„Nur um der Hoffnungslosen willen ist uns die Hoffnung gegeben“ – Zum 75. Todestag von Walter Benjamin Vortrag von Dr. Klaus Thörner Donnerstag, 22. Oktober 2015, um 19.30 Uhr im Alhambra Vor 75 Jahren, am 26. September 1940, nahm sich Walter Benjamin aus Verzweiflung in Port Bou an der Grenze Frankreichs und Spaniens das Leben. Flüchtlinge vor dem Hitler-Regime waren durch das Waffenstillstandsabkommen zwischen Vichy-Frankreich und der Berliner Regierung mit Auslieferung in das Deutsche Reich bedroht. Die Vereinigten Staaten hatten zur Rettung einiger dieser Flüchtlinge eine Anzahl von Emergency-Visen durch ihre Konsulate im unbesetzten Frankreich verteilen lassen. Benjamin war dank der Bemühungen des Instituts für Sozialforschung unter den ersten, die ein solches Visum in Marseille erreichte. Er gelangte auch schnell in den Besitz eines spanischen Durchreisevisums, um nach Lissabon zu kommen und sich von dort einzuschiffen. Allerdings hatte er kein Ausreisevisum aus Frankreich, da die Vichy-Regierung um der Gestapo gefällig zu sein, deutschen Flüchtlingen eine Ausreisegenehmigung prinzipiell verweigerte. Dies stellte aber im Allgemeinen keine große Schwierigkeit dar, weil der relativ kurze und nicht zu beschwerliche Fußweg über die Berge nach Port Bou bekannt und von der französischen Grenzpolizei nicht gesperrt war. Für Benjamin allerdings, dem es damals wohl aufgrund einer Herzmuskelentzündung sehr schlecht ging, dürfte es sich um eine große Anstrengung gehandelt haben. Als die kleine Gruppe von Flüchtlingen, der er angehörte, den spanischen Grenzort erreichte, stellte sich plötzlich heraus, dass an diesem Tag die Grenze von Spanien geschlossen worden war und die Grenzbeamten die Visa nicht anerkannten. Die Gruppe sollte am nächsten Tag nach Frankreich zurück. Benjamin nahm sich in der Nacht das Leben. Seine Begleiter wurden daraufhin von den Grenzbeamten, auf die der Selbstmord Eindruck gemacht hatte, am nächsten Tag nach Portugal durchgelassen. Die Visumsperre wurde nach einigen Wochen wieder aufgehoben. Hannah Arendt schrieb zum Tod ihres Freundes: „Einen Tag früher wäre er anstandslos durchgekommen, einen Tag später hätte man in Marseille gewusst, dass man zur Zeit nicht durch Spanien konnte. Nur an diesem Tag war die Katastrophe möglich.“, Benjamins Leben lässt sich, als eine Folge von Scherbenhaufen erzählen und es ist, so Arendt, kaum eine Frage, dass er es selbst so gesehen hat., Zweifellos dachte Benjamin auch an die „Trümmer“ und „Katastrophenstätte“ des eigenen Lebens und Wirkens, wenn er schrieb, dass die Einsicht in Kafkas Produktion unter anderem an die schlechte Erkenntnis gebunden sei, dass er gescheitert ist., Und doch versuchte Benjamin an manchen Tagen, als Schiffbrüchiger, der das Schwimmen nicht gelernt hatte, von einer kaum noch tragfähigen Mastbaumspitze, Rettungssignale auszusenden. , Kurz vor seinem Tod formulierte Benjamin in den „Thesen zum Begriff der Geschichte“ eine radikale Kritik an der deutschen Linken und ihrer Fortschrittsideologie. Im Vortrag soll an Walter Benjamin erinnert werden und der Frage nachgegangen werden, welche Bedeutung seine Philosophie heute für eine autonome Linke haben kann. Eine Veranstaltung der Gruppe Sachor-für eine geschichtsbewusste Pädagogik nach Auschwitz Gleichzeitig zeichnete den Flaneur Benjamin, „die staunende Darstellung der bloßen Faktizität“ aus, die er gegenüber Adorno als „echt philologische Haltung“ 1 verteidigte. „Sein Gang hatte etwas Unverwechselbares, Bedächtiges und Tastendes.“2 Ihm lag daran, „das Bild der Geschichte in den unscheinbaren Fixierungen des Daseins, seinen Abfällen gleichsam, festzuhalten.3 Um diese Abfälle zu bewahren, wurde Benjamin zum leidenschaftlichen Sammler u. a. von Kinderbüchern. Im Sammeln sah er eine der revolutionären Tätigkeit verwandte Haltung. Der Sammler wie der Revolutionär, so schrieb er „träumt sich nicht nur in eine ferne oder vergangene Welt, sondern zugleich in eine bessere, in der zwar die Menschen ebenso wenig mit dem versehen sind, was sie brauchen, wie in der alltäglichen, aber die Dinge von der Fron frei sind, nützlich zu sein.“ 4 Schon als Kind versuchte sich Benjamin beim Flanieren durch die Straßen seiner Mutter und seiner Klasse zu entziehen, indem er, wenn er mit der Mutter durch die Stadt ging, „immer um einen halben Schritt zurück(blieb)“. 5 In dieser gewahrten Distanz, diesem bewusst beibehaltenen Rückstand, dieser verweigerten Zuordnung – „in keinem Fall eine Front, und sei es mit der eigenen Mutter (zu) bilden“ 6 – liegt „die große Chance des Besiegten, (…) den Kampf in eine andere Sphäre zu verlegen“7, „dorthin, wo ein Spalt sich auftut und unbemerkt ein neuer Raum, eine Bresche sich öffnet, wo dem Blick sich ein Weg bietet, der gebahnt, ein Rand, der erforscht werden müsste.“8 „Nicht der Blick als solcher beansprucht unvermittelt das Absolute“, so lernt Adorno von Benjamin, sondern „die Weise des Blickens, die gesamte Optik ist verändert. Die Technik der Vergrößerung, lässt das Erstarrte sich bewegen und das Bewegte innehalten. Seine Vorliebe für minimale und schäbige Objekte wie Staub und Plüsch in der Passagenarbeit steht komplementär zu jener Technik, die von all dem angezogen wird, was durch die Maschen des konventionellen Begriffsnetzes hindurchschlüpfte oder vom herrschenden Geist zu sehr verachtet ist, als dass er andere Spuren daran hinterlassen hätte als die des hastigen Urteils.“ 9 Weil er verlorenen, unbeachteten, getrübten Gesten, Dingen und Hoffnungen Gerechtigkeit widerfahren lassen wollte, dem Zufälligen, Ephemeren, ganz Nichtigen10, blieb Benjamin immer jenen halben Schritt zurück, „hielt stets Abstand zu der Welt–wie -sie ist, wahrte jenen Spielraum, der nötig ist, um ihr in den Rücken zufallen, vor allem aber, um in aller Unabhängigkeit den verblassten Details ihr volles Leben zurückzugeben, dieser verleugneten Kehrseite der Geschichte – die er wie kein anderer gleichsam im Handumdrehen wie ein Jackenfutter hervorzukehren verstand, um uns ihre schillernden Farben aufzudecken…“11 „Maß der Erfahrung, die jeglichen Satz Benjamins trägt, ist die Kraft, das Zentrum unablässig in die Peripherie zu setzen, anstatt das Periphere, wie es die Übung der Philosophen und der traditionellen Theorie verlangen, aus dem Zentrum zu entwickeln (...) 1Theodor W. Adorno/Walter Benjamin, Briefwechsel 1928-1940, hg. von Henri Lonitz, 2. Aufl., Frankfurt/M. 1995, S. 379f. 2Gershom Scholem, Walter Benjamin – die Geschichte einer Freundschaft, Frankfurt/M. 1975, S. 16. 3Vgl. ebd. S. 201. 4Benjamin, Schriften I, a. a. O., S. 416. 5Walter Benjamin, Berliner Kindheit um neunzehnhundert,“Bettler und Huren“, in ders., Gesammelte Schriften (GS), hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem, Bde. I-VII und Suppl.-Bde. I-III, Frankfurt/M. 1972-1989, hier Bd. IV.1, S. 287. 6Berliner Chronik, GS VI, S. 471. 7Walter Benjamin, „Theorien des deutschen Faschismus“, in ders., GS III, S. 243. 8Vorwort von Florent Perrier, in: Jean-Michel Palmier, Walter Benjamin. Lumpensammler, Engel und bucklicht Männlein. Ästhetik und Politik bei Walter Benjamin, Frankfurt/M. 2009, S.III. 9Theodor W. Adorno, Charakteristik Walter Benjamins, in ders., Gesammelte Schriften, Bd. 10.1, Frankfurt/M. 1977, S. 251. 10Vgl. Adorno, Charakteristik Walter Benjamins, S. 239. 11Perrier, in Palmier, a.a.O., S. VIIf. Philosophische Phantasie ist ihm die Fähigkeit zur ‚Interpolation im Kleinsten‘.“ 12 „Der Antithese des Ewigen und des Historischen entrann er durch das mikrologische Verfahren, durch Konzentration aufs Kleinste, darin die geschichtliche Bewegung innehält und zum Bilde sich sedimentiert.“ 13 „Benjamins Gedanken leuchten in einer Farbe, die im Spektrum der Begriffe kaum vorkommt und die einer Ordnung angehört, gegen die sonst das Bewusstsein sich sogleich abblendet, um nicht der gewohnten Welt und ihrer Zwecke überdrüssig zu werden. Was Benjamin sagte und schrieb, klang, als käme es aus dem Geheimnis. Seine Macht aber empfing es durch Evidenz (…) Seine Sätze beriefen sich nicht auf Offenbarung, sondern auf einen Typus von Erfahrung, der vom allgemeinen einzig dadurch sich unterschied, dass er die Einschränkungen und Verbote nicht respektierte, unter die das zugerichtete Bewusstsein sich sonst beugt (..) Nicht aus Mangel an Kenntnis oder aus undisziplinierter Phantasie ignorierte er die philosophische Tradition und die gängigen Regeln der Wissenschaftslogik, sondern weil er in ihr ein Steriles, Vergebliches, Ausgelaugtes argwöhnte und weil die Gewalt der unverkümmerten, nicht zugerichteten Wahrheit so mächtig in ihm war, als dass er sich durch den erhobenen Zeigefinger intellektueller Kontrolle hätte einschüchtern lassen.“14 Seine „desperate Anstrengung, aus dem Gefängnis des Kulturkonformismus auszubrechen, galt Konstellationen des Geschichtlichen, die nicht auswechselbare Beispiele für Ideen bleiben, jedoch in ihrer Einzigkeit die Ideen als selber geschichtliche konstituieren.“ 15 „Das Inkommensurable seiner Natur, durch keine Taktik überwindbar und unfähig zum Gesellschaftsspiel in der Republik der Geister“, ließ ihn, auf eigene Faust und ungeschützt sein Leben“ 16 leben. Adorno erkannte bei Benjamin die „Fähigkeit, unablässig neue Aspekte herzustellen, weniger indem er Konventionen kritisch durchbrach, als indem er durch seine innere Organisation zum Gegenstand sich verhielt, wie wenn die Konvention keine Macht über ihn hätte (…).“ 17 „Ihm hieß, Phänomene materialistisch interpretieren, weniger sie aus dem gesellschaftlichen Ganzen erklären, als sie unmittelbar, in ihrer Vereinzelung auf materielle Tendenzen und soziale Kämpfe beziehen.“ 18 „Was Benjamin sagte und schrieb, lautete, als nähme der Gedanke die Verheißungen der Märchen-und Kinderbücher, anstatt mit schmachvoller Reife sie von sich zu weisen, so buchstäblich, dass die reale Erfüllung selber der Erkenntnis absehbar wird.“19 Doch andererseits „verbreitete Benjamins Philosophie Schrecken kaum weniger als sie Glück verspricht.“20 Er respektierte die Grenze zwischen dem Literaten und dem Philosophen nicht.21Adorno bemerkte, dass „die Treue zum verweigerten Glück bei Benjamin erkauft (wird) mit einer Trauer, von der die Geschichte der Philosophie sonst so wenig Zeugnis gibt, wie von der Utopie des wolkenlosen Tages.“22 „Trauer – nicht Traurigkeit – war die Bestimmung seiner Natur, als jüdisches Wissen um die Permanenz von Drohung und Katastrophe…“23 Trotz seines im bewusst im Hintergrund Gehens und seiner höflichen Distanziertheit war Benjamin mit so unterschiedlichen Menschen wie Scholem, Adorno, Arendt und Brecht befreundet. „Ähnlich wie nach 12Theodor W. Adorno, Einleitung zu Benjamins ‚Schriften‘, a. a. O., S. 570. 13Ebd., S. 577. 14Theodor W. Adorno, Einleitung zu Benjamins ‚Schriften‘, in ders. Gesammelte Schriften, Band 11, a. a. O., S. 568f. 15Adorno, Charakteristik, S. 241. 16Adorno, Charakteristik, S. 242. 17Theodor W. Adorno, Charakteristik Walter Benjamins, S. 238. 18Theodor W. Adorno, Charakteristik Walter Benjamins, a. a. O., S. 247. 19Adorno, Charakteristik, S. 239. 20Adorno, Charakteristik, S. 246. 21Vgl. Adorno, Charakteristik, S. 242. 22Adorno, Charakteristik, S. 240. Schönbergs Wort Webern, dessen Schrift an die Benjamins mahnt, hatte er animalische Wärme mit einem Tabu bedacht; kaum durfte ein Freund es wagen, ihm auch nur die Hand auf die Schulter zu legen, und noch sein Tod mag damit zusammenhängen, dass in der letzten Nacht in Port Bou die Gruppe, mit der er geflohen war, aus Scheu ihm ein Einzelzimmer einräumte, so dass er unbeobachtet das Morphium nehmen konnte, das er sich für den äußersten Notfall gesammelt hatte. Trotzdem war seine Aura warm, nicht kalt. Ihm eignete eine Fähigkeit, die an Kraft zur Beglückung jede bloß unmittelbare unendlich tief unter sich ließ: die zum schrankenlosen Schenken. (…) Jedes Zusammensein mit ihm hat wiederhergestellt, was sonst unwiederbringlich dahin ist, das Fest. In seiner Nähe wurde es einem zumute wie dem Kind in dem Augenblick, in dem ein Spalt des weihnachtlichen Zimmers sich öffnet und eine Fülle des Lichts das Auge zu Tränen überwältigt, erschütternder und bestätigter, als je des Glanz es grüßt, wenn es eingeladen wird, das Zimmer zu betreten. Alle Macht des Denkens versammelte sich in Benjamin, um solche Augenblicke zu bereiten...“ 24 Benjamin war seinen Freundinnen und Freunden Lehrer und lernte von ihnen. Von Brecht übernahm er die Kunst, Sprichwörtliches und Idiomatisches beim Wort zu nehmen. Diese Kunst befähigte Benjamin wie Kafka, „eine Prosa von so eigentümlich zauberhafter und verzauberter Realitätsnähe zu schreiben.“ 25 Maximilien Rubel sah in Benjamin aber auch den einzigen Marxisten, der dem Materialismus als Methode der totalen Subversion der bestehenden Ordnung eine poetische Dimension verlieh, indem er den Weg zur ungewissen Aufnahme einer messianischen Geste öffnete und damit den aufsteigenden Pfad der Revolte bahnte.26 Diese Geste war nur möglich durch einen Bezug zum Judentum. 1928 schrieb Benjamin in einer Antwort an Scholem: „Was mich in Deinem Brief am glücklichsten betroffen hat, ist der Gedanke der jüdischen Welt in meinem Denken, wenn und soweit sie aus der Latenz hervortreten sollte.“27 Benjamins Denken, genährt aus dem Heute, orientiert sich an „Denkbruchstücken“, die er der Vergangenheit entriss und um sich versammelte. „Dem Perlentaucher gleich, der sich auf den Grund des Meeres begibt, nicht um den Meeresboden auszuschachten und ans Tageslicht zu fördern, sondern um in der Tiefe das Reiche und Seltsame, Perlen und Korallen, herauszubrechen und als Fragmente an die Oberfläche des Tages zu retten, taucht es in die Tiefen der Vergangenheit (…). Was dies Denken leitet, ist die Überzeugung, dass zwar das Lebendige dem Ruin der Zeit verfällt, dass aber der Verwesungsprozess gleichzeitig ein Kristallisationsprozess ist; (…) (in dem neue) Formen und Gestalten entstehen, die, gegen die Elemente gefeit, überdauern und nur auf den Perlentaucher warten, der sie an den Tag bringt: als `Denkbruchstücke`“. 28 Eine solche Erforschung des Vergangenen treibt für Benjamin die Vergegenwärtigung des geschichtlich Unabgegoltenen voran, die nicht realisierten verschüttete Wünsche und Träume und vor allem die namenlosen Opfer der sozialen Katastrophen.29 „Philosophie verdichtet sich“ bei Benjamin „zur Erfahrung, dass ihr die Hoffnung zuteil werde. Diese jedoch erscheint einzig als gebrochene. Wenn Benjamin die Überbelichtung der Gegenstände veranstaltet um der verborgenen Konturen willen, die einmal im Stande der Versöhnung an ihnen offenbar werden sollen, dann tritt zugleich der Abgrund zwischen diesem und dem Dasein schroff hervor. (…) ‚Nur um der Hoffnungslosen willen, ist uns die Hoffnung gegeben‘, schließt die Abhandlung über die ‚Wahlverwandtschaften‘.“ 30 Seine Rückwendung 23Adorno, Einleitung zu Benjamins ‚Schriften‘, a. a. O., S. 581. 24Ebd., S. 581f. 25Arendt, a. a. O., S. 207. 26Vgl. Maximilien Rubel, Marx, critique du marxisme, Paris 1974, S. 438, Anm. 12. 27Brief an Scholem vom 11. März 1928, in: Gesammelte Briefe (GB), hg. vom Theodor W. Adorno Archiv, Frankfurt/M. 1995-2000, Bd. III, S. 344. 28Arendt, a. a. O., S. 242. 29Vgl. Sven Kramer, Walter Benjamin zur Einführung, Hamburg 2004, S. 110. 30Theodor W. Adorno, Charakteristik Walter Benjamins, a. a. O., S. 252. auf die individuelle Vergangenheit weist deutliche Parallelen zum Verfahren der Psychoanalyse auf, in der das Auffinden, Bewusstmachen und Neugruppieren der verdrängten oder unbewusst gewordenen Erinnerungen heilende und verändernde Kraft entfaltet. Doch Benjamin verschiebt den Akzent. Ihn interessiert das Erinnern eines anderen, mimetisch geprägten Verhältnisses zur Welt und den Dingen, das den Erwachsenen weitgehend abhanden gekommen ist. Für ihn erfüllt Prousts Verfahren der unwillkürlichen Erinnerung (memoire involontaire) eine wichtige Funktion, indem sie Situationen und Erfahrungen vergegenwärtigt, die schon vergessen waren, so dass ein neues Durchleben dieser Momente möglich wird. 31 Benjamin möchte jedoch nicht im Vergangenen, im Erinnern und in den Träumen verharren, sondern „die Kräfte des Rausches für die Revolution (…) gewinnen.“32 Aus diesem Grund stellt er sich der Verabsolutierung des unwillkürlichen Erinnerns bei Proust entgegen. „Der proustschen Wiederholung steht bei Benjamin das Auftauchen eines neuen Sinns gegenüber, der aus der Vergegenwärtigung einer Erfahrung erst entsteht( …) Die Erinnerung stellt nicht Vergangenes wieder her, sie enthüllt ein geschichtliches Werden.“ 33 Benjamin bindet die Vergegenwärtigung von Kindheitserinnerungen in das für sein Geschichtsdenken charakteristische Verhältnis der Zeiten, Epochen und Generationen ein. Der Erinnernde holt für ihn das Erinnerte nicht nur zurück, sondern er erkennt auch „eine neue und befremdliche Gliederung“ in ihm. Nicht durch mythische Wiederholung, in der das Vergangene unverändert wieder auflebt, sondern durch ein verändertes Verhältnis zum Vergangenen, zeichnen sich in dem neu strukturierten Bild „die Linien des Kommenden“ (GS VI, S. 471) ab. Mit der Rückwendung ins Vergangene erscheint das Potenzial der Zukunft. An den Schriften Prousts und Kafkas verdeutlicht Benjamin die Verwobenheit des Erinnerns und des Vergessens. Das Vergessene fasst er im Kafka-Essay in das Bild der Last, die dem Menschen auf dem Rücken liegt, sie niederdrückt und sie vom aufrechten Gang – vom Gebrauch ihrer Freiheit – abhält. Sie können diese Last nicht sehen, dennoch bestimmt sie jede ihrer Bewegungen mit. 34 Und das Vergessen geht über den Einzelnen hinaus. „Das Vergessen (…) ist niemals nur Individuelles. Jedes Vergessen mischt sich mit dem Vergessenen der Vorwelt, geht mit ihm zahllose, ungewisse, wechselnde Verbindungen zu immer wieder neuen Ausgeburten ein (…).“ 35 „Für das nicht vorab zweckgebundene Erinnern prägte Benjamin den Begriff des Eingedenkens. Während Proust unwilkürliches Eingedenken dem Subjekt plötzlich und ungeplant widerfährt, steht bei Benjamin durchaus ein Willensakt, also die Intention des Erinnerns, am Beginn des Eingedenkens. Worauf es dann stoßen mag, darf keinesfalls beschränkt werden.“36 Wer sich der eigenen verschütteten Vergangenheit zu nähern versucht, sollte sich, so Benjamin, verhalten, wie ein Mensch, der gräbt. Um Grabungen mit Erfolg zu unternehmen, bedarf es eines Plans. „Doch ebenso ist unerlässlich der behutsame, tastende Spatenstich ins dunkle Erdreich (…). Das vergebliche Suchen gehört dazu so gut wie das glückliche (…).“ 37 Der etablierten Geschichtswissenschaft wirft er vor, sie gehe selbstvergessen und zweckgebunden vor und unterdrücke systematisch die Erforschung bestimmter Teile der Vergangenheit. Er erweitert die Aufgabe der Geschichtswissenschaft durch die Forderung nach eine kritischen Reflexion der Überlieferungsgeschichte. „In jeder Epoche muss versucht werden, die Überlieferung von neuem dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriff steht, sie zu überwältigen (…).“38 In der Überlieferung sieht er die Herrschaftsgeschichte niedergeschlagen. Hegemoniale Instanzen tradieren nur, was ihrer Legitimation dient: „Wer immer bis zu diesen Tagen den Sieg davontrug, der marschiert mit dem Triumphzug, der die heute Herrschenden über die 31Vgl. Kramer, a. a. O., S. 111. 32Benjamin, in: GS II, S. 307. 33Palmier, a. a. O., S. 161 u. 163. 34Vgl. Kramer, a. a. O., S. 112. 35Walter Benjamin, Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages. In: GS II.2, S. 430. 36Kramer, a. a. O., S. 113. 37Walter Benjamin, in: GS VI, S. 486f. 38GS I, S. 695. dahinführt, die heute am Boden liegen. Die Beute wird, wie das immer so üblich war, im Triumphzug mitgeführt. Man bezeichnet sie als die Kulturgüter (…). Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein. Und wie es selbst nicht frei ist von Barbarei, so ist es auch der Prozess der Überlieferung nicht (…).“39 Es sei „eine vulgärmarxistische Illusion, die gesellschaftliche Funktion sei es eines materiellen Produkts sei es eines geistigen unter Absehung von den Umständen und den Trägern seiner Überlieferung bestimmen zu können (…).“40 Dem materialistischen Historiker weist er die Aufgabe zu, „die Geschichte gegen den Strich zu bürsten.“41 Dazu gehört es, Vergessenes, Verdrängtes und Unterdrücktes in Erinnerung zu rufen und die Überlieferungsgeschichte kritisch einzubeziehen. Adorno verglich die Methodik Benjamins zurecht mit der eines jüdischen Schriftgelehrten: „Die ganze Schöpfung wird ihm zur Schrift, die es zu dechiffrieren gilt, während der Code unbekannt ist. Er versenkt sich in die Realität wie in einen Palimpsest. Interpretation, Übersetzung, Kritik sind die Schemata seines Denkens. Die Mauer der Worte, die er abklopft, gewährt dem obdachlosen Gedanken Autorität und Schutz; gelegentlich sprach er von seiner Methode als einer Parodie der philologischen. Auch dabei ist ein theologisches Modell, die Tradition der jüdischen, zumal mystischen Bibelauslegung nicht zu verkennen. Unter den Operationen zur Säkularisierung der Theologie um ihrer Rettung willen, ist nicht die letzte die, profane Texte so zu betrachten, als wären es heilige. Darin lag Benjamins Wahlverwandtschaft mit Karl Kraus.“42 Benjamins Sprachtheorie trägt die Züge jüdischen Mystizismus. Ihm ist das Beste, was Sprache leisten kann, die Demonstration ihres Scheiterns. 43 Er versuchte beständig, „Philosophie aus der ‚Eiswüste der Abstraktion‘ herauszuführen, und den Gedanken in konkrete geschichtliche Bilder hineinzutragen.“44 In der Hervorrufung von Bildern aus der Vergangenheit sah er die Möglichkeit, geschichtliche Erfahrung zu präformieren.45i Diese Reflexionen kulminierten am Ende des Lebens in Benjamins Thesen „Über den Begriff der Geschichte“. Dort rettet der materialistische Historiker nur Bilder, die beim Aufsprengen des geschichtlichen Kontinuums entstanden sind. Er rettet sie „im Augenblick der Gefahr“ oder in der Vorahnung kommenden Unglücks.46 In seinem stärksten Bild, dem dialektischen Bild des „Engels der Geschichte“ fokussierte Benjamin 1940, am Ende seines Lebens zentrale Gedanken seiner Philosophie und Geschichtskonzeption: „Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muss so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradies her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam In die Zukunft, der er den Rücken kehrt. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“ 47 Gegen den Fortschrittsglauben der Linken beharrte Benjamin darauf, dass sich die Geschichte als Herrschaftsgeschichte und als eine Abfolge von Katastrophen ereignet. Ihre Gewalttätigkeiten dürften nicht beschwichtigend in das Modell eines Fortschritts zum Besseren eingearbeitet und damit weginterpretiert 39Benjamin in: GS I, S. 696. 40Benjamin, in GS I, S. 1161. 41Benjamin, in: GS I, S. 697. 42Adorno, Einleitung zu Benjamins ‚Schriften‘, a. a. O., S. 573. 43Vgl. Sebastian Moll, Der Lautmaler, in: Jüdische Allgemeine, Nr. 30/14, S. 18. 44Adorno, Einleitung zu Benjamins Schriften‘, a. a. O., S. 571. 45Vgl. Walter Benjamin, Berliner Kindheit um neunzehnhundert, Frankfurt/M. 1987, S. 9. 46Vgl. Palmier, a. a. O., S. 154 u. 162. 47Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, in GS, Bd. I.2, S.697f. werden. Das, was uns als der normale Gang der Geschichte entgegentritt, müsse als andauernder Ausnahmezustand angesehen werden.48 „Der Begriff des Fortschritts ist in der Idee der Katastrophe zu fundieren. Dass es ‚so weiter‘ geht, ist die Katastrophe (…).“ 49 Benjamin geht es um eine Rekonstruktion der Vergangenheit aus ihren Trümmern.50 In seine Kritik bezieht Benjamin auch den marxistischen Revolutionsbegriff ein: „Marx sagt, die Revolutionen sind die Lokomotiven der Weltgeschichte. Aber vielleicht ist dem gänzlich anders. Vielleicht sind die Revolutionen der Griff des in diesem Zuge reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse (…).“ 51 Und dennoch gibt es die Suche nach dem Rettenden bei Benjamin. Denn im Gegensatz zum Engel, der den Blick auf die ungeheuren Trümmer geheftet, sich ihnen nicht nähern kann, hat der Geschichtsforscher als Lumpensammler die Möglichkeit, die Trümmer zu durchwühlen und aufzulesen, in der Hoffnung, ihnen eines Tages wieder Sinn zu verleihen.52 An anderer Stelle schreibt Benjamin: „Denn es ist ja ein Sturm, der aus dem Vergessen her weht. Und das Studium ein Ritt, der dagegen angeht (…).“ 53 Als materialistischer Historiker einzugreifen, meint nach Benjamin, aus dem „Abfall der Geschichte“ dasjenige herauszuschlagen, herauszureißen, was – durch und durch verschlissen oder in der hohlen Hand, im Verborgenen bewahrt, dabei unberührt und doch entstellt – hier und da „das winzige Fünkchen Zufall, Hier und Jetzt“ birgt; die „unscheinbare“, doch nicht unzugängliche Stelle zu finden, an der „das Künftige noch heut so beredt nistet, dass wir es rückblickend entdecken können; es entdecken, um es zu befreien. 54 Um diese Stelle zu finden, fordert Benjamin ein Bewusstsein ein, die Vergangenheit nicht allein als Instanz anzusehen, der man ausgeliefert sei, sondern sie auch als eine Verbündete zu begreifen, die Handhaben zur Unterbrechung des Geschichtsverlaufs bereitstelle. 55 „Anders als bei Adorno mündet sein Verfahren nicht in ein Resultat der Theorie, sondern in eine Lektüre. Theorie produziert ein Wissen, Lektüre eine Erfahrung. In letzter Instanz geht es Benjamin weniger darum, Erkenntnisse zu vermitteln, als durch Texte Erfahrungen anzuregen.“ 56 „Erinnerung und Geschichtsschreibung können unabgegoltene Potentiale des Vergangenen aktualisieren und entbinden. Und indem sie diese retten, formulieren sie Ansprüche an die Zukunft.“ 57 Ohne das Interesse, dass das Zusammenleben der Menschen, einfach ausgedrückt, glücklicher werden müsse, ist die Beschäftigung mit der Vergangenheit Zeitvergeudung.58 Den Moment der möglichen Unterbrechung des verhängnisvollen Selbstlaufs des Fortschritts kennzeichnet Benjamin mit den Begriffen Stillstellung, Zäsur, dialektisches Bild und Erwachen mit der Hoffnung auf Rettung und messianischen Umschlag. „Wo das Denken in einer von Spannungen gesättigten Konstellation zum Stillstand kommt, da erscheint das dialektische Bild. Es ist die Zäsur in der Denkbewegung.“59 Bild ist ihm die Dialektik im Stillstand. Während die Beziehung der Gegenwart zur Vergangenheit eine rein zeitliche, kontinuierliche ist, ist die des Gewesenen zum Jetzt dialektisch, ist nicht 48Vgl. Kramer, a. a. O., S. 116f. 49Benjamin, in: GS V, S. 592. 50Vgl. Palmier, a. a. O., S. 161. 51Benjamin, in: GS I, S. 1232. 52Vgl. Perrier, a. a. O., S. XII. 53Benjamin, Franz Kafka, a. a. O, S. 436. 54Vgl. Benjamin, Kleine Geschichte der Photographie, in: GS II.1, S. 371 u. Perrier, a.a.O., S. XLIVf. 55Vgl. Kramer, a. a. O., S. 117. 56Kramer, a. a. O., S. 127. 57Kramer, a. a. O., S. 116. 58Vgl. Kramer, a. a. O., S. 122. 59Benjamin, in: GS V, S. 595. Verlauf, sondern Bild. Dabei begreift er dialektische Bilder als Sprachphänomene, die, wie alle sprachlichen Bilder, etwa Metaphern und Symbole, visuell geprägte Imaginationen mit sich führen. 60 Das historische Erwachen aus dem katastrophalen Geschichtsverlauf, das Benjamin durchaus in marxistischen Kategorien denkt, der „qualitative Umschlag wäre erst dort gegeben, wo ein Gemeinwesen gleichsam von einer Woge des Erwachsens ergriffen würde, wie die Surrealisten von einer Traumwelle. Erst hier käme das nichtdelegierbare Moment in Benjamins anthropologischem Materialismus zum Tragen, durch das jeder einzelne Mensch in den Prozess der Veränderung eingebunden ist.“61 Im Passagenwerk erklärt Benjamin: „Wie Proust seine Lebensgeschichte mit den Erwachen beginnt, muß jede Geschichtsdarstellung mit dem Erwachen beginnen, ja sie darf eigentlich von nichts anderm handeln. (…) Die Verwertung der Traumelemente beim Aufwachen ist der Kanon der Dialektik. Sie ist vorbildlich für den Denker und vorbildlich für den Historiker.“ 62 Die Aufgabe des historischen Materialisten besteht für ihn darin, eine Epoche aus dem homogenen Verlauf der Geschichte herauszusprengen und sie dadurch in eine neue Konstellation zur eigenen Zeit zu bringen. 63. „Nur dem Geschichtsschreiber“, so Benjamin, wohnt die Gabe bei, im Vergangenen den Funken der Hoffnung anzufachen, der davon durchdrungen ist: auch die Toten werden vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein. Und dieser Feind hat zu siegen nicht aufgehört.“64 Benjamin widmete sich dem „Gedächtnis der Namenlosen“ 65 und bemerkte über den historischen Materialismus noch vor Beginn der von deutschen Händen in Gang gesetzten industriellen Massenvernichtung der Juden der Welt: „Was er an Kunst und Wissenschaft überblickt, ist samt und sonders von einer Abkunft, die er nicht ohne Grauen betrachten kann. Es dankt sein Dasein nicht nur der Mühe der großen Genien, sondern in mehr oder minderem Grade auch der namenlosen Fron der Zeitgenossen.“66 60Vgl. Kramer, a. a. O., S. 120f. 61Kramer, a. a. O., S. 123f. 62Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, in ders., GS V.1, S. 580. 63Vgl. Kramer, a. a. O., S. 118f. und Benjamin, in: GS I, S. 705. 64Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, in GS I.2, S. 695. 65Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, Varianten, in: GS I.3, S. 1241. 66Benjamin, Eduard Fuchs, der Sammler und Historiker, in: GS II.2, S. 476f. i
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