Kleine Zeitung

90 | KULTUR
KLEINE ZEITUNG
FREITAG, 1. APRIL 2016
KULTUR | 91
KLEINE ZEITUNG
FREITAG, 1. APRIL 2016
L I T E R AT U R
AKTUELL
Gemeinsam
wird die Welt
entziffert
Ausgezeichnete Dirigentin
„Lichtungen“: Präsentation mit
Richard Kotschy, Klaus Lederwasch
Weibel stellt heute im Grazer Haus der Architektur seine Enzyklopädie vor
BUCH & PRÄSENTATION
„Graz ist ein Reparaturfall“: Wir trafen
Peter Weibel in Karlsruhe und sprachen
mit ihm über den Patienten Kultur und
biedere Wirtsstuben, über den Schlaf und
„Scheißgegenden“ nicht nur in Ottakring.
err Weibel, wenn Sie von hier,
von Karlsruhe aus, nach
Graz blicken: Was sehen Sie
da? Sehen Sie da überhaupt was?
PETER WEIBEL: Ach, Graz ist ja meine große Liebe und wird immer
meine geistige Heimat bleiben!
Ich sehe Bilder von Graz in den
60ern, 70ern, 80ern, als die Stadt
ein ungeheures Potenzial hatte,
das im steirischen herbst, im
Forum Stadtpark oder der Grazer
Autorenvereinigung Ausdruck
fand. Und ich durfte dabei wesentlich mitmischen.
Und weniger nostalgisch?
WEIBEL: Graz hat ein paar wichtige
Dinge übersehen. Unter anderem, während das Merkmal einer
herausragenden Kulturstadt neben Wien schrumpfte und andere
Städte gigantische Fortschritte
machten: Linz etwa mit seinem
Ars Electronica Center oder Salzburg, längst nicht mehr nur Festspielstadt – siehe zum Beispiel
das Museum der Moderne auf
dem Mönchsberg. Auch Innsbruck oder Bregenz haben fantastische Kultureinrichtungen. Graz
hätte sich viel früher umstellen
müssen, um der Konkurrenz gewachsen zu sein.
Mein Einwand, pars pro toto:
Europäische
Kulturhauptstadt
2003, Literaturhaus, Kunsthaus.
WEIBEL: Ja, man hat das Kunsthaus
zwar gebaut, aber die Verknüp-
H
fung mit dem Joanneum war
nicht gut. Gescheiter wäre es gewesen, man hätte dort von Anfang an autonom Programm machen können. Peter Pakesch ist ja
eine kluge Person und ein Mann
von Klasse. Aber als KunsthausLeiter hatte er auch seine Defizite, denn er war und ist ja auch Galerist, und da kommt es natürlich
zu Reibungspunkten, wenn man
Künstler aus dem eigenen Kreis
fördert. Aus meiner Sicht hatte er
als Joanneum-Intendant kein
wirkliches Interesse am Gesamtmuseum, darum hat er es im
Herbst auch so fluchtartig verlassen. Außerdem: Es ist leicht, ein
Chef zu sein, wenn Geld da ist.
Aber die Liebe zu einem Haus
zeigt sich erst wirklich, wenn die
Zeiten schwieriger werden und
man kämpfen muss.
Was raten Sie demnach in diesen nicht nur ökonomisch komplizierten Zeiten?
WEIBEL: Dass die Stadt Graz und
das Land Steiermark deutlich zeigen sollen, was sie zumindest in
den nächsten zehn Jahren in der
und mit der Kultur erreichen
wollen. Allein mit der Neubesetzung der Kunsthaus-Leitung ist
es jedenfalls nicht getan. Das
Universalmuseum
Joanneum
braucht eine grundlegende Reform des Gesamtkonzepts, sonst
findet nämlich Graz den An-
APA
Druckreife Arbeit
seiner Studenten in Karlsruhe:
Peter Weibel
(72) als 3D-Figur
ZKM/KK
ZUR PERSON
Peter Weibel, geboren am
5. März 1944 in Odessa, früher
UdSSR, heute Ukraine.
Künstler, Kurator, Kunst- und
Medientheoretiker. Professor für
visuelle Mediengestaltung an der
Hochschule für angewandte
Kunst in Wien und seit 1999
Vorstand des Zentrums für
Kunst und Medientechnologie
in Karlsruhe (ZKM).
www.peter-weibel.at
schluss an das internationale
Niveau nicht mehr.
Ihr Vorschlag?
WEIBEL: Eine Task-Force einrichten, die sich ein deutliches Bild
vom Joanneum macht und sich
überlegt, wie man die einzelnen
Abteilungen reformiert, wie man
die Struktur updaten kann, welche attraktiven, modernen Zugänge es zur Kultur gibt.
Nennen Sie uns ein Beispiel!
WEIBEL: Kunsthistorische, kulturhistorische,
naturhistorische
Ausstellungen, mit den lieben
Tierchen von früher . . . : Das ist
doch alles nur Vergangenheitsbewältigung! Aber: Was haben Tiere heute für eine Bedeutung für
uns? Für die Medizin, für die
Technik, meinetwegen für die
Politik? Solche Dinge würden
mich als Kurator wie als Besu-
cher interessieren. Heute sind ja
die Grenzen zwischen den Genres mehr denn je aufgeweicht,
auch jene zwischen Kultur und
Massenmedien zum Beispiel.
Grundsätzlich wäre es wichtig,
geeignete Gruppen aus der freien
Szene stärker einzubinden, von
denen ohnehin schon viele in diese Richtung denken und arbeiten
– die kann und darf man nicht
mehr ignorieren. Jedenfalls sollte
nirgendwo mehr in der Kultur
Akademisches nur für Akademiker gemacht werden.
Ihr Gesamtbild von der Kultur
in Graz und in der Steiermark?
WEIBEL: Die Kulturlandschaft ist ja
allgemein wie ein Krankenhaus –
lauter Patienten! Also muss man
rasch herausfinden: Was ist die
Krankheit? Und vor allem: Was
die Therapie? Da genügt es nicht
mehr, mit dem Stethoskop zu wedeln, da braucht es eine Magnetresonanz, die Radiologie.
Wie lautet also der Befund des
Röntgenologen Dr. Weibel?
WEIBEL: Graz ist ein Reparaturfall.
Aber die Chancen zur Renovierung sind da, nur bräuchte es halt
den politischen Willen, um diese
zu nutzen, und zudem das Zupacken aller Beteiligten von den
Gremien und den Kuratoren hin
bis zu den Künstlern selber. Nur
weiß man ja: Stagnation ist was
zutiefst Österreichisches.
Von den alten Griechen bis zur Gegenwart, vom Buch
zum Grammofon, von Gutenberg bis Google: Mit einer
sechsbändigen Auswahl seiner Schriften legt Peter
Weibel eine Enzyklopädie vor, die alle Bereiche und
Veränderungen in der Medienwelt diskursiv abdeckt.
Peter Weibel. Enzyklopädie der Medien. Band 1:
Architektur und Medien. Gestaltet von Renata Sas.
Hatje Cantz Verlag, 416 Seiten, 29,80 Euro.
Buchpräsentation mit Peter Weibel und Architekt Manfred Wolff-Plottegg. Heute, 19 Uhr, Haus der Architektur
im Palais Thinnfeld, Mariahilferstraße 2, Graz. hda-graz.at
Ist das bei Ihnen in Karlsruhe
anders, besser?
WEIBEL: In Deutschland ist gut
arbeiten. In Österreich ist gut
leben, allein kulinarisch! Will
man hingegen in Karlsruhe essen
gehen – hier gibt’s ja nur Stuben
(schmerzverzerrtes Gesicht)!
Gegen den Stillstand hierzulande bräuchte es wohl mehr Leute
vom Schlage eines Heini Staudinger. Die obersten Prinzipien des
Herstellers der WaldviertlerSchuhe lauten ja: „Scheiß di ned
au!“ und „Sei ned deppert!“.
WEIBEL (lacht): Ja, und das erinnert mich an ein Buch. Früher
war mein liebster Buchtitel „Der
Mann ohne Eigenschaften“ von
Robert Musil. Aber fast noch besser ist nun jener des im Vorjahr
verstorbenen Physikers Heinz
Oberhummer: „Das Universum
ist eine Scheißgegend“. Der fasst
so schön die österreichische Seele zusammen: Nicht nur Ottakring ist beschissen, nicht nur
Wien, nein, gleich das ganze Universum. In dieser alles durchdringenden Depression darf man
sich natürlich nicht erwarten,
dass sich was ändert, geschweige
denn, dass jemand was ändert.
Alles soll bleiben, wie es ist, weil
das, was ist, sicher immer noch
besser ist als das, was kommt.
Wie lange bleiben Sie eigentlich
als Leiter des Zentrums für Kunst
und Medientechnologie noch in
Karlsruhe?
WEIBEL: Mein Vertrag läuft noch
bis 2019, dann bin ich 20 Jahre
hier und 75 Jahre alt. Ich habe ja
bewusst einen Werkvertrag, weil
ich ein freier Mann sein will, eigenständig in den Entscheidungen. Wenn ich 2019 gehe, wird
mir aber sicher nicht fad. Nachdem ich mich so lange in den
Dienst der Kultur gestellt und für
andere gearbeitet habe, freue ich
mich schon sehr darauf, mich
wieder ganz auf meine eigene
Kunst konzentrieren zu können.
Die Sehnsucht danach ist also
stark geblieben?
WEIBEL: Natürlich. Zuletzt hatte
ich unter anderem eine Ausstellung in Moskau. Wenn ich parallel beschäftigt bin, ist der Preis
dafür allerdings schon hoch: Bis
22 Uhr Aufgaben für das ZKM erledigen, danach bis tief in die
Nacht hinein an eigenen Texten,
Büchern et cetera arbeiten.
Kein Wunder also, dass ich im
Kiosk des ZKM einen Bleistift fand
mit Ihrem Spruch: „Kunst kennt
kein Wochenende.“ Sind Sie der
Mann, der niemals schläft?
WEIBEL: Der Titel einer US-Serie,
die gerade in einem deutschen
Fernsehsender lief, passt noch
besser zu mir: „Der schnellste
Mann der Welt“ (schmunzelt).
INTERVIEW: MICHAEL TSCHIDA
Gastfreundschaft
GRAZ.
„Gastfreundschaft“
lautete das Motto von
„Psalm“, und 3657 Gäste genossen sie beim Osterfestival,
das an sieben Abenden in der
List-Halle neben Ohren- auch
Gaumenfreuden bot.
Hinweis
NACHRUF auf die mit 65 Jahren verstorbene Stararchitektin Zaha Hadid auf Seite 14.
BEZAHLTE ANZEIGE
PRÄSENTIERT
Foto: Ron Amstutz, Courtesy Matthew
Marks Gallery
GRAZ. „In den beiden Treffen, die
wir miteinander verbringen,
versuchen wir uns gemeinsam
daran, die Welt zu entziffern: die
Wellen, den Wind, die Wüste,
den Wald, den Mond, das Eis,
den Menschen, die Liebe.“ So
beschreibt der Grazer Lyriker
Christoph Szalay seine literarische Begegnung mit Hans Dröbl,
Dichter und Künstler im Atelier
Randkunst der Lebenshilfe.
„Das Eis ist weich und hart / In
der Liebe zerrinnt das Eis ab und
zu“, hat dieser gedichtet.
Die Kooperation der beiden
ist eines von sechs Beispielen für
künstlerische Rendezvous steirischer Autoren mit Menschen
mit Behinderung. Die Ergebnisse dieser bereits zweiten
„Schreibwerkstatt: Lebenswege“
wurden am Mittwoch bei den
Minoriten in Graz präsentiert –
und sind nun in der Literaturzeitschrift „Lichtungen“ nachzulesen. Diese glänzt auch mit einem Romanauszug von Drago
Jančar („Mai, November“); in
der Erzählung „Hirsch heißt der
Mann“ folgt Cornelia Travnicek
einem Jäger in den Wald, Rezka
Kanzian setzt sich in einer Gedichtserie der Stille auf die Spur.
Wie immer spannend ist der
Schwerpunkt: neue Lyrik aus
Australien, erstellt von PaulHenri Campbell, der die Dichter
des Kontinents als „Virtuosen
der Elegie“ in Szene setzt.
UB
Lichtungen. Zeitschrift für Literatur,
Kunst und Zeitkritik. Ausgabe Nr. 145,
152 Seiten, 10 Euro. www.lichtungen.at
Der schnellste
Mann der Welt
EVANSTON. Karina Canellakis,
die im Vorjahr bei der styriarte bei zwei Dvořák-Abenden
für Nikolaus Harnoncourt
eingesprungen ist, erhält den
renommierten Solti Award
(25.000 Dollar), benannt nach
dem 1997 verstorbenen Dirigenten Georg Solti. Die 35jährige Amerikanerin, derzeit
Assistant Conductor des Dallas Symphony Orchestra,
wird heuer bei der styriarte
jeweils in Kombination Beethovens Symphonien Nummer 1 und 8 sowie 2 und 7 dirigieren. www.styriarte.com
Terry Matterhorn,
Winters, ClocksFoto:
and Clouds (6),
Homberger,
K.Teicher
Stüwe
2012, R.
Collection
of Hendel
Imposante Kooperation in
den neuen „Lichtungen“.
I N T E RV I E W
führung
Das Kabinett des
Malers
Terry Winters im
Dialog mit der Natur
Freitag, 01.04., 15:30 Uhr
Sonntag, 03.04., 15:30 Uhr
Im Sehen und Vergleichen
seiner Werke mit Objekten
aus den naturkundlichen
Sammlungen öffnen sich
viele Ebenen, um über Natur,
Menschsein, Existenz und
Kosmos nachzudenken.
Kunsthaus Graz
Lendkai 1, 8020 Graz
www.kunsthausgraz.at