Als PDF lesen… - Marion Brüning

FÜR BIGGI
Biggi hieß eigentlich Birgit und hatte die schönsten Haare, die man sich als Frau
nur wünschen kann. Blondes Haar wird oft mit der Farbe eines Weizenfeldes
verglichen. Bei Biggi traf das wirklich zu. Wenn sie ging, wippte ihr langes Haar, das
sich an den letzten zwanzig Zentimetern schillerlockenartig ringelte, etwa auf der
Höhe ihres Pos, auf und ab, als würden die goldenen Ähren sachte im Wind
tanzen. In der Chemiestunde saß ich hinter Biggi, und immer wenn ich auf ihr Haar
blickte, träumte ich vom Sommer. Ich meinte die Wärme und einen leichten,
angenehmen Wind auf meiner Haut zu spüren und dachte an Jannes.
Kurz bevor Biggi krank wurde, flüsterte sie mir ein Geheimnis ins Ohr und erklärte
mir genau das, was eigentlich ich ihr seit Wochen erzählen wollte.
Wir hatten uns beide in Jannes verliebt!
Natürlich interessierte er sich für Biggi und nicht für mich, und so tat ich es: Ich
schickte diese schreckliche Affirmation ins Universum und löste damit das
Schlimmste aus, das ich mir selber hatte antun können.
Meine Freundin Biggi starb keine zehn Monate später.
„Weißt du was?“
Eigentlich wollte ich es gar nicht hören.
„Ich bin in Jannes verliebt.“ Biggi kicherte und sah mich etwas verlegen an.
Ich stotterte: „Ja..nn..es?“ Und genau in diesem Moment nahm sie das Tempotuch
von ihrem Gesicht. Ein Rinnsal Blut schoss aus ihrer Nase und kleckste zu Boden.
Mit viel Fantasie konnte man den Blutfleck als Kleeblatt betrachten.
Davon war jedenfalls Biggi überzeugt.
„Ich wünsche mir, dass Jannes mich küsst!“, sagte sie theatralisch durch ihren vom
Tuch halb verdeckten Mund. Ich starrte sie zähneknirschend an und wünschte mir
etwas ganz anderes. Sicher hoffte Biggi, ich würde ihr viel Glück mit Jannes
wünschen.
Aber sie irrte sich.
Total!
Meine Mutter hatte mir das mit diesen Wunschaussendungen erklärt. Sie hatte in
den letzten Wochen alle Bücher darüber gelesen, die sie hatte finden können. Und
wenn meine Mutter etwas tat, dann tat sie es richtig. Also hörte ich ihr aufmerksam
zu und beobachtete, wie sich bei ihr vieles verwirklichte. Von ihrem neuen Mantel
über eine eigentlich völlig unnütze Küchenmaschine bis hin zu einem Kleinauto,
das mein Vater ihr eines Tages völlig überraschend vor die Tür stellte.
„Du kannst alles haben, was du nur willst, meine Liebe. Nichts ist unmöglich. Du
musst deinen Wunsch nur mit einem starken emotionalen Gefühl aussprechen, und
das Universum nimmt die Schwingungen auf. Dein Unterbewusstsein wird sofort
alles daransetzen, deinen Wunsch zu erfüllen. Denk nicht weiter darüber nach, wie
deine Affirmation in Erfüllung gehen könnte. Das klappt von alleine. Stell dir einfach
das Resultat vor und gehe in Vorfreude.“
Vorfreude?
Bei Gott, ich schwöre! Die hatte ich dabei nicht empfunden.
„Kommst du heute zum Sport?“, fragte ich Biggi und versuchte, Jannes' Blick zu
ignorieren. Er stand am Schultor und schmachtete Biggi an.
„Nein, ich muss zum Arzt.“
„Zum Arzt?“
„Ja, wegen meiner ewigen Nasenbluterei. Hier!“, sie zog ihren Pulloverärmel hoch
und entblößte ein riesiges Hämatom in ihrer Armbeuge.
„Sie haben mir gestern schon Blut abgenommen!“
„Wow!“ Mir war auch schon ein paar Mal Blut abgezapft worden, aber solch eine
Einblutung hatte ich danach noch nie gehabt.
„Die Sprechstundenhilfe versteht wohl nicht viel von ihrem Handwerk?“
Biggi zog ihren Ärmel wieder runter, blieb neben Jannes stehen, und von diesem
Moment an war ich für sie Luft.
Unsichtbar. Nach nichts schmeckende Luft.
Wer will mir da zum Vorwurf machen, dass ich meinen Kopf störrisch in den Nacken
warf, an den beiden vorbeistiefelte und nicht weiter darüber nachdachte, als es
einen Tag später hieß, Biggi sei krank und würde vorläufig nicht in die Schule
kommen?
Zum ersten Mal durfte ich Biggi nach ihrer ersten Chemotherapie im Krankenhaus
besuchen. Sie lag blass und elend in einem für sie viel zu großen Krankenhausbett.
Ihr sonst gebräuntes Gesicht hatte die Farbe der sterilen, weißen Wand hinter ihr
angenommen und sie klagte über starke Übelkeit.
„Eigentlich müsste ich die Chemo gar nicht im Krankenhaus machen, aber meine
Mutter bekommt im Moment nicht frei.“
Dann würgte sie in die Pappschale, die ich ihr unter den Mund hielt.
„Vielleicht könntest du einfach zu uns kommen und die Chemo doch ambulant
machen. Meine Mutter geht nicht arbeiten. Sie könnte auf dich aufpassen.“
„Das ist furchtbar nett von dir!“, sagte Biggi und hatte keinen blassen Schimmer
davon, wie ernst es mir mit dem Angebot war.
Sie würgte wieder, und vor mir tauchte dieses hässliche Wort auf, das für ihren
elenden Zustand verantwortlich war.
Acht, eigentlich vollkommen harmlose Buchstaben, die aber als Ganzes ein
komplettes Leben auslöschen konnten:
Leukämie!
Ich besuchte Biggi jeden Tag. Bevor ich abends ging, hatte ich es mir zur
Gewohnheit gemacht, mich zu ihr ins Bett zu legen. Wir lagen wie zwei Löffel
hintereinander und ich hielt sie eng umschlungen. Meist war sie zu schwach, um
ihre Hände in meine zu legen.
Und an einem Abend geschah es dann:
Mein schrecklicher Wunsch ging in Erfüllung.
Biggis Haare kitzelten mich an der Nase, und als ich sie zur Seite schieben wollte,
hielt ich plötzlich ein ganzes Büschel ihrer Haarpracht in meiner Hand. Ich wollte
nicht, dass Biggi es sah. Also versuchte ich, die Haare mit einer Hand zu einem
Knäuel zu formen, und ließ es in meiner Hosentasche verschwinden.
Ich begann lautlos zu weinen. Selbst dem Gewicht meiner Tränen hielten die
Haarwurzeln nicht stand. Das genässte Haar rieselte einfach von Biggis Kopf, und
sie drehte sich zu mir um.
„Rasierst du mir die Haare ab? Bitte!“, bettelte sie und bewirkte damit, dass ich
nach ihrer immer griffbereiten Pappschale langte und mich laut würgend übergab.
Unser Verstand unterscheidet nicht danach, ob wir einen positiven oder einen
negativen Wunsch aussenden. Das Unterbewusstsein reagiert immer.
Mum?
Das hast du mir vergessen zu erklären.
Ich schwöre: Das wusste ich nicht.
Haare wachsen etwa einen Zentimeter im Monat. Mit diesem Bewusstsein zog ich
das Knäuel aus meiner Hosentasche und versuchte, es zu entwirren. Nach langem
Fummeln hatte ich ein einzelnes Haar befreit und legte es auf unseren schwarzen
Esstisch. Ich nahm das Maßband zur Hand. Wenn man die Locke ließ, hatte es
eine Länge von zweiundsechzig Zentimetern. Langgezogen sogar etwas über
achtzig Zentimeter. Ich legte meinen Kopf auf die Tischplatte und weinte.
Es würde noch Jahre dauern, bis der von mir ausgesandte Schaden ausgemerzt
wäre.
Auch nach der fünften Chemotherapie besserte sich Biggis Zustand nicht. Im
Gegenteil. Eine Stammzellentransplantation sollte ihr helfen. Aber es gab im
Datenregister keinen passenden Spender für sie.
Ein Onkel von mir arbeitete als Geschäftsführer in einem Unternehmen mit über
fünfhundert Angestellten.
Meine Mutter saß neben mir und diskutierte mit ihm, beschimpfte ihn sogar und
redete sich um Kopf und Kragen.
„Wie soll ich das machen?“, fragte mein Onkel.
„Dir wird etwas einfallen!“, sagte sie trotzig, erhob sich aus seinem Bürostuhl und
zog mich hinter sich her.
„Warum ich?“, rief er verzweifelt.
„Weil ich es mir wünsche und du es kannst!“, sagte meine Mutter und zog mit mir
ab.
Mit der nächsten Gehaltsabrechnung bekamen alle Mitarbeiter eine Einladung zur
Stammzellentypisierung. Da jede Typisierung an die fünfzig Euro kostete, hatte sein
Chef eine immense Summe zur Verfügung gestellt, damit die Deutsche
Knochenspenderdatei die Kosten nicht allein tragen musste.
Vierhundertundzwanzig Menschen kamen, um zu helfen.
Ich sage euch: Wunder geschehen immer wieder.
Leider wurde durch diese Aktion für Biggi kein passender Spender gefunden, aber
vielleicht für jemand anders.
Wieder lagen wir auf ihrem Bett. Ich starrte auf die Glatze an ihrem Hinterkopf und
flüsterte in den Mundschutz, den ich seit ein paar Tagen zu ihrem Schutz tragen
musste: „Ich war auch in Jannes verliebt, und als ich merkte, dass er sich für dich
interessiert, da habe ich mir gewünscht, das du all deine schönen Haare verlierst.“
Biggi schwieg lange. Dann fing sie an zu lachen. Ihr abgemagerter Körper zuckte in
meinen Armen: „Und du meinst, dein Wunsch hätte so eine enorme Kraft, dass mir
deswegen die Haare vom Kopf gefallen sind?“
„Ja“, sagte ich ehrlich. „Meine Mutter...!“
„Dummerchen!“, fiel sie mir ins Wort. „Deine Mutter ist eine liebe, nette Frau, etwas
spirituell veranlagt vielleicht, und in manchem hat sie auch bestimmt recht, aber in
diesem Fall kann es nicht sein. Als ich dir gesagt habe, dass ich in Jannes verliebt
bin, war ich schon längst krank.“ Dann überfiel sie ein Hustenanfall.
Ich überlegte einen Moment. Der Stein, der mir vom Herzen fiel, schien mit
ohrenbetäubendem Getöse zu Boden zu poltern.
Dachte ich!
Ich drehte mich verstohlen im Raum um und war verwundert, dass keine Schwester
ins Zimmer eilte, um zu schauen, ob Biggi aus dem Bett gefallen sei.
Das war das letzte Mal, dass ich mit ihr in diesem Krankenbett gelegen habe.
In dieser Nacht ist Biggi gestorben.
Am nächsten Morgen kam der Anruf. Mein Vater schaute mich mit Tränen in den
Augen an, und ich konnte nichts anderes tun als schreien.
Ich schrie so lange, bis meine Mutter mich in ihre Arme zog und an sich drückte.
Mein Mund wurde auf ihre Schulter gedrückt und mein Schrei verebbte zu einem
trockenen Schluchzen.
„Sie ist erst dreizehn Jahre alt!“, wollte ich sagen und dachte an all die noch viel
jüngeren Kinder, die ich bei meinen täglichen Besuchen gesehen hatte.
Drei oder dreizehn Jahre alt, vielleicht auch dreißig oder älter. Das Alter spielte
keine Rolle. Das Einzige, was zählte, war, dass die Zeit für diese Menschen ablief.
Ich schnappte nach Luft und schaute meine Mutter an:
„Wir hören nicht auf zu helfen, oder?“
„Nein, wir machen weiter!“, sagte sie und weinte.
Sie hatten Biggi mit den Löckchen, die ich ihr am letzten Tag nach meiner Beichte
mit dem Filzstift auf den Kopf malen musste, in einem weißen Sarg aufgebahrt.
„Sie war so stolz darauf!“, sagte Biggis Mutter, als sie meinen verdutzten
Gesichtsausdruck sah. „Du weißt doch, sie hat ihre Perücke gehasst.“
Ich schaute auf Biggis kleines Gesicht.
Auf die gemalten Locken.
Auf ihren toten Körper.
Trotzdem spürte ich keine Angst.
„Sie lächelt!“, sagte ich laut und Biggis Mutter zog mich in ihre Arme.
„Danke!“, sagte sie. „Du bist die beste Freundin, die sich eine Mutter für ihre
Tochter wünschen kann!“
Ich schluckte und wollte protestieren, aber eigentlich wusste ich, dass ich für meine
Biggi alles getan hatte.
Habt Ihr schon einmal einem Menschen ins Gesicht geschaut, der weiß, dass man
nichts mehr für ihn tun kann?
Oder habt Ihr schon einmal das Herz einer Mutter brechen sehen, der man sagt,
dass ihr Kind sterben wird?
Diese Szenen haben sich tief in mein Inneres eingegraben.
Und auch wenn Biggi schon ein paar Jahre tot ist, werde ich nie aufhören, für die
Stammzellenspende zu werben.
Ein kurzer Moment von unserer Zeit kann für einen anderen Menschen ein ganzes
Leben bedeuten.
Ich wünsche mir noch viele Spender.
Für Biggi, damit ihr Tod nicht umsonst war.
Und für all die anderen.
Alle 16 Minuten erhält in Deutschland ein Patient die Diagnose
Blutkrebs. Unter den Betroffenen sind zahlreiche Kinder und
Jugendliche. Viele benötigen zum Überleben eine Stammzellspende,
finden jedoch keinen passenden Spender. Deshalb brauchen sie unsere
Hilfe. Dabei ist so einfach: Registrierset anfordern, Mund auf, Stäbchen
rein, Set zurückschicken. Vielleicht können auch Sie Ihrem genetischen
Zwilling das Leben retten?
http://www.dkms.de/de/spender-werden
Es danken Ihnen Millionen von Erkrankten und deren Angehörigen und
Freunde …
... und ganz besonders ich.
Marion Brüning