Die Arbeit muss zum Leben passen

FACHTEIL
Arbeitswelt
Die Arbeit muss zum
Leben passen
Was sagen Arbeitnehmer über die Realität
ihres Berufsalltags? Die Arbeitnehmerstudie
„Kompass Neue Arbeitswelt“ von Xing hat
4000 Beschäftigte aller Berufsklassen dazu
befragt. Fazit: Es liegt noch viel im Argen
und ein übergreifender Dialog ist nötig, um
den Erwartungen gerecht zu werden.
as Thema „Arbeit“ ist ein gesellschaftsfähiges, es ist sogar Gegenstand abendfüllender Fernsehshows zur
besten Sendezeit. So hieß es erst kürzlich
bei Günther Jauch im Ersten: „Deutschlands Löhne - was ist unsere „Arbeit“
wert?“. Es wird dieser Tage viel diskutiert
über das Thema „Arbeit“. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat das
„Grünbuch Arbeiten 4.0“ vorgestellt, in
den Bestsellerlisten finden sich Bücher
wie „The Second Machine Age“, „Die NullGrenzkosten-Gesellschaft“ oder „Robots
will steal your jobs – but it’s ok“. Das Tempo, mit dem die Digitalisierung Gesellschaft und Wirtschaft durchdringt, wirft
Fragen und Ängste auf, die sich nur
gemeinsam lösen lassen.
Dass sich die Arbeitswelt in einem tiefgreifenden Wandel befindet, ist zunehmend bekannt. Das sagen nicht nur
wissenschaftliche Experten und Arbeitsmarktforscher. Das erleben immer mehr
Arbeitgeber und Arbeitnehmer Tag für
Tag. Die Digitalisierung lässt einerseits
Tätigkeiten verschwinden, ermöglicht aber
gleichsam neue Formen der Zusammen-
D
„
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arbeit. Der Begriff Fachkräftemangel ist
gerade für Arbeitgeber nicht erst seit kurzem bekannt. Die Situation sorgt in manchen Branchen dafür, dass Unternehmen
sich bei den Talenten bewerben, nicht
umgekehrt. Und: Ein vielfach festzustellender Wertewandel führt dazu, dass klassische Anreizsysteme wie Gehalt und Titel
verblassen und ihnen vermeintlich weiche Faktoren wie Arbeitsatmosphäre, Vereinbarkeit von Beruf und Familie oder zeitliche Flexibilität den Rang ablaufen.
Studie zeigt Wunsch nach
Flexibilität
Für die große Arbeitnehmerstudie „Kompass Neue Arbeitswelt“ hat das berufliche
Online-Netzwerk Xing im März und April
dieses Jahres die Sicht von 4000 Beschäftigten aller Berufsklassen auf die Realität
ihres Berufsalltags abgefragt. Durchgeführt wurde die Studie vom Meinungsforschungsinstitut Statista. Die beiden Hamburger Unternehmen wollten wissen, wie
deutsche Arbeitnehmer ihr Arbeitsleben
beurteilen und in welchem Maße die Ideale der „New Work“ bereits in ihrem Arbeits-
Laut „Kompass Neue Arbeitswelt“ zeichnet sich die deutsche Arbeitswelt in weiten Teilen nach wie vor durch eine
Struktur aus, die von hierarchischem Denken geprägt ist.
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alltag angekommen sind. Was ist den
Arbeitnehmern in Deutschland wichtiger,
Selbstbestimmung oder Sicherheit? Welchen Stellenwert hat die Arbeitszeit im
Gegensatz zum Arbeitsergebnis? Haben
Berufstätige die Möglichkeit, Familie und
Beruf unter einen Hut zu bekommen? Wie
erleben sie Führung? Und für wie sinnvoll
halten sie ihre Tätigkeit? Das Ergebnis: Die
Ideale des „New Work“ sind in vielen Unternehmen offenbar noch nicht angekommen.
Arbeitgeber in der Mehrzahl
nicht flexibel
Gerade beim Thema „Flexibilität“ klaffen
Wunsch und Wirklichkeit noch stark auseinander. Nahezu jeder zweite Arbeitnehmer (45 Prozent) gibt an, dass sein Arbeitgeber zeitliche Flexibilität auch über die
vertraglich vereinbarte Arbeitszeit hinaus
erwartet. Gleichsam sagt etwas mehr als die
Hälfte (52 Prozent), dass man seine tägliche Arbeitszeit nicht frei gestalten kann.
Jeder Vierte (26 Prozent) gab gar an, der
Arbeitgeber räume keine Freiheiten ein,
um auf private Umstände wie Kinderbetreuung oder Altenpflege schnell und flexibel reagieren zu können. Ein ähnlich
gemischtes Bild zeichnen die Befragten
beim Thema Auszeiten: So konnte nur die
Hälfte derjenigen, die eine längere Auszeit, zum Beispiel ein Sabbatical oder unbe-
„
Dass sich die Arbeitswelt in einem
tiefgreifenden Wandel befindet,
erleben immer mehr Arbeitgeber und
Arbeitnehmer Tag für Tag.
zahlten Urlaub, nehmen wollten, diese in vollem Umfang nehmen.
14 Prozent sagen sogar, dass ihr Arbeitgeber ihnen die Auszeit
gar nicht gewährt hat. Bei der anderen Hälfte der Arbeitgeber war
das allerdings kein Problem.
Die Studienergebnisse zeigen, dass Sicherheit ein Grundbedürfnis der deutschen Arbeitnehmer ist. Besonders wichtig ist dieser Aspekt den Berufstätigen, die eine pessimistische Einschätzung der eigenen Attraktivität für den Arbeitsmarkt haben. Mit
Blick auf ihre finanzielle Situation sagt annähernd die Hälfte der
Arbeitnehmer (46 Prozent), dass sie von ihrem Gehalt gut leben
kann und vier von zehn Befragten halten ihr Gehalt für angemessen. Allerdings glaubt nicht einmal jeder Dritte (29 Prozent),
vom eigenen Gehalt allein eine Familie ernähren zu können.
Bei den Frauen liegt dieser Wert sogar nur bei 16 Prozent. Die
Mehrheit der Befragten arbeitet mindestens 40 Stunden pro
Woche (53 Prozent). Befragt nach ihrer Wunscharbeitszeit würde die Mehrzahl gerne etwa fünf Stunden pro Woche weniger
arbeiten.
Diversität und Querdenkertum wichtig
Ein besonderes Augenmerk wirft die Studie auf die Gruppe der
sogenannten „Wissensarbeiter“, deren Innovationskraft Unternehmen im globalen Wettbewerb den entscheidenden Vorteil
verschafft. Zu dieser Gruppe zählt die Studie „Kompass Neue
Arbeitswelt“ Arbeitnehmer mit akademischem Abschluss, einem
überdurchschnittlichen Verdienst (von 3000 Euro brutto und
mehr), die zum Beispiel in der Kreativwirtschaft, aber auch in
der höheren Verwaltung oder Wissenschaft arbeiten. Dieses Segment ist anspruchsvoller und progressiver als die restlichen
Befragten, was Arbeitsbedingungen und -organisation angeht.
Während insgesamt 44 Prozent der Arbeitnehmer auf Flexibilität in der Arbeitsgestaltung zugunsten eines höheren Gehalts
verzichten würden, käme dies für Wissensarbeiter gar nicht in
Frage. Autonomes Arbeiten und eine flexible Gestaltung ihrer
Arbeit sind ihnen überdurchschnittlich wichtig, das Sicherheitsbedürfnis ist im Gegenzug deutlich weniger ausgeprägt. Betrachtet man die Arbeitsatmosphäre und Erfüllung durch die Arbeit,
Themenportal „Spielraum“
Info
Mit dem Themenportal „Spielraum“ (spielraum.xing.com) verfügt Xing
über einen großen Blog zum Thema „Karriere und Beruf in Deutschland“.
Die Studie ist in ihrer Gesamtheit auch auf dem Portal frei abrufbar.
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FACHTEIL
Arbeitswelt
Abbildung
Quelle: Statista, 2015
Was Beschäftigte in Deutschland bewegt
Dabei ist die Innovationsfähigkeit abhängig von der Art und Weise, wie wir zusammenarbeiten. Ideale Arbeitsbedingungen gibt
es nicht. Denn die Komplexität der individuellen Lebensentwürfe ist zu hoch als dass wir sie schematisch abbilden und strukturieren könnten. Wir brauchen deshalb in den Unternehmen mehr
Demokratie, mehr Transparenz, mehr Mitbestimmung - und das
jenseits althergebrachter Strukturen. Menschen sind verschieden,
Unternehmen sind verschieden. Es ist wichtig, diese Verschiedenheit zu fördern und nicht zu nivellieren. Denn Diversität und
Querdenkertum wachsen auf diesem Nährboden und sind wichtige Treiber für die Innovationsfähigkeit von Unternehmen. Die
Ideen, Einfälle und Geistesblitze der Mitarbeiter lassen sich nur
erschließen, wenn es eine offene Kultur gibt. Wenn es Freiräume
gibt, in denen die Ideen geäußert werden können. Wenn Menschen
sagen dürfen, was sie denken. Wenn sie Auszeiten nehmen können, den Kopf freihaben von Problemen ihres Lebens außerhalb
des Büros. Wenn es im Unternehmen die Bereitschaft gibt, Dinge in Frage zu stellen und zu ändern.
Anstoß eines übergreifenden Dialogs nötig
Credo der Arbeitnehmerstudie „Kompass Neue Arbeitswelt“:
Die Arbeit muss zum Leben passen – nicht das Leben zur Arbeit.
verfestigt sich dieses Bild. Zwar sagt insgesamt jeder Dritte,
dass eine positive Arbeitsatmosphäre ein niedrigeres Gehalt
rechtfertigen würde, die Wissensarbeiter sind jedoch tendenziell
stärker dazu bereit, finanzielle Einbußen in Kauf zu nehmen, wenn
die Arbeitsatmosphäre stimmt (39 versus 32 Prozent gesamt)
beziehungsweise die Arbeit sie ausfüllt (35 versus 29 Prozent
gesamt). Außerdem legen sie überproportional viel Wert darauf,
dass die Produkte oder Leistungen des Arbeitgebers zum Gemeinwohl beitragen und sie sich mit dem Unternehmen identifizieren können.
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Die Arbeit muss zum Leben passen - nicht das Leben zur Arbeit.
Doch was bedeutet das für zukünftige Beschäftigungsmodelle? Was
können Arbeitgeber tun, um den Anforderungen und Bedürfnissen ihrer Mitarbeiter erfolgreich zu begegnen und gleichzeitig wettbewerbsfähig zu bleiben?
Ein entscheidender Aspekt sind attraktive, innovative und neuartige Arbeitsbedingungen sowie der Abschied von starren Strukturen. Laut „Kompass Neue Arbeitswelt“ zeichnet sich die deutsche Arbeitswelt in weiten Teilen nach wie vor durch eine Struktur
aus, die von hierarchischem Denken geprägt ist. So sagen zwei
von drei Befragten (66 Prozent), dass der offizielle Weg zwingend
eingehalten werden muss und allenfalls bei Kleinigkeiten schon
mal eine Ausnahme gemacht wird.
Die nötigen Veränderungen in den Köpfen können nur im Dialog
erreicht werden. Im Dialog der Wissenschaft, die über das Thema akademisch nachdenkt. Im Dialog mit den Medien, die darüber berichten und so eine gesellschaftliche Debatte anstoßen können. Im Dialog mit der Politik, die für zentrale Fragen der
Arbeitswelt Lösungen und Perspektiven erarbeitet. Im Dialog mit
Arbeitgebern, Geschäftsführern, Selbstständigen und HR-Verantwortlichen, die diese Konzepte umsetzen. Und natürlich vor allem
mit denen, die nach dem Job suchen, der wirklich zu ihrem Leben
passt – den Berufstätigen.
Autorin
Yee Wah Tsoi,
Manager Corporate Communications, Xing AG, Hamburg,
[email protected]