Leseprobe 1

Als Marie am Sonntagmorgen die Augen öffnete,
stand ein Einhorn vor ihrem Bett. Es war etwa so
groß wie ein Reh, weiß und silbern, mit blauen Augen und einem Horn mitten auf der Stirn.
Marie schloss die Augen wieder und kuschelte sich
in ihr Kissen. Was für ein toller Traum!
»Entschuldigung?«
Marie fuhr hoch. Vor ihrem Bett stand noch immer
das Einhorn. Sie rieb sich die Augen, kratze sich an
der Nase, kniff sich in den Po und zog sich am Ohr.
Aber es gab keinen Zweifel: Da war ein Einhorn in
ihrem Zimmer.
»Entschuldigung«, wiederholte es. »Kannst du
mich sehen?«
Marie starrte das Einhorn an.
Das Einhorn starrte Marie an.
»Hallo? Siehst du mich?«, fragte das Einhorn und
tänzelte ein wenig hin und her, wie um ihre Aufmerksamkeit zu erregen.
»Ja, ich, also, ich sehe dich«, sagte Marie endlich.
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»Mist«, sagte das Einhorn, »jetzt bekomme ich bestimmt einen Mordsärger.«
Marie tat das Einhorn sofort leid. Mordsärger
kannte sie gut. Aber vielleicht konnte sie ja helfen?
»Wie heißt du denn?«, fragte sie vorsichtig.
»Pia«, sagte das Einhorn.
Pia? Marie überlegte. Ihr Schmuseeinhorn, das sie
zu Weihnachten von Oma geschenkt bekommen
hatte, dessen Mähne schon ganz verfitzt war und
das immer in ihrem Bett schlief – das hieß auch
Pia. Sie griff neben sich, doch da waren nur Olaf,
der Bär, Edward, der Esel und Lilly-Lisbeth, die
Puppe. Keine Pia. Nirgends.
Das konnte nur bedeuten: Pia war lebendig geworden!
»Ich habe es gewusst«, rief Marie und hopste auf
dem Bett herum. »Ich wusste, dass du etwas ganz
Besonderes bist!«
Pia wieherte leise und senkte den Kopf. »Wir Einhörner sind alle etwas ganz Besonderes.«
»Echt?« Marie hörte auf zu hopsen und sah das
Einhorn erstaunt an.
»Ja.« Pia schnaubte. »Aber wir dürfen nicht lebendig werden, also nicht, bevor wir groß sind und in
unserem Wald leben.«
»Oh!«, machte Marie.
»Nur, weißt du, es ist so furchtbar langweilig, ein
Stofftier zu sein.«
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»Das verstehe ich«, sagte Marie. »Aber kannst du
dich nicht einfach zurückverwandeln? Dann merkt
das vielleicht gar keiner ...«
»Schon.« Pia scharrte verlegen mit dem linken
Vorderhuf. »Aber ich hab den Zauberspruch vergessen!«
»Einen Zauberspruch?«, fragte Marie. »Sowas wie
Krötenbein und Echsenschleim
Karpfenstein und Erbsenkeim
ich will wieder Stofftier sein?«
Marie konnte ziemlich gut reimen und war stolz
darauf.
»Pfrr«, schnaubte Pia, »ich bin ein Einhorn, und du
kommst mir mit Krötenschleim?«
»Krötenbein«, sagte Marie, aber Pia schien das
auch nicht besser zu gefallen.
»Was machen wir denn jetzt?«, fragte Marie.
»Keine Ahnung«, sagte Pia.
»Vielleicht kann ich dir helfen?«
»Kennst du dich denn mit Einhörnern aus?«
»Ein bisschen«, sagte Marie stolz. »Meine Oma hat
ganz viele Bücher über Einhörner. Sie liest mir immer daraus vor. Warte ...«
Marie stieg aus dem Bett und ging sehr vorsichtig an Pia vorbei. Eigentlich hatte sie keine Angst
vor Tieren. Nicht vor Rehen, Pferden oder großen
Hunden, aber jetzt, hier, mitten in ihrem Zimmer
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war selbst ein junges Einhorn mehr als beeindruckend.
»Schau«, rief Marie und zog ein Buch aus dem
Regal, »das hat Oma mir geschenkt, wollen wir es
ansehen?«
»Gern«, sagte Pia.
Marie setzte sich an den Basteltisch und schlug das
Buch auf. Pia stieg geschickt über ein paar am Boden liegende Playmobilfiguren hinweg, stellte sich
neben Marie und sah neugierig in das Buch.
»Soll ich vorlesen?«, fragte Marie und Pia nickte.
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