Sonntagsgedanken 1.November 2015 Pfarrer Matti Fischer, Fulda

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hr1 - Sonntagsgedanken
1.November 2015
Pfarrer Matti Fischer, Fulda
Heilige – Menschen wie du und ich
50. Minute: Müller spielt kurz ab zu Lewandowski. Lewandowski schiebt
den Ball in die linke Ecke. Eins zu eins. 52. Minute: Aus 17 Metern Entfernung
zieht Lewandowski plötzlich ab. Untere linke Ecke. Unhaltbar. 2 zu 1.
So geht es weiter in den nächsten Minuten. Robert Lewandowski schießt
und der Ball ist drin. Bis zum 5 zu 1 zwischen dem FC Bayern München und
dem VFL Wolfsburg. Fünf Tore in neun Minuten. So schnell hintereinander hat
noch nie ein Spieler in einem Bundesligaspiel getroffen.
Ich habe mir das schon sechs Mal auf YouTube angeschaut. Ich bin kein
Bayernfan. Dass die fast immer alles gewinnen, langweilt mich auch. Aber ich
habe es mir angeschaut, weil ich wissen wollte: Wie fühlt sich sowas wohl an?
Wie ist das, vor 70.000 Zuschauern so etwas zu schaffen? 5 Tore in 9 Minuten.
Wie fühlt sich das an, wenn man ahnt: Das hat vorher noch nie jemand
geschafft?
Ich habe früher mal Fußball gespielt. Jeden Samstag durfte ich mit
meinem großen Bruder zum Fußballplatz. Der war damals der beste Stürmer
seiner Mannschaft. Er hat davon geträumt, irgendwann einmal groß
rauszukommen. Und ich habe mit ihm geträumt. Jeden Samstag schauten wir
uns mit meinem Vater die Sportschau an. Ohne, dass wir darüber gesprochen
haben, malten wir uns aus: Einmal da auf dem Platz stehen. Einmal das
entscheidende Tor schießen. Einmal von tausenden Menschen bejubelt werden.
Nun bin ich älter geworden. Mit der Fußballkarriere wurde es nichts.
Nicht für mich und nicht für meinen Bruder. Aber die großen Momente jagen
mir immer noch einen Schauder über den Rücken. Mario Götze 1 zu 0 im
Endspiel der Weltmeisterschaft. Pierre Lasogga im entscheidenden
Relegationsspiel meines Vereins, dem HSV in der vergangenen Saison. Oder
eben die fünf Tore von Robert Lewandowski Ende September in München. Ich
bleibe hängen bei dieser Frage: Woher kommt das wohl? Dieses Gefühl.
Einmal so sein wie er. Damit hat es sicherlich zu tun. Dass man merkt:
Einmal ein Held sein für wenige Augenblicke. Einmal herausstechen aus der
Masse. Fußballer sind die Heiligen unserer Zeit. Die Süddeutsche Zeitung
schreibt: „Lewandowski wird zum Torheiligen Bayerns.“ Und in Polen, seinem
Heimatland, wird er von den Medien schon als neuer Nationalheiliger gefeiert.
Ein bisschen viel der Ehre. Aber ich glaube, dass diese Nähe von Fußballstars
und Heiligen kein Zufall ist.
- Musik –
Was sind eigentlich Heilige? Heute, am 1. November gedenken viele
Christen der Heiligen. So heißt der Tag auch Allerheiligen. Er ist ein
katholischer Feiertag. Denn in der katholischen Kirche haben die Heiligen eine
ganz besondere Bedeutung. Aber es gibt durchaus auch eine evangelische
Tradition, der Heiligen zu gedenken. Was macht einen Menschen so besonders,
dass andere ihn oder sie heilig nennen? Angesehene Männer und Frauen.
Sicherlich. Menschen, die durch eine einzigartige Gabe herausstechen aus der
Masse. Die sich ganz Gott und ihrem Glauben verpflichtet fühlen. Katholische
Christen beten zu Heiligen und bitten sie um Schutz und Hilfe. Dahinter steht
die Vorstellung, dass die Heiligen bei Gott weiterleben und bei ihm für die
Betenden eintreten. Sie legen, sozusagen, bei Gott ein gutes Wort ein.
Ich als Evangelischer bete nicht zu Heiligen. Beten kann man nur zu Gott.
Menschen sollen nicht wie Gott verehrt werden.
Was macht eine Heilige nun also aus? Fragt man Menschen auf der Straße,
würden viele wahrscheinlich erstmal sagen: Heilige sind gute Menschen. Die
haben etwas Tolles für Andere geleistet.
Heilige sind Menschen, die nicht nur etwas Besonderes erlebt oder getan
haben. Manche haben Nachteile in Kauf genommen, weil sie Christen waren.
Viele sind sogar für ihren Glauben gestorben. Es war ihnen wichtiger, Gott zu
gehorchen, als sich den Menschen unterzuordnen. Es waren ganz
unterschiedliche Menschen: Männer und Frauen, Altgewordene und
Junggebliebene. Menschen, die hier bei uns lebten. Und Menschen überall auf
der Welt. Große Namen sind darunter und auch längst vergessene. Aber eines
hatten sie gemeinsam: Sie trugen in sich eine ganz große Sehnsucht. Den
Wunsch, sich in ihrem Leben einer guten Sache zu widmen. Und diesem
Wunsch sind sie gefolgt.
Robert Lewandowski - ein Heiliger? Natürlich: Er hat Außergewöhnliches
geleistet. Keine Frage. Und: Er wird von vielen bewundert für das, was er getan
hat. Ich nehme mich da nicht aus. Aber so ein richtiger Heiliger ist er dann wohl
doch nicht. Da gehört noch etwas anderes dazu.
Musik –
Heilig heißt für mich: Nahe bei Gott sein. Wie immer sich sowas zeigt.
Heilig ist schon der, der um Gottes Nähe weiß. Und der in dieser Nähe lebt. In
der Bibel finde ich da einen guten Satz: „Ihr sollt heilig sein, denn ich bin
heilig.“ Sagt Gott. Das hängt automatisch zusammen: Gott ist mir nahe. Darum
bin ich heilig. Ich muss kein Fußballstar sein. Ich muss in keinem Stadion von
Tausenden von Menschen bewundert werden. Ich brauche überhaupt nicht vor
anderen Menschen zu glänzen. Ich bin aus der Masse herausgehoben, weil Gott
mir nahe ist. Klingt gut, oder? Aber woran merke ich das eigentlich, dass Gott
mir nahe ist? Ich merke es unter anderem, wenn ich die Geschichten höre von
den Männern und Frauen, die aus der Nähe Gottes gelebt haben. Die Geschichte
von dem Mann, der in der Mitte seines Lebens all seinen Reichtum und sein
Ansehen aufgab und sich den Armen zuwandte. Er lebte mit ihnen Tag und
Nacht. Die Geschichte von der Frau, die sich jahrelang um ihre kranke
Nachbarin kümmerte. Jeden Mittag Punkt zwölf brachte sie ihr das Mittagessen.
Gottnahe Menschen. Heilige. Berühmte und Unbekannte. Wenn ich solche
Geschichten höre, dann spüre ich selbst etwas davon: Gott ist mir nahe.
Ich spüre das auch, wenn ich Worte des Gebetes finde. Manchmal ganz
einfache Worte: „Gott, ich sehe dich nicht. Ich höre dich nicht. Aber ich will aus
deiner Nähe leben. Zeige mir, wie das geht.“ In solchen Worten öffnet sich eine
Tür, durch die Gott in mich hineinkommt. Eigentlich öffnet sich da eine Tür,
durch deren Spalt ich sehen kann: Gott ist schon immer da, in mir drin. Ich bin
ein Heiliger.
Mir gibt dieses Gefühl eine unheimliche Kraft. Eine tiefe Freude. Ich bin
dann wieder ganz dicht bei Robert Lewandowski und der Frage: Wie hat er sich
wohl gefühlt, als er in neun Minuten fünf Tore geschossen hat? Als er zur
Eckfahne gelaufen ist und sich den Jubel der Menschen abholte? Da wird kaum
mehr gewesen sein als die tiefe Freude am Leben. Robert Lewandowski ist ein
Heiliger. Wie jeder von uns. Allerheiligen heute, das ist unser Feiertag.
Pfarrer Matti Fischer, Fulda