Isidor von Sevilla: Enzyklopädie 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 Buch I: Von der Grammatik Ι. VON WISSENSCHAFT UND KENNTNIS. Die Wissenschaft (disciplina) hat ihren Namen vom Lernen (discere) erhalten1, weshalb sie auch Wissen (scientia) genannt werden kann. Denn das Wissen (scire) ist nach dem Lernen benannt, weil niemand von uns etwas weiß, außer wenn er lernt. Anders gesagt, das Wissen heißt so, weil es ganz und gar gelernt wird. 2 Kenntnis (ars) aber wird genannt, was in den Vorschriften und den Regeln einer Kunst besteht. Andere sagen, diese Bezeichnung sei von den Griechen, von αρετή bezogen, das heißt von der Tüchtigkeit (virtus), welche jene Wissen nennen. 3 Zwischen der Kenntnis und der Wissenschaft, so haben Plato (Gorgias 448c, 463b-c; Ion 536c; Politeia IV,438c, V475e, VII,522c) und Aristoteles (Metaphysik 981b; Nikomachische Ethik VI,1139b14-1141b8; er unterscheidet dabei τέχνη (ars, Kunst, Handwerk, Fertigkeit, Kunstgriff) und επστηµη (scientia, Wissen, Einsicht, Wissenschaft)) definiert, bestehe folgender Unterschied: Die Kenntnis bestehe in dem, was man auch auf andere Weise [als durch Lernen] haben könne, die Wissenschaft aber befasse sich mit dem, was nicht anders [als durch Lernen] entstehen könne. Denn wenn etwas in vernünftiger Erörterung auseinandergesetzt wird, so wird man darunter Wissenschaft verstehen. Wenn etwas glaubhaft und plausibel abgehandelt wird, wird es als Kenntnis bezeichnet werden. II. VON DEN SIEBEN FREIEN WISSENSCHAFTEN. Die Einzeldisziplinen der freien Künste sind sieben. Die erste ist die Grammatik, das ist die Regel des Sprechens. Die zweite ist die Rhetorik, die wegen des Glanzes und der Fülle ihres Ausdrucks für die wichtigste in öffentlichen Angelegenheiten gehalten wird. Die dritte heißt Dialektik oder auch Logik, die durch genaueste Untersuchung Wahres von Falschem trennt. 2 Die vierte ist die Arithmetik, die das Verhältnis und die Einteilung der Zahlen umfasst. Die fünfte ist die Musik, die aus Liedern (carmina) und Gesängen (cantus) besteht. 3 Die sechste ist die Geometrie, die Maß und Ausdehnung der Erde umfasst. Die siebte, die Astronomie, befasst sich mit den Gesetzen der Sterne. III. VON DEN GRUNDLEGENDEN (COMMUNES) WISSENSCHAFTEN. Die Anfangsgründe der Grammatik stellen die allgemeinen Wissenschaften dar, welche die Elementarlehrer verfolgen. Deren Fertigkeit ist gleichsam das Säuglingsalter der Grammatik, weswegen Varro (Gram. 235) sie auch die Alphabetisierung (litteratio) nennt. Die Buchstaben sind aber die Symbole der Dinge, die Zeichen der Wörter, die alle Kraft besitzen, durch die uns die Worte der Abwesenden ohne Stimme mitgeteilt werden. [Sie führen die Worte nämlich durch die Augen, nicht durch die Ohren ein.] Der Gebrauch der Buchstaben ist um der Erinnerung an die Dinge willen erfunden worden. Damit sie nämlich nicht durch Vergesslichkeit entfliehen, werden sie an Buchstaben angebunden. Bei einer so großen Vielfalt der Dinge kann nämlich weder alles durch Hören gelernt werden, noch [alles] in Erinnerung behalten werden. Die besagten Buchstaben aber sind gleichsam Lesewege (legiterae), weil sie den Lesenden den Weg bereithalten bzw. weil sie beim Lesen wieder begangen werden. Die griechischen und lateinischen Buchstaben scheinen von den hebräischen abzustammen. Bei diesen heißt der erste Buchstabe nämlich Aleph, bei den Griechen wurde er dann in ähnlicher Lautung Alpha genannt, daher im Lateinischen Α. Der Übersetzer hat [dies] nämlich ausgehend vom ähnlichen Klang der anderen Sprache so festgelegt, damit wir wissen können, dass das Hebräische die Mutter aller Sprachen und Schriften ist. Die Hebräer aber benutzen nach dem Zeugnis des Alten Testamentes 22 Buchstaben, die Griechen aber 24. Die Lateiner bewegen sich zwischen beiden Sprachen und haben 23 Buchstaben. Die Buchstaben der Hebräer aber sollen mit den Gesetzen entstanden sein, also zur Zeit Moses'; die syrischen und chaldäischen aber mit Abraham, weshalb sie auch mit den Hebräischen in Anzahl und Klang übereinstimmen, nur in den Formen weichen sie ab. Die Schriftzeichen der Ägypter hat Königin Isis, die Tochter Inachs, als sie von Griechenland nach Ägypten kam, erfunden und den Ägyptern überliefert. Bei den Ägyptern aber sollen die Priester andere Schriftzeichen gehabt haben, das Volk wieder andere. Die der Priester hießen ιεράς, πάνδηµους hießen die des Volkes. Den Gebrauch der griechischen Buchstaben haben zuerst die Phönizier erfunden, weshalb Lukan schreibt (Phars. 3,220): Die Phönizier wagten als Erste, wenn man der Sage glauben darf, die Stimm[laute], damit sie bestehen blieben, mit einfachen Zeichen wiederzugeben. 1 Tatsächlich gehört disciplina (Lehre) zu discipulus (Schüler, Lernender), dieses Wort geht zurück auf *discipio (geistig) auffassen, während sich discere (lernen) aus *di-dk-sko (lehren, unterrichten) entwickelt hat. Isidor von Sevilla, Enzyklopädie - 1 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 [...] Den Buchstaben Y (Ypsilon) hat der Samier Pythagoras als Symbol des menschlichen Lebens zuerst geformt. Dessen unterer Zweig steht für das erste Lebensalter, das nicht aussagekräftig ist, weil sich ja bis dahin weder Fehler noch Tugenden gezeigt haben. Die Verzweigung aber, die übrig bleibt, beginnt mit dem Heranwachsen: dessen rechte Seite ist beschwerlich, wendet sich aber zum guten Leben (vita beata), die linke Seite aber ist bequemer, führt jedoch zum Fall und zum Untergang. Davon sagt Persius (Sat. 3,56): Auch dir führte ein Buchstabe die samischen Zweige vor, zeigte auf der rechten Seite den aufsteigenden Pfad. Fünf Buchstaben aber sind bei den Griechen mystische Buchstaben: zuerst Y, welches das menschliche Leben bezeichnet, von dem wir gerade gesprochen haben. Der zweite ist das Θ, welches den Tod [bezeichnet]. Denn die Richter setzen dieses Θ den Namen [der Personen] voran, über die sie die Todesstrafe verhängen. Er heißt Theta von θάνατος, das heißt: Tod. Deswegen hat er auch einen Strich durch die Mitte, das Zeichen des Todes. Daher schreibt ein unbekannte(!) Verfasser (Ennius Ann. 625): O Theta, du Buchstabe, so viel unglücklicher als alle anderen! Der dritte Buchstabe ist Τ und symbolisiert das Kreuz des Herrn, woraus auch das hebräische Zeichen erklärt wird, von welchem beim Propheten Ezechiel (9,4) steht: Gehe mitten nach Jerusalem und bezeichne mit dem Zeichen Tau alle Menschen auf der Stirn, die jammern und klagen. Die beiden übrigen, den ersten und den letzten, beansprucht Christus für sich. Er selbst nämlich, der Anfang und das Ende, sagt (Offb. 1,11; 21,6; 22,13): Ich bin das A und das Ω. - Indem nämlich A und Ω gegenseitig aufeinander zulaufen, wird das A zum Ω hingerückt, und das Ω an das A gebunden, so dass der Herr in sich den Weg vom Anfang zum Ende und vom Ende zum Anfang offenbart. [...] V. VON DER GRAMMATIK. Die Grammatik ist die Kenntnis des richtigen Redens, der Ursprung und die Grundlage der freien Künste. Von allen Disziplinen ist diese nach den allgemeinen Wissenschaften erfunden worden, damit diejenigen, die die Schrift schon gelernt hatten, durch sie die richtige Weise zu sprechen wüssten. Die Grammatik hat ihren Namen von den Buchstaben her erhalten. Γράµµατα nennen die Griechen nämlich die Buchstaben. Als Kenntnis (ars) wird sie aber bezeichnet, weil sie aus Vorschriften und Regeln einer Kunst besteht. Andere sagen jedoch, [die Bezeichnung ars für die Grammatik] sei von den Griechen von dem Begriff αρετη, d.h. von der Tüchtigkeit (virtus), hergeleitet, welche sie Wissen nennen. Oratio (Rede) heißt gleichsam oris ratio (die überlegte Tätigkeit des Mundes), denn reden (orare) heißt sprechen (loqui) oder sagen (dicere). Die Rede ist aber ein Geflecht (contextus) von Wörtern mit einem Sinn. Ein Wortgeflecht ohne Sinn ist aber keine Rede, weil es nicht die überlegte Tätigkeit des Mundes ist. Die Rede aber ist vollständig, wenn sie Sinn, Stimme und Zeichen besitzt. Als Teildisziplinen der Grammatik aber werden von einigen 30 aufgezählt: die acht Wortarten (partes orationis), Laute (vox articulata), Buchstabe (littera), Silbe (syllaba), Versfüße (pedes), Akzent (accentus), Satzzeichen (positurae), verschiedene spezielle Zeichen (notae), Rechtschreibung (orthographia), Entsprechung (analogia), Wortentstehung (etymologia), Worterklärungen (glossae), Unterscheidungen (differentiae). Barbarismen (Fehler in Einzelwörtern), Seleukismen (Fehler in der Wortkombination), [sonstige] Fehler (vitia), Umformung (metaplasmi), rhetorische Figuren (schemata), Wendungen (tropi), Prosa (prosa), Versmaße (metra), erfundene Erzählungen (fabulae), historische Erzählungen (historiae). [...] VIII. VOM PRONOMEN. Das Pronomen heißt so, weil es an die Stelle eines Nomens gesetzt wird, damit das Nomen selbst nicht Überdruss bereitet, indem es dauernd wiederholt wird. Denn wenn wir sagen: Vergil hat die Bucolica geschrieben, so fügen wir hinzu: Derselbe (ipse) hat auch die Georgica geschrieben. Und so hebt die Variation im Ausdruck den Überdruss auf und führt gleichzeitig Redeschmuck [in den Text] ein. [...] XXXVII. VON DEN TROPEN (WENDUNGEN). Tropen nennen die Grammatiker mit griechischem Namen das, was lateinisch als modus locutionis (Redeweise) übersetzt wird. Sie entstehen aber, [wenn] von der eigentlichen Bezeichnung zur uneigentlichen, ähnlichen [übergegangen wird]. Die Namen aller aufzuschreiben ist überaus schwierig, aber aus allen hat Donatus zusammengestellt, die zum Gebrauch überlieferungswürdig sind. [...] Isidor von Sevilla, Enzyklopädie - 2 5 10 15 20 25 30 35 40 45 Ebenso besteht zwischen historia und Erzählung (argumentum) und Fabel ein Unterschied. Denn die historia besteht aus Dingen, die tatsächlich geschehen sind; die Erzählung besteht aus Dingen, die, wenn sie auch nicht geschehen sind, doch hätten geschehen können; die [Ereignisse] der Fabel aber sind solche, die nicht geschehen sind und auch nicht geschehen könnten, weil sie gegen die Natur sind. [...] Buch VII: Von Gott, den Engeln und den Heiligen IV. VON DER DREIFALTIGKEIT (TRINITAS). Dreifaltigkeit (oder: Dreieinigkeit) wird genannt, was ganz eins wird aus dreien (Abl. Pl: tribus), gleichsam trinutas, wie Erinnerung, Verstand und Wille, in welchen der Geist in sich eine gewisse Vorstellung von der göttlichen Dreifaltigkeit besitzt. Denn während es drei sind, sind sie [doch] eins, weil jedes Einzelne in sich bleibt und alles in allen. Der Vater und der Sohn und der Heilige Geist sind daher Dreiheit und Einheit. Derselbe ist nämlich eines, derselbe drei, im Wesen eins, in den Personen drei, eins wegen der Gemeinsamkeit der Majestät, drei wegen der Eigenarten der Personen. Denn der eine ist Vater, der andere Sohn, der dritte Heiliger Geist, der eine aber freilich nicht das andere, weil gleichermaßen einfach und gleichermaßen unveränderlich, gut und ewig. Der Vater ist nicht alleine ohne das andere. Er allein wird daher ungeboren genannt. Der Sohn ist allein aus dem Vater gezeugt, daher wird er allein gezeugt genannt. Der Heilige Geist allein geht vom Vater und vom Sohn aus, daher wird er allein der Geist beider genannt. [...] Buch X: Von den Wörtern Ι. Der Ursprung der Wörter, d.h. woher sie kommen, liegt nicht gerade (non paene) bei allen offen vor Augen. Deswegen habe ich, damit man sie kennen lernt, einige in dieses Werk aufgenommen. VON EINIGEN WÖRTERN DER MENSCHEN. Der Ursprung der Wörter, [d.h.] woher sie kommen, geht nach den Philosophen auf das Prinzip zurück, dass homo (Mensch) von humanitas (Menschlichkeit) und sapiens (Weiser) von sapientia (Weisheit) benannt sind, weil es zuerst die Weisheit und dann den Weisen gab. Es wird aber auch ein anderer besonderer Grund im Ursprung einiger Namen deutlich, wie z.Β. homo (Mensch) von humus (Erde) kommt, woher der Mensch eigens benannt ist. Dafür habe ich als Beispiele einige in dieses Werk aufgenommen. [...] Buch XIX: Von Schiffen, Gebäuden und Kleidung XVI. VON DER MALEREI (PICTURA). Die Malerei aber ist ein Bild, das den Anblick einer Sache ausdrückt, die, wenn man sie gesehen hat, dem Geist zur Erinnerung zurückführt. Pictura aber heißt wie fictura (Bildung, Gestaltung), es ist nämlich ein erfundenes Bild, nicht Wirklichkeit. Daher kommt auch fucata (geschminkt), d.h. mit unechter (fictus) Farbe bestrichen, was nichts an Glaubwürdigkeit und Wahrheit besitzt. Woher es auch einige Malereien gibt, die über die Körper, wie sie in Wahrheit sind, im Eifer der Farben hinausgehen und die Wirklichkeitstreue, während sie sich bemühen, diese zu vergrößern, in Täuschung verwandeln. Wie jemand, der eine dreiköpfige Chimäre malt oder Skylla mit menschlichem Oberteil und unten mit Hundsköpfen gegürtet. Das Malen aber haben sich die Ägypter ausgedacht, indem sie zuerst den Schatten der menschlichen Umrisse nachfuhren. Daher [kamen] nach einem solchen Anfang als Zweites einzelne Farben hinzu, später verschiedene. Und so hat sich diese Kunst allmählich entwickelt und fand Licht und Schatten und die Unterschiede der Farben. Woher auch jetzt die Maler zuerst Schatten und Linien des künftigen Bildes ausführen [und] diese dann mit Farben ausfüllen, indem sie so die Reihenfolge der Erfindung der Kunst einhalten. Die Enzyklopädie des Isidor von Sevilla. Übers. und mit Anmerkungen versehen von Lenelotte Müller, Wiesbaden 2008: marixverlag. 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