Sergej Prokofjew

Sergej Prokofjew
Die Entstehung der „Liebe zu den drei Orangen“
Ich hatte gehofft, dass ich es mit meiner Musik in Amerika ebenso leicht haben
würde wie in der letzten Jahren in Russland. In Wahrheit aber fand ich ein vortrefflich
organisiertes, jedoch durchaus anderes Musikleben vor. Bei uns ist man seit einem
ganzen Jahrhundert an Komponisten gewöhnt, die sich etwas ausgedacht haben und
das Publikum vor Aufgaben stellen, über die diskutiert wird. Der Ausgang solcher
Erörterungen ist dann verschieden – manchmal haben die Komponisten wertloses
Zeug geschrieben und verschwinden wieder; manchmal redet auch das Publikum
dummes Zeug und die Komponisten bleiben. Die Diskussion über Neuerscheinungen
in der Musik, über Richtungen und Komponisten stellen einen nicht geringen
Bestandteil unseres kulturellen Lebens dar. Amerika hat im Gegensatz dazu keine
Komponisten, außer denen, die schon berühmt aus Europa kommen, und das ganze
Schwergewicht des Musiklebens liegt auf dem persönlichen Vortrag. In dieser
Beziehung galt es, die Ohren steif zuhalten: Eine Nachlässigkeit, die Moskau
verzeihen könnte, verzeihen sie hier nie.
Besser ging es in Chicago. MacCormick, der dort zu Hause war, hielt Wort und
brachte mich mit dem Dirigenten des dortigen Orchesters, Stock, und dem
Kapellmeister der Oper, Campanini, zusammen. Zwei Konzerte mit dem Chicagoer
Orchester verliefen bedeutend erfolgreicher als die in New York. „Bolschewistische
Musik“ schrieben die Zeitungen über die „Skythische Suite“ und erzielten mit diesem
Ausdruck ein gewisses Aufsehen. Cambanini interessierte sich für den „Spieler“. Den
Klavierauszug hatte ich bei mir, wie sollte ich jedoch die Partitur aus dem
Marientheater nach Chicago bekommen? Aber jetzt kam mir ein anderer Gedanke:
Als ich aus Moskau fort fuhr, hatte ich mir für unterwegs ein Theaterheft
mitgenommen, in welchem „Die Liebe zu den drei Orangen“ abgedruckt war, ein
Stück von Carlo Gozzi, das mich mit seiner Mischung von Märchen, Spaß und Satire
außerordentlich fesselte, und ich hatte sogar während der langen Reise etwas wie
einen Entwurf zu einer Oper angefangen. Ich teilte meinen Gedanken Campanini mit.
„Gozzi! Unser lieber Gozzi!“ rief der Italiener aus. „Aber das ist ja herrlich!“ Im
Januar 1919 unterschrieben wir einen Vertrag, nach welchem die Oper zum Herbst
fertig sein sollte. Um die Konzerte war es nach einem Misserfolg in New York still
geworden, es blieb mir weiter nichts übrig, als Werke anderer Komponisten für
gemischte Programme einzuüben, woran mir nichts lag – mit um so größerem Eifer
stürzte ich mich auf die Komposition der Oper, da ja auch das dafür erhaltene
Honorar in dieser Zeit meinen Unterhalt bestritt. Mit Rücksicht auf den
amerikanischen Geschmack wählte ich eine musikalische Sprache, die einfacher war
als die im „Spieler“, und die Arbeit ging leicht von der Hand. Ganz besonders reizte
mich das Szenische. Etwas Neues stellten die drei ineinander verwobenen
Handlungen dar, die der Personen aus dem Märchen (Prinz, Truffaldino usw.), die der
unterirdischen Mächte, von denen die ersteren abhängen (der Zauberer Celio, die
Fata Morgana), und schließlich die der Sonderlinge als Vertreter der Direktion, die
alle Vorgänge kommentieren.
Im März erkrankte ich an Scharlach, woran sich eine Diphtherie anschloss und ein
Abszess, an dem ich um ein Haar erstickt wäre. „Ich nahm an, dass Sie im Sterben
lägen, und schickte Ihnen Rosen“, erklärte eine Amerikanerin mit einem gewissen
Bedauern, sie überflüssigerweise gekauft zu haben. Als ich auf dem Wege der
Besserung war, konnte ich kaum die Erlaubnis des Arztes zur Fortsetzung meiner
Arbeit abwarten. Wenn die Komposition kurz vor der Erkrankung ein wenig ins
Stocken geraten war, so hatte ich nun nach der Genesung, wenn ich mich so
ausdrücken darf, gewissermaßen einen neuen Auftrieb erhalten, und im Juni war die
ganze Musik fertig. Der Sommer verging mit der Instrumentierung. Am 1. Oktober
war die Partitur abgeschlossen, wie im Vertrag festgelegt. Das Theater bemühte sich
um schöne Dekorationen, womit Anisfeld beauftragt wurde. Alles klappte – da starb
im Dezember Campanini, im Theater ging alles drunter und drüber, man kam mit
dem Spielplan nicht zurecht, und die „Drei Orangen“ wurden auf die nächste Saison
verschoben. Ohne die Oper und mit den wenigen Konzerten saß ich auf dem
trocknen.
Im Herbst 1920 kehrte ich nach Amerika zurück, wo der Kampf mit dem Direktor der
Chicagoer Oper begann. Er hatte die Absicht, die „Drei Orangen“ in dieser Saison auf
die Bühne zu bringen, war aber unter keinen Umständen bereit, mich für die
Verspätung eines ganzen Jahres zu entschädigen. „Damit kann ich nicht
einverstanden sein“, sagte ich, „da Sie mir die ganze Saison verdorben haben.“ „Dann
werden wir gezwungen sein, die Oper ohne Ihre Erlaubnis zu inszenieren.“ „In
solchem Falle werde ich gezwungen sein, Ihre Aufführung auf gesetzlichem Wege zu
verhindern.“ In diesem Punkt war der Vertrag unklar – als ob sie ohne meine
Genehmigung inszenieren dürften, ich Ihnen aber doch Schwierigkeiten machen
könnte. Im Verlauf der Verhandlungen versteiften sich beide Parteien. Ich entschied:
„Soll die Oper nicht aufgeführt werden, aber ich lasse mich nicht übers Ohr hauen.“
Der Direktor entschied: „Sollen die 80 000 Dollar, die für die Dekorationen
ausgegeben sind, zum Teufel sein, aber wir lassen uns kein Geld herausziehen.“ So
kam die Oper wiederum nicht heraus, dieses Mal – wollen wir ehrlich sein – durch
meine Schuld.
Im Oktober 1921 reiste ich wieder nach Amerika, diesmal mit mehr Vergnügen als im
Jahre vorher: Die Aufführung der „Orangen“ war gesichert, und eine Reihe von
Engagements abgeschlossen. Das neue Klavierkonzert hatte ich bei mir. Die
Opernproben standen vor dem Beginn, ich dirigierte. Mary Garden war eine
großzügige Direktorin, aber meistens mit ihren eigenen Rollen beschäftigt, so dass
sie, wenn man sie brauchte, nie aufzutreiben war. Die Sänger waren gut, die
Dekorationen sehr gut, aber der Regisseur Koini uninteressiert und der Typ des
Routiniers, der auswendig weiß, wie hundert Opern zu inszenieren sind, aber der
selbst nicht das Geringste auszudenken vermag.
Anfangs regte mich seine Einfallslosigkeit auf, aber dann begann ich selbst hinter
den Kulissen den Sängern ihre Rollen zu erklären und schließlich auf der Bühne dem
Chor Anweisungen zu geben. Als ich mich in der Aufregung einmal mit dem
Englischen verhedderte, sagte einer der Choristen: „Warum mühen Sie sich so mit
dem Englischen ab, die Hälfte von uns hier sind russische Juden!“ Koini geriet
schließlich außer sich und schrie: „Wer hat hier eigentlich auf der Bühne etwas zu
sagen, Sie oder ich?“ Worauf ich antwortete: „Sie, um meine Wünsche auszuführen.“
Die Generalprobe fand ohne Publikum statt (was mir die Möglichkeit gab, den Prolog
viermal anfangen zu lassen, da mir der Chor nicht exakt genug war), die Premiere
am 30. Dezember 1921, vor ausverkauftem Hause und mit großem äußerem Erfolg.
Die Chicagoer waren zwar stolz, eine „modernistische Premiere“ zu erleben, aber
auch über die Kosten bestürzt, die nach den Zeitungen auf 250 000 Dollar
angestiegen waren.