Es ist wieder einmal typisch: Ich bin zu spät aufgestanden – und jetzt

Worauf wartest du?
Es ist wieder einmal typisch: Ich bin zu spät aufgestanden – und jetzt stehe ich an
der dritten roten Ampel und verwünsche leise den morgendlichen Stau. Ich trommle
mit den Fingern auf das Lenkrad und überschlage meine spärliche restliche Zeit.
Wäre ich nur früher aufgestanden! In solchen Momenten fällt mir das Warten schwer.
Wenn ich nur jetzt freie Bahn hätte – ich würde so schnell wie möglich durchstarten.
Wenn dann noch jemand schläft und bei grün stehenbleibt, dann möchte ich am
liebsten aus der Haut fahren. Gut, dass mich der andere dann nicht hört. „Worauf
wartest du?“ schreie ich stumm den Autofahrer an: „Grüner wird’s nicht“. Und ich
drücke entnervt auf die Hupe.
Dabei kenne ich das von mir doch auch: Ich bin so in meinen Gedanken und Plänen
versunken, dass ich die Abfahrt verpasse. Ich bleibe stehen, wo ich fahren könnte
und blockiere damit mich und andere. Nicht nur im Straßenverkehr. Das hat so viele
Gründe: Ich zögere, wo ich mutig losgehen könnte, ich kapituliere vor der Fülle der
Möglichkeiten, ich schlafe, wo ich wachsam sein sollte. In solchen Momenten
bräuchte ich einen liebevollen Schubs in die richtige Richtung. Jemanden, der mir
sagt: „Worauf wartest du? Der Weg steht dir offen.“ Oder einen, der mich einfach an
die Hand nimmt und das erste Stück des Weges mit mir geht. Im Straßenverkehr
mag die Hupe reichen – in meinem Leben nicht.
„Worauf wartest du?“ Der Buß- und Bettag 2010 bietet Gelegenheit, mir klar zu
werden, was mich davon abhält, loszugehen und mich meines Gottes zu
vergewissern, der mich immer wieder zum Aufbruch ruft.
Der Anfang ist die Hälfte vom Ganzen
Wer kennt ihn nicht, den Fluch des leeren Papiers? Den ersten Satz auf ein
unberührtes Blatt zu schreiben oder in einem Vorhaben den ersten Schritt zu gehen
ist oft unglaublich schwer. Schriftsteller berichten von tiefsten inneren Kämpfen, bis
das erste Kapitel steht. Künstler starren manchmal Tage auf die leere Leinwand, bis
sie zu malen beginnen und manche brauchen scheinbar ewig, um sich für einen Weg
zu entscheiden. Ist dieser Anfang aber einmal gemacht, so scheint das Weitere oft
gar nicht mehr so schwer. Aus den ersten Sätzen entwickelt sich ein
Handlungsstrang, das Gemälde gewinnt zusehends an Farbe, die Aufgabe, die wie
ein Berg erschien, ist plötzlich gut zu bewältigen.
Warum fällt das Beginnen so schwer? Weil es gilt, eine Vielzahl von Möglichkeiten
einzugrenzen und sich selbst zu beschränken, sich eben zu entscheiden. „Jede
Entscheidung ist ein Massenmord an Möglichkeiten“ heißt ein modernes Sprichwort.
Natürlich – mit jeder Festlegung schließe ich anderes aus, mit jeder Entscheidung,
die ich für etwas treffe, entscheide ich mich gleichzeitig gegen hundert andere
Möglichkeiten. Das will wohl bedacht sein. Aber deswegen gar nicht anfangen? Sich
gar nicht festlegen, um nichts zu verpassen?
Ein junger Mann erzählt: „Da habe ich mir so lange Gedanken gemacht, wie ich sie
ansprechen sollte. Ich wollte ihr so viel sagen und wusste doch nicht, wo anfangen.
Und außerdem – konnte ich sicher sein, dass sie die Richtige ist? Es gab doch so
viele andere… . Als ich mir dann endlich einen Stoß gegeben habe, brauchte es gar
nicht viele Worte. Heute verstehe ich nicht, warum ich so lange gezögert habe.“
Es gibt auch ein „zu spät“ – das ist die herausfordernde Botschaft, die Jesus immer
wieder den Menschen seiner Zeit entgegenhält. Man kann auch zu lange warten.
„Jetzt“, so fordert er sie heraus, „jetzt“ ist die Zeit zum Handeln und sich zu
entscheiden. Oder wie ein modernes Lied treffend singt: „Jetzt ist die Zeit, jetzt ist die
Stunde, heute wird getan oder auch vertan, worauf es ankommt.“ Wer nicht anfängt,
mag zwar keine Fehler machen, er macht aber auch nichts gut. Wer nicht anfängt,
bleibt zwar für alles offen, bringt aber auch nichts zum Ziel.
Den ersten Schritt dazu kann mir niemand abnehmen. Ganz gewiss nicht. Er fällt mir
aber leichter, wenn ich weiß, dass dieser Schritt ein Anfang ist und nicht schon alles
beinhalten muss. Ein Anfang ist ein Anfang – er muss nicht perfekt sein und bietet
noch Entwicklungschancen. Wer anfängt und losgeht, mag Fehler machen, aber er
geht doch los.
„Wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht
geschickt für das Reich Gottes“(Lk 9,62)
Warten und Aufbrechen, das sind Lebensaufgaben. In der Bibel gibt es Warte- und
Aufbruchstypen. Der greise Simeon (Lk 2, 22-38)muss ein Leben lang warten, bis
sein Herzenswunsch wahr wird und er in dem Jesuskind den Heiland der Welt
erkennt. Er weiß was er erwartet und richtet sein ganzes Leben darauf aus, aber
seine Geduld wird auf eine harte Probe gestellt.
Andere werden herausgerufen, mit Gott aufzubrechen. Ein junger Mann, der
brennend nach Gott fragt und seinen Willen ganz erfüllen will, folgt Jesu Ruf zum
Aufbruch nicht: „Verkaufe alles, was du hast, und gib es den Armen…; und komm,
folge mir nach.“ (Mk 10, 21) Ihn hält zuviel: sein Reichtum, seine Familie, sein
ganzes bisheriges Leben – wer würde das nicht verstehen? Doch er geht traurig
davon – die Chance ist verpasst. Wie viele hehre, gute Absichten versanden so: Man
mag sich noch so große Ziele setzen - wenn es an die Umsetzung geht, scheint der
Einsatz zu hoch, der erste Schritt zu groß. Was bleibt sind Frust und Traurigkeit.
Anders bei Abraham: Gerufen, sein Vaterland zu verlassen, wartet er nicht lange ab,
sondern macht sich auf den Weg. Er verlässt sich auf Gottes Zusage, bei ihm zu sein
und stürzt sich ins Unbekannte. Sein Vertrauen auf Gott wird nicht enttäuscht.
Die Geschichte mit Gott ist eine Geschichte großer und kleiner Aufbrüche durch
Höhen und Tiefen – auch in unserem Leben. Wer ihm sein Leben anvertraut, in dem
wird etwas aufbrechen: Verhärtungen und Kälte, Angst und Gleichgültigkeit. Es ist
ein Weg ins Unbekannte, aber er führt ins Licht. Wir können damit anfangen – jeden
Tag neu. Das ist Gottes Verheißung an uns.
Auch eine Reise von Tausend Meilen beginnt mit dem ersten Schritt
Worauf warte ich eigentlich? Weiß ich das noch? Manchmal verliere es ich im
alltäglichen Klein-Klein aus dem Blick. Manchmal habe ich nicht die Zeit, mich zu
fragen, was jetzt und hier ansteht. Manchmal sehe ich den Wald vor lauter Bäumen
nicht.
Da kommt der Buß- und Bettag gerade recht: mit Zeit darüber nachzudenken, was
ich mir erwarte von meinem Leben, von mir selbst und von Gott. Welche
Vorstellungen und Ideale sind verschüttet? Was wollte ich schon längst einmal
machen und habe es nie getan? Mir hilft da oft ein Stück Papier, auf dem ich meine
Gedanken auflisten kann. Links das, was ich erwarte, rechts das, was ich gerne tun
würde, damit das Erwartete eintreten kann.
Die schönste Liste, die ich kenne, hat Papst Johannes XXIII in seinem geistlichen
Tagebuch formuliert. „ Nur für heute“, schreibt er beispielsweise, “werde ich zehn
Minuten meiner Zeit einer guten Lektüre widmen.“ Oder „Nur für heute werde ich eine
gute Tat vollbringen. Und ich werde es niemandem erzählen.“ Und: „Nur für heute will
ein genaues Programm aufstellen. Vielleicht halte ich mich nicht daran, aber ich
werde es aufsetzen. Und ich werde mich vor zwei Übeln hüten: Vor der Hetze und
vor der Unentschlossenheit.“
„Nur für heute“ ist ein guter Rat. Viele gute Vorsätze scheitern daran, dass sie für die
Ewigkeit gemacht werden. Es ist besser, sich wenige, machbare Punkte
vorzunehmen, als die Welt aus den Angeln heben zu wollen. Wer sich überfordert,
wer für unbegrenzte Zeit plant, fängt oft überhaupt nicht erst an.
Was würde auf meiner Liste stehen? Nur für heute werde ich die Menschen auf der
Straße anlächeln und sehen, was sich daraus ergibt? Oder: Nur für heute werde ich
versuchen, weitgehend auf mein Auto zu verzichten? Oder: Nur für heute werde ich
einem Menschen sagen, dass ich ihn liebe? Nur für heute werde ich meinem Körper
etwas gutes Tun? Nur für heute werde ich mir wieder Zeit nehmen für ein
ausführliches Gespräch mit Gott…
Es müssen nicht nur lästige Pflichten bei diesen Vorsätzen stehen, beileibe nicht.
Vieles mache ich ja gern – ich nehme mir nur nicht die Zeit dafür. Und je länger diese
Liste wird, desto mehr Lust habe ich, manches auszuprobieren. Welch ein gutes
Gefühl, am Abend ein oder zwei Punkte abhaken zu können – nicht für immer, nur für
heute.
Du wartest nicht, Herr, bis wir den Weg zu dir finden, sondern du suchst
uns auf, die wir in dieser Welt gefangen sind. (Evangelisches
Gesangbuch)
Die Nachricht auf ihrem Anrufbeantworter kam wie eine Erlösung. Nur wenige Sätze:
„Hallo, hier Martina. Ich habe schon ewig nichts mehr von dir gehört! Meinem Kleinen
geht’s gut und er würde dich gerne kennenlernen. Melde dich mal. Und: Ich bin nicht
sauer auf dich!“
Drei Jahre. Drei Jahre war der Junge nun schon alt. Drei Jahre Funkstille. Zuerst hat
sie es aufgeschoben, zur Geburt des Kindes zu gratulieren. Dann kam eine sehr
stressige Zeit. Und plötzlich wurde es immer schwerer, der Freundin zu schreiben.
Wie sollte sie erklären, dass sie sich nicht eher bei ihr gerührt hatte? Schließlich ließ
sie es ganz. Mit Bedauern und einem schlechten Gewissen, sooft sie an Martina
dachte. Und jetzt diese Nachricht. Der erste Rückruf war noch schwierig, lange
Erklärungen und wortreiche Entschuldigungen. Aber der erste Schritt war getan. Die
Freundin hat ihn ihr abgenommen. Noch heute sagt sie: Martina hat unsere
Freundschaft gerettet.
Gott wartet nicht darauf, dass wir den ersten Schritt tun – das ist die Botschaft des
Neuen Testaments. Weil wir uns nicht zu ihm erheben können, weil wir oft genug in
unserer Trägheit und unseren falschen Ängsten gefangen sind, deswegen macht er
sich auf den Weg zu uns, zu den Menschen. Weil es uns nicht möglich ist, uns zu
entschuldigen – nimmt er am Kreuz die Schuld von uns, die unsere Beziehung zu
ihm zerstört. Er hat den Anfang gemacht, wir können darauf reagieren – jeden Tag
neu. Worauf warten wir noch?
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