Spät, aber nicht zu spät

Frank A. Meyer
Spät, aber nicht zu spät
Philipp Müller, des Freisinns aufgeregter Präsident, ist noch aufgeregter als sonst: «Nur Hohn und Spott für den
Rechtsstaat», empört er sich im BLICK. Die Empörung gilt der SVP und ihrer Durchsetzungs-Initiative.
Wo Philipp Müller recht hat, hat er recht. Erstaunlich allerdings ist der Umstand, dass der Aargauer Politiker
seine schlimme Schlussfolgerung so spät formuliert: kurz vor der Abstimmung über die Durchsetzungs-Initiative
und kurz vor seinem Rücktritt als FDP-Präsident.
War die SVP denn bisher ganz und gar anders? Hat sie sich hervorgetan durch Respekt für den Rechtsstaat?
Philipp Müller sagte dem BLICK auch: «Die Initiative hebelt das demokratische Gleichgewicht aus.» Das ist
dicke Post im Briefkasten der rechten Populisten.
Trifft sie nicht sehr verspätet ein? Stand die Politik der SVP bisher im Dienste demokratischer Kultur?
Philipp Müller verwendet instinkt-sicher die zwei Schlüsselbegriffe der rechtspopulistischen Polemik: «Hohn
und Spott.» Auf einen einzigen Begriff gebracht: «Verachtung.»
Hohn und Spott und Verachtung für den Umgang mit Andersdenkenden, Hohn und Spott und Verachtung für die
Gepflogenheiten von Demokraten untereinander, Hohn und Spott und Verachtung für das Parlament, für die
Landesregierung, für die Justiz, Hohn und Spott und Verachtung für die Geisteswissenschaften, für intellektuelle
Argumentation, für Geist überhaupt!
Durchzieht all dies nicht seit mehr als zwei Jahrzehnten die autoritär geführte SVP? Die von einem Führer
geführte SVP?
Und das soll Philipp Müller gerade eben erst aufgefallen sein?
Hat nicht die FDP, auch unter seiner Führung, diese Vulgarisierung der politischen Kultur zuerst geduldet, dann
bewundert und schliesslich gefördert? Hat sie diesen Verfall der politischen Sitten nicht stets verharmlost?
Als «Bürgerblock» und «Schulterschluss» wurde die Komplizenschaft der bürgerlichen Rechten mit den
äusseren Rechten gefeiert. Dass dies fatal enden kann, müsste eigentlich jedem geschichtsgebildeten
Bürgerlichen bekannt sein, denn die äussere Rechte ist eine antibürgerliche Rechte. Ihr Hauptziel: Störung und
Zerstörung der bürgerlichen Ordnung und ihrer Institutionen.
Betrieben wird diese Politik zuerst durch Missachtung der bürgerlichen Tugenden Anstand, Stil und kultivierte
Sprache in der politischen Auseinandersetzung, dann durch Schwächung oder gar Ausschaltung der
demokratischen Gewalten, wie jetzt gerade mit der Durchsetzungs-Initiative, wie demnächst mit der Initiative
gegen das Völkerrecht als bindend für die Schweiz.
Mittel zum Zweck ist der systematische Missbrauch der direkten Demokratie durch immer neue, immer radikaler
formulierte Volksinitiativen – die Herabwürdigung der direkten Demokratie zu einer Maschine der
Parteipropaganda.
Wo also sitzt der Feind der offenen Gesellschaft? Der diskursiven Demokratie?
Für Philipp Müllers Freisinn sitzt er links: bei den Sozialdemokraten. Eine Dummheit! Und eine Infamie: In
noch gar nicht so weit zurückliegenden Zeiten, als bürgerlich sich nennende Parteien in ganz Europa mit der
antibürgerlichen Rechten kollaborierten, standen die Sozialdemokraten unbeugsam zu Demokratie und
Rechtsstaat – zum bürgerlichen Staat.
Der dramatischste Augenblick dieser Unbeugsamkeit war das Nein der deutschen Sozialdemokraten zu Hitlers
Ermächtigungsgesetz am 23.März 1933. Die bürgerlichen Parlamentarier stimmten geschlossen für die Allmacht
des Nazi-Führers.
In harmlosen Zeiten mag Geschichtsvergessenheit eine lässliche, wenngleich peinliche Sünde sein. Brechen
weniger harmlose Zeiten an, wie heute, wo weitherum der Rechtspopulismus wuchert, kann Bildungsferne von
Politikern wie Philipp Müller bedenkliche Folgen haben.
Die Durchsetzungs-Initiative ist nicht harmlose Populisten-Polterei. Sie gemahnt den historisch sensiblen
Citoyen an eine Vergangenheit, die längst verweht schien. Es geht plötzlich wieder um etwas: um die Werte der
demokratischen und rechtsstaatlichen Ordnung, die Werte der offenen Gesellschaft, die Werte der westlichen
Zivilisation.
Vielleicht spürt Philipp Müller, dass es ums Ganze geht. Nicht nur bei der Durchsetzungs-Initiative. Ganz
grundsätzlich.
Spürt es auch sein Nachfolger? Es soll, so sieht es aus, ein jugendlich verkleideter Rechtsaussen sein.
Spürt es die andere wichtige bürgerliche Partei, die CVP? Dort soll, so sieht es aus, ein Politiker wie aus der
SVP-Geschenkschachtel neuer Präsident werden.
Merkt das Schweizer Bürgertum jenseits der Sozialdemokraten, was es gerade geschlagen hat?
Im vergangenen Oktober noch bejubelte die «Neue Zürcher Zeitung» den Wahlerfolg der Schweizer
Rechtspopulisten als «Rückkehr zur Normalität». Gestern überschrieb die NZZ ihren Leitartikel auf Seite eins
folgendermassen: «Mit der Durchsetzungsinitiative stellt die SVP zentrale rechtsstaatliche Prinzipien und
demokratische Werte zur Disposition – ohne Not und Nutzen. Das hat System.»
Spät ists. Aber nicht zu spät.