18 TAZ.DI E TAGESZEITU NG Bildung M IT TWOCH, 1 1. NOVEM BER 2015 VON RALF PAULI Spielenachmittage für ältere Menschen, ein Fitnessparcours im Stadtpark oder Deutschunterricht für Asylbewerber. Was nach ehrenamtlichem Engagement klingt, sind auf Kosten und Ertrag geprüfte Geschäftsmodelle. Ausgedacht haben sie sich Schülerinnen und Schüler an der Stadtschule im hessischen Butzbach. Zwei Stunden in der Woche unterrichtet dort Frau Grand die 10. Klasse im Fach Arbeitslehre. Ihr Fokus liegt auf unternehmerischem Denken. „Die Schüler sollen lernen, ihre Ideen in die Praxis umzusetzen“, sagt Grand. Als Beispiele zieht sie im Unterricht heimische Unternehmen heran. Oder solche, die in dem Lehrwerk „Von der Idee zum Ziel“ vorgestellt werden. 2004 hat Grand ein Lehrertraining beim Network for Teaching Entrepreneurship, kurz NFTE, besucht. Der Verein hat nach eigenen Angaben deutschlandweit mehr als 1.200 Lehrkräfte mit dem Ziel ausgebildet, unternehmerisches Denken in den Schulen zu fördern. Grands damaliger Rektor musste bei ihrer Anmeldung zum Workshop unterschreiben, den „NFTELehr plan mit den dafür von NFTE zur Verfügung gestellten Unterrichtsmaterialien“ in den Lehrplan zu integrieren. Wer jedoch einen Blick in das NFTE- Lehrwerk wirft, findet dort etwas, was das hessische Schulgesetz bei Schulbüchern untersagt: die explizite Nennung von Firmennamen. „Leckeres Buttergebäck“ Dr. Oetker, Aldi, Google, Tchibo. Mehr als ein Dutzend Unternehmen werden auf den 240 Seiten genannt. Microsoft und IBM sogar sechsmal. Die Produkte einer Keksbäckerin werden regelrecht beworben: „Übrigens besteht ihr leckeres Buttergebäck aus feinsten Zutaten und wird in Handarbeit von der Hofbäckerin täglich frisch zubereitet.“ Bei einem zugelassenen Lehrwerk undenkbar, bestätigt der stellvertretende Schulleiter der Stadtschule, Edwin Mücke. Dass Unternehmen wie Siemens, SAP oder Tchibo den Herausgeber finanziell unterstützen, ist Mücke ebenso unbekannt wie die Inhalte des NFTE-Lehrbuches: „Bevor ich im Lehrplan über den Namen gestolpert bin, habe ich davon nicht gehört.“ Für Schulbücher gelten strenge Zulassungsauflagen: Sie werden in den Kultusministerien auf Indoktrination, Wer- Was auf den Tisch kommt, wird gelesen. Obwohl nicht alle Lehrmaterialien auf Werbung oder Einseitigkeit geprüft werden Foto: Jim Erickson/plainpicture Außer Kontrolle LOBBYISMUS AN SCHULEN Wirtschaftsunternehmen verteilen Unterrichtsmaterialien, in denen sie unverhohlen für ihre Produkte werben. Die Kultusministerien geben die Verantwortung an die LehrerInnen zurück bung und Einseitigkeit geprüft. Wenn sich eine Lehrkraft darüber hinaus mit aktuellen Lehrmaterialien versorgen will, muss sie sich auf ihr eigenes Urteil verlassen. Lehrerin Grand sagt, sie sehe in der Namensnennung von Firmen kein Problem. Andere Lehrkräfte schon. Die hessische Regierung will sich in die Frage nicht einmischen: „Inwiefern Schulen am NFTE- Programm teilnehmen, die zur Verfügung gestellten Materialien im Unterricht einsetzten oder an NFTE-Wettbewerben teilnehmen, entscheiden diese in Eigenverantwortung“, antwortete die Landesregierung im September auf eine parlamentarische Anfrage von Christoph Degen (SPD). Mit der Antwort ist der Landtagsabgeordnete nicht zufrieden. Im kulturpolitischen Ausschuss, der heute in Wiesbaden tagt, will Degen nachfassen: „Das Ministerium könnte mehr Verantwortung übernehmen. Viele Lehrkräfte wünschen sich eine Orientierung.“ Der 36-Jährige weiß, wovon er spricht. Als Förderschullehrer standen ihm gar keine zugelassenen Lehrbücher zur Verfügung. Er musste sämtliches Unterrichtsmaterial selbst prüfen. Das kostet nicht nur Zeit. Man muss auch wissen, wer hinter den Publikationen steht – und das Angebot ist nicht leicht zu überblicken. Vor allem Wirtschaftsunternehmen drängen mit hochwertigen Schulmaterialien in die Klassenzimmer. 2011 zählten Augsburger Wissenschaftler 845 Angebote von Unternehmen. 2013 waren es schon rund 17.000. 16 der 20 umsatzstärksten deutschen Unternehmen publizieren Schulmaterial, in dem sie ihre eigenen Produkte anpreisen. Darunter auch Ritter Sport, Daimler oder Bayer. Und „Sicher kennst du das Logo des Kaffee-Unternehmers Tchibo“ NFTE-LEHRBUCH oftmals ist nicht auf den ersten Blick zu erkennen, welches Unternehmen hinter welcher Publikation steht, warnt Bildungsforscherin Eva Matthes (siehe Interview). Sie ist überzeugt: Die Wirtschaft hat Schulmaterialien als Marketingstrategie für sich entdeckt. Ähnlich wie der hessische SPD-Abgeordnete Degen fordert sie eine unabhängige Stelle, an die sich unsichere Lehrkräfte oder auch Eltern wenden können sollten. Die Länderministerien sehen sich für solche Unterrichtsmaterialien jedoch nicht zuständig. Darüber ärgert sich René Scheppler von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) Wiesbaden. Vor allem ärgert er sich über die Spitzfindigkeit des hessischen Kultusministeriums. Das erklärte, nicht für die Überprüfung des NFTE-Lehrwerks zuständig zu sein, weil es sich formell um kein Schulbuch handle. Das Kriterium dafür sei die „dauerhafte“ Verwendung im Unterricht. Dieser Einschätzung widerspricht Scheppler: „Das NFTE-Lehrbuch ist eindeutig auf 1 bis 2 Jahre angelegt.“ Die begriffliche Unklarheit findet sich auch in der Regierungsantwort auf Degens Anfrage: Lehrwerk, Schulbuch, Lernmaterial, Lehrmittel. „Die fehlende Trennschärfe öffnet dem Lobbyismus Tür und Tor“, warnt Scheppler. Und dieser beschränkt sich keinesfalls nur auf Unterrichtsmaterialien. Vergangene Woche haben die Transparenzwächter von Lobbycontrol aufgezeigt, dass beispiels- weise der Energiekonzern RWE auf vielfältige Weise versucht, Schülerinnen und Schüler vom gesellschaftlichen Nutzen der Braunkohle zu überzeugen. Neben Unterrichtsmaterialien, die Umsiedlungen als Chance für ganze Gemeinden darstellen, reicht das Engagement des Konzerns von Schulstaffelläufen bis hin zur Verteilung von Brotdosen für 40.000 Erstklässler. Darüber, wie weit die Imagepflege und die Produktwerbung an Schulen gehen darf – und wer das kontrollieren soll –, will auch SPD-Mann Degen diskutieren. Für den heutigen Ausschuss hat er extra eine öffentliche Anhörung beantragt. „Bisher gibt es in der Gesellschaft noch kaum ein Bewusstsein für das Thema.“ Solange sich das nicht ändert, wird auch das mit Firmenlogos gespickte NFTE-Lehrbuch weiter im Unterricht eingesetzt werden. „Ganz klar Teil der Marketingstrategie“ KONTROLLE Um Werbung an der Schule zu verhindern, müssen Ministerien auch Online-Schulmaterial prüfen, fordert Wissenschaftlerin Eva Matthes taz: Frau Matthes, Sie untersuchen Schulmaterialien von Wirtschaftsunternehmen. Warum? Eva Matthes: Die Angebote von Wirtschaftsunternehmen sind in den letzten Jahren massiv gestiegen. Von 845 im Jahr 2011 auf mehr als 17.000 im Jahr 2013. Von den 20 umsatzstärksten deutschen Unternehmen bieten 16 Schulmaterialien an, oft im Paket mit Fortbildungsangeboten für Lehrer. Das hat mich selbst überrascht. Für Unternehmen sind Unterrichtsmaterialien ganz klar Teil ihrer Marketingstrategie. Welche Unternehmen sind das? Zum Beispiel Nestlé, Volkswagen, Ritter Sport, Daimler, Kraft Foods, Bayer. Gerade bauen wir am Lehrstuhl eine umfassende Datenbank auf. Es geht jedoch nicht nur um die Frage, wer alles in die Köpfe der Schüler rein- möchte. Eine kritische Perspektive auf diese Materialien ist unverzichtbar. Denn bei manchen Publikationen erkennt man nicht auf den ersten Blick, wer dahintersteht, etwa eine Unternehmensberatung bei WissensSchule oder Banken bei My Fi nance Coach. Sind die Materialien auch inhaltlich bedenklich? In den Publikationen findet sich die neoliberale Vorstellung, dass der Einzelne immer alleiniger Schmid seines Glückes ist, wenn er nur anpackt, wenn man nur kreativ ist. Dieses Menschenbild finde ich viel zu einseitig. Denn es lässt Menschen außen vor, die schwächer sind, die sich weniger gut durchsetzen können. Zudem werden unternehmerische Perspektiven absolut gesetzt. Findet sich in den Materialien auch explizite Produktwerbung? Viele Unternehmen werben ganz offen für ihre Produkte, gerade beim Thema Nachhaltigkeit. Wer als kluger Konsument nachhaltig leben will, muss ihre Produkte kaufen. Tetrapak etwa stellt seine Verpackungen als die umweltfreundlichsten dar, im Material der Daimler AG zu Elektromobilität finden sich nur Fahrzeuge von Daimler. Und wer jeden Tag ein bisschen Schokolade zu sich nimmt, ist glücklicher und hat mehr Energie. Die eigenen Produkte werden in dem Unterrichtsmaterial von Ritter Sport über Kakao und Schokolade immer wieder „nebenbei“ ins Spiel gebracht. Sind Werbematerialien immer gleich als solche erkennbar? Oft wird die Botschaft sehr dezent platziert, etwa indem ein Unternehmen als vorbildliches Beispiel für einen bestimmten Sachverhalt angeführt wird. Al- ternativen zum Konsum – Verzicht, Tausch – kommen nicht vor. Da werden gesellschaftliche Debatten sehr einseitig wiedergegeben. Darüber muss die Gesellschaft aufgeklärt werden. Warum prüfen die Kultusministerien die Unterrichtsmaterialien nicht wie auch Schulbücher? Als wir die Datenbank zu kostenlosen Bildungsmedien im Internet anlegten, haben wir Zuständige in den 16 Länderministerien gefragt, wie sie zu diesen Angeboten stehen. Die Befragten gaben alle mehr oder weniger dieselbe Antwort. Die Lehrer würden doch selber sehen, was reine Werbung oder einseitige Darstellung ist und entsprechend damit umgehen. Hier ist die Diskrepanz zu den teilweise strengen Zulassungsverfahren für Schulbücher besonders hoch. Ich finde, dass auch Online-Angebote auf Multiperspektivität, auf Indoktrination und auf werbliche Inhalte geprüft werden müssen. Wer sollte diese Prüfung vornehmen? An den Schulen gilt das Werbeverbot. Wenn es greifen soll, ist der Staat in die Pflicht gerufen. Vielen Lehrkräften fehlt ein Bewusstsein für den kritischen Umgang mit Bildungsmedien. Diese Thematik muss daher fester Bestandteil der Lehrerausbildung und Lehrerfortbildung werden. Bisher bieten nur vereinzelte Universitäten ihren Studierenden Zertifikatsstudiengänge für kritische Medienkompetenz an. Es sollte aber auch Expertengruppen aus staatlichen Vertretern, Wissenschaftlern und Lehrern geben, die ausgewogene Angebote im Netz empfehlen und vor bedenklichen warnen. Vor kurzem hat die Bundeszentrale für politische Bildung eine Publikation zurückgezogen, weil ein Arbeitgeberverband protestierte. Wir müssen aufpassen, dass es nicht zu einer Ökonomisierung der Bildung kommt und hierzu kritische Sichtweisen auch ihren Raum bekommen. In der Schule müssen Multiperspektivität und Pluralität gesichert bleiben. INTERVIEW RALF PAULI Eva Matthes ■■ist Professorin am Lehrstuhl für Pädagogik an der Universität Augsburg und forscht im Bereich Bildungsmedien. Foto: privat
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