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Flüchtlinge
Sonntag, 7. Februar 2016 / Nr. 6 Zentralschweiz am Sonntag
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Plötzlich fehlt von ihnen jede Spur
Ein Flüchtlingsjunge ist im Hafen von Piräus in der Nähe von Athen angekommen. Die Aufnahme stammt vom 23. Januar dieses Jahres.
EPA/Yannia Kolesidis
ASYL Die Schweiz ist keine
Ausnahme: Auch hier verschwinden jugendliche Migranten. Politiker fordern nun
bessere Kontrollen.
SERMÎN FAKI
[email protected]
Am vergangenen Sonntag sorgte der
Stabschef der EU-Polizeibehörde Europol für Aufregung: In Europa seien in
den letzten zwei Jahren mindestens
10 000 unbegleitete Flüchtlingskinder
verschwunden, so Brian Donald gegenüber der britischen Zeitung «The Observer».
Die europäische Polizeibehörde befürchtet, ein Teil könnte Opfer von
Menschenhändlern geworden sein.
Nach Donalds Angaben gibt es inzwischen eine regelrechte paneuropäische
«kriminelle Infrastruktur» zur Ausbeutung von Flüchtlingen. Menschenhändler hätten sich beispielsweise darauf
spezialisiert, illegale Einwanderer als
Arbeitssklaven oder Prostituierte zu
missbrauchen.
Die Kinder und Jugendlichen ver-
schwinden nicht nur auf dem Weg nach
Nord- und Westeuropa. Das deutsche
Bundeskriminalamt nannte diese Woche
die Zahl von 4700 allein für Deutschland,
die italienischen Behörden eine ähnlich
hohe Zahl. Selbst in Schweden lassen
sich 1000 Kinder und Jugendliche nicht
auffinden.
keine guten Zahlen gibt.» Dass Kinder
in der Schweiz Opfer von Ausbeutung
werden, wie das der Europol-Chef für
Europa annimmt, glaubt sie hingegen
nicht. «Es ist nicht auszuschliessen, aber
ist sicher ein Randphänomen», so Poehl
(siehe Artikel unten).
Zweifel an den Zahlen des Bundes
Wie Zahlen aus Bern zeigen, dürfte
der grösste Teil der verschwundenen
Jugendlichen in sicheren Händen sein.
Von den 500 UMA, die dem Kanton im
letzten Jahr zugewiesen wurden, sind 4
verschwunden. Davon ist nur einer
wirklich abgetaucht. Ein Geschwisterpaar reiste nach Deutschland, wo sich
dessen Eltern unterdessen befanden,
wie Katrin Pfrunder vom Zentrum Bäregg sagt, welches für alle UMA im
Kanton zuständig ist. Die zuständigen
Vertrauenspersonen hatten dies bereits
vermutet und liessen sich von den
deutschen Behörden bestätigen, dass
die Kinder dort angekommen sind. Ein
dritter Jugendlicher ist gemäss Pfrunder
auf eigene Faust wieder nach Italien
gegangen, wo er sich jetzt in einer Einrichtung für jugendliche Asylsuchende
befindet. Bei dem einen untergetauchten
Jugendlichen geht das Zentrum Bäregg
von einem kriminellen Hintergrund aus.
«Zusätzlich zur polizeilichen Vermisst-
Und in der Schweiz? Recherchen der
«Zentralschweiz am Sonntag» ergeben,
dass 2015 total 83 unbegleitete minderjährige Asylsuchende (sogenannte
UMA) im Alter zwischen 13 und 17 Jahren verschwunden oder abgetaucht
sind. Dies belegen Zahlen aus dem
zentralen Migrationsinformationssystem (Zemis) des Staatssekretariats für
Migration (SEM). Wie die Sendung
«10 vor 10» am Freitag publik machte,
sind in den letzten vier Jahren 240 Jugendliche verschwunden.
Diese Zahlen überzeugen nicht alle.
«Wie die Erfahrungen mit Sans-Papiers
zeigen, werden manche Migranten hier
gar nicht registriert», sagt Nathalie
Poehl von der Beobachtungsstelle für
Asyl- und Ausländerrecht. Sie hält die
Zahlen, die das SEM angibt, für zu tief.
«Dass Kinder und Jugendliche verschwinden, ist nicht neu. Allerdings
kennen wir das Ausmass nicht, weil es
Bern kann die meisten verfolgen
meldung haben wir eine Gefährdungsmeldung bei der Kinderschutzbehörde
Kesb gemacht. Diese hat in Abwesenheit
des Jugendlichen eine Beistandschaft
errichtet, sodass Schutzmassnahmen
verfügt werden könnten, sollte er wieder
auftauchen», so Pfrunder.
Das Problem ist: Nicht alle Kantone
wissen so genau, wo sich die verschwundenen Kinder aufhalten. Zürich und
Luzern sagen beispielsweise, dass ihnen
kein solcher Fall bekannt sei – was bei
83 Verschwundenen schweizweit zumindest erstaunt. Der Kanton Aargau
bestätigt, dass die Fälle pro Jahr «an
einer Hand abzuzählen sind». Gelte ein
Kind einen Monat nach seinem Verschwinden immer noch als vermisst,
ginge eine entsprechende Meldung an
die Migrationsbehörden, das Staatssekretariat für Migration prüfe dann die
Abschreibung des Asylgesuches, und das
Dossier werde geschlossen.
Zahlen schrecken Politiker auf
Für Flüchtlingsorganisationen ist das
zu wenig. «Mit dem Untertauchen fallen
die Jugendlichen in einen rechtlosen
Raum und sind potenziell jeder Art von
Ausbeutung ausgesetzt», sagt Stefan Frey
von der Flüchtlingshilfe. Seine Forderung ist klar: «Die Behörden müssen
die Augen offen halten, wenn wieder
ein Jugendlicher verschwindet, und besser recherchieren. Wie Bern zeigt, ist es
in vielen Fällen durchaus möglich, herauszufinden, ob sich die Jugendlichen
in Sicherheit befinden.»
Die Zahlen haben auch die Politik
aufgeschreckt. «Es ist wichtig, dass die
Behörden sensibilisiert werden», findet
beispielsweise die St. Galler SP-Nationalrätin Claudia Friedl. «Das Verschwinden
von Kindern darf nicht einfach eine Akte
sein, die geschlossen werden kann»,
kritisiert sie und fordert, dass Bund und
Kantone diese Fälle weiterverfolgen.
Auch die Aargauer CVP-Nationalrätin
Ruth Humbel ist alarmiert und fordert
bessere Kontrollen. «Dass unterschiedliche Regimes gelten, sobald die Asylsuchenden auf die Kantone verteilt sind,
ist unbefriedigend», sagt sie. Eine gewisse Standardisierung sei wünschenswert und werde mit dem neuen Asylgesetz angestrebt. «Die Verfolgbarkeit
von registrierten Asylsuchenden muss
gewährleistet sein.»
Für den Bündner SVP-Nationalrat
Heinz Brand ist das illusorisch – und
nur ein weiterer Beweis, dass das
Dublin-System nicht funktioniert:
«Sonst könnte gar niemand verschwinden, weil er an seinen Fingerabdrücken
überall in Europa identifiziert werden
würde.»
Gefahren lauern auf der Balkan-Route – und in der Schweiz
KRIMINALITÄT Kinder und Jugendliche, die allein auf der Flucht sind,
sind besonders gefährdet, Opfer von
Ausbeutung zu werden, warnte Europol
diese Woche. Eine Einschätzung, mit
der die EU-Polizeibehörde nicht allein
steht. Im Gegenteil wird sie von vielen
Hilfsorganisationen, die im Kinderschutz tätig sind, geteilt. «Wir wissen
von Kindern, die bereits in Libyen
Zwangsarbeit verrichten mussten, um
die Flucht zu finanzieren», sagt Sarah
Frattaroli von der Organisation Save the
Children. «So kommen sie schon durch
Menschenhändler nach Europa, etwa
nach Italien, wo sie auf Schwarzmärkten arbeiten müssen oder in der Prostitution landen.»
Kinderhandel ist kein neues Phänomen, das erst mit der Flüchtlingswelle
aufgekommen ist. Dennoch profitierten
Kriminelle von der aktuellen Überforderung der europäischen Staaten, sagt
Frattaroli. Dass die Fluchtroute über
den Balkan führe, vergrössere das Risiko noch zusätzlich: «In Regionen mit
einer Kriegsvergangenheit wie in ExJugoslawien können sich kriminelle
Strukturen besser herausbilden, weil
die Staatsgewalt fehlt.» Eine Auflösung
dieser Strukturen sei auch Jahre später
schwierig.
Politik in der Verantwortung
Gemäss dem Kinderhilfswerk Unicef
trägt jedoch auch die Politik dazu bei,
dass Flüchtlingskinder in Gefahr geraten. «Die restriktive Grenzpolitik und
die ständigen Verschiebungen der
Route erhöhen das Risiko, dass Kinder,
die von ihren Eltern getrennt werden
oder allein unterwegs sind, in die
Fänge von Kinderhändlern und Ausbeutern gelangen», sagt Sprecherin
Charlotte Schweizer. Unicef fordert
daher ein Monitoring-System, mit dem
die Kinder besser geschützt werden
können. Das Hilfswerk selber bietet
Familien, die auf der Flucht getrennt
worden sind, Hilfe beim Auffinden der
Verwandten an.
Das Risiko, dass Flüchtlingskinder in
der Schweiz Opfer von Ausbeutung
werden könnten, hält auch Unicef für
gering. «Kinder, die über ein reguläres
Asylverfahren in die Schweiz kommen,
sind einem kleineren Risiko ausgesetzt», sagt Schweizer. Auch das Bundesamt für Polizei hat keine Anzeichen
dafür. Allerdings gibt eine Sprecherin
zu bedenken, dass das Phänomen noch
jung ist und man daher erst verzögert
entsprechende Hinweise erhalten
könnte. Tatsächlich wurden im Zentrum
Bäregg, das im Kanton Bern für die
Betreuung von minderjährigen Asylsuchenden zuständig ist, bei einzelnen
Kindern und Jugendlichen Auffälligkeiten festgestellt, denen nachgegangen
wurde, um Risiken im Kontext von
Menschenhandel auszuschliessen, wie
Sprecherin Katrin Pfrunder sagt.
Anfragen von Drogenhändlern
Dennoch sind die Jugendlichen auch
in der Schweiz Risiken ausgesetzt. «Wir
wissen von den Jugendlichen, dass es
in den Empfangszentren zum Teil Rekrutierungsversuche von Drogenhändlern und anderen Kriminellen gibt»,
sagt Katrin Pfrunder vom Zentrum
Bäregg in Bern.
Von Drogenhandel unter den Augen
des Bundes hat kürzlich auch ein
Undercover-Journalist in der «Sonntagszeitung» berichtet, der sich, getarnt
als Asylsuchender, ins Empfangszentrum Kreuzlingen im Kanton Thurgau
geschmuggelt hatte. Das für die Zentren zuständige Staatssekretariat für
Migration weiss davon nichts. «Uns
sind keine konkreten Vorfälle bekannt», so Sprecherin Léa Wertheimer.
«In einer solchen Situation würden die
Betreuungspersonen dem Jugendlichen raten, sich an die Polizei zu
wenden, und ihn dabei begleiten und
unterstützen.»
SERMÎN FAKI
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