„WIR LERNEN WIEDER DAS MITEINANDER“ Imam Sakib Halilovic, Rabbiner Marcel Ebel und Pfarrer Christoph Sigrist zu Lessings Ringparabel und dem religiösen Miteinander in Zürich. Interview von Gwendolyne Melchinger und Andreas Karlaganis 10 Welche ist die „wahre Religion“? Lessing fand vor dem Hintergrund der deutschen Aufklärung mit dem Märchen der Ringparabel eine Antwort. Darin wird der Streit von drei Brüdern um den einzig echten dreier gleich aussehender Ringe geschlichtet, indem das praktische Handeln zum Massstab für Echtheit erhoben wird. Wir trafen Imam Sakib Halilovic, Rabbiner Marcel Ebel und Pfarrer Christoph Sigrist zum Gespräch über ihre Sicht auf Lessings Ringparabel und die Beziehung zwischen Islam, Christentum und Judentum in Zürich. In „Nathan der Weise“ geht es um die Frage nach Toleranz. Voltaire schreibt: „Was ist Toleranz? Sie ist Menschlichkeit überhaupt. Wir sind alle gemacht aus Schwächen und Fehlern. Darum sei erstes Naturgesetz, dass wir uns unsere wechselseitigen Dummheiten verzeihen.“ Spätestens seit der Aufklärung steht Toleranz auf der Werteskala ganz oben und seit der Uraufführung von „Nathan der Weise“ 1779 gibt es sie als exemplarische Verkörperung auf der Bühne in Form der Figur Nathan. Wie lässt sich Ihrer Meinung nach Toleranz leben? „Die Frage lautet nicht mehr: Welche ist die richtige Religion? Sondern es gibt drei Religionen und jede hat ihre Richtigkeit.“ MARCEL EBEL GWENDOLYNE MELCHINGER Etwas anderes steht auch nicht in unseren Büchern. Dass wir von einer Erde stammen und einen gemeinsamen Vater und eine Mutter haben, kann man auch aus Voltaires Zitat herauslesen. Und wenn man in jedem Menschen Gottes Werk sieht, dann ist Toleranz schon vorhanden. Mehr bräuchte man dazu im Grunde nicht zu sagen. SAKIB HALILOVIC die Toleranz lebbar. Solange potenziell die Möglichkeit besteht, dass eine Religion die richtige ist, ist Toleranz sehr schwierig nachzuvollziehen. Wenn man hingegen sagt: alle drei Religionen sind richtig, jede auf ihre Art, dann wird man sich seiner eigenen Grenzen bewusst und auch der Grenzen des anderen – und kann so nebeneinander leben. Wenn man von den fundamentalen Kräften absieht, könnte man somit sagen, dass „Nathan der Weise“ im Hinblick auf die Toleranz von der Aufklärung her heute eingelöst ist. Es geht nicht mehr um drei verschiedene Religionen und die Frage, welche von ihnen die richtige ist, sondern die Frage heute lautet: Welche ist für mich richtig? Richtigkeit an und für sich haben alle Religionen. Das Thema heute ist die Identitätsfindung von mir im multikulturellen Umfeld von Zürich. Und das ist ein Aneignungsprozess. Die Prägungen, die es bei Recha von verschiedenen Seiten her gibt, sind natürlich bei uns auch da. CHRISTOPH SIGRIST Ich habe Mühe mit dem Wort Toleranz. Es kommt vom Lateinischen „tolerare“, also von „dulden“. Das heisst: zu einer Fliege kann ich sehr tolerant sein, solange sie in einer Zimmerecke herumfliegt, aber wenn sie mich dauernd nervös macht, dann werde ich irgendwann mal einen Fliegenklopfer nehmen. In diesem Zusammenhang gefällt mir das Wort „akzeptieren“ viel besser. Den Menschen, also mein Gegenüber, muss ich so akzeptieren, wie er ist. Das liegt eine Stufe höher als tolerieren. MARCEL EBEL Toleranz in Zürich leben heisst – wenn ich Sakibs Worte der Gottebenbildlichkeit zuspitze –: den Respekt nicht verlieren vor Andersdenkenden und Andersglaubenden. Und Respekt kommt von „respicere“, zurückschauen, also den Respekt gewinnen, wenn man einander ins Gesicht schaut und nicht den Rücken kehrt. Der andere wird so in seiner differenzierten Andersheit erkannt. So wird die Differenzerfahrung in den Toleranzbegriff integriert. Der Toleranzbegriff wird leer, wie auch der Begriff der Nachhaltigkeit oder der Demokratie oder der des Volkswillens, wenn er instrumentalisiert wird für die eigenen Zwecke. Und der Toleranzbegriff wird immer dann instrumentalisiert, wenn man meint: Ja, ich bin schon tolerant ihm gegenüber, aber bitte bleib so, wie ich es will. Und so bin ich überzeugt, dass „Nathan der Weise“ heute ein wichtiges Stück für uns geworden ist. CHRISTOPH SIGRIST Recha, die Ziehtochter von Nathan, vereint drei Religionen in sich. Ihr Vater war ein Muslim, der zum Christentum konvertiert ist, die Mutter eine Christin und Nathan wiederum hat sie im jüdischen Glauben aufgezogen. Was bedeutet es, wenn Menschen unterschiedliche Religionen in sich tragen? GWENDOLYNE MELCHINGER Ich denke, man muss „Nathan der Weise“ auch in den historischen Kontext setzen. Das Stück war zu seiner Zeit revolutionär. Gemischte Religionen, das war etwas, das man nicht gekannt hat. Heute sind wir doch immerhin schon einige Schritte weiter. Man merkt es zwar nicht immer, aber es ist doch hoffentlich so. Die Frage lautet eigentlich nicht mehr: Welche ist die richtige Religion? Sondern es sind drei Religionen und jede hat ihre Richtigkeit. Da wird MARCEL EBEL Es leben in der Tat viele Leute in vielen verschiedenen religiösen Formen. Aber reden wir auf der akademischen Ebene oder reden wir vom Alltag? Auf dem Balkan haben die Religionen 500 Jahre gemeinsam gelebt. Jedoch hat man nebeneinander gelebt. Die Frage hier und jetzt ist eine andere: wir sind einander in den Städten viel näher. Wir teilen heute Arbeitsplätze, Schulen, Verkehr, alles Mögliche. Wie erleben das die Menschen? SAKIB HALILOVIC Wenn man nach der Ursache des nicht mehr Nebeneinanders, sondern Miteinanders fragt, dann ist das letztendlich die Säkularisierung. Durch die Säkularisierung der Gesellschaft ist der Unterschied zwischen den Religionen heute eigentlich fast hinfällig. Wenn ich an nichts glaube und mein Gegenüber an nichts glaubt, dann haben wir schon wieder etwas gemeinsam und zwar das, was uns eigentlich verloren gegangen ist irgendwo auf dem Weg der Aufklärung. MARCEL EBEL Da vertrittst du, glaube ich, einen anderen Säkularisierungsbegriff als ich. Der Säkularisierungsbegriff ist die Frucht von „Nathan der Weise“. Und von daher glaube ich eben nicht, dass ein säkularer Mensch nichts glaubt, sonst würde er nicht in die Kirchen, Moscheen oder Synagogen gehen, wenn er als Tourist irgendwo ist. Ich würde eher sagen, die Autonomie hat alle drei Religionen in einen neuen Raum hineingezogen. Und in diesem neuen Raum lernen wir erst jetzt – erst jetzt! – die Ringparabel richtig zu erkennen, weil wir in der Tat gezwungen sind, das Nebeneinander zu leben und einzuüben in einem Modell des Miteinanders. Zum Beispiel bei Katastrophen. Paris hat uns gezwungen, miteinander in einem christlichen Gottes- → CHRISTOPH SIGRIST 11 dienst überhaupt zusammen zu sein. Das wäre vor zwanzig, dreissig Jahren gar nicht denkbar gewesen. SAKIB HALILOVIC Ist das nicht etwas Abstraktes? Hängt das nicht auch davon ab, dass der Christoph Sigrist mich angerufen hat und nicht irgendein anderer Pfarrer? CHRISTOPH SIGRIST Jetzt sind wir bei einem ganz wichtigen Teil, den „Nathan der Weise“ einlöst: Wir sind doch Schwestern und Brüder geworden durch Freundschaft, durch den Weg, den wir miteinander gegangen sind. SAKIB HALILOVIC MARCEL EBEL CHRISTOPH SIGRIST Wahrscheinlich hätte sie das, aber durch das Minarettverbot kann sie nicht so wirken. (Gelächter) Okay, da hast du recht: Das Minarettverbot ist ein Schlag ins Gesicht von „Nathan der Weise“. Eindeutig. Das finde ich auch. Diese Vorgänge haben mich geprägt. Deswegen ist es in meinen Augen ein frommer Wunsch. Was du sagst, funktioniert nicht überall. Wenn ich das noch anfügen darf: In Sizilien wurden über Jahrhunderte Moscheen und griechische Tempel in Kirchen, dann in Moscheen und wieder in Kirchen umgebaut und umgewandelt. Das heisst, wir hatten auch schon vor der Aufklärung Zeiten, wo der Toleranzgedanke, schon viel stärker prägend war als in der heutigen Zeit. CHRISTOPH SIGRIST Die Antwort, die Nathan gibt, ist hoffentlich eine sehr heutige. Dass nämlich diejenige die wahre Religion ist, die sich im menschlichen Handeln beweist. Damit zeigt Nathan ganz deutlich, dass jede der Religionen die wahre sein kann und dass gutes menschliches Handeln im besten Falle weitere gute Taten mit sich bringt. Ist das nun eine logische Konsequenz oder eher ein frommer Wunsch? Nathan ist auch ein Stratege. Er findet eine Geschichte, mit der er antworten kann, und es gelingt ihm auch, sich damit aus der Affäre zu ziehen. GWENDOLYNE MELCHINGER Es ist eine typisch „säkularisierte“ Frau, die das so fragt. Und zwar aus der Kunstszene des Schauspielhauses. Nein, Spass beiseite, da rede ich für uns alle drei, denn es ist unser gemeinsames jüdisches Erbe; das ist überhaupt kein frommer Wunsch, sondern Religion pur. Das kennen wir vom Bundesgesetz her, das wissen wir vom Matthäusevangelium, Kapitel 25, und der zentrale Satz dort steht so auch im Koran: „Ich war fremd und ihr habt mich besucht.“ Wir haben alle religiöses Empfinden inhärent. Das heisst: Gutes tun. Das ist die Würde des Selbstverständlichen, die in der Schöpfung von Gott angelegt ist und dem Menschen praktisch in die DNA hineingeschrieben wird. Und es kann nur ein Säkularisierter so fragen, weil er schon distanziert ist von der Wurzel der Religion. (zu seinen Kollegen) Habe ich recht oder ist das falsch? CHRISTOPH SIGRIST Jein. Ich würde Frau Melchinger auch ein bisschen zustimmen. Es ist in gewissem Sinne ein frommer Wunsch. Religion steckt per se auch in der Arbeit. SAKIB HALILOVIC Aber meinst du nicht, dass das Minarett wie die Synagoge und auch der Kirchturm praktisch für alle in der Gesellschaft Symbole dafür sind, dass wenigstens an diesen Orten der „fromme Wunsch“ notwendigerweise umgesetzt wird? Meinst du nicht, dass das eine solche Wirkung hat, die Moschee zum Beispiel? CHRISTOPH SIGRIST CHRISTOPH SIGRIST ist Pfarrer am Grossmünster 12 Wir können diese Frage in Zürich sehr wohl schöngeistig diskutieren. Aber wenn man sich anderswo umschaut, sieht man schon, dass die Dominanz der einen oder anderen Kirche und Religion eine ganz andere Bedeutung hat. Das muss man schon auch sehen. Wir leben geschützt unter einer schönen Käseglocke und wir leben gut hier. Aber es ist nicht das, was draussen, im Rest der Welt existiert. MARCEL EBEL Ich glaube, dass Zürich mit seinen 400 000 Einwohnern in den letzten zwanzig Jahren in einen neuen Toleranzraum gerutscht ist, weil die reformierte Kirche Minderheit geworden ist und die katholische auch. Das heisst, ich bin in dasselbe Boot gestiegen wie ihr auch. Und das ist für mich als reformierter Zürcher ein ganz schwieriger Prozess. Als ich in den 60er Jahren aufgewachsen bin, gabs nur die Reformierten und die Juden in Zürich Enge. Und sonst gabs nichts. CHRISTOPH SIGRIST MARCEL EBEL Ja, natürlich. Wir sind ein Konglomerat von religiösen Minderheiten geworden. Die systemtheoretische Ausdifferenzierung von Niklas Luhmann hat sich durchgesetzt. Wir sind wieder Schwestern und Brüder geworden, weil wir alle im selben Boot sitzen – auch ich als Reformierter. Das ist für mich ein schwieriger Aneignungsprozess. CHRISTOPH SIGRIST Das Wort Prozess ist in dem Zusammenhang sehr wichtig. Wenn man Ideale erreichen möchte, dann sollte man sich in einen Prozess begeben, um einen stän- SAKIB HALILOVIC MARCEL YAIR EBEL, geboren in Zürich, ist SAKIB HALILOVIC, eingebürgerter Bosnier, ist und Privatdozent für Diakonie- Rabbiner der Israelitischen Imam des islamisch-bosnischen wissenschaft an der Theolo- Cultusgemeinde Zürich (ICZ). Zentrums in Schlieren, Zürich. gischen Fakultät der Universität Er machte die Ausbildung Er studierte Theologie an der Bern. Ausserdem ist er Parla- zum Rabbiner in den Fakultät für Islamische Wissen- mentspräsident des Zürcher USA mit Zusatzausbildung schaften in Sarajevo und an der Spendenparlaments, Präsident zum Gemeinderabbiner. ZHAW Winterthur. An vielen Orten des Zürcher Forums der Seit 1992 ist er für die engagiert sich Halilovic im inter- Religionen und Mitglied in ICZ in verschiedenen religiösen Gespräch und er ist Mit- verschiedenen diakonischen Funktionen tätig, seit 2006 glied der Arbeitsgruppe für eine Stiftungen. als Gemeinderabbiner. Islamausbildung in der Schweiz. „Das Minarettverbot ist ein Schlag ins Gesicht von Nathan.“ CHRISTOPH SIGRIST digen Boden zu finden und gleichzeitig den anderen zu respektieren. Für mich ist jeder Gläubige in einem Prozess hin zum Ideal. Ich würde gerne auf Christoph Sigrists Bild des „neuen Raums“ zu sprechen kommen, den es gemeinsam auch zu bespielen gilt. Wie würden Sie die Spannungen, die da herrschen, beschreiben? Nichtsdestotrotz sind es ja drei unterschiedliche Religionen. ANDREAS KARLAGANIS Die Spannungen sind da, weil man in Zürich nicht immer erkennt, dass es sich bei der anderen Religion auch um einen Ring handelt. Stattdessen meint man, es sei ein Viereck. Die Erkenntnis, dass alle Religionen mit dem Symbol Gott Ringe sind, ist anscheinend schwierig. Nach wie vor treffe ich auf Menschen, die sagen, wenn ein Muslim im Grossmünster zu Allah betet und nicht zu Gott, ist das ein anderer Gott. Etwas Zweites, was es für mich schwierig macht, die Geschichte des Toleranzgedankens weiterzugeben, ist das Erbe. Hinter der Ringparabel steht ja eigentlich die Weitergabe des Erbes. Und da erlebe ich bei uns in den letzten dreissig Jahren einen absoluten Abbruch. Es ist nicht mehr lesbar, dass es ein Ring ist; man erkennt ihn nicht mehr und man hat das Gefühl, man hat ihn verloren. Wenn ich dieses Gefühl habe, dann bin ich auf Glatteis und dann greife ich reflexartig nach dem, was ich nicht mehr so durchdenken kann, wie es Nathan tut. Das sind für mich die rechts- oder linksradikalen oder die ideologisierenden und polarisierenden Tendenzen. CHRISTOPH SIGRIST Ich will ganz kurz auf die Frage antworten: Spannungen sind immer spannend. Vielleicht sind es sogar fünf oder sechs richtige Ringe in der heutigen Zeit. Eine Frucht der Ringparabel ist zum Beispiel, dass in der Schule seit einigen Jahren im Kanton Zürich – sehr pionierhaft – obligatorisch alle Kinder in die Ringe eingeführt werden müssen. Es ist eine Folge des „neuen Raums“, dass der Schüler Religion lernt wie Mathematik, als einen Teil des gesellschaftlichen Lebens. Und wir Kirchen sind dann aufgefordert, sie in die entsprechende Religion einzuüben. CHRISTOPH SIGRIST Eine befreundete Kindergärtnerin sagte mir, sie habe es von Jahr zu Jahr schwerer, auf Weihnachten einzugehen, weil jedes Jahr mehr Kinder gar nicht christlich seien. Was soll sie ihnen für Werte mitgeben, ausser dass es die Zeit des Schenkens ist? Es kommen Kinder, die sagen: „Ich möchte ein Christ werden, die bekommen so viele Geschenke.“ Die Durchmischung von verschiedenen Religionen in der Gesellschaft spielt sich nicht nur jetzt am Tisch ab, sondern eben auch in den Schulklassen und so weiter. MARCEL EBEL SAKIB HALILOVIC CHRISTOPH SIGRIST Sie gehören zur Familie, meinst du? Das heisst, die Religion sollte sich nicht zurückziehen, sondern sich aktiv in ein Gespräch begeben. ANDREAS KARLAGANIS Vom Gedanken vieler Wissenschaftler und Kulturschaffender, dass es um eine Wiederkehr des Religiösen geht, gilt es sich zu verabschieden. Es geht auch nicht darum, dass Säkularismus heisst, Religion sei weg. Das ist nicht der Fall, sondern ihr auf der Schauspielbühne seid noch religiöser als vor zwanzig Jahren. Dass ihr „Die zehn Gebote“ in der Schiffbauhalle aufführt, wäre vor zwanzig Jahren nicht möglich gewesen. CHRISTOPH SIGRIST Sie sind personell und es gibt sehr viele verschiedene. Menschen mit all ihren religiösen Dramen zu treffen und sich mit ihnen auszutauschen, das ist immer spannend. SAKIB HALILOVIC Es hat natürlich mit den drei Brüdern zu tun, das ist schon so. CHRISTOPH SIGRIST Wobei uns die Brüder in „Nathan der Weise“ auf dem Silbertablett serviert werden. Wir erkennen sie im Alltag unter Umständen nicht, weil jeder für sich alleine in seinem kleinen Gärtchen lebt. Ich denke, miteinander leben hat sehr viel damit zu tun, mehr übereinander zu wissen. Nur wenn ich rausgehe aus meinen vier Wänden und auch zeige: das ist mein Weg, Gott näherzukommen, so mache ich es und der andere sieht es – er muss es nicht für sich akzeptieren, er braucht nur zu sehen, dass es auch andere Wege gibt – dann lässt sich Toleranz leben. Was auch wichtig ist: Zürich hat sich durch den Verlust der Mehrheit der Religion in der Bevölkerung sozusagen zwangsläufig „toleralisiert“. Und daher denke ich, ist es vielleicht auch ein ganz anderer Zugang zu der Frage, welcher Ring jetzt der richtige Ring ist. Vielleicht braucht es eben mehr als einen richtigen Ring. Vielleicht braucht es drei richtige Ringe und jeder muss den Beweis erbringen, dass er auf gleicher Ebene ist. MARCEL EBEL MARCEL EBEL Auch „Genesis“ vor drei Jahren. Wir sind anscheinend heute zur Einsicht gekommen, Religion per se – und dazu hat der Zusammenbruch des Sozialismus beigetragen – gehört zum gesellschaftlichen Umfeld und zum gesellschaftlichen Leben, zum Menschen, so wie andere Dinge auch. Also müssen wir einander kennenlernen. Beim Nathan sind es drei Brüder, die da kommen. Wir lernen jetzt wieder das Miteinander, indem wir Begegnungen organisieren, einander besuchen, miteinander kochen und so weiter. Alltagserfahrungen werden integriert ins religiöse Leben. Das finde ich schon spannend. CHRISTOPH SIGRIST Noch einmal zu Nathans Ring-Dilemma. Theologisch ist die Frage einfach zu beantworten. Jeder von uns hat einen eigenen Ring, eine eigene Verbindung zu Gott, der Gericht halten wird. Welcher ist der richtige Ring? Wir werden nie die Antwort finden. Wir über- → SAKIB HALILOVIC 13 „Der Gedanke, man habe das allein Seligmachende und die reine Wahrheit gefunden, bringt den Fanatismus.“ MARCEL EBEL lassen sie Gott, weil wir daran glauben, dass wir zu ihm zurückkehren. Auf der menschlichen Ebene hingegen ist es für mich wichtig, dass jeder von uns eine Chance bekommt, den eigenen Ring zu bewahren, und dass man den Ringen der anderen nicht schadet. Nathan wird oft mit Hiob verglichen. Nathans Familie wurde von Christen ermordet und nach langem Weg verzeiht er. Das Christenmädchen Recha hilft ihm, seinen Schmerz zu überwinden. Wie gehen Sie mit dem Thema Verzeihen um, das auch bei Hiob wichtig ist? Das gehört ja im weitesten Sinne zur Toleranz dazu. GWENDOLYNE MELCHINGER Wir verlassen uns auf das Verzeihen von Gott, zumindest nach der Regel des Islam. Das Paradies kann man nicht nur mit guten Taten erreichen. Am Schluss braucht man Gottes Erbarmen und seine Verzeihung. Und wenn man gerade von Gott Verzeihung erwartet, dann ist es logisch, dass jeder, der nach all diesen Prinzipien lebt, in der Lage ist, auch dem anderen zu verzeihen. Entschuldigen und verzeihen. SAKIB HALILOVIC Entschuldigung ist Grundbestand unserer Religionen und jüdisches Erbe. „Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“ – Jesus hat das als Jude übernommen. Hier kommt uns das Schauspiel von Nathan zugute, weil es ein Drama in fünf Akten ist. Es ist immer ein Drama, wenn verziehen wird; das sind dramatische Prozesse. Und es braucht Zeit. Es sind fünf Schritte abzuschreiten, bis dann wirklich Verzeihung und Versöhnung erreicht sind. Das geht mir auf, wenn ich gemeinsam mit den Bundesräten im Gedenken an die Reichskristallnacht in der Synagoge bin. Da lerne ich von der jüdischen Seele her, dass es unendlich viel Zeit braucht, um im Zusammenhang mit religiös konnotierten Verletzungen und Katastrophen überhaupt das Wort Verzeihung begrifflich, sprachlich, inszenierend so zu spielen, dass es auch verstanden wird und nicht nochmals eine Verletzung verursacht. Wir können aus der Geschichte lernen, dass Urbegriffe religiösen Empfindens, Versöhnung und Vergebung, Verzeihung von Gott für uns Menschen, enorm viel Zeit brauchen, über Generationen hinweg. CHRISTOPH SIGRIST Kain brauchte ein Zeichen, obwohl ihm Gott verziehen hat. Das heisst, es ist irgendwo ein Mittelweg zwischen Verzeihen und Vergeben. Man muss beide Begriffe ebenbürtig denken. Man kann nicht sagen, es gibt nur ein Verzeihen. Es gibt auch ein Vergeben. Und das Zeichen bleibt. Die Erinnerung bleibt und muss weiter bestehen. MARCEL EBEL CHRISTOPH SIGRIST Das Zeichen ist wie eine Narbe. Da bist du fast reformiert. Du weisst ja, die Bedeutung des Zeichens in Verbindung mit dem reformierten Abendmahlverständnis. (Gelächter) CHRISTOPH SIGRIST Beobachten Sie nach den Anschlägen in Paris Veränderungen im religiösen Klima der Stadt? Brodelt hier etwas? ANDREAS KARLAGANIS Mich befremdet der aktuelle Diskurs. Neulich wurden einige Mitarbeiter physisch angegriffen. Eine Frau im Zug auf dem Weg nach Hause wegen ihres Kopftuchs. Das ist schon eine Veränderung. Zwar hat Marcel richtig gesagt, dass die Schweiz ein Stück des Paradieses auf der Erde ist. Aber auf der anderen Seite spüre ich nach mehr als 23 Jahren in Zürich starke Veränderungen. Nach dem 11. September gab es verschiedene Volksinitiativen. Das Minarettverbot, das Verschleierungsverbot. Das spüren wir sehr stark. SAKIB HALILOVIC Ich erlaube mir jetzt eine sehr gewagte Behauptung, aber ihr seid heute sozusagen die Juden von vor fünfzig Jahren, die offen angegriffen wurden. Ich bin in Zürich im Kreis 4 aufgewachsen, ich habe als Kind einen offenen Antisemitismus physisch erlebt. Ich denke, dass das aktuelle Klima nicht einmal so sehr mit dem Islam an sich zu tun hat, sondern es muss jemand dran glauben, an dem man seine Unsicherheit ausleben kann, indem man sagt: Das sind die Schlechten. MARCEL EBEL Wir haben in Bosnien den Genozid erlebt. Das Klima und der Diskurs danach war fast eins zu eins wie heute. SAKIB HALILOVIC Klar ist eine Radikalisierung im Gange im Bereich von Fundamentalisten. Wir als Vertreter der Religionen stehen in der Tat in der Verantwortung, zusammenzustehen, um dagegen anzugehen. Die Angst vor dem Fremden, die Angst vor dem Anderen ist per se praktisch die Grosswetterlage unserer Zeit geworden. Und jeder terroristische Anschlag nährt diese Angst. Nicht nur jene, dass ich meinen Ring verliere, sondern dass ich überhaupt nichts mehr habe. Und dann kommt als Zielscheibe die betroffene religiöse Gruppe aufs Parkett und wird medial ausgeschlachtet. Seit 2001 ist es der Islam. CHRISTOPH SIGRIST Ich wundere mich immer wieder, dass ich eigentlich noch nie einen Aufruf gehört habe für all die Christen in Mossul und im sonstigen Syrien. Dass von christlicher Seite, auch von Parteien, die mit dem C im Namen hausieren, nichts kommt. Es wird irgendwie immer unter den Tisch gekehrt. Ich lese nichts in den Zeitungen darüber und es ist ja dort ein grässliches Unrecht geschehen. Da müssten die Menschen doch eigentlich aufschreien. MARCEL EBEL Machen wir auch. Doch deine Reaktion ist verständlich. Was wird christlich-religiös öffentlich überhaupt noch wahrgenommen? In den letzten Jahren ist das CHRISTOPH SIGRIST Ich verstehe es symbolisch. Es ist ein Zeichen, an das man erinnert wird. MARCEL EBEL 14 der Papst mit seinen Reisen. Aber dass wir das, was du sagst, schon seit Jahrzehnten innerhalb unserer kirchlichen Kommunikation, aktuell mit dem HEKS (Hilfswerk der Evangelischen Kirchen Schweiz) auch umsetzen, wird öffentlich nicht wahrgenommen. Auf der anderen Seite haben wir Staaten, die nur christliche Flüchtlinge aufnehmen wie Polen, Tschechien oder Ungarn oder … SAKIB HALILOVIC CHRISTOPH SIGRIST Da wird schon ausdifferenziert, meinst du? Ja. Und das ist meine Besorgnis. Und gerade die Partei, die pauschal attackiert, gewinnt bei jeder Wahl. SAKIB HALILOVIC Herr Ebel, Eva Illouz schreibt in ihrem Essayband „Israel“: „Das Recht der Juden auf ein Territorium und auf nationale Souveränität darf nie in Frage gestellt werden.“ Wie muss man damit umgehen, Teil einer Geschichte des Verfolgtseins zu sein? GWENDOLYNE MELCHINGER Man kennt es nicht anders, man wächst mit diesem Gedanken auf. Mal ist es besser und mal schlechter. Es kann in Spanien 700 Jahre lang wunderbar sein – eine goldene Blüte der Religion, der Philosophie und der Kunst – und dann kommt ein Cut und fertig. So ist es immer wieder passiert. Wir haben heute in der Gemeinde Leute aus aller Herren Länder und viele, die in zweiter Generation hier leben. Wir haben gestern noch darüber geredet, dass wir anfangen müssen, einen Gottesdienst einzuführen für Juden, die ursprünglich aus Nordafrika stammen, weil sie einen anderen Ritus haben als wir. Letzten Endes ist die Tatsache, dass sie hier sind, ein Resultat von Verfolgung. Damit leben wir einfach. MARCEL EBEL Wir nehmen an, dass Aufklärung etwas zivilisatorisch sehr Wichtiges ist. Aber gerade nach der Aufklärung hat man die schlimmsten Verfolgungen in der Geschichte der Menschheit erlebt: Kommunismus, Faschismus, Erster Weltkrieg, Zweiter Weltkrieg, Holocaust. Gehen wir zurück zum Dilemma von Nathan: Die Religion kann nicht das Problem sein. Wenn man die Antwort auf Verfolgung bei der Religion sucht, dann ist man am falschen Ort. Wir fühlen uns da stark instrumentalisiert. In Wahrheit geht es um etwas ganz anderes. SAKIB HALILOVIC Ich habe einen Grundsatz und das ist meine innere Überzeugung: Ich spreche von der Kanzel nicht über Politik. Ich habe ein Problem damit, dass sich die Religionen instrumentalisieren liessen und auch heute noch lassen. Diejenigen, die die Religion als Instrument benutzen, haben keinen religiösen Hintergedanken, sondern da geht es um Macht, um Politik, um Wähler und so weiter. Überspitzt gesagt, befinden wir uns dort, wo die Angst uns zusammenführt. MARCEL EBEL „Hexenjagd“ von A. Miller ist ein Stück, das vom Ausbruch der Hysterie in einer streng puritanischen Gemeinde in Neuengland im 17. Jahrhundert erzählt. Wann schlägt Ihrer Meinung nach religiöser Eifer in Fanatismus um? ANDREAS KARLAGANIS MARCEL EBEL Das ist eine Gratwanderung. SAKIB HALILOVIC Wahrscheinlich ist die Antwort überhaupt nicht einfach. Vor allem junge Menschen müssen mit einer grossen Unsicherheit leben. Die Presse liefert viele Informationen. Vielleicht haben wir heute zu viele Informationen. Und plötzlich ist man ein Narr. Man fragt sich: „Was ist? Was passiert? Was ist richtiger? Was ist wahr? Wer spricht überhaupt die Wahrheit?“ Ich glaube, ich erlebe dann die Kippe von missionarischem Eifer zu Fanatismus, wenn mir der Boden unter den Füssen weggezogen wird. Es ist eine Reaktion auf die Urangst des Selbstverlustes. Es gibt zwei Grundregeln in unseren Religionen. Die eine ist: Wer sein Leben verliert, wird es gewinnen. Das Prinzip des Loslassens ist gegenüber dem Fanatismus ein Instrument. Und die andere ist: Handle so, wie du möchtest, dass andere auch dich behandeln. Die goldene Regel. CHRISTOPH SIGRIST Radikalisierung passiert nicht bei uns. Jemand anders macht sie, nicht wir, nicht die Religion selbst. SAKIB HALILOVIC CHRISTOPH SIGRIST Du meinst ein politisches Gremium? ANDREAS KARLAGANIS … im Namen der Religion. Ja. Aber ich denke, wir müssen jetzt genau an diesem Punkt zur Ringparabel zurückkommen. Wenn jemand glaubt, dass nur das Seine das einzig Richtige und allein Seligmachende ist, dann gibt es keinen Platz mehr für die anderen. Wir haben im Gespräch die katholische Kirche ausgeklammert. Da ist auch noch viel Arbeit zu tun und von anderen christlichen Religionen wollen wir gar nicht sprechen. Die griechisch-orthodoxe Kirche, die russisch-orthodoxe Kirche, die sind mindestens 50 Jahre zurück. Der Gedanke, man habe das allein Seligmachende und die reine Wahrheit gefunden, bringt den Fanatismus und bringt das Unglück. MARCEL EBEL MARCEL EBEL Wie sonst schafft es die Religion, in die Gesellschaft hineinzuwirken? ANDREAS KARLAGANIS Wenn Krieg ist, ist der Einfluss der Religionsgemeinschaften sehr schwach, sonst hätten wir wahrscheinlich ein besseres Klima. Unsere Stimme ist offensichtlich zu schwach. SAKIB HALILOVIC • NATHAN DER WEISE von Gotthold Ephraim Lessing Jerusalem im 12. Jahrhundert: Der Jude Nathan nimmt das Christenmädchen Recha auf und zieht es in seiner Religion gross. Der christliche Tempelherr rettet Recha vor dem Feuertod. Er wiederum verdankt sein Leben dem Sultan Saladin, der ihn, berührt von dessen Ähnlichkeit mit Saladins Bruder, als Gefangenen begnadigt. Als Recha und der Tempelherr als Geschwister und beide schliesslich als Kinder von Saladins Bruder Assad erkannt werden, erweist sich die Geschichte als dramatische Illustration zu Nathans Erzählung der Ringparabel. Regie Daniela Löffner Mit Christian Baumbach, Ludwig Boettger, Gottfried Breitfuss, Klaus Brömmelmeier, Benedict Fellmer, Robert Hunger-Bühler, Julia Kreusch, Elisa Plüss, Johannes Sima Premiere 5. März, Pfauen Unterstützt von der René und Susanne Braginsky Stiftung 15
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