47 Dezember STAR WARS Von der Macht eines Films Januar GESCHÄFTSIDEEN Vom Geistesblitz zum Grosserfolg Februar IM PARADIES Von der Sehnsucht und der Sünde März HIERARCHIEN Wie sie entstehen, was sie bewirken
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