Essay 3

Hannas Schuldfrage Wer hat die Schuld? Ist überhaupt jemand ohne Schuld? Macht man sich nicht schon schuldig, wenn man das allerkleinste Zahnrad in einer Maschinerie ist, die 6 Millionen Menschen ermordet hat? Diese Frage lastet auf den Schultern einer Nation. Sicher ist, dass sich die Figur Hanna Schmitz in Bernhard Schlinks Roman „Der Vorleser“ schuldig gemacht hatte. Sie hatte sich schuldig gemacht, als sie sich freiwillig als Aufseherin bei der SS meldete. Niemand hatte sie dazu gezwungen. Als sie die Gefangenen aus dem Lager in der Nähe von Krakau auf einem Todesmarsch gen Westen trieb, lud sie Schuld auf sich. Sie hätte sich verweigern können und wäre dann vermutlich als Aufseherin zurück nach Auschwitz geschickt worden. Aber auch da wäre sie für den Tod von unschuldigen Menschen verantwortlich gewesen. Als Hanna die Frauen in der, von einer Bombe getroffenen, Kirche verbrennen ließ, ist sie daran schuld. Natürlich nicht alleine, aber sie hat nichts zur Rettung der Gefangenen unternommen. Man kann ihr vorwerfen, dass sie selbst angesichts der schreienden, verbrennenden und sterbenden Frauen keine menschliche Regung zeigte. Hanna sagte während des KZ‐Prozess wortwörtlich, dass es ihre Aufgabe war, die Frauen zu bewachen. So stellte sie ihren Auftrag als Aufseherin über die Menschlichkeit und öffnete die Türen der Kirche nicht . Sie war in dieser Situation feige, obrigkeitshörig, unreflektiert und am Tod der Frauen definitiv schuld. Hannas Schuldfrage ist wie eine „Schachmatt‐Situation“. Egal, was sie im Prozess gesagt oder auch nicht gesagt hätte, es hätte sie vor ihrem Urteil nicht gerettet. Was man ihr aber nicht vorwerfen kann, ist, dass sie weder Schreiben noch Lesen kann. Da sie das aber im Gerichtssaal nicht sagte, hatte sie sich, meiner Meinung nach, noch eine andere Form der Schuld aufgeladen. Sie nahm die Schuld der anderen Aufseherinnen auf sich. Hanna gab zu, dass sie den Bericht über diese Nacht, als die Kirche niederbrannte, geschrieben hatte. Damit sagte sie, dass sie ganz allein dafür verantwortlich war, dass die Türen der Kirche nicht geöffnet wurden. Dabei konnte sie ihn doch gar nicht geschrieben haben. Alles nur aus dem Grund, weil es ihr peinlich war, zugeben zu müssen, dass sie nie Lesen und Schreiben konnte!? Es gibt in meinen Augen noch eine dritte Art von Schuld. Diese hat zwar niemand auf sich geladen und trotzdem hätte sie für Hanna existieren können. Wenn sie nämlich die Türen der Kirche geöffnet hätte und die Frauen mit dem Leben davon gekommen wären, hätten die anderen Aufseherinnen genauso mit dem Finger auf Hanna gezeigt, wie in der Frage des Berichtes. Sie hätte Rechenschaft vor der SS‐Obrigkeit ablegen müssen. In deren Augen wäre Hanna dann daran schuld gewesen, dass die Frauen ihrer Vernichtung und Auslöschung durch das NS‐Regime entgangen sind. Hanna lud im Laufe der Zeit immer mehr Schuld auf sich. Begonnen mit der Entscheidung, dass sie sich freiwillig als Aufseherin bei der SS gemeldet hat. Damit hat sie dieses menschenverachtende System der Nationalsozialisten direkt unterstützt. Für diese Schuld gibt es keine Entschuldigung und keine Strafe, die angemessen genug wäre, um diese Taten ungeschehen machen zu können. Rebekka‐Elisabeth Reuter 10/4