ein Gespräch aus dem Schauspielhaus

„WIR LERNEN
WIEDER DAS
MITEINANDER“
Imam Sakib Halilovic,
Rabbiner Marcel Ebel und
Pfarrer Christoph Sigrist
zu Lessings Ringparabel und
dem religiösen Miteinander
in Zürich.
Interview von
Gwendolyne Melchinger und
Andreas Karlaganis
10
Welche ist die „wahre Religion“?
Lessing fand vor dem Hintergrund
der deutschen Aufklärung mit dem
Märchen der Ringparabel eine Antwort.
Darin wird der Streit von drei Brüdern
um den einzig echten dreier gleich
aussehender Ringe geschlichtet, indem das praktische Handeln zum
Massstab für Echtheit erhoben wird.
Wir trafen Imam Sakib Halilovic,
Rabbiner Marcel Ebel und Pfarrer
Christoph Sigrist zum Gespräch über
ihre Sicht auf Lessings Ringparabel
und die Beziehung zwischen Islam,
Christentum und Judentum in Zürich.
In „Nathan der Weise“ geht es um
die Frage nach Toleranz. Voltaire schreibt: „Was ist Toleranz? Sie ist Menschlichkeit überhaupt. Wir sind alle
gemacht aus Schwächen und Fehlern. Darum sei erstes Naturgesetz, dass wir uns unsere wechselseitigen
Dummheiten verzeihen.“ Spätestens seit der Aufklärung
steht Toleranz auf der Werteskala ganz oben und seit der
Uraufführung von „Nathan der Weise“ 1779 gibt es sie
als exemplarische Verkörperung auf der Bühne in Form
der Figur Nathan. Wie lässt sich Ihrer Meinung nach Toleranz leben?
„Die Frage lautet nicht mehr:
Welche ist die richtige
Religion? Sondern es gibt
drei Religionen und jede hat
ihre Richtigkeit.“ MARCEL EBEL
GWENDOLYNE MELCHINGER
Etwas anderes steht auch nicht in unseren Büchern. Dass wir von einer Erde stammen und einen gemeinsamen Vater und eine Mutter haben, kann man auch aus
Voltaires Zitat herauslesen. Und wenn man in jedem Menschen Gottes Werk sieht, dann ist Toleranz schon vorhanden. Mehr bräuchte man dazu im Grunde nicht zu sagen.
SAKIB HALILOVIC
die Toleranz lebbar. Solange potenziell die Möglichkeit besteht, dass eine Religion die richtige ist, ist Toleranz sehr
schwierig nachzuvollziehen. Wenn man hingegen sagt: alle
drei Religionen sind richtig, jede auf ihre Art, dann wird man
sich seiner eigenen Grenzen bewusst und auch der Grenzen
des anderen – und kann so nebeneinander leben.
Wenn man von den fundamentalen Kräften absieht, könnte man somit sagen, dass „Nathan der
Weise“ im Hinblick auf die Toleranz von der Aufklärung
her heute eingelöst ist. Es geht nicht mehr um drei verschiedene Religionen und die Frage, welche von ihnen die
richtige ist, sondern die Frage heute lautet: Welche ist für
mich richtig? Richtigkeit an und für sich haben alle Religionen. Das Thema heute ist die Identitätsfindung von mir im
multikulturellen Umfeld von Zürich. Und das ist ein Aneignungsprozess. Die Prägungen, die es bei Recha von verschiedenen Seiten her gibt, sind natürlich bei uns auch da.
CHRISTOPH SIGRIST
Ich habe Mühe mit dem Wort Toleranz. Es kommt
vom Lateinischen „tolerare“, also von „dulden“. Das heisst:
zu einer Fliege kann ich sehr tolerant sein, solange sie in
einer Zimmerecke herumfliegt, aber wenn sie mich dauernd nervös macht, dann werde ich irgendwann mal einen
Fliegenklopfer nehmen. In diesem Zusammenhang gefällt
mir das Wort „akzeptieren“ viel besser. Den Menschen,
also mein Gegenüber, muss ich so akzeptieren, wie er ist.
Das liegt eine Stufe höher als tolerieren.
MARCEL EBEL
Toleranz in Zürich leben heisst – wenn ich
Sakibs Worte der Gottebenbildlichkeit zuspitze –: den Respekt nicht verlieren vor Andersdenkenden und Andersglaubenden. Und Respekt kommt von „respicere“, zurückschauen, also den Respekt gewinnen, wenn man einander
ins Gesicht schaut und nicht den Rücken kehrt. Der andere wird so in seiner differenzierten Andersheit erkannt.
So wird die Differenzerfahrung in den Toleranzbegriff integriert. Der Toleranzbegriff wird leer, wie auch der Begriff
der Nachhaltigkeit oder der Demokratie oder der des Volkswillens, wenn er instrumentalisiert wird für die eigenen
Zwecke. Und der Toleranzbegriff wird immer dann instrumentalisiert, wenn man meint: Ja, ich bin schon tolerant
ihm gegenüber, aber bitte bleib so, wie ich es will. Und
so bin ich überzeugt, dass „Nathan der Weise“ heute ein
wichtiges Stück für uns geworden ist.
CHRISTOPH SIGRIST
Recha, die Ziehtochter von Nathan,
vereint drei Religionen in sich. Ihr Vater war ein Muslim, der
zum Christentum konvertiert ist, die Mutter eine Christin und
Nathan wiederum hat sie im jüdischen Glauben aufgezogen.
Was bedeutet es, wenn Menschen unterschiedliche Religionen in sich tragen?
GWENDOLYNE MELCHINGER
Ich denke, man muss „Nathan der Weise“ auch
in den historischen Kontext setzen. Das Stück war zu seiner Zeit revolutionär. Gemischte Religionen, das war etwas,
das man nicht gekannt hat. Heute sind wir doch immerhin
schon einige Schritte weiter. Man merkt es zwar nicht immer, aber es ist doch hoffentlich so. Die Frage lautet eigentlich nicht mehr: Welche ist die richtige Religion? Sondern
es sind drei Religionen und jede hat ihre Richtigkeit. Da wird
MARCEL EBEL
Es leben in der Tat viele Leute in vielen verschiedenen religiösen Formen. Aber reden wir auf der akademischen Ebene oder reden wir vom Alltag? Auf dem
Balkan haben die Religionen 500 Jahre gemeinsam gelebt.
Jedoch hat man nebeneinander gelebt. Die Frage hier und
jetzt ist eine andere: wir sind einander in den Städten viel
näher. Wir teilen heute Arbeitsplätze, Schulen, Verkehr,
alles Mögliche. Wie erleben das die Menschen?
SAKIB HALILOVIC
Wenn man nach der Ursache des nicht mehr Nebeneinanders, sondern Miteinanders fragt, dann ist das letztendlich die Säkularisierung. Durch die Säkularisierung der
Gesellschaft ist der Unterschied zwischen den Religionen
heute eigentlich fast hinfällig. Wenn ich an nichts glaube und
mein Gegenüber an nichts glaubt, dann haben wir schon
wieder etwas gemeinsam und zwar das, was uns eigentlich
verloren gegangen ist irgendwo auf dem Weg der Aufklärung.
MARCEL EBEL
Da vertrittst du, glaube ich, einen anderen
Säkularisierungsbegriff als ich. Der Säkularisierungsbegriff ist die Frucht von „Nathan der Weise“. Und von daher
glaube ich eben nicht, dass ein säkularer Mensch nichts
glaubt, sonst würde er nicht in die Kirchen, Moscheen oder
Synagogen gehen, wenn er als Tourist irgendwo ist. Ich
würde eher sagen, die Autonomie hat alle drei Religionen
in einen neuen Raum hineingezogen. Und in diesem neuen
Raum lernen wir erst jetzt – erst jetzt! – die Ringparabel richtig zu erkennen, weil wir in der Tat gezwungen sind, das Nebeneinander zu leben und einzuüben in einem Modell des
Miteinanders. Zum Beispiel bei Katastrophen. Paris hat uns
gezwungen, miteinander in einem christlichen Gottes- →
CHRISTOPH SIGRIST
11
dienst überhaupt zusammen zu sein. Das wäre vor zwanzig,
dreissig Jahren gar nicht denkbar gewesen.
SAKIB HALILOVIC
Ist das nicht etwas Abstraktes? Hängt das nicht
auch davon ab, dass der Christoph Sigrist mich angerufen
hat und nicht irgendein anderer Pfarrer?
CHRISTOPH SIGRIST
Jetzt sind wir bei einem ganz wichtigen Teil,
den „Nathan der Weise“ einlöst: Wir sind doch Schwestern
und Brüder geworden durch Freundschaft, durch den Weg,
den wir miteinander gegangen sind.
SAKIB HALILOVIC
MARCEL EBEL
CHRISTOPH SIGRIST
Wahrscheinlich hätte sie das, aber durch das
Minarettverbot kann sie nicht so wirken.
(Gelächter)
Okay, da hast du recht: Das Minarettverbot
ist ein Schlag ins Gesicht von „Nathan der Weise“. Eindeutig.
Das finde ich auch.
Diese Vorgänge haben mich geprägt. Deswegen ist es in meinen Augen ein frommer Wunsch. Was du
sagst, funktioniert nicht überall.
Wenn ich das noch anfügen darf: In Sizilien
wurden über Jahrhunderte Moscheen und griechische Tempel in Kirchen, dann in Moscheen und wieder in Kirchen
umgebaut und umgewandelt. Das heisst, wir hatten auch
schon vor der Aufklärung Zeiten, wo der Toleranzgedanke,
schon viel stärker prägend war als in der heutigen Zeit.
CHRISTOPH SIGRIST
Die Antwort, die Nathan gibt, ist
hoffentlich eine sehr heutige. Dass nämlich diejenige die
wahre Religion ist, die sich im menschlichen Handeln beweist. Damit zeigt Nathan ganz deutlich, dass jede der Religionen die wahre sein kann und dass gutes menschliches
Handeln im besten Falle weitere gute Taten mit sich bringt.
Ist das nun eine logische Konsequenz oder eher ein frommer Wunsch? Nathan ist auch ein Stratege. Er findet eine
Geschichte, mit der er antworten kann, und es gelingt ihm
auch, sich damit aus der Affäre zu ziehen.
GWENDOLYNE MELCHINGER
Es ist eine typisch „säkularisierte“ Frau,
die das so fragt. Und zwar aus der Kunstszene des Schauspielhauses. Nein, Spass beiseite, da rede ich für uns alle
drei, denn es ist unser gemeinsames jüdisches Erbe; das
ist überhaupt kein frommer Wunsch, sondern Religion pur.
Das kennen wir vom Bundesgesetz her, das wissen wir vom
Matthäusevangelium, Kapitel 25, und der zentrale Satz dort
steht so auch im Koran: „Ich war fremd und ihr habt mich
besucht.“ Wir haben alle religiöses Empfinden inhärent.
Das heisst: Gutes tun. Das ist die Würde des Selbstverständlichen, die in der Schöpfung von Gott angelegt ist
und dem Menschen praktisch in die DNA hineingeschrieben wird. Und es kann nur ein Säkularisierter so fragen,
weil er schon distanziert ist von der Wurzel der Religion.
(zu seinen Kollegen) Habe ich recht oder ist das falsch?
CHRISTOPH SIGRIST
Jein. Ich würde Frau Melchinger auch ein bisschen zustimmen. Es ist in gewissem Sinne ein frommer
Wunsch. Religion steckt per se auch in der Arbeit.
SAKIB HALILOVIC
Aber meinst du nicht, dass das Minarett
wie die Synagoge und auch der Kirchturm praktisch für
alle in der Gesellschaft Symbole dafür sind, dass wenigstens an diesen Orten der „fromme Wunsch“ notwendigerweise umgesetzt wird? Meinst du nicht, dass das eine
solche Wirkung hat, die Moschee zum Beispiel?
CHRISTOPH SIGRIST
CHRISTOPH SIGRIST ist Pfarrer am Grossmünster
12
Wir können diese Frage in Zürich sehr wohl
schöngeistig diskutieren. Aber wenn man sich anderswo
umschaut, sieht man schon, dass die Dominanz der einen oder anderen Kirche und Religion eine ganz andere
Bedeutung hat. Das muss man schon auch sehen. Wir
leben geschützt unter einer schönen Käseglocke und wir leben gut hier. Aber es ist nicht das, was draussen, im Rest
der Welt existiert.
MARCEL EBEL
Ich glaube, dass Zürich mit seinen 400 000
Einwohnern in den letzten zwanzig Jahren in einen neuen
Toleranzraum gerutscht ist, weil die reformierte Kirche Minderheit geworden ist und die katholische auch. Das heisst,
ich bin in dasselbe Boot gestiegen wie ihr auch. Und das ist
für mich als reformierter Zürcher ein ganz schwieriger Prozess. Als ich in den 60er Jahren aufgewachsen bin, gabs
nur die Reformierten und die Juden in Zürich Enge. Und
sonst gabs nichts.
CHRISTOPH SIGRIST
MARCEL EBEL
Ja, natürlich.
Wir sind ein Konglomerat von religiösen
Minderheiten geworden. Die systemtheoretische Ausdifferenzierung von Niklas Luhmann hat sich durchgesetzt.
Wir sind wieder Schwestern und Brüder geworden, weil
wir alle im selben Boot sitzen – auch ich als Reformierter.
Das ist für mich ein schwieriger Aneignungsprozess.
CHRISTOPH SIGRIST
Das Wort Prozess ist in dem Zusammenhang
sehr wichtig. Wenn man Ideale erreichen möchte, dann
sollte man sich in einen Prozess begeben, um einen stän-
SAKIB HALILOVIC
MARCEL YAIR EBEL, geboren in Zürich, ist
SAKIB HALILOVIC, eingebürgerter Bosnier, ist
und Privatdozent für Diakonie-
Rabbiner der Israelitischen
Imam des islamisch-bosnischen
wissenschaft an der Theolo-
Cultusgemeinde Zürich (ICZ).
Zentrums in Schlieren, Zürich.
gischen Fakultät der Universität
Er machte die Ausbildung
Er studierte Theologie an der
Bern. Ausserdem ist er Parla-
zum Rabbiner in den
Fakultät für Islamische Wissen-
mentspräsident des Zürcher
USA mit Zusatzausbildung
schaften in Sarajevo und an der
Spendenparlaments, Präsident
zum Gemeinderabbiner.
ZHAW Winterthur. An vielen Orten
des Zürcher Forums der
Seit 1992 ist er für die
engagiert sich Halilovic im inter-
Religionen und Mitglied in
ICZ in verschiedenen
religiösen Gespräch und er ist Mit-
verschiedenen diakonischen
Funktionen tätig, seit 2006
glied der Arbeitsgruppe für eine
Stiftungen.
als Gemeinderabbiner.
Islamausbildung in der Schweiz.
„Das Minarettverbot ist
ein Schlag ins Gesicht
von Nathan.“ CHRISTOPH SIGRIST
digen Boden zu finden und gleichzeitig den anderen zu respektieren. Für mich ist jeder Gläubige in einem Prozess
hin zum Ideal.
Ich würde gerne auf Christoph Sigrists
Bild des „neuen Raums“ zu sprechen kommen, den es gemeinsam auch zu bespielen gilt. Wie würden Sie die Spannungen, die da herrschen, beschreiben? Nichtsdestotrotz
sind es ja drei unterschiedliche Religionen.
ANDREAS KARLAGANIS
Die Spannungen sind da, weil man in Zürich
nicht immer erkennt, dass es sich bei der anderen Religion
auch um einen Ring handelt. Stattdessen meint man, es sei
ein Viereck. Die Erkenntnis, dass alle Religionen mit dem
Symbol Gott Ringe sind, ist anscheinend schwierig. Nach
wie vor treffe ich auf Menschen, die sagen, wenn ein Muslim im Grossmünster zu Allah betet und nicht zu Gott, ist das
ein anderer Gott. Etwas Zweites, was es für mich schwierig
macht, die Geschichte des Toleranzgedankens weiterzugeben, ist das Erbe. Hinter der Ringparabel steht ja eigentlich die Weitergabe des Erbes. Und da erlebe ich bei uns
in den letzten dreissig Jahren einen absoluten Abbruch. Es
ist nicht mehr lesbar, dass es ein Ring ist; man erkennt ihn
nicht mehr und man hat das Gefühl, man hat ihn verloren.
Wenn ich dieses Gefühl habe, dann bin ich auf Glatteis und
dann greife ich reflexartig nach dem, was ich nicht mehr so
durchdenken kann, wie es Nathan tut. Das sind für mich die
rechts- oder linksradikalen oder die ideologisierenden und
polarisierenden Tendenzen.
CHRISTOPH SIGRIST
Ich will ganz kurz auf die Frage antworten:
Spannungen sind immer spannend.
Vielleicht sind es sogar fünf oder sechs richtige Ringe in der heutigen Zeit. Eine Frucht der Ringparabel
ist zum Beispiel, dass in der Schule seit einigen Jahren im
Kanton Zürich – sehr pionierhaft – obligatorisch alle Kinder
in die Ringe eingeführt werden müssen. Es ist eine Folge
des „neuen Raums“, dass der Schüler Religion lernt wie
Mathematik, als einen Teil des gesellschaftlichen Lebens.
Und wir Kirchen sind dann aufgefordert, sie in die entsprechende Religion einzuüben.
CHRISTOPH SIGRIST
Eine befreundete Kindergärtnerin sagte mir, sie
habe es von Jahr zu Jahr schwerer, auf Weihnachten einzugehen, weil jedes Jahr mehr Kinder gar nicht christlich
seien. Was soll sie ihnen für Werte mitgeben, ausser dass
es die Zeit des Schenkens ist? Es kommen Kinder, die sagen: „Ich möchte ein Christ werden, die bekommen so viele
Geschenke.“ Die Durchmischung von verschiedenen Religionen in der Gesellschaft spielt sich nicht nur jetzt am Tisch
ab, sondern eben auch in den Schulklassen und so weiter.
MARCEL EBEL
SAKIB HALILOVIC
CHRISTOPH SIGRIST
Sie gehören zur Familie, meinst du?
Das heisst, die Religion sollte sich nicht
zurückziehen, sondern sich aktiv in ein Gespräch begeben.
ANDREAS KARLAGANIS
Vom Gedanken vieler Wissenschaftler und
Kulturschaffender, dass es um eine Wiederkehr des Religiösen geht, gilt es sich zu verabschieden. Es geht auch
nicht darum, dass Säkularismus heisst, Religion sei weg.
Das ist nicht der Fall, sondern ihr auf der Schauspielbühne
seid noch religiöser als vor zwanzig Jahren. Dass ihr „Die
zehn Gebote“ in der Schiffbauhalle aufführt, wäre vor zwanzig Jahren nicht möglich gewesen.
CHRISTOPH SIGRIST
Sie sind personell und es gibt sehr viele verschiedene. Menschen mit all ihren religiösen Dramen zu
treffen und sich mit ihnen auszutauschen, das ist immer
spannend.
SAKIB HALILOVIC
Es hat natürlich mit den drei Brüdern zu tun,
das ist schon so.
CHRISTOPH SIGRIST
Wobei uns die Brüder in „Nathan der Weise“
auf dem Silbertablett serviert werden. Wir erkennen sie im
Alltag unter Umständen nicht, weil jeder für sich alleine in
seinem kleinen Gärtchen lebt. Ich denke, miteinander leben hat sehr viel damit zu tun, mehr übereinander zu wissen. Nur wenn ich rausgehe aus meinen vier Wänden und
auch zeige: das ist mein Weg, Gott näherzukommen, so
mache ich es und der andere sieht es – er muss es nicht
für sich akzeptieren, er braucht nur zu sehen, dass es
auch andere Wege gibt – dann lässt sich Toleranz leben.
Was auch wichtig ist: Zürich hat sich durch den Verlust
der Mehrheit der Religion in der Bevölkerung sozusagen
zwangsläufig „toleralisiert“. Und daher denke ich, ist es
vielleicht auch ein ganz anderer Zugang zu der Frage,
welcher Ring jetzt der richtige Ring ist. Vielleicht braucht
es eben mehr als einen richtigen Ring. Vielleicht braucht
es drei richtige Ringe und jeder muss den Beweis erbringen, dass er auf gleicher Ebene ist.
MARCEL EBEL
MARCEL EBEL
Auch „Genesis“ vor drei Jahren.
Wir sind anscheinend heute zur Einsicht gekommen, Religion per se – und dazu hat der Zusammenbruch des Sozialismus beigetragen – gehört zum gesellschaftlichen Umfeld und zum gesellschaftlichen Leben, zum
Menschen, so wie andere Dinge auch. Also müssen wir einander kennenlernen. Beim Nathan sind es drei Brüder, die
da kommen. Wir lernen jetzt wieder das Miteinander, indem
wir Begegnungen organisieren, einander besuchen, miteinander kochen und so weiter. Alltagserfahrungen werden integriert ins religiöse Leben. Das finde ich schon spannend.
CHRISTOPH SIGRIST
Noch einmal zu Nathans Ring-Dilemma. Theologisch ist die Frage einfach zu beantworten. Jeder von
uns hat einen eigenen Ring, eine eigene Verbindung zu
Gott, der Gericht halten wird. Welcher ist der richtige
Ring? Wir werden nie die Antwort finden. Wir über- →
SAKIB HALILOVIC
13
„Der Gedanke, man habe das allein Seligmachende und die reine
Wahrheit gefunden, bringt den Fanatismus.“ MARCEL EBEL
lassen sie Gott, weil wir daran glauben, dass wir zu ihm
zurückkehren. Auf der menschlichen Ebene hingegen ist
es für mich wichtig, dass jeder von uns eine Chance bekommt, den eigenen Ring zu bewahren, und dass man den
Ringen der anderen nicht schadet.
Nathan wird oft mit Hiob verglichen.
Nathans Familie wurde von Christen ermordet und nach
langem Weg verzeiht er. Das Christenmädchen Recha hilft
ihm, seinen Schmerz zu überwinden. Wie gehen Sie mit
dem Thema Verzeihen um, das auch bei Hiob wichtig ist?
Das gehört ja im weitesten Sinne zur Toleranz dazu.
GWENDOLYNE MELCHINGER
Wir verlassen uns auf das Verzeihen von
Gott, zumindest nach der Regel des Islam. Das Paradies
kann man nicht nur mit guten Taten erreichen. Am Schluss
braucht man Gottes Erbarmen und seine Verzeihung. Und
wenn man gerade von Gott Verzeihung erwartet, dann ist
es logisch, dass jeder, der nach all diesen Prinzipien lebt,
in der Lage ist, auch dem anderen zu verzeihen. Entschuldigen und verzeihen.
SAKIB HALILOVIC
Entschuldigung ist Grundbestand unserer Religionen und jüdisches Erbe. „Und vergib uns unsere Schuld,
wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“ – Jesus hat
das als Jude übernommen. Hier kommt uns das Schauspiel von Nathan zugute, weil es ein Drama in fünf Akten
ist. Es ist immer ein Drama, wenn verziehen wird; das sind
dramatische Prozesse. Und es braucht Zeit. Es sind fünf
Schritte abzuschreiten, bis dann wirklich Verzeihung und
Versöhnung erreicht sind. Das geht mir auf, wenn ich gemeinsam mit den Bundesräten im Gedenken an die Reichskristallnacht in der Synagoge bin. Da lerne ich von der jüdischen Seele her, dass es unendlich viel Zeit braucht, um
im Zusammenhang mit religiös konnotierten Verletzungen
und Katastrophen überhaupt das Wort Verzeihung begrifflich, sprachlich, inszenierend so zu spielen, dass es auch
verstanden wird und nicht nochmals eine Verletzung verursacht. Wir können aus der Geschichte lernen, dass Urbegriffe religiösen Empfindens, Versöhnung und Vergebung,
Verzeihung von Gott für uns Menschen, enorm viel Zeit
brauchen, über Generationen hinweg.
CHRISTOPH SIGRIST
Kain brauchte ein Zeichen, obwohl ihm Gott
verziehen hat. Das heisst, es ist irgendwo ein Mittelweg
zwischen Verzeihen und Vergeben. Man muss beide Begriffe ebenbürtig denken. Man kann nicht sagen, es gibt
nur ein Verzeihen. Es gibt auch ein Vergeben. Und das
Zeichen bleibt. Die Erinnerung bleibt und muss weiter
bestehen.
MARCEL EBEL
CHRISTOPH SIGRIST
Das Zeichen ist wie eine Narbe.
Da bist du fast reformiert. Du weisst ja, die
Bedeutung des Zeichens in Verbindung mit dem reformierten Abendmahlverständnis. (Gelächter)
CHRISTOPH SIGRIST
Beobachten Sie nach den Anschlägen in
Paris Veränderungen im religiösen Klima der Stadt? Brodelt
hier etwas?
ANDREAS KARLAGANIS
Mich befremdet der aktuelle Diskurs. Neulich
wurden einige Mitarbeiter physisch angegriffen. Eine Frau im
Zug auf dem Weg nach Hause wegen ihres Kopftuchs. Das
ist schon eine Veränderung. Zwar hat Marcel richtig gesagt,
dass die Schweiz ein Stück des Paradieses auf der Erde ist.
Aber auf der anderen Seite spüre ich nach mehr als 23 Jahren in Zürich starke Veränderungen. Nach dem 11. September gab es verschiedene Volksinitiativen. Das Minarettverbot, das Verschleierungsverbot. Das spüren wir sehr stark.
SAKIB HALILOVIC
Ich erlaube mir jetzt eine sehr gewagte Behauptung, aber ihr seid heute sozusagen die Juden von vor fünfzig Jahren, die offen angegriffen wurden. Ich bin in Zürich im
Kreis 4 aufgewachsen, ich habe als Kind einen offenen Antisemitismus physisch erlebt. Ich denke, dass das aktuelle
Klima nicht einmal so sehr mit dem Islam an sich zu tun hat,
sondern es muss jemand dran glauben, an dem man seine
Unsicherheit ausleben kann, indem man sagt: Das sind die
Schlechten.
MARCEL EBEL
Wir haben in Bosnien den Genozid erlebt. Das
Klima und der Diskurs danach war fast eins zu eins wie heute.
SAKIB HALILOVIC
Klar ist eine Radikalisierung im Gange im Bereich von Fundamentalisten. Wir als Vertreter der Religionen
stehen in der Tat in der Verantwortung, zusammenzustehen,
um dagegen anzugehen. Die Angst vor dem Fremden, die
Angst vor dem Anderen ist per se praktisch die Grosswetterlage unserer Zeit geworden. Und jeder terroristische Anschlag nährt diese Angst. Nicht nur jene, dass ich meinen
Ring verliere, sondern dass ich überhaupt nichts mehr habe.
Und dann kommt als Zielscheibe die betroffene religiöse
Gruppe aufs Parkett und wird medial ausgeschlachtet. Seit
2001 ist es der Islam.
CHRISTOPH SIGRIST
Ich wundere mich immer wieder, dass ich eigentlich noch nie einen Aufruf gehört habe für all die Christen
in Mossul und im sonstigen Syrien. Dass von christlicher
Seite, auch von Parteien, die mit dem C im Namen hausieren, nichts kommt. Es wird irgendwie immer unter den Tisch
gekehrt. Ich lese nichts in den Zeitungen darüber und es ist
ja dort ein grässliches Unrecht geschehen. Da müssten die
Menschen doch eigentlich aufschreien.
MARCEL EBEL
Machen wir auch. Doch deine Reaktion ist
verständlich. Was wird christlich-religiös öffentlich überhaupt noch wahrgenommen? In den letzten Jahren ist das
CHRISTOPH SIGRIST
Ich verstehe es symbolisch. Es ist ein Zeichen, an
das man erinnert wird.
MARCEL EBEL
14
der Papst mit seinen Reisen. Aber dass wir das, was du
sagst, schon seit Jahrzehnten innerhalb unserer kirchlichen
Kommunikation, aktuell mit dem HEKS (Hilfswerk der Evangelischen Kirchen Schweiz) auch umsetzen, wird öffentlich
nicht wahrgenommen.
Auf der anderen Seite haben wir Staaten, die
nur christliche Flüchtlinge aufnehmen wie Polen, Tschechien
oder Ungarn oder …
SAKIB HALILOVIC
CHRISTOPH SIGRIST
Da wird schon ausdifferenziert, meinst du?
Ja. Und das ist meine Besorgnis. Und gerade
die Partei, die pauschal attackiert, gewinnt bei jeder Wahl.
SAKIB HALILOVIC
Herr Ebel, Eva Illouz schreibt in ihrem
Essayband „Israel“: „Das Recht der Juden auf ein Territorium und auf nationale Souveränität darf nie in Frage gestellt werden.“ Wie muss man damit umgehen, Teil einer
Geschichte des Verfolgtseins zu sein?
GWENDOLYNE MELCHINGER
Man kennt es nicht anders, man wächst mit diesem Gedanken auf. Mal ist es besser und mal schlechter.
Es kann in Spanien 700 Jahre lang wunderbar sein – eine
goldene Blüte der Religion, der Philosophie und der Kunst –
und dann kommt ein Cut und fertig. So ist es immer wieder
passiert. Wir haben heute in der Gemeinde Leute aus aller
Herren Länder und viele, die in zweiter Generation hier leben. Wir haben gestern noch darüber geredet, dass wir anfangen müssen, einen Gottesdienst einzuführen für Juden,
die ursprünglich aus Nordafrika stammen, weil sie einen anderen Ritus haben als wir. Letzten Endes ist die Tatsache,
dass sie hier sind, ein Resultat von Verfolgung. Damit leben
wir einfach.
MARCEL EBEL
Wir nehmen an, dass Aufklärung etwas zivilisatorisch sehr Wichtiges ist. Aber gerade nach der Aufklärung hat man die schlimmsten Verfolgungen in der
Geschichte der Menschheit erlebt: Kommunismus, Faschismus, Erster Weltkrieg, Zweiter Weltkrieg, Holocaust.
Gehen wir zurück zum Dilemma von Nathan: Die Religion
kann nicht das Problem sein. Wenn man die Antwort auf
Verfolgung bei der Religion sucht, dann ist man am falschen Ort. Wir fühlen uns da stark instrumentalisiert. In
Wahrheit geht es um etwas ganz anderes.
SAKIB HALILOVIC
Ich habe einen Grundsatz und das ist meine innere Überzeugung: Ich spreche von der Kanzel nicht über
Politik. Ich habe ein Problem damit, dass sich die Religionen instrumentalisieren liessen und auch heute noch lassen. Diejenigen, die die Religion als Instrument benutzen,
haben keinen religiösen Hintergedanken, sondern da geht
es um Macht, um Politik, um Wähler und so weiter.
Überspitzt gesagt, befinden wir uns dort, wo die
Angst uns zusammenführt.
MARCEL EBEL
„Hexenjagd“ von A. Miller ist ein Stück,
das vom Ausbruch der Hysterie in einer streng puritanischen
Gemeinde in Neuengland im 17. Jahrhundert erzählt. Wann
schlägt Ihrer Meinung nach religiöser Eifer in Fanatismus um?
ANDREAS KARLAGANIS
MARCEL EBEL
Das ist eine Gratwanderung.
SAKIB HALILOVIC Wahrscheinlich
ist die Antwort überhaupt nicht
einfach. Vor allem junge Menschen müssen mit einer grossen Unsicherheit leben. Die Presse liefert viele Informationen. Vielleicht haben wir heute zu viele Informationen.
Und plötzlich ist man ein Narr. Man fragt sich: „Was ist?
Was passiert? Was ist richtiger? Was ist wahr? Wer spricht
überhaupt die Wahrheit?“
Ich glaube, ich erlebe dann die Kippe von
missionarischem Eifer zu Fanatismus, wenn mir der Boden
unter den Füssen weggezogen wird. Es ist eine Reaktion auf
die Urangst des Selbstverlustes. Es gibt zwei Grundregeln
in unseren Religionen. Die eine ist: Wer sein Leben verliert,
wird es gewinnen. Das Prinzip des Loslassens ist gegenüber
dem Fanatismus ein Instrument. Und die andere ist: Handle
so, wie du möchtest, dass andere auch dich behandeln. Die
goldene Regel.
CHRISTOPH SIGRIST
Radikalisierung passiert nicht bei uns. Jemand
anders macht sie, nicht wir, nicht die Religion selbst.
SAKIB HALILOVIC
CHRISTOPH SIGRIST
Du meinst ein politisches Gremium?
ANDREAS KARLAGANIS
… im Namen der Religion.
Ja. Aber ich denke, wir müssen jetzt genau an
diesem Punkt zur Ringparabel zurückkommen. Wenn jemand
glaubt, dass nur das Seine das einzig Richtige und allein
Seligmachende ist, dann gibt es keinen Platz mehr für die
anderen. Wir haben im Gespräch die katholische Kirche ausgeklammert. Da ist auch noch viel Arbeit zu tun und von anderen christlichen Religionen wollen wir gar nicht sprechen.
Die griechisch-orthodoxe Kirche, die russisch-orthodoxe Kirche, die sind mindestens 50 Jahre zurück. Der Gedanke, man
habe das allein Seligmachende und die reine Wahrheit gefunden, bringt den Fanatismus und bringt das Unglück.
MARCEL EBEL
MARCEL EBEL
Wie sonst schafft es die Religion, in die
Gesellschaft hineinzuwirken?
ANDREAS KARLAGANIS
Wenn Krieg ist, ist der Einfluss der Religionsgemeinschaften sehr schwach, sonst hätten wir wahrscheinlich ein besseres Klima. Unsere Stimme ist offensichtlich zu
schwach.
SAKIB HALILOVIC
•
NATHAN DER WEISE
von Gotthold Ephraim Lessing
Jerusalem im 12. Jahrhundert: Der
Jude Nathan nimmt das Christenmädchen Recha auf und zieht es
in seiner Religion gross. Der christliche Tempelherr rettet Recha
vor dem Feuertod. Er wiederum
verdankt sein Leben dem Sultan
Saladin, der ihn, berührt von
dessen Ähnlichkeit mit Saladins
Bruder, als Gefangenen begnadigt.
Als Recha und der Tempelherr als
Geschwister und beide schliesslich
als Kinder von Saladins Bruder
Assad erkannt werden, erweist
sich die Geschichte als dramatische Illustration zu Nathans
Erzählung der Ringparabel.
Regie Daniela Löffner
Mit Christian Baumbach,
Ludwig Boettger, Gottfried
Breitfuss, Klaus Brömmelmeier,
Benedict Fellmer, Robert
Hunger-Bühler, Julia Kreusch,
Elisa Plüss, Johannes Sima
Premiere 5. März, Pfauen
Unterstützt von der
René und Susanne Braginsky Stiftung
15